Das Buch der letzten Briefe - Kerry Barrett - E-Book
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Das Buch der letzten Briefe E-Book

Kerry Barrett

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Beschreibung

Die Magie der letzten Zeilen.

London, 1940. Als die Krankenschwester Elsie einem Patienten anbietet, seiner Familie einen tröstenden Brief zu schreiben, hat sie eine Idee. Sie beginnt ein Buch mit letzten Briefen: Botschaften, die im schlimmsten Fall an die Angehörigen verwundeter Soldaten geschickt werden sollen, damit niemand ohne einen letzten Abschied zurückbleibt. Doch eine Nachricht wird Elsies Leben für immer verändern. Kann sie die Kraft aufbringen etwas Undenkbares zu tun, als ein Patient eine folgenschwere Bitte äußert?

London, Gegenwart. Stephanie hat viele Menschen, mit denen sie gerne sprechen würde: ihren entfremdeten Bruder, mit dem sie zuletzt im Zorn gesprochen hat oder ihre Großmutter, die aufgrund ihrer Demenz nur noch gelegentlich klar genug ist, um zu sprechen. Als Stephanie ein Buch mit Briefen aus der Kriegszeit entdeckt, wird ihr die Bedeutung der letzten Worte bewusst - und sie entdeckt die Geschichte einer geheimen Liebe, einer verzweifelten Entscheidung und des unvorstellbaren Mutes einer Frau ...

Ein bewegender und fesselnder historischer Roman von der Autorin von „Das Klippenhaus“. Perfekt für Fans von Lucinda Riley, Jodi Picoult und Kate Morton.

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Über das Buch

Die Magie der letzten Zeilen

London, 1940. Als die Krankenschwester Elsie einem Patienten anbietet, seiner Familie einen tröstenden Brief zu schreiben, hat sie eine Idee. Sie beginnt ein Buch mit letzten Briefen: Botschaften, die im schlimmsten Fall an die Angehörigen verwundeter Soldaten geschickt werden sollen, damit niemand ohne einen letzten Abschied zurückbleibt. Doch eine Nachricht wird Elsies Leben für immer verändern. Kann sie die Kraft aufbringen etwas Undenkbares zu tun, als ein Patient eine folgenschwere Bitte äußert?

London, Gegenwart. Stephanie hat viele Menschen, mit denen sie gerne sprechen würde: ihren entfremdeten Bruder, mit dem sie zuletzt im Zorn gesprochen hat oder ihre Großmutter, die aufgrund ihrer Demenz nur noch gelegentlich klar genug ist, um zu sprechen. Als Stephanie ein Buch mit Briefen aus der Kriegszeit entdeckt, wird ihr die Bedeutung der letzten Worte bewusst - und sie entdeckt die Geschichte einer geheimen Liebe, einer verzweifelten Entscheidung und des unvorstellbaren Mutes einer Frau ...

Ein bewegender und fesselnder historischer Roman von der Autorin von „Das Klippenhaus“. Perfekt für Fans von Lucinda Riley, Jodi Picoult und Kate Morton.

Über Kerry Barrett

Kerry Barrett wurde in Edinburgh geboren, zog aber als Kind mit ihren Eltern nach London, wo sie auch heute noch mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen lebt.

Schon als Kind war sie ein großer Bücherfan und ihre Arbeit als Fernsehjournalistin hat den Wunsch noch verstärkt ihre eigenen Bücher zu schreiben. Dabei liebt sie vor allem Geschichten, in denen es ein Geheimnis in vergangenen Zeiten zu entschlüsseln gibt.

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Kerry Barrett

Das Buch der letzten Briefe

Aus dem Amerikanischen von Uta Hege

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Prolog — Elsie

Kapitel eins

Elsie

1940

Kapitel zwei

Kapitel drei

Stephanie

Heute

Kapitel vier

Kapitel fünf

Elsie

1940

Kapitel sechs

Stephanie

Gegenwart

Kapitel sieben

Elsie

1940

Kapitel acht

Stephanie

Gegenwart

Kapitel neun

Elsie

1940

Kapitel zehn

Stephanie

Gegenwart

Kapitel elf

Elsie

1940

Kapitel zwölf

Stephanie

Gegenwart

Kapitel dreizehn

Elsie

1940

Kapitel vierzehn

Stephanie

Gegenwart

Kapitel fünfzehn

Kapitel sechzehn

Elsie

1940

Kapitel siebzehn

Stephanie

Gegenwart

Kapitel achtzehn

Kapitel neunzehn

Elsie

Januar 1941

Kapitel zwanzig

Kapitel einundzwanzig

Kapitel zweiundzwanzig

Kapitel dreiundzwanzig

Stephanie

Gegenwart

Kapitel vierundzwanzig

Elsie

1941

Kapitel fünfundzwanzig

Kapitel sechsundzwanzig

Stephanie

Gegenwart

Kapitel siebenundzwanzig

Kapitel achtundzwanzig

Elsie

1941

Kapitel neunundzwanzig

Stephanie

Gegenwart

Kapitel dreißig

Elsie

1941

Kapitel einunddreißig

Kapitel zweiunddreißig

Stephanie

Gegenwart

Kapitel dreiunddreißig

Elsie

1941

Kapitel vierunddreißig

Stephanie

Gegenwart

Kapitel fünfunddreißig

Elsie

1941

Kapitel sechsunddreißig

Stephanie

Gegenwart

Kapitel siebenunddreißig

Elsie

1941

Kapitel achtunddreißig

Stephanie

Gegenwart

Kapitel neununddreißig

Elsie

1941

Kapitel vierzig

Stephanie

Gegenwart

Kapitel einundvierzig

Elsie

1941

Kapitel zweiundvierzig

Stephanie

Sechs Wochen später

Dank

Impressum

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Für alle Pflegekräfte

Kerry Barrett hat bislang dreizehn Romane verfasst, unter anderem Das Klippenhaus, das schon auf Deutsch erschienen ist.

Sie wurde in Edinburgh geboren, zog aber schon als Kind nach London, wo sie noch heute mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen lebt. Als ausgemachter Bücherwurm hat sie bereits als junges Mädchen wochenlang ihr Taschengeld gespart, um sich den jeweils neuesten Band von Sweet Love zu kaufen, den sie dann jedes Mal in einem Rutsch gleich auf der Busfahrt von der Schule nach Hause gelesen hat, nur um dann zwei Monate warten zu müssen, bis die Fortsetzung erschien. Am Ende dachte sie, dass sie wohl am besten einfach selbst Geschichten schreibt …

Kerry Barretts Zeit als Fernsehjournalistin, während der sie unter anderem über Serien wie EastEnders und Coronation Street berichtet hat, hat sie zu den Romanen inspiriert, in denen die Populärkultur mit einem historischen Geheimnis kollidiert. Es ist allerdings nicht wahr, dass sie Let’s Dance als Grundlage eines Romans genommen hat, nur um selbst einmal dort mitmachen zu dürfen, obwohl sie natürlich für den Fall der Fälle regelmäßig Foxtrott übt, wenn sie nicht gerade Netflix guckt, Jilly Cooper liest oder für ihre neueste Geschichte recherchiert.

Prolog

Elsie

Sommer 1941

Mit wild klopfendem Herzen fuhr ich aus dem Schlaf. Es dauerte einen Augenblick, bis ich wieder wusste, wo ich war. Seit meiner Abreise aus London plagte mich fast jede Nacht derselbe schlimme Traum. In diesem Alptraum hatte jemand das Buch gefunden und es allen gezeigt. Das hieß, alle wussten, was geschehen war. Was ich getan hatte.

»Wie konntest du das nur tun?«, fragten sie mich vorwurfsvoll und mit hasserfüllten Blicken. »Wie konntest du so etwas Fürchterliches tun?«

An Schlaf war nicht mehr zu denken, also wischte ich mir den Schweiß von der Stirn und hievte meine Beine aus dem Bett. Das Kind in meinem Bauch war jetzt so groß, dass ich mir schwerfällig das Nachthemd glatt strich und ans Fenster trat, um auf die nachtschlafende Stadt zu blicken. Wie friedlich es war. Alle schliefen noch, obwohl langsam die Sonne aufging.

Mein Herz schlug wieder ruhiger. Was für ein Glück ich doch hatte, hier zu sein, in Sicherheit und fern der Bomben und Sirenen und …

Es war vorbei, sagte ich mir streng. Das Buch war weg. Es lag unter dem Schutt begraben, und niemand würde je erfahren, was ich getan hatte.

Kapitel eins

Elsie

1940

Es war erstaunlich, dachte ich, während ich die Stufen aus dem Luftschutzkeller unserer Nachbarn, der Andersons, hinaufstieg. Wir alle hatten uns mittlerweile derart an diese noch vor einem Jahr unvorstellbaren Zustände gewöhnt, dass ich noch vor Beginn des – unserer anderen Nachbarin Mrs Gold zufolge – wieder einmal wirklich schlimmen Fliegerangriffs einfach eingeschlafen war.

»Ich habe bis zur Entwarnung kein Auge zugetan«, erklärte sie.

Mit einem befriedigenden Klicken meiner Wirbelsäule drückte ich den Rücken durch und sah mich um. Obwohl es hier bei Weitem nicht so schlimm war wie im East End, folgten die Bomber oft den Gleisen hinter unseren Häusern. Ich sah den Rauch, der in der Ferne in den Himmel stieg, und zwischen meinen Zähnen knirschte Backsteinstaub, weil ein paar Häuser in den Nachbarstraßen etwas abbekommen hatten; doch die Häuser hier in unserer Straße schienen alle noch zu stehen.

»Danke«, sagte ich zu Mrs Gold, die blinzelnd mit mir zusammen in das trübe Licht des frühen Morgens trat. »Heute Abend muss ich arbeiten und bin also nicht zu Hause.«

»Und Nelly?«, fragte sie und wischte etwas Dreck vom Ärmel meines Mantels. Ich hatte schnell gelernt, mir möglichst warme Sachen anzuziehen, wenn wir abends in den Luftschutzkeller gingen.

»Die hat gestern eine zusätzliche Nachtschicht übernommen«, erklärte ich. »Sie ist für eine andere Schwester eingesprungen, die sich ein neues Zimmer suchen muss, weil ihre bisherige Unterkunft getroffen wurde, doch ich schätze, dass sie jetzt zu Hause ist«.

Ich sah auf meine Uhr und riss die Augen auf. »Herrje, es ist ja schon viel später, als ich dachte. Da habe ich anscheinend wirklich gut geschlafen.«

Obwohl sie kaum zehn Jahre älter war als wir, behandelte Mrs Gold uns immer wie zwei Töchter, und jetzt stellte sie mit einem mütterlichen Zungenschnalzen fest: »Das überrascht mich nicht, denn schließlich arbeitet ihr Mädchen wirklich hart.«

Dann rückte sie sich grinsend einen von den Lockenwicklern, die sie unter ihrem Haarnetz trug, zurecht und stellte fest: »Tja nun, ich muss jetzt langsam los, damit die armen Kerle im Büro ihre sterbenslangweiligen Dokumente am Ende nicht auch noch selbst tippen müssen.«

Ich erwiderte ihr unschuldiges Lächeln, obwohl Mrs Gold bestimmt viel mehr als eine ganz normale Schreibkraft war, denn schließlich war sie öfter längere Zeit nicht da und kam häufig mit wirklich wichtig aussehenden Papieren heim. Statt ihr zu widersprechen winkte ich ihr aber nur zum Abschied zu, als sie zu ihrer Küchentür lief. Durchs Fenster konnte ich Mr Gold bereits den Tee aufsetzen sehen. Ich hatte derart fest geschlafen, dass ich gar nicht mitbekommen hatte, wie er aufgestanden und schon vorausgegangen war.

Noch immer leicht benommen ging ich durch den schmalen Weg am Haus vorbei nach vorne Richtung Vordertür. Dort sah ich, was vorn auf der Straße passiert war, während wir uns sicher unter der Erde befunden hatten.

Wie jeden Morgen staunte ich auch an diesem Tag mal wieder über die Widerstandsfähigkeit dieser Stadt und ihrer Einwohner. Es war ein ganz normaler Tag – wenn man mal den Rauchgeruch, der in der Luft hing, ignorierte, ebenso wie die Schuttberge in der Nachbarstraße, in der seit vergangener Nacht drei ganze Häuser und das halbe Heim der Evans, die jetzt nur noch ein halbes Wohnzimmer besaßen, fehlten.

Ein staubbedeckter Bus rumpelte dicht an mir vorbei und durch eine Pfütze. Eilig trat ich einen Schritt zurück und tastete auf meinem Weg zur Tür in meiner Manteltasche nach dem Wohnungsschlüssel.

»Nell?«, rief ich, während ich mich nach unserer Post bückte, die durch den Briefschlitz auf die Fußmatte gefallen war.

»Küche!«

Ich ließ den Mantel über das Treppengeländer fallen und ging nach hinten durch, wo meine Freundin immer noch mit Straßenkleidern, schmutzigem Gesicht und vor Erschöpfung roten Augen saß.

»Hier ist ein Brief für dich.« Ich drückte ihr das Schreiben in die Hand. Sie warf es achtlos auf den Tisch. »Wie war die Nachtschicht?«

»Endlos«, erklärte Nelly mit einem Seufzer. »Ich muss ins Bett, aber ich bin noch viel zu aufgedreht.«

»Dann mache ich dir erst mal einen Tee.« Ich füllte unseren Wasserkessel, zündete das Gas der Kochplatte mit einem Streichholz an und schlug ihr vor: »Warum nimmst du nicht rasch ein Bad? Das wird dich entspannen.«

Doch Nelly schüttelte den Kopf. »Zu anstrengend«, meinte sie. »Ich trinke einfach meinen Tee, wasche mich kurz und lege mich ins Bett.«

Sie sah mich an und runzelte die Stirn. »Du solltest dich am besten auch noch mal hinlegen, wenn du ab heute Nachtdienst hast.«

»Ich gehe etwas früher hin, um noch mit den Decken auszuhelfen«, antwortete ich. Aus irgendeinem Grund fehlte es im Krankenhaus chronisch an Decken, weshalb wir sie ständig neu sortieren und verteilen mussten. Von Freundinnen in anderen Krankenhäusern hatte ich gehört, dass die Pflegerinnen manchmal Decken mitnahmen, um sie an die Ausgebombten zu verteilen, aber so weit waren wir noch nicht. »Willst du denn deinen Brief gar nicht lesen?«

Nelly schüttelte den Kopf. »Ich weiß doch sowieso, was drinsteht.«

»Ohne, dass du ihn gelesen hast?«

»Du weißt doch selbst, dass meine Mammy jedes Mal dasselbe schreibt. Wie friedlich es doch in Dublin ist, dass man vom Krieg dort kaum was mitbekommt und dass Dr. Connalty eine Stelle im Sisters-of-Mercy-Krankenhaus dort für mich hätte …«

Ich grinste meine Freundin an. »Vielleicht lobt sie dich dieses Mal ja für die tolle Arbeit, die du hier in London leistest, und schreibt, du sollst so lange bleiben, wie du willst …«

»Vielleicht«, stimmte mir Nelly lachend zu.

»Sie hat ganz einfach Angst um dich«, erklärte ich ihr sanft. Nells Mutter mochte anmaßend und herrisch sein, das aber war sie, weil sie ihre Tochter liebte, und ich war ein bisschen neidisch auf die familiären Bindungen meiner Mitbewohnerin. Sie hatte zahlreiche Geschwister überall in Irland und Verwandte in den Staaten, die ihr ständig Briefe schrieben, und als ganz besondere Überraschung hatte ihre Schwester aus New York ihr sogar einmal Seidenstrümpfe und dazu noch einen wunderschönen Lippenstift geschickt. Ich selbst hatte ab und zu von Billy einen Brief bekommen, und dann das Telegramm, und seither schrieb mir niemand mehr.

Stöhnend stand Nelly auf. »Ich gehe schlafen«, erklärte sie, beugte sich vor und gab mir einen Wangenkuss. »Wir sehen uns später.«

»Klar.«

Ich wartete, bis sie in ihrem Schlafzimmer verschwunden war, dann nahm ich den Brief und legte ihn ins Sideboard, wo bereits ein ganzer Stapel ungelesener Briefe ihrer Mutter lag. Irland hatte nichts mit diesem Krieg zu tun, weswegen Nellys Mum dort sicher war, doch während eines Krieges geschahen überall schlimme Dinge, und vielleicht würde Nelly eines Tages ja die Handschrift ihrer Mutter sehen und deren fürsorgliche Worte lesen wollen.

Ich hätte selbst ein Bad brauchen können, aber wenn ich vor Anfang meiner Schicht noch mit den Decken helfen wollte, fehlte mir dafür die Zeit. Also wusch ich mich nur kurz in meinem Zimmer, obwohl das Wasser dort eisig war. Dann nahm ich eine saubere Schwesternuniform aus meinem Schrank, faltete sie ordentlich zusammen, steckte sie in meine Tasche und ging wieder in die Küche, auch wenn dort die Essensauswahl wieder einmal alles andere als berauschend war. Aufgrund der Rationierungen, und da wir nur selten zu Hause aßen, war die Speisekammer häufig leer. Zum Glück war heute noch ein halbes Brot im Kasten, von dem ich zwei Scheiben auf die Toastergabel schob und über dem Herd röstete, an dem ich mich nach meiner eiskalten Wäsche zugleich ein wenig aufwärmen konnte.

Ich arbeitete im South London District Hospital, und vor dem Krieg war ich dort meistens mit dem Fahrrad hingefahren, inzwischen aber war ich oft so erschöpft, dass ich die zwei Stationen mit der Bahn zur Arbeit und nach Hause fuhr. Unsere Schichten waren lang, und seit Beginn der Bombardierungen hatte sich die Anzahl unserer Patienten verdoppelt. Inzwischen waren wir auch eine Unfallklinik und nahmen Verwundete der Luftangriffe auf. Die meisten kamen aus der näheren Umgebung, aber nach besonders schlimmen Nächten wurden auch aus Central London die Verletzten zu uns gebracht – oft in extra dafür umgebauten Bussen, weil es für den Transport all der Patienten nicht genügend Krankenwagen gab.

Gewaschen, gesättigt und mit gepackter Tasche trank ich noch den Rest von meinem Tee, schrieb Nelly eine Nachricht, dass wir uns in ein paar Stunden bei der Arbeit sehen würden, zog, weil es draußen wirklich frisch war, Hut und Mantel an und machte mich mit einem leisen Seufzer auf den Weg.

Nach kaum hundert Metern holte jemand mich mit schnellen Schritten ein und fragte: »Alles klar, Elsie?«

Mein Herz zog sich zusammen, als ich den alten Klassenkameraden meines Bruders sah. Timothy Jackson – den aus irgendeinem Grund immer alle nur Jackson nannten – betrachtete sich selbst als guten Freund von Billy, auch wenn ich mich nicht erinnern konnte, dass er das tatsächlich je gewesen war.

Ich runzelte die Stirn, zwang mich dann aber zu einem Lächeln und sah ihn, ohne stehen zu bleiben, von der Seite an. »Hallo«, sagte ich knapp.

»Mal wieder auf dem Weg zur Arbeit?«, fragte er und hielt trotz seiner platten Füße, derentwegen er angeblich ausgemustert worden war, problemlos mit mir Schritt. »Aber dein Dienst fängt doch erst später an. Ich dachte, du hättest diese Woche Nachtschicht?«

Die Frage rief ein leises Unbehagen in mir wach. Woher wusste er, wann meine Schicht begann? Er tauchte ständig auf, sobald ich das Haus verließ, und nicht zum ersten Mal kam es mir vor, als würde er mich beobachten. Doch Billy hatte mir versichert, dass Jackson vielleicht etwas seltsam, aber völlig harmlos sei, weshalb ich mich zwang, nett zu ihm zu sein, auch wenn ich selbst ihn nicht nur etwas seltsam, sondern ziemlich furchteinflößend fand.

»Ich habe der Stationsschwester versprochen, etwas früher zu kommen«, erklärte ich und knöpfte meinen Mantelkragen auf, weil ich so eilig lief, dass mir der Schweiß ausbrach.

»Aber du übertreibst es doch wohl nicht?« Ein Schatten huschte über sein Gesicht. »Ich möchte nicht, dass du dich überanstrengst.«

»Keine Angst, es geht mir gut.« Ich knirschte mit den Zähnen und widerstand dem Drang, ihm zu erklären, dass er mich in Ruhe lassen sollte, dass wir schließlich alle hundemüde waren, seit jede Nacht die Bomben fielen, und es ihm bestimmt nicht zustand, mich dafür zu kritisieren, im Rahmen meiner Arbeit für die Opfer der verfluchten Bombardierungen da zu sein.

»Dein Bruder würde auch nicht wollen, dass du dich übernimmst.«

»Ich muss die Bahn erwischen, Jackson, aber es war nett, mir dir zu sprechen.«

»Schließlich habe ich versprochen, auf dich aufzupassen, oder nicht?«

Ich blieb so plötzlich stehen, dass Jackson ein paar Schritte weiterging, bevor er es bemerkte, und zu mir zurückgelaufen kam.

»Geht es dir gut, Elsie?«

»Wem hast du das versprochen?«

»Billy. Wem denn sonst? Die letzten Worte deines Bruders lauteten, dass ich mich um dich kümmern soll.«

»Das bezweifle ich. Es sei denn, du warst in Dünkirchen dabei.«

Mein scharfer Ton schien Jackson nicht im Mindesten zu stören. »Das waren seine letzten Worte, als wir uns gesehen haben.«

»Und wo soll das gewesen sein?«

»Genau hier, wo wir beide gerade stehen. Oder vielleicht auch ein Stück die Straße runter, als er auf dem Weg zum Bahnhof …«

Ich funkelte ihn zornig an, und dieses Mal bekam er meinen Ärger mit. »Er war in Uniform, richtig schneidig sah er aus, und er hatte einen Seesack über der Schulter, deshalb habe ich ihn gefragt, ob er jetzt in den Krieg zieht, und ihm Glück gewünscht. Und als er sich bedankt hat, habe ich ihm versprochen, auf dich aufzupassen, und er meinte, das würde er auch hoffen.« Jackson atmete tief durch und sah mich triumphierend an. »Und dann ist er in den Zug gestiegen.«

Der Zug. Ich sah mich um und atmete erleichtert auf, als ich die Rauchfahne des einfahrenden Zuges sah. »Ich muss jetzt wirklich los. Mein Zug fährt gerade ein.«

Ich schob mir meine Tasche höher auf die Schulter und rannte ziemlich undamenhaft zum Bahnsteig, wo ich wenig elegant den gerade eingefahrenen Zug erklomm und die Tür hinter mir zuwarf. Dann ließ ich mich auf einen freien Sitz sinken, wischte den Schweiß von meiner Stirn und schob das Fenster auf, während der Zug über die Brücke fuhr, die die Straße überquerte. Jackson stand noch immer unten auf der Straße, schirmte die Augen mit der Hand gegen die tiefstehende Herbstsonne ab und suchte die Zugfenster nach mir ab.

Ich zog den Kopf zurück, damit er mich nicht sah, und schalt mich dann, dass ich mich benähme wie ein dummes Kind. Wahrscheinlich war er einfach einsam. Er war ein Einzelkind, die Eltern waren kurz nach Kriegsausbruch aufs Land gezogen, und inzwischen gab es kaum noch junge Männer seines Alters in der Stadt. Womöglich hatten wir ja mehr Gemeinsamkeiten, als mir lieb war, und ich sollte mich bemühen, verständnisvoller und ein bisschen freundlicher zu ihm zu sein.

Ich lehnte meinen Kopf gegen den harten Sitz, schloss die Augen und fragte mich zum bestimmt hundertsten Mal, was wohl Billys letzte Gedanken gewesen waren. Hatte er noch mit jemandem gesprochen, oder hatte er vollkommen allein und verängstigt miterleben müssen, wie die deutschen Bomben auf den Strand gefallen waren, von dem er gerade fliehen wollte? Hatte sich die Dunkelheit vielleicht schon über ihn gesenkt, ehe er sich vor den Bomben fürchten musste? Ich hatte einen Brief von Billys befehlshabendem Offizier bekommen, der jedoch in dessen letzten Augenblicken nicht dabei gewesen war. Er hatte nur geschrieben, dass die britische Armee mit meinem Bruder einen anständigen jungen Mann verloren habe, der ein ausgezeichneter Soldat und bei seinen Kameraden und Vorgesetzten ausnehmend beliebt gewesen sei, aber mir war auch vorher schon klar gewesen, das auf meinen fleißigen und tapferen Bruder stets Verlass gewesen war.

Allein beim Tod unserer Mutter hatte ihn die stoische Gelassenheit für einen Augenblick verlassen, und er hatte mich aus tränenfeuchten Augen angesehen. Die Erkenntnis, dass wir zwei jetzt ganz allein waren, hatte ihm Angst gemacht, deswegen hatte ich ihn tröstend in den Arm genommen und ihm erklärt, ich würde immer für ihn da sein. Gerade deshalb war mir der Gedanke so unerträglich, dass er allein und verängstigt, aber voller Hoffnung, dort in Frankreich auf das Meer und die kleinen Boote geblickt hatte, die ihn und die anderen Männer hätten retten sollen. Oder, schlimmer noch, dass er womöglich blutend und mit Schmerzen, panisch und allein dort gelegen hatte, bevor er gestorben war.

Ich seufzte. Ich würde mich wohl oder übel daran gewöhnen müssen, niemals zu erfahren, was ihm kurz vor seinem Tod wohl durch den Kopf gegangen war.

Kapitel zwei

Manchmal blickte ich auf meine Anfangszeit als Schwester vor dem Krieg zurück und konnte kaum glauben, dass ich es schon als schwierig und anstrengend empfunden hatte, wenn auch nur eins der Fünf-Bett-Zimmer voll belegt gewesen war. Aber die Zeiten waren nun einmal ganz anders gewesen, und im Gegensatz zu damals war ich heute schon zu Beginn jeder Nachtschicht angespannt. Ich straffte die Schultern und biss die Zähne aufeinander, weil ich keine Ahnung hatte, was die Nacht noch bringen würde, und an diesem Abend ging es mir noch schlechter, denn mein Zusammentreffen mit dem unheimlichen Jackson hatte mich doch ziemlich aus dem Gleichgewicht gebracht.

Nelly und ich arbeiteten auf verschiedenen Stationen, doch ich hoffte, sie vor Schichtbeginn noch kurz zu sehen.

Tatsächlich traf ich sie im Umkleideraum, als ich alle Decken an die richtigen Stationen ausgeliefert hatte und gerade nach einer sauberen Schürze suchte.

Sie wirkte deutlich munterer als am Vormittag.

»Du siehst viel besser aus als heute Morgen«, sagte ich.

»Erstaunlich, was ein kurzes Nickerchen alles bewirken kann.« Sie öffnete die Tür von ihrem Spind, betrachtete sich in dem kleinen, aufklappbaren Spiegel, der dort lag, und kniff sich in die Wangen, um ihnen ein wenig Farbe zu verleihen.

»Hat Dr. Barnet heute Dienst?«, neckte ich sie.

»Ich weiß nicht, was du meinst«, erwiderte sie augenzwinkernd und klappte ihren Spiegel wieder zu.

»Dann willst du bestimmt auch nicht mit mir zu dieser Tanzveranstaltung im Pig and Whistle gehen. Macht nichts, ich finde sicher jemand anderen, der mich begleitet.«

Ich wandte mich zum Gehen, doch Nelly packte mich am Arm. »Moment mal, Elsie Watson. Wovon redest du?«

»Ich war eben im Schwesternwohnheim, um dort nach Decken zu suchen, und da habe ich die Einladung am Schwarzen Brett hängen sehen.«

»Heißt das, dass du inzwischen sogar unseren Kolleginnen ihre Decken klaust?«, erkundigte sich Nelly und schüttelte in gespielter Enttäuschung den Kopf. »Das ist nicht nett von dir.«

Ich stieß sie lachend mit dem Ellenbogen an. »Willst du jetzt von dem Tanzabend hören oder nicht?«

»Natürlich will ich das.«

»Es findet nächste Woche Freitag statt.«

Sie sah mich mit leuchtenden Augen an. »Da haben wir beide frei.«

Ich nickte begeistert. »Genau. Du kennst doch das Pig and Whistle an der Hauptstraße, oder? Anscheinend haben sie dort einen großen Keller, der für solche Veranstaltungen wie geschaffen ist. Und es spielt sogar eine Band.«

Nelly strahlte. »Glaubst du, dass man dort auch Soldaten trifft?«

»Bestimmt.«

»Dann gehen wir auf alle Fälle hin.«

»Wir müssen uns kurz vorher noch mal vergewissern, dass wir wirklich keinen Dienst haben, denn wir wissen schließlich beide, dass der Dienstplan immer wieder umgeworfen wird, aber es könnte durchaus lustig werden«, stimmte ich ihr zu.

Nelly umklammerte dramatisch meinen Arm. »Ich weiß nicht mal, ob ich überhaupt noch tanzen kann.«

»Dann gehen wir auf jeden Fall hin, und du probierst es einfach aus.«

Ich band mir meine Schürze um, warf einen Blick in den halb blinden Spiegel an der Wand und rückte die Haube auf meinem Kopf ordentlich zurecht. Mit Nelly war es immer so herrlich lustig. Als junges Mädchen war ich ziemlich still gewesen und hatte schnell erwachsen werden müssen, nachdem meine Mutter viel zu jung gestorben war. Schon während ihrer Krankheit hatten Billy und ich uns allein durchschlagen müssen, und neben all dem Kochen, Putzen und Wäschewaschen hatte ich kaum Zeit gehabt, abends auszugehen. Dann aber hatte ich mit meiner Ausbildung im Krankenhaus begonnen und war ins Schwesternwohnheim umgezogen, wo ich Nelly begegnet war. Mein Bruder hatte damals weiterhin in unserem Elternhaus gewohnt und eine Ausbildung in einer nahen Autowerkstatt gemacht, denn Autos und vor allem Motoren hatten ihn schon immer fasziniert.

Nach unserem Abschluss, als der Krieg anfing, war mein Bruder zur Armee gegangen, und da jede Menge neue Lernschwestern ein Bett im Wohnheim brauchten, zog ich zusammen mit Nelly in mein Elternhaus zurück. Ich hatte keine Ahnung, wie ich ohne Nellys Unterstützung hätte weitermachen sollen, als die Todesnachricht meines Bruders bei mir eintraf. Sie zeigte mir, dass es im Leben mehr als Trauer über die erlittenen Verluste, Geldsorgen und Haushalt gab, und ein ums andere Mal sagte sie, ich müsse meine Jugend wiederfinden, weil ich schließlich gerade einmal einundzwanzig sei und noch lange keine alte Frau.

»Jackson hat mich schon wieder auf dem Weg zur Arbeit abgepasst«, erzählte ich ihr jetzt.

»Ich mag den Typen nicht, Elsie.«

»Ich auch nicht«, gestand ich und klemmte meine Uhr – ein Geschenk von Billy – an meiner Schütze fest. Da ich bis zum nächsten Morgen wahrscheinlich kaum dazu kommen würde, mich hinzusetzen, ließ ich mich noch einmal in einen der ramponierten Sessel fallen und seufzte abgrundtief. »Er meinte, er hätte Billy während seines letzten Tags in London auf dem Weg zum Zug gesehen und ihm versprochen, auf mich aufzupassen.«

»Nie im Leben«, widersprach Nelly sofort. »Billy wusste ganz genau, dass du keinen Beschützer brauchst.«

Ein wehmütiges Lächeln huschte über mein Gesicht. »Da hast du wohl recht.«

»Und wenn sich jemand hätte um dich kümmern sollen, hätte er mich gebeten und nicht diesen schrägen Vogel.«

»Allerdings.« Mein Lächeln wurde breiter, denn tatsächlich hatte Billy meine Mitbewohnerin vergöttert und mir wiederholt erklärt, auf keinen Menschen könne ich mich so verlassen wie auf Nelly Malone.

»Da hast du es.«

Ich nickte zustimmend. »Es hat mich einfach aufgeregt, dass er der Letzte war, mit dem Billy vor seiner Abreise gesprochen hat.«

»Weil du es sein wolltest, die als Letzte mit ihm gesprochen hat?«

»Genau.«

Sie trat vor meinen Sessel und umarmte mich. Ich selbst hatte andere Menschen früher selten in den Arm genommen oder mich umarmen lassen, aber Nelly war so liebevoll und offen, dass ich schon nach kurzer Zeit bereitwillig auf die spontanen Gesten ihrer Freundschaft eingegangen war. »Dein Billy wusste ganz genau, wie sehr du ihn geliebt hast«, erklärte sie. »Und du weißt, wie viel er selbst von dir gehalten hat. Das ändert sich auch nicht durch irgendwas, das dieser Jackson sagt.«

»Natürlich hast du recht. Ich wünschte einfach, dass ich ihm das noch mal hätte sagen können.«

»Ich weiß. Weißt du was, dabei fällt mir diese Sache gestern Abend ein. Sie haben diesen Mann hereingebracht. Er hat furchtbar geblutet, und er wusste, dass er sterben wird. Hast du das auch schon mal erlebt, dass jemand einfach weiß, wenn es mit ihm zu Ende geht? Und er meinte immer wieder, ich soll seiner Susie sagen, wie sehr er sie liebt.«

Wir hatten bei unserer Arbeit täglich mit dem Tod zu tun, doch bei Nellys Worten füllten meine Augen sich mit Tränen. Eilig blinzelte ich sie fort. »Und, hast du das getan? Hast du es ihr gesagt?«

»Ach nein. Wie hätte ich das machen sollen? Sie brachten ihn im Schlafanzug, und niemand wusste, wer er war. Wie hätte ich da wissen sollen, wer diese Susie ist?«

Es machte mich entsetzlich traurig, dass die Frau, Tochter oder vielleicht heimliche Geliebte dieses Mannes jetzt nie erfahren würde, was er ihr vor seinem Tod noch hatte sagen wollen. Sie würde nie wissen, dass er während seiner letzten wachen Augenblicke in Gedanken nur bei ihr gewesen war.

»Dieser verdammte Krieg«, stieß ich mit rauer Stimme aus.

»Meine Damen«, erklang eine Stimme hinter mir. »Sollten Sie nicht auf Station sein?«

Ich fuhr herum und sah, dass es Nellys Oberschwester war. Obwohl sie ziemlich barsch geklungen hatte, lächelte sie nachsichtig.

»Wir wollten gerade los.«

»Inzwischen gibt’s auch für die Schwestern Helme«, klärte sie uns auf. »Sobald Sie die Sirenen hören, setzen Sie die bitte auf.«

Ich stöhnte laut. »Im Ernst?«

»Im Ernst. Wir können nicht vorsichtig genug sein, auch wenn wir bald zusätzliche Sandsäcke bekommen und der OP im Keller in Betrieb genommen worden ist.«

Nelly und ich nickten stumm.

»Also dann, Schwester Malone und Schwester Watson, an die Arbeit«, forderte die Oberschwester uns bestimmt, doch freundlich auf.

*

Ich hatte Dienst auf einer Frauenstation. Ursprünglich war es einmal die Chirurgie gewesen, aber seit wir eine Unfallklinik und Teil des medizinischen Notdienstes waren, stand hier alles Kopf. Wir hatten längst die Bettenzahl verdoppelt und für weitere Patienten außerhalb des Krankenhauses Zelte aufgestellt. Die Kinder lagen jetzt in unserem alten Speisesaal, und die Personalkantine im Keller diente zwischenzeitlich als OP. Wir hatten uns daran gewöhnen müssen und wussten, dass mit weiteren Veränderungen zu rechnen war. Zwar sagte ich mir, dass die Bombardierungen irgendwann auch wieder ein Ende finden würden, aber bisher gab die Luftwaffe nicht auf, und die Verantwortlichen hätten ganz sicher nicht so viel am Krankenhaus verändert, wenn sie dachten, dass ein Ende der allnächtlichen Attacken abzusehen war. Aus diesem Grund erschauderte ich jedes Mal, wenn ich eine weitere Veränderung im Haus und weitere Zelte draußen sah.

»Durch den Krieg haben sie im letzten Jahr mehr für das Krankenhaus getan als in den ganzen zehn Jahren davor«, erklärte meine Oberschwester gern und zeigte auf die neuen Geräte und das zusätzliche Personal. Wobei wir unsere Instrumente oft in Wassertöpfen sterilisieren mussten, die wir vorher auf Gaskochern erhitzt hatten, und uns die modernen Maschinen nicht viel nützten, wenn der Strom mal wieder ausfiel.

Inzwischen war es draußen dunkel, und die Fenster waren zugehängt. Ich blickte mich kurz um und sah drei leere Betten, was eher ungewöhnlich war.

»Das ist die Ruhe vor dem Sturm«, bemerkte Schwester Phyllis neben mir, und wirklich heulten schon kurz darauf die Sirenen. Der Moment der Ruhe, in der die Patientinnen ihre Medizin bekamen und wir vor dem Schlafen noch einmal bei allen Puls und Fieber maßen, würde schon bald vorbei sein.

Die Patientinnen auf meiner Station blieben bei Alarm in ihren Betten. Im Keller gab es nicht genügend Platz für alle, und selbst wenn wir dort irgendwo noch ein Eckchen gefunden hätten, ging es einigen von ihnen einfach zu schlecht, um sie zu transportieren. Wer konnte, flüchtete sich in den Luftschutzkeller, aber unsere Kranken waren zu schwach, um aufzustehen. Wir blieben also oben, und wenn die Sirenen ertönten, schoben wir die Betten in die Mitte der Zimmer, denn obwohl die Fenster verbarrikadiert waren, war es dort hoffentlich etwas sicherer.

Die Oberschwester teilte Blechhelme, wie sie die Luftschutzwarte trugen, an uns Schwestern aus. Ich setzte meinen auf und grinste Phyllis an, denn irgendwie kam ich mir mit dem Ding ein bisschen dämlich vor. Sie klopfte, ebenfalls mit einem etwas schiefen Grinsen, mit ihren Knöcheln auf die Oberseite ihres eigenen Helms.

Inzwischen waren die Flieger über uns, und alle hielten kurz den Atem an, dann aber wuschen Phyllis und ich weiter unsere Patientin, zogen ihr ein frisches Laken auf und unterhielten uns mit ihr, als wäre nichts geschehen.

»In zwei, drei Tagen können Sie bestimmt wieder nach Hause, Mrs Marsden«, brüllte Phyllis über das Geratter der Flugabwehrgeschütze hinweg. »Was meinen Sie, Schwester Watson?«

Ich glaubte nicht, dass Mrs Marsden wirklich eine Mrs war. Sie hatte eine grässliche Infektion von einer Abtreibung in irgendeinem Hinterzimmer davongetragen, und der Ring an ihrem Finger hatte sich inzwischen grün verfärbt. Doch es ging mich nichts an, deswegen lächelte ich Phyllis und der armen Mrs Marsden zu.

»Sie werden ganz bestimmt …« Bevor ich meinen Satz beenden konnte, hörte ich das Zischen einer ganz in der Nähe abgeworfenen Bombe, doch nach einer kurzen Schrecksekunde fuhr ich fort: »… bald wieder völlig auf den Beinen sein.«

Auch Mrs Marsden fuhr zusammen, als wir ein lautes Krachen hörten, ehe sie sich ebenfalls wieder zusammenriss. »Meinen Sie?«

»Ich weiß, dass es so ist, denn Ihre Infektion ist weg«, erklärte ich und wusch ihr das Gesicht mit einem Schwamm.

Sie lächelte mich schüchtern an. »Sehr gut. Was für hübsche Helme.«

»Ich finde, damit sehen wir aus wie Luftschutzwarte.«

Sie lachte leise auf. »Da haben Sie recht.«

Wir alle kreischten, als ein dumpfes Grollen an unsere Ohren drang. Zwar waren wir im Erdgeschoss, doch die Erschütterung war so stark, dass sie den Boden unter unseren Füßen beben ließ.

»Mein Gott, das war echt nah«, stieß Phyllis aus. »Anscheinend haben sie es auf die Gleise abgesehen.«

»Ich wage kaum mir vorzustellen, wie schlimm es erst im East End ist. Durchs Fenster meines Schlafzimmers sehe ich jeden Morgen den Rauch, der dort über den Docks aufsteigt.«

»Meine Schwester lebt in Oxfordshire und sagt, sie können Coventry von dort aus brennen sehen«, mischte sich Mrs Marsden ein. »Die Stadt ist meilenweit entfernt, und trotzdem sehen sie jede Nacht die Flammen.«

»Sie sollten zu ihr ziehen. Dort ist es deutlich sicherer als hier«, schlug Phyllis vor. »Aber jetzt richten Sie sich erst mal auf, dann schüttele ich Ihre Kissen aus.«

»Vielleicht sollte ich tatsächlich zu ihr ziehen«, stimmte ihr Mrs Marsden zu und drehte unglücklich den Ring, den sie an ihrem grün verfärbten Finger trug. »Ich wüsste nicht, was mich jetzt noch in London hält.«

Im Schwesterzimmer läutete das Telefon, und Phyllis sah mich an. Wir wussten beide, was das bedeutete: Weitere Verletzte waren auf dem Weg in unsere Klinik. Und wie nicht anders zu erwarten, streckte kurz darauf die Oberschwester ihren Kopf zu uns herein und forderte mich auf: »Schwester Watson, bitte gehen Sie vors Haus und sagen Bescheid, dass wir im Augenblick nur noch ein freies Bett haben.«

»Das mache ich.«

Ich überließ es Phyllis, sich weiter um Mrs Marsdens Bett zu kümmern, und lief durch das Erdgeschoss, in dem schon Chaos herrschte, ohne dass die neuen Patienten überhaupt angeliefert worden waren. Ärzte, Schwestern und Pflegerinnen rannten durch die Flure, auf den Stühlen saßen die Verletzten und starrten benommen vor sich hin, irgendjemand schluchzte hemmungslos, und jeden Augenblick kämen weitere Patienten an. Ich hatte keine Ahnung, wo wir all diese Menschen unterbringen sollten, aber schließlich holte ich tief Luft, schob die Tür auf und trat in die kühle Abendluft hinaus.

Die Dunkelheit war ich inzwischen hinlänglich gewohnt, doch heute Abend roch die Nacht auch noch durchdringend nach Rauch. Immer wieder explodierten in der Ferne Bomben, die den Himmel wie ein Feuerwerk erhellten, und das rote Licht, das in der Luft hing, zeigte mir, dass irgendwo etwas in Flammen stand. Bei jeder Explosion und jedem Blitz konnte ich kurz die Umrisse der hohen Bäume sehen, die das Krankenhaus umgaben, bevor meine Umgebung wieder in Finsternis versank.

Ich zitterte und wünschte mir, ich hätte meinen Mantel mitgebracht, doch während ich noch überlegte, ob ich vielleicht schnell in die Garderobe laufen sollte, um ihn mit zu holen, drang schon ein lautes Rumpeln an mein Ohr, und ich konnte die Silhouette des zum Krankenwagen umgebauten Busses sehen. Er kam die Einfahrt raufgefahren und hielt direkt neben mir. Die Fahrerin, ein Mädchen meines Alters, das den gleichen Blechhelm trug wie ich, hüpfte von ihrem Sitz und wandte sich mir zu. »Zwei Männer, eine Frau. Alle mit Quetschverletzungen.«

Ich nickte, und zwei andere mir vom Sehen bekannte Schwestern, die dazu gekommen waren, nickten ebenfalls. Dann gingen die Türen des Busses auf, und die Patienten wurden ins Haus gebracht.

Ich unterschrieb das mir hingehaltene Formular, bevor ich im Gegenzug die Fahrerin meinen Zettel unterschreiben ließ, alles in dem vergeblichen Versuch, zumindest ansatzweise einen Überblick über das Chaos der Verletzten zu behalten.

»Bringen Sie uns noch mehr?«

Das Mädchen nickte knapp und wischte sich mit ihrem Handballen den Staub von der Nase. »Auf jeden Fall. Diesmal ist es wirklich schlimm. Die drei sind alle aus demselben Pub in den Docks. Sie waren im Keller, aber die Decke ist zusammengestürzt.«

Sie zog sich wieder auf den Fahrersitz und ließ den Motor an. Mit Hilfe eines Trägers, eines netten Burschen namens Frank, den alle mochten, brachte ich meine Patientin zu dem letzten freien Bett unserer Station. Der armen Frau ging es wirklich schlecht. Sie war unter einem herabgestürzten Balken eingeklemmt worden, und ich war nur froh, dass ihr gebrochener Arm bereits in einer Schlinge lag. Der andere hingegen sah entsetzlich aus. Er war total zerfetzt und baumelte an ihrer Seite, denn die Sanitäter hatten gleich gesehen, dass er nicht mehr zu retten war, und sich die Mühe gespart, ihn notdürftig zu fixieren.

»Den Arm wird sie verlieren«, meinte Phyllis, während sie den Puls der neuen Patientin maß.

Ich nickte grimmig. »Allerdings. Und zwar bevor das Ding sich noch infiziert.«

Die Augen der Patientin gingen flackernd auf, und ich sah sie verlegen an. Hoffentlich hatte sie unsere Unterhaltung nicht mit angehört.

»Meine Kinder«, stieß sie krächzend hervor. »Die Kinder.«

Dass die Bombardierungen Familien auseinanderrissen, waren wir inzwischen hinlänglich gewohnt, deswegen sagte ich: »Wir werden Ihre Kinder finden«, während ich mir überlegte, wo die Kinder wohl gewesen waren, während diese Frau in einem Pub in den Docks gewesen war. Ich sah mir ihre Unterlagen an. »Sie heißen Violet, nicht wahr? Wo waren Ihre Kinder, Violet? Waren Sie bei Ihnen, als Sie in dem Kellerraum verschüttet worden sind?«

Sie schüttelte den Kopf. »Sie sind in Wales. Sie haben sie nach Wales evakuiert.« Stöhnend vor Schmerzen richtete Violet sich auf.

»Bitte bleiben Sie liegen. Keine Angst, die Kinder sind in Sicherheit.«

Sie knirschte mit den Zähnen. »Aber wie sollen sie erfahren, was passiert ist, und wo ich jetzt bin?«

»Sie können Ihnen schreiben, sobald Sie operiert und in der Reha sind«, erklärte Phyllis fröhlich, und ich trat ihr kräftig auf den Fuß. »Aua.« Dann aber wurde ihr bewusst, dass Violet ihre Arme nicht würde benutzen können, und sie schränkte eilig ein: »Wobei den Brief auch jemand anderes für Sie schreiben kann.«

»Das übernehme ich«, bot ich an. »Haben Sie die Adresse?«

»Selbstverständlich.«

Eilig tastete ich in der Tasche meiner Schürze nach dem Bleistift, den ich immer bei mir trug, und schlug ein leeres Blatt in Violets Unterlagen auf. »Dann geben Sie sie mir.«

Atemlos und unter Schmerzen, aber fest entschlossen ratterte sie die Anschrift runter.

»Und wie heißen Ihre Kinder?«, fragte ich.

»Winifred, Jimmy und Ray.«

Rasch kritzelte ich die Namen auf das Blatt. »Ich schreibe ihnen gleich nach Ende meiner Schicht«, versprach ich, und sie entspannte sich ein wenig.

»Ich danke Ihnen«, sagte sie und ließ den Kopf aufs Kissen fallen.

Kapitel drei

Stephanie

Heute

Es regnete schon wieder. War ja klar. Ich sah zum Himmel hinauf und überlegte, ob ich es riskieren oder noch mal reingehen sollte, um mich umzuziehen. Ein fernes Donnergrollen nahm mir die Entscheidung ab, also flitzte ich zurück in meine winzig kleine Wohnung, tauschte meine abgewetzte Lederjacke, die ich mal von meinem Bruder übernommen hatte, gegen meine leuchtend gelbe Regenjacke, zerrte eine Plastiktüte über meinen Rucksack und lief eilig wieder los.

Ich wohnte über einer frei stehenden Garage auf demselben Grundstück, auf dem auch das Haus des Freundes meines Vaters Bernie stand. Er lebte dort mit seiner Frau und den heranwachsenden Kindern und hatte mir die kleine, bisher von verschiedenen Au-pair-Mädchen bewohnte Bude überlassen, weil er meinem Dad noch einen Gefallen schuldete. Ich wusste nicht, wofür er sich bei ihm revanchieren wollte, aber offensichtlich stand er tief in seiner Schuld, denn auch wenn ich die Miete, die er monatlich von mir verlangte, kaum bezahlen konnte, war sie lächerlich gering.

Polternd rannte ich die Metalltreppe hinunter, und als ich mein Rad aus der Garage holte, sah ich absichtlich nicht in die Ecke, wo meine Bilder lehnten und eine inzwischen zentimeterdicke Staubschicht auf den Plastiktüten mit dem Malzeug lag.

Ich zog die Gurte meines Rucksacks etwas straffer, schob mein Fahrrad in den Hof und traf dort auf Micah, Bernies jugendlichen Sohn.

Ich schob mein Rad an ihm vorbei und sagte: »Nein.«

»Ach, bitte.«

»Nein. Geh in die Schule.«

Offenbar hielt Micah mich für sein Au-pair. Zumindest dachte er, er könnte meine Wohnung nutzen, wann immer er wollte, damit niemand merkte, dass er wieder mal nicht in der Schule war. Ich aber wollte nichts mit seiner Schwänzerei zu tun haben, denn auch wenn Bernies Frau echt nett war, so hatte sie doch nur widerstrebend zugestimmt, die Wohnung über ihrer Garage an die Tochter eines von Bernies Freunden zu vermieten. Sie hatte die Garage eigentlich in einen Fitnessraum verwandeln wollen, deswegen gab ich ihr besser keinen Grund, mich vor die Tür zu setzen, denn ich konnte mir nicht leisten, meine wenn auch winzig kleine, hoffnungslos beengte Bude zu verlieren.

Micah runzelte die Stirn, und ich bedachte ihn mit einem aufgesetzten bösen Blick, denn eigentlich war er ein netter Bursche und erinnerte mich manchmal an mich selbst. Er wirkte oft so flattrig und nervös, wie ich es selbst als Teenie oft gewesen war.

»Der Gedanke an die Schule ist viel schlimmer, als tatsächlich hinzugehen«, erklärte ich und schwang mich auf mein Rad. »Die meisten Dinge sind nicht so schrecklich, wie man denkt.«

»Geht’s dir mit deiner Arbeit auch so?«

»Absolut«, flunkerte ich, denn ich machte meinen Job eigentlich gar nicht ungern, auch wenn er zu Anfang nur eine Notlösung gewesen war. »Ich arbeite später auch noch bei Tara. Wenn du nach der Schule dort vorbeikommst, kriegst du meinen Schlüssel und kannst den ganzen Abend in der Wohnung abhängen, wenn du willst.«

Jetzt strahlte er mich an. »Danke, Steve.«

»Stevie«, korrigierte ich mit einem übertriebenen Seufzer, denn seit Micah wusste, dass mich meine Freunde und Familie Stevie nannten, hatte er den Namen Stephanie auf seine eigene Weise abgekürzt.

»In Ordnung, Steve.«

»Stevie!«, rief ich ihm auf dem Weg zum Tor noch mal über die Schulter zu. »Stevie!«

*

Rund um das Alters- und Pflegeheim Tall Trees erstreckte sich zwar eine rote Backsteinmauer hinter einer dichten, grünen Hecke, doch von irgendwelchen großen oder kleinen Bäumen war dort nichts zu sehen. Das große L-förmige Gebäude stand mit der langen Seite parallel zur Straße und dem ordentlich gekiesten Parkplatz, den man aufgrund der vielen Steine besser niemals mit dem Rad befuhr. Ich schloss mein nasses Rad am leeren Fahrradständer an, trug meinen Helm und meinen Rucksack in der Plastiktüte in den Personalraum und zog meine nasse Regenjacke aus.

»Du bist zu spät«, bemerkte meine Chefin, die mit einem Stapel sauberer Handtücher den Flur hinunterlief, bevor sie grinsend stehen blieb und mir ein Handtuch zuwarf.

Ich fing es dankbar auf und rieb mir damit übers Gesicht.

»Dann regnet’s also immer noch?«

»Tatsächlich hat es aufgehört.« Vorsichtig drückte ich mir den feuchten Pferdeschwanz mit dem Handtuch aus, hängte es an die Tür von meinem Spind und zog mir einen sauberen Kittel an.

»Aber …«, setzte Blessing an.

»Bus und Pfütze«, erklärte ich trocken, und sie zog eine Braue hoch.

»Du bist heute in der unteren Etage. Alle haben schon ihren Tee getrunken, aber du musst ihnen helfen, sich fürs Frühstück anzuziehen. Und wenn du damit fertig bist und es nicht wieder regnet, kannst du Mr Yin nach draußen in den Garten fahren. Er möchte sehen, ob die Pfingstrosen inzwischen blühen.«

»Das mache ich.«

Ich knöpfte meinen Kittel zu, fuhr mit den Händen durch mein Haar, schloss meinen Spind und lief los.

»Morgen, Val«, begrüßte ich die Frau im ersten Raum. »Wie geht es Ihnen heute?«

»Ich wünschte, ich wäre tot.« Mit ihren fünfundneunzig Jahren nahm die gute Val kein Blatt mehr vor den Mund. »An diesem gottverdammten Ort bekommt man nicht mal einen anständigen Tee. Ist ein Earl Grey am Morgen vor dem Aufstehen wirklich zu viel verlangt?«

Ich grinste breit. »Wollen Sie jetzt vielleicht trotzdem erst mal aufstehen?«

»Weswegen sollte ich das tun?«

Ich griff in meine Kitteltasche, zog zwei abgepackte Teebeutel daraus hervor und schwenkte sie vor Vals Gesicht. »Um den Earl Grey zu trinken, den es nach dem Aufstehen gibt.«

Ein ungewohntes Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Sie wissen, dass Sie eine von den Guten sind, oder?«

Eilig füllte ich den kleinen Wasserkessel, damit sie nicht die Tränen sah, die in meinen Augen aufgestiegen waren. Inzwischen brach ich bei der kleinsten Kleinigkeit in Tränen aus. Was wirklich lästig war.

»Okay, dann holen wir Sie jetzt erst mal aus dem Bett«, erklärte ich mit aufgesetzter Fröhlichkeit. »Was wollen Sie heute anziehen?«

*

Sobald die fünf Bewohner meines Flurs beim Frühstück saßen, machte ich mich auf die Suche nach Mr Yin. Er saß mit einem Kaffee am Fenster des Gemeinschaftsraums, und als er mich entdeckte, fragte er: »Haben Sie gewusst, dass dieses Haus hier mal ein Krankenhaus war?«

Ich nickte knapp. »Wenn ich in meiner Nachtschicht daran denke, ist mir immer ein wenig unheimlich. Ich krieg jedes Mal die Flatter, wenn hier in den Korridoren alles ganz still und dunkel ist.«

»Die Flatter?« Mr Yin zog eine Braue hoch. Er war ein kluger, kultivierter Mann, der früher zwischen Großbritannien und Hongkong hin und her gejettet war, doch meine Südlondoner Art zu reden, war ihm manchmal fremd.

»Die Atmosphäre macht mir Angst«, erklärte ich.

Er nickte, und ich wusste, dass er den neu gelernten Ausdruck früher oder später selbst anwenden würde.

»Was machen Ihre Beine? Soll ich einen Rollstuhl holen?«

Er nickte seufzend. »Das wäre sicher am einfachsten.«

Ein paar Bewohner unseres Heims waren dauerhaft auf den Rollstuhl angewiesen, andere wie Mr Yin jedoch benutzten ihn nur ab und zu, weswegen immer ein paar Rollstühle vorne im Foyer bereitstanden.

»Bin sofort wieder da.« Ich ging nach vorn, um einen Rollstuhl vom Empfang zu holen, und sah dort einen Mann in meinem Alter oder vielleicht etwas älter stehen. Er war mir unbekannt und erinnerte mit seiner dickrandigen Brille und den zerzausten Haaren ein wenig an Louis Theroux.

»Morgen«, grüßte ich. Er sah auf und lächelte mich an.

»Morgen.«

Ebenfalls ein Lächeln auf den Lippen, kehrte ich zu Mr Yin zurück, half ihm in den Rollstuhl und schob ihn nach draußen. An der Giebelwand blätterte die weiße Farbe ein wenig ab, das aber hinderte die Sprayer aus der Gegend nicht daran, die Wand mit schöner Regelmäßigkeit mit irgendwelchen Bildern oder Sprüchen zu verschönern oder zu verunzieren.

Zum Beispiel hatte letzte Nacht jemand in leuchtend roter Farbe Scheis Regirung auf die Wand gesprüht. Ich konnte die Gefühle, die ihn zu dieser Tat bewogen haben mochten, zwar durchaus nachzuvollziehen, doch die Schreibweise ließ mich schmerzhaft zusammenzucken.

Stirnrunzelnd schob ich Mr Yin auf die Terrasse, wo schon einige der anderen Bewohner und Bewohnerinnen saßen.

»Wollen Sie sich zu den anderen setzen, Mr Yin? Von dort aus können Sie die Pfingstrosen gut sehen, und falls es gleich noch einmal regnet, werden Sie nicht nass.«

»Ich danke Ihnen, Stephanie.«

Als ich ihn zu den anderen geschoben hatte und mich gerade selbst setzen wollte, um ein wenig mit ihnen zu plaudern, streckte Blessing ihren Kopf aus dem Fenster und rief: »Du kannst jetzt kurz nach deiner Granny sehen, Stephanie.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich sitze noch bei Mr Yin.«

»Ich komme jetzt auch alleine zurecht«, erklärte dieser und sah mich verwundert an. »Es sei denn, Sie möchten Ihre Granny gar nicht besuchen?«

Er betrachtete mich forschend, und ich verzog unglücklich das Gesicht.

»Ich weiß, ich sollte zu ihr gehen, aber es fällt mir einfach furchtbar schwer, denn manchmal weiß sie nicht einmal mehr, wer ich bin.«

»So war es auch bei der Mutter meiner Frau. Das ist sehr grausam«, stimmte er mir zu, und eilig wandte ich mich ab und kämpfte gegen die erneut aufsteigenden Tränen.

»Sie wird nicht ewig leben«, sagte ich. »Es geht ihr immer schlechter, deshalb sollte ich wahrscheinlich zu ihr gehen.«

»Das sollten Sie. Wenn Sie sie nicht besuchen, werden Sie das irgendwann bereuen«, pflichtete Mr Yin mir nickend bei.

»Bist du dir sicher?«, rief ich Blessing zu.

»Nun geh schon«, erwiderte sie. »Ich schicke einfach jemand anderen raus auf die Terrasse.«

»Na dann.« Mit einem unterdrückten Seufzer stand ich wieder auf.

Langsam ging ich zur Demenzstation hinüber, die zum Schutz ihrer Bewohner im hinteren Teil des Gebäudes hinter sorgfältig verschlossenen Türen lag. Ich zögerte bei jedem Schritt, denn auch wenn ich mich glücklich schätzen konnte, weil ich meine Nan, die ich von ganzem Herzen liebte, in der Nähe hatte und sie jederzeit besuchen konnte, war es doch furchtbar schwer, sie hier an diesem Ort zu sehen.

»Sie sehen aus, als ob Sie das Gewicht der ganzen Welt auf Ihren Schultern tragen würden«, meinte unser Hausmeister, der gerade einen Zaun reparierte. »Und dabei sollte Ihnen die ganze Welt zu Füßen liegen.«

»Ich bin auf dem Weg zu meiner Nan«, erklärte ich, und er bedachte mich mit einem mitfühlenden Blick.

»Geht es ihr schlechter?«

»Manchmal so und manchmal so.« Genau das machte es für mich so schwer. Ich hasste es, nicht zu wissen, ob sie einen ihrer guten oder ihrer schlechten Tage hatte, wenn ich zu ihr kam. »Haben Sie das Graffiti vorn an der Giebelwand gesehen?«

Cyril rollte mit den Augen. »Nein. Was ist es diesmal?«

»Eine ziemlich stümperhaft geschriebene Beleidigung.«

Er zuckte mit den Achseln. »Das wird warten müssen, denn ich habe erst mal noch mit dem Zaun hier zu tun. Dann muss ich die Dusche in der obersten Etage reparieren, und danach ins Zimmer der Neuen, weil eins der Fenster dort offenbar nicht aufgeht, und das andere nicht richtig schließt.«

»Können Sie das Graffiti nicht einfach überstreichen? Das geht doch bestimmt ganz schnell.«

»Sie sind doch die Künstlerin. Die Farbe steht im Schuppen, also übermalen Sie den Mist doch einfach selbst.«

»Vielleicht mache ich das wirklich«, antwortete ich und ignorierte die Bemerkung über mich als Künstlerin. »Bis dann.«

»Bis dann«, gab er zurück, und ich ging weiter zur Demenzstation. Der Aufenthaltsraum, in dem meine Nan saß, war erheblich kleiner als der Raum auf unserer Seite des Gebäudes, weil es abgesehen von gelegentlichem gemeinsamem Singen hier kaum Unterhaltung für die Bewohner gab. Meine Nan saß am Fenster und blickte hinaus. Ich fragte mich, was sie wohl sah, weil sie sich weder auf den Himmel noch auf die verschiedenen Pflanzen, die im Garten blühten, zu konzentrieren schien.

»Hi, Nan.« Lächelnd setzte ich mich neben sie und drückte ihre Hand. Sie hatte frisch lackierte Fingernägel, und zum dritten Mal an diesem Morgen wurden meine Augen feucht. Meine Großmutter hatte immer viel Wert auf ihr Äußeres gelegt, und das hatte ich für ihre Pflegerinnen und Pfleger auch auf dem Zettel mit den persönlichen Informationen über sie notiert.

»Du siehst sehr hübsch aus«, sagte ich, und meine Nan drehte sich zu mir um und sah mich forschend an.

»Stephanie.«

Mein Herz vollführte einen Freudensprung. »Ich bin es, Nan. Wie geht es dir?«

»Ich habe getanzt.«

»Ach ja?« In diesem Teil des Heims machten sie für die Bewohner oft Musik. »Mit wem hast du getanzt?«

Sie beugte sich vertraulich vor und tätschelte mit ihrer manikürten Hand mein Knie. »Ich habe ganz alleine getanzt. Verlass dich nie auf einen Mann, denn eine Frau braucht ihre Unabhängigkeit.«

»Da hast du recht, Nan.«

»Ich habe eine Enkelin.« Sie richtete sich kerzengerade auf und fügte stolz hinzu: »Sie ist sehr unabhängig und heißt Stephanie.«

Ich nickte. »Ich bin Stephanie.«

Sie blinzelte mich an. »Ach ja? Ich habe dich gar nicht erkannt.«

Lächelnd hakte ich mich bei ihr ein und drückte ihren Arm. »Schön, dich zu sehen, Nan.«

»Sie hat noch einen Zwillingsbruder. Max. Das Duo Infernale habe ich die zwei immer genannt.« Sie lachte leise auf, und ich atmete zischend ein.

»Ich weiß.«

»Stephanie? Wo ist Max? Wann kommt er mich besuchen?«

Diese Fragen stellte sie mir jedes Mal, doch das machte es nicht einfacher. Eine der Schwestern, die hier tätig waren, hatte mich einmal gebeten, einfach mitzuspielen, weil es Nan traurig machte, wenn sie andauernd verbessert wurde, und da es mich selbst schmerzte, wenn ich jedes Mal erklären musste, warum Max sie nicht besuchte, zwang ich mich zu einem Lächeln und behauptete: »Max hat zu tun. Er ist ziemlich beschäftigt.«

Nan lächelte mich selig an. »Er ist ein guter Junge. Macht er gerade Urlaub?«

»Er hat gerade anderswo zu tun«, erklärte ich, auch wenn mein Bruder gerade sicher nicht im Urlaub und erst recht kein guter Junge war.

»Dann kommt er sicher morgen.«

Mein Puls fing an zu rasen, und Schweißperlen traten auf meine Stirn. Es fiel mir zunehmend schwerer, Nan etwas vorzumachen, aber mit der Wahrheit käme sie ganz sicher nicht zurecht. »Ich weiß nicht, Nan«, gab ich zurück und hielt furchtsam den Atem an.

»Er wird ganz sicher morgen kommen. Mein Enkel Max.«

Ich schluckte. »Ja, kann sein.«

Zufrieden nickend wandte sie sich abermals dem Fenster zu, und wieder mal verfluchte ich den dummen, selbstsüchtigen Max, der im Gefängnis saß und mich die Scherben seines und dank ihm auch meines eigenen verpfuschten Lebens ganz allein aufsammeln ließ.

Kapitel vier

»Du kommst du spät«, bemerkte Tara, als ich am Abend im The Vine erschien. Sie saß mit einem Buch am Tresen. In einer Ecke des Gastraums saß ein Mann und starrte schlecht gelaunt in seinen Kaffee.

»Oh je, hoffentlich bist du allein zurechtgekommen«, erwiderte ich und sah mich im leeren Pub um.

Bei meinen Worten zog sie eine ihrer sorgfältig gezupften Brauen hoch.

»Tut mir leid, tut mir leid. Ich hatte einen ziemlich anstrengenden Tag.« Ich trug noch immer Fahrradhelm und Regenjacke, also zog ich auf dem Weg ins winzig kleine Hinterzimmer des Lokals schon mal den Reißverschluss auf.

Ich legte Jacke und Rucksack in den Raum, nahm meinen Helm ab, positionierte ihn sorgfältig obendrauf und zupfte mir vor dem Spiegel über Taras Schreibtisch noch rasch die Frisur zurecht.

»Hattest du heute Dienst im Altersheim?«, erkundigte sich Tara, als ich wieder in den Gastraum trat und mir dabei das Haar zu einem Knoten drehte, weil es unter dem verdammten Regen und dem Helm doch ziemlich gelitten hatte und das Kämmen mit den Fingern auch nicht half.

Ich nickte knapp.

»Wie geht es deiner Nan?«, fragte sie mich mit ihrem gedehnten, kalifornischen Akzent, den ich so mochte.

Ich zuckte mit den Schultern. »So wie immer.«

»Hat sie dich nach Max gefragt?«

Ich nickte abermals.

»Findest du nicht, du solltest ihr die Wahrheit sagen?«

Ich schüttelte den Kopf und fühlte mich mit einem Mal abgrundtief erschöpft. »Das würde sie nur aufregen.«

»Ich weiß beim besten Willen nicht, warum du dich noch immer schützend vor ihn stellst.«

»Das tue ich doch nicht für ihn.«

»Dann ist ja gut.« Sie hielt nicht viel von meiner schrägen Sippe, und ich wusste es zu schätzen, dass sie mich vor ihr beschützen wollte, aber als sie mich jetzt fragte, welche Ausrede ich dieses Mal dafür gefunden hatte, dass mein Bruder unsere Granny nicht im Pflegeheim besuchte, schüttelte ich nur unglücklich den Kopf.

»Ich habe ihr gesagt, dass er verhindert ist.«

»Das war zumindest nicht gelogen«, stellte sie mit einem schmalen Lächeln fest. »Aber das war bestimmt nicht leicht für dich.«

»Schon gut.«

Ein Schatten huschte über ihr Gesicht. »Was sagt dein Dad zu alldem?«

»Der zahlt im Grunde nur die Heimrechnung. Aus allem anderen hält er sich raus. Die Beziehung zwischen ihm und meiner Nan war immer schon kompliziert, und seit meine Mum ihn hat sitzen lassen, kommen sie noch schlechter miteinander aus. Außerdem behauptet er, wenn er nicht wie Max im Knast landen will, könne er nicht riskieren heimzukommen.«

Augenrollend meinte Tara: »Er ist wirklich eine Dramaqueen. Was hat er denn verbrochen?«

Müde ließ ich mich auf einen der Hocker vor dem Tresen fallen und stützte meinen Kopf auf den Händen ab. »Ich habe keinen blassen Schimmer. Vielleicht hat er Steuern hinterzogen oder so. Mit seinem Unternehmen ging es ja irgendwann den Bach runter – erst hat er die Kaution für Max und danach ein Vermögen für die Anwälte bezahlt. Ich weiß nicht, ob es dabei stets mit rechten Dingen zugegangen ist, aber ich nehme an, im schlimmsten Fall muss er noch irgendwelche Rechnungen bezahlen. Er ist schließlich nicht Donald Trump.«

»Ist das etwa eine Entschuldigung?«

»Aus seiner Sicht wahrscheinlich schon.« Mit einem Seufzer fügte ich hinzu: »Immerhin war er zur Verhandlung hier.« Ich schloss die Augen und dachte kurz an den Verhandlungstag zurück. Meine Eltern hatten ihre Streitigkeiten nicht mal während des Prozesses gegen meinen Bruder ruhen lassen. Natürlich hatte Max auch vorher schon ein paarmal vor Gericht gestanden, aber diesmal war uns allen klar gewesen, dass sich eine Haftstrafe nicht mehr vermeiden ließ.

Trotz des kalten Novemberwetters war meine Mum in weißer Flatterhose, dünner Bluse und Sandalen bei der Verhandlung aufgetaucht und hatte mit niemandem ein Wort gewechselt. Doch als ihr Sohn, flankiert von zwei Beamten, durch die Seitentür des Saals trat, keuchte sie übertrieben laut auf, sprang von ihrem Stuhl und presste sich die Hände vor die Brust. Mein Vater bekam einen knallroten Kopf, seine Augen quollen beinahe aus ihren Höhlen, und er raunte mir zu: »Verdammt, mit welchem Recht …?« Und: »Auf der Straße wär sie einfach an ihm vorbeigelaufen.« Das stimmte zwar nicht ganz, fühlte sich aber tatsächlich so an.

Bevor mein Vater noch explodieren und selbst verhaftet werden konnte, rutschte ich auf der für die Familie reservierten Bank näher an meine Mum heran, um sie mit sanftem Druck wieder auf ihren Platz zu ziehen. Danach saß sie die gesamte Verhandlung hindurch mit geschlossenen Augen da; ich jedoch starrte meinen Bruder an und betete stumm, er möge wenigstens kurz in meine Richtung schauen. Doch er sah nicht einmal auf, als er am Ende wieder in den Zellentrakt zurückgebracht wurde.

Nach Ende des Prozesses standen wir noch kurz vor dem Gerichtsgebäude, und zum ersten Mal an jenem Tag sah meine Mutter mich wirklich an.

»Stephanie.« Sie umarmte mich mit laut klimpernden Armreifen und fragte: »Wie konnte das nur passieren?«

Was sie damit tatsächlich meinte, war, warum ich nicht verhindert hatte, dass der arme Max jetzt hinter Gittern saß.

Doch obwohl sie ganz eindeutig mir die Schuld an seinen »Schwierigkeiten« gab, war sie noch immer meine Mum, und da ich sie so lange nicht gesehen hatte, klammerte ich mich an ihr fest wie ein kleines Kind an seinem ersten Tag im Kindergarten. Sie jedoch befreite sich von mir, blickte vielsagend dorthin, wo mein Dad mit seiner Freundin Chrissy und dem – wirklich teuren – Anwalt meines Bruders stand und erklärte: »Ich brauche jetzt erst mal einen Augenblick für mich.«

So war sie schon immer gewesen. Flüchtig. Ständig auf dem Sprung. Der ganz normale Alltag, Elternabende, Schulabschlüsse oder die Gerichtsverhandlungen eines ihrer Kinder hatten sie nie wirklich interessiert. »Max würde auch nicht wollen, dass ich hier noch länger rumstehe.«

Ich hatte mitfühlend genickt, obwohl es meinem Bruder sicher völlig schnuppe war, was unsere Mutter tat. Am liebsten wäre ich mit ihr gegangen, weg von dieser grauen Straße und den Anzugträgern, die aus dem Gerichtsgebäude quollen. Weg von meinen Schuldgefühlen. Doch ich wusste, dass sie mich nicht hätte mitnehmen wollen, und um mir den Schmerz einer Zurückweisung zu ersparen, fragte ich sie gar nicht erst, sondern sah ihr nur nach, als sie wie ein Sonnenstrahl, der durch die Wolken brach, den schmuddeligen Bürgersteig hinuntertänzelte. Genau so hatte sie sich an dem Tag bewegt, als Max und ich ihr nachgesehen hatten und sie, einen Rucksack auf dem Rücken und den Reisepass in der Hand, zu ihrer Reise aufgebrochen war.

»Ich muss ich selbst sein, keine Mutter oder Ehefrau.« Mit diesen Worten hatte sie sich auf den Weg gemacht und sich, obwohl sie hatte wissen müssen, dass wir Kinder durch das Fenster sahen, kein einziges Mal nach uns umgedreht.

Natürlich hatte Max es im Gegensatz zu mir brillant gefunden. Er hatte anders als ich selbst problemlos akzeptiert, dass sie ein »Freigeist« war, und zustimmend die Faust gereckt. »Das machst du richtig, Mum.«

Nach seiner Verhandlung hatte ich also vor dem Gericht gestanden und zugesehen, wie meine Mum in einen alten Campingbus gestiegen war, der auf einem Behindertenparkplatz stand. Der Fahrer hatte einen Cowboyhut getragen und unserem ehemaligen Nachbarn Graham ziemlich ähnlich gesehen. Die beiden hatten sich geküsst, dann waren sie losgefahren, und seither hatte ich Mum nicht mehr gesehen.

»Was ist mit deiner Mutter?«, fragte Tara, als könnte sie meine Gedanken lesen. »Kann sie dir nicht mit deiner Granny helfen?«

Schnaubend antwortete ich: »Sie mochte Nan noch nie. Was meiner Meinung nach so einiges aussagt, wenn man bedenkt, dass Nan es war, die sich um uns gekümmert hat, als Mum auf ihren Selbstfindungstrip gegangen ist.«

Tara glitt von ihrem Hocker, doch sobald sie einen Schritt in meine Richtung machte, hob ich abwehrend die Hand.

»Bleib, wo du bist«, warnte ich sie. »Du weißt genau, dass ich sofort anfange zu heulen, wenn du jetzt nett zu mir bist.«