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Ein Haus auf den Klippen. Das Schicksal zweier Frauen. Jahrhunderte voller Geheimnisse.
Die Küste von East Sussex, 1855. -
Violet Hargreaves ist die einzige Tochter eines verwitweten Industriellen und leidenschaftliche Malerin. Ihr Vater jedoch unterstützt diese Begabung nicht und verbietet ihr das Malen. Dann trifft Violet am Strand den geheimnisvollen und gutaussehenden Edwin. Der junge Mann bestärkt sie in ihrer Begabung und Violet erliegt seinem Charme. Doch dann nehmen schreckliche Ereignisse ihren Lauf.
Die Küste von East Sussex, 2016 -
Für die Thriller-Autorin Ella Daniels ist das Haus auf den Klippen, in das sie mit ihrer Familie gezogen ist, der perfekte Ort, um ihre Schreibblockade zu überwinden. Doch in dem Haus herrscht eine merkwürdige Atmosphäre. Als Ella dann das Porträt einer schönen jungen Frau namens Violet Hargreaves entdeckt, die einst spurlos verschwand, ist sie fest entschlossen herauszufinden, was passiert ist. Doch um Violets Schicksal aufzuklären, muss sich Ella ihrer eigenen Geschichte stellen ...
Ein ergreifendes Familiengeheimnis für Fans von Kate Riordan, Tracy Rees, Kate Morton und Lucinda Riley.
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Seitenzahl: 484
Ein Haus auf den Klippen. Das Schicksal zweier Frauen. Jahrhunderte voller Geheimnisse.
Die Küste von East Sussex, 1855. -
Violet Hargreaves ist die einzige Tochter eines verwitweten Industriellen und leidenschaftliche Malerin. Ihr Vater jedoch unterstützt diese Begabung nicht und verbietet ihr das Malen. Dann trifft Violet am Strand den geheimnisvollen und gutaussehenden Edwin. Der junge Mann bestärkt sie in ihrer Begabung und Violet erliegt seinem Charme. Doch dann nehmen schreckliche Ereignisse ihren Lauf.
Die Küste von East Sussex, 2016 -
Für die Thriller-Autorin Ella Daniels ist das Haus auf den Klippen, in das sie mit ihrer Familie gezogen ist, der perfekte Ort, um ihre Schreibblockade zu überwinden. Doch in dem Haus herrscht eine merkwürdige Atmosphäre. Als Ella dann das Porträt einer schönen jungen Frau namens Violet Hargreaves entdeckt, die einst spurlos verschwand, ist sie fest entschlossen herauszufinden, was passiert ist. Doch um Violets Schicksal aufzuklären, muss sich Ella ihrer eigenen Geschichte stellen ...
Ein ergreifendes Familiengeheimnis für Fans von Kate Riordan, Tracy Rees, Kate Morton und Lucinda Riley.
Kerry Barrett wurde in Edinburgh geboren, zog aber als Kind mit ihren Eltern nach London, wo sie auch heute noch mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen lebt.
Schon als Kind war sie ein großer Bücherfan und ihre Arbeit als Fernsehjournalistin hat den Wunsch noch verstärkt ihre eigenen Bücher zu schreiben. Dabei liebt sie vor allem Geschichten, in denen es ein Geheimnis in vergangenen Zeiten zu entschlüsseln gibt.
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Kerry Barrett
Das Klippenhaus
Aus dem Englischen von Sonja Fehling
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Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
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Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
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Kapitel 44
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Kapitel 46
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Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
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Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Dank
Impressum
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Heute
Ella
»Es ist perfekt«, sagte Ben. »Das perfekte Haus für uns.«
Als ich die Begeisterung in seiner Stimme hörte, musste ich unwillkürlich lächeln.
»Wie sieht es denn aus?«, wollte ich wissen. Ich lag im Bett, weil ich mir irgendeinen Magen-Darm-Virus eingefangen hatte, doch auf einmal fühlte ich mich wesentlich besser. Gespannt setzte ich mich auf, lehnte mich gegen das Kopfteil des Bettes und blickte aus dem Fenster auf die graue Londoner Straße hinab. Es sah nach Regen aus, und der Himmel hatte sich ziemlich verdunkelt, obwohl es noch früher Nachmittag war.
»Ich schicke dir Fotos«, entgegnete Ben. »Du wirst es lieben. Meerblick natürlich, ruhig, aber nicht zu abgeschieden …« Einen Moment lang hielt er inne. »Und …« Er gab eine seltsame Tonfolge von sich, die vermutlich eine Fanfarenmelodie darstellen sollte.
»Und was?«, hakte ich kichernd nach. »Was noch?«
Der Triumph war Ben deutlich anzuhören. »Ach, nur einen ausgebauten Dachboden.«
»Nein«, rief ich entzückt. »Das gibt’s ja nicht. Dann könnte man dort tatsächlich ein Arbeitszimmer einrichten?«
»Das gibt’s sehr wohl«, erwiderte Ben. »Und siehst du? Das Haus ist wie für uns geschaffen.«
Nachdenklich blickte ich zu meinem Laptop hinüber, der gefährlich weit über die Kante meiner als Schreibtisch umfunktionierten Frisierkommode ragte, die wir wiederum in eine Ecke unseres Schlafzimmers gequetscht hatten. Bisher waren wir sehr glücklich hier in diesem engen Reihenhaus gewesen. Unsere Jungs waren hier aufgewachsen, und es war wie ein sicherer Hafen für uns. Mit dem neuen Haus würden wir uns in ein ungewohntes Abenteuer stürzen – ein Gedanke, der mir gerade ziemliche Angst einjagte. Doch die Vorstellung, endlich Platz zum Schreiben zu haben … Welch ein Luxus. Mein Blick fiel auf die Notizen für mein nächstes Buch, die überall auf dem Boden verteilt lagen, und erneut musste ich lächeln.
»Was sagen die Jungs?«, fragte ich.
»Die schlafen«, gab Ben zurück. »Es gießt in Strömen, deswegen sitzen wir noch alle im Auto. Ich hab den Makler angerufen, der ist auf dem Weg, also mache ich die Jungs gleich wach.«
»Ruf mich noch mal an, wenn er da ist«, bat ich. »Oder weißt du was – mach einen Videoanruf. Ich will mir das Haus mit euch zusammen anschauen.«
»Okay«, sagte Ben. »Das dürfte nicht mehr lange dauern.«
Damit beendete ich den Anruf und lehnte mich wieder in die Kissen zurück. Mir ging es definitiv besser, und seit einigen Stunden hatte ich mich nicht mal mehr übergeben müssen. Trotzdem war ich froh, dass ich nicht mit Ben und den Kindern nach Sussex gefahren war – mir war immer noch ein bisschen schlecht.
Ich nahm das Glas Wasser, das auf meinem Nachttisch stand, und drückte es gegen meine heiße Stirn, während ich an das Haus dachte. Wir hatten es im Frühling während eines spontanen Wochenendtrips entdeckt. Ben hatte ein Vorstellungsgespräch bei einem Fußballverein in Brighton gehabt. Kein gewöhnliches Vorstellungsgespräch, sondern das Vorstellungsgespräch überhaupt: für seinen Traumjob als leitender Physiotherapeut in einem Profiverein – den Job, auf den er seit seiner Ausbildung hingearbeitet hatte. Mit einem großzügigen Gehalt und fantastischen Möglichkeiten.
Erst auf den letzten Drücker hatten die Jungs und ich uns entschieden mitzukommen, und während Ben sein Gespräch gehabt hatte, war ich durch die schmalen Straßen von Brighton geschlendert – mit Stanley im Buggy und dem energiegeladenen Oscar an meiner Seite. Ich weiß noch, wie sehr ich mich über die vielen glücklich wirkenden Familien um mich herum gewundert hatte, und jedes Mal, wenn ich am Ende einer Straße das Meer im Sonnenlicht hatte glitzern sehen, war meine Laune merklich gestiegen. An diesem Tag hatte ich das Gefühl gehabt, alles wäre möglich; als sollte ich jede Chance auf Glück, die sich mir bot, sofort ergreifen, weil ich nur allzu gut wusste, wie schnell es sich verflüchtigen konnte.
Am nächsten Tag – nachdem Ben die Zusage bekommen hatte – waren wir ein Stück die Küste hinunter zu einem abgelegenen Strand gefahren, hatten uns auf den Kies gesetzt und den Jungs dabei zugesehen, wie sie mit der Brandung Fangen spielten.
»Ich finde es so schön hier«, sagte ich und verlagerte meine Position so, dass ich den Kopf auf Bens Oberschenkel legen und die niedrigen Klippen über uns betrachten konnte, die den Strand umschlossen. Ich konnte die Dächer des nächsten Dorfs sehen, dessen Häuser aufs Meer hinausblickten, und auf der Spitze der Klippe entdeckte ich ein leicht windschiefes Zu-Vermieten-Schild.
»Ich wünschte, wir könnten hier leben«, sagte ich und deutete auf das Schild. »Da oben. Lass uns dieses Haus da mieten.«
Blinzelnd, um seine Augen vor der Frühlingssonne zu schützen, sah Ben mich an. »Ja, klar«, entgegnete er. »Ist das nicht ein bisschen zu spontan für dich?«
Ich musste schmunzeln. Da hatte er recht. Risiken einzugehen war noch nie so mein Ding gewesen. Ich war eine Planerin. Eine, die sich absicherte, die alles gründlich recherchierte. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie irgendwas aus einem Impuls heraus getan. Doch plötzlich wurde mir bewusst, dass ich es tatsächlich ernst meinte.
»Bei Stanleys Geburt wäre ich fast gestorben«, sagte ich, setzte mich auf und blickte Ben an. »Und Stanley auch.«
Ben sah aus, als müsste er sich gleich übergeben. »Ich weiß, Ella«, antwortete er sanft. »Das weiß ich nur zu gut. Aber du bist nicht gestorben – und Stan ist zum Glück auch hier bei uns und strotzt nur so vor Gesundheit.«
Versonnen schauten wir beide zum Wasser hinüber, wo der fast dreijährige Stanley – mittlerweile ein robuster kleiner Kerl – eine Kuhle in den Sand grub und zusah, wie sie sich mit Wasser füllte.
»Er ist gesund«, wiederholte Ben.
Entschlossen nahm ich seine Hand, wollte unbedingt, dass er verstand, was ich ihm gerade zu sagen versuchte. »Mir ist schon klar, dass du das weißt«, entgegnete ich. »Aber nach dem, was mit meiner Mum passiert ist, hatte ich Angst, irgendwas Riskantes zu machen – deshalb habe ich mich immer für die sichere Option entschieden.«
Auf Bens Gesicht breitete sich langsam Sorge aus. »Ella«, begann er, »was willst du mir eigentlich sagen? Und wo kommt das jetzt auf einmal her?«
»Hör mir zu«, bat ich. »Hör mir einfach zu: Wir leben jetzt seit zehn Jahren im selben Haus. Ich würde mich nie zur Rush Hour in die U-Bahn setzen. In unseren Flitterwochen wollte ich nicht mal Jetski mieten. Ich bin Steuerberaterin, verdammt, ich gehe kein Risiko ein. Niemals. Aber auf einmal ist mir klar geworden, dass es doch verrückt ist, sein Leben auf diese Art zu leben. Denn wenn ich eins gelernt habe, dann, dass du noch so sehr versuchen kannst, immer den sicheren Weg zu gehen – die schlimmen Dinge passieren trotzdem. Als ich schwanger war, hab ich versucht, alles richtig zu machen: kein Alkohol, kein Weichkäse – ich hab sogar aufgehört, mir Strähnchen machen zu lassen, obwohl das totaler Quatsch ist. Und trotz dieser ganzen Maßnahmen wäre ich fast gestorben, und Oscar hätte fast seine Mum verloren, so wie ich meine. Und du hättest fast deine Frau verloren. Und unseren kleinen Stanley.«
»Und jetzt? Jetzt wirst du plötzlich drei Jahre später zur Draufgängerin?«, fragte Ben.
Ich verzog das Gesicht. »Nein«, erwiderte ich. »Jetski will ich immer noch nicht fahren. Aber ich erkenne zumindest, dass manche Dinge es wert sind, ein Risiko einzugehen.« Vielsagend deutete ich auf das Haus oben auf der Klippe. »Das da zum Beispiel.«
»Ernsthaft?« Ich konnte deutlich erkennen, dass Ben begeistert war, aber sich bemühte, es mir nicht zu zeigen, für den Fall, dass ich meine Meinung wieder ändern sollte. »Würde dir das Leben in London nicht fehlen?«
Einen kurzen Moment dachte ich darüber nach. »Nein«, antwortete ich dann langsam. »Das glaube ich nicht. Wenn wir das Stadtleben vermissen, können wir immer noch nach Brighton fahren, da ist genug los. Und den Rest der Zeit wäre ich vollauf damit zufrieden, irgendwo zu leben, wo es etwas entspannter zugeht.« Ich hielt inne. »Könnten wir es uns leisten, dass ich meinen Job aufgebe?«
»Ich schätze, schon«, sagte Ben. »Ich meine, in meinem neuen Job werde ich ganz gut verdienen und …«
»Ich hab immer noch meine Bücher«, beendete ich den Satz für ihn. Neben meiner sterbenslangweiligen Arbeit als Steuerberaterin schrieb ich Romane – über eine Privatdetektivin namens Tessa Gilroy, die all die aufregenden, gefährlichen Dinge tat, vor denen ich im wahren Leben viel zu viel Angst hatte. Mein erstes Buch war sogar recht erfolgreich gewesen, zumindest hatte es einige Aufmerksamkeit erregt. Auch mein zweiter Roman hatte sich gut verkauft. Und damit hörte es auch schon wieder auf: Seit Stans Geburt hatte ich so gut wie gar nichts mehr zu Papier gebracht. Meine Abgabetermine waren mittlerweile alle verstrichen, und meine Lektorin wurde langsam etwas gereizt.
»Vielleicht würde mir ein Tapetenwechsel ja sogar helfen«, sagte ich und war auf einmal nicht mehr ganz so verzweifelt, was meine schriftstellerische Karriere betraf. »Vielleicht ist das ja genau das, was ich brauche – meinen Job aufgeben und aus London wegziehen –, um meine Schreibblockade zu überwinden.«
Und so hatte alles angefangen …
Ben hatte seine Stelle beim Fußballverein angetreten und pendelte seitdem jeden Tag nach Sussex, so lange, bis wir umziehen würden. Und ich hatte meine Kündigung eingereicht. Ich tauschte die langweile Welt der Steuern gegen das Schreiben ein. Zumindest hoffte ich das.
Das erneute Klingeln des Handys riss mich aus meinen Erinnerungen.
»Bereit?«, fragte Ben und lächelte mich vom Bildschirm her an.
»Ich bin nervös«, gestand ich. »Was, wenn wir es schrecklich finden?«
»Dann suchen wir uns was anderes«, sagte Ben. »Ist doch kein Problem.«
Ich hörte, wie er irgendetwas zu einem anderen Mann sagte – dem Immobilienmakler, nahm ich an –, und musste kichern, als die zerwuschelten Haarschöpfe der Jungs durchs Bild flitzten.
Natürlich hatte ich auf dem winzigen Display meines Handys nicht den allerbesten Blick, doch während Ben durchs Haus ging, konnte ich genug sehen, um zu erkennen, dass es tatsächlich perfekt war. Die Zimmer waren groß, die Küche sogar riesig, und es gab einen hübschen Garten mit Zugang zu ebenjenem Strand, an dem wir Monate zuvor gesessen hatten. Vom Wohnzimmer aus hatte man außerdem einen atemberaubenden Blick aufs Meer.
»Zeig mir mal den oberen Bereich«, bat ich und konnte es kaum abwarten, den Dachboden zu sehen.
Doch der Empfang war schlecht, und ich konnte Ben zwar noch hören, während er die Treppe hinaufging, aber nicht mehr sehen.
»Drei große Schlafzimmer und ein kleineres«, informierte er mich. »Ein etwas altmodisches Bad in bezauberndem Hellrosa-Orange …«
Ich verzog das Gesicht. Allerdings würden wir zunächst nur zur Miete wohnen – ich war noch nicht bereit, unser Haus in London zu verkaufen, solange wir uns noch nicht endgültig in Sussex niederlassen würden –, deshalb konnte ich mich schlecht über die Einrichtung beschweren.
»… und der Dachboden besteht aus einem leeren Raum mit weißen Wänden, Einbauschränken, hohen Fenstern mit Blick aufs Meer und … einem weiß gestrichenen Holzboden«, fuhr Ben fort. »Perfekt für dein Arbeitszimmer.«
Einen Moment lang konnte ich gar nichts sagen, konnte es einfach nicht glauben, dass sich alles so wunderbar fügte.
»Echt jetzt?«, fragte ich. »Mein Arbeitszimmer auf dem Dachboden?«
»Echt jetzt«, bestätigte Ben.
»Und gefällt das Haus auch den Jungs?«
»Die wollen einen Hund«, sagte Ben.
Begeistert lachte ich. »Klar holen wir uns einen Hund«, beschloss ich.
»Sie haben sich schon ihre Zimmer ausgesucht und sind beide schon so oft durch den Garten gerannt, dass sie wahrscheinlich einschlafen, sobald wir im Auto sind.«
»Dann los«, sagte ich. »Unterschreib alles, was du unterschreiben musst. Lass uns das machen.«
»Willst du das Haus denn nicht erst selbst sehen?«, fragte Ben vorsichtig. »Nach passenden Schulen suchen? Sichergehen, dass alles so läuft, wie du dir das vorstellst?«
Früher hätte ich das definitiv getan, aber diesmal nicht. Jetzt wollte ich einfach nur, dass unser neues Leben endlich begann.
»Oder willst du erst mit deinem Dad sprechen?«
»Nein.« Das wäre keine gute Idee, denn ich wusste, er würde versuchen, uns das auszureden. Bisher hatte ich ihm noch gar nichts von unserem Umzug erzählt. Er wusste nicht mal, dass ich gekündigt hatte, sondern ging davon aus, dass Ben weiter pendeln würde und mein Leben genauso weitergehen würde wie immer.
Mein ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis hatte ich von meinem Dad, und ich war schon fast mein ganzes Leben lang sehr bemüht, nichts zu tun, was ihm missfallen könnte. Als Teenager hatte ich nie rebelliert, hatte mich nie älter gemacht, als ich war, um in einen Pub reinzukommen, und ich war nie später als fünf Minuten nach der vereinbarten Zeit nach Hause gekommen. Auf seinen Rat hin hatte ich Jura studiert – er war Anwalt – und war anschließend ebenso seiner Empfehlung gefolgt, was meine weitere berufliche Laufbahn anging.
Unser Umzug war das Rebellischste, was ich je getan hatte, und ich wusste, Dad würde entsetzt darüber sein, dass ich meinen sicheren Job aufgab, Oscar die Schule wechselte und wir unser eigenes Haus vermieten würden. Und obwohl wir in Sussex viel mehr in seiner Nähe wohnen würden als vorher, dachte ich mir, dass es besser wäre, wenn er erst einmal so wenig wie möglich von unseren Plänen erfuhr.
»Wir könnten nächstes Wochenende noch mal herkommen«, schlug Ben vor. »Wenn es dir wieder besser geht …«
»Nein«, entschied ich noch in dieser Sekunde. »Ich will nicht riskieren, dass uns das Haus durch die Lappen geht. Wir haben sowieso schon Glück, dass es so lange leer stand. Lass uns dieses Glück nicht überstrapazieren. Unterschreib.«
»Sicher?«, hakte Ben nach.
»Ja, ich bin mir sicher.«
»Super«, befand er, und erneut kehrte die Begeisterung in seine Stimme zurück, gepaart mit noch etwas anderem – Erleichterung vielleicht. Er war bestimmt froh, aus London wegzuziehen.
»Ella?«
»Ja?«
»Ich war wirklich glücklich in London«, sagte er leise. »Richtig glücklich mit dir und den Jungs. Aber das hier wird noch viel besser. Das verspreche ich dir. Ich weiß, das erfordert viel Vertrauen in die Zukunft und macht Angst, und ich weiß, es ist alles ziemlich spontan, aber solange wir alle zusammen sind, wird alles gut.«
Unvermittelt traten mir Tränen in die Augen. »Ja«, entgegnete ich nur.
»Wir sind stark, wir beide«, fügte Ben hinzu. »Und Oscar und Stan auch. Das ist genau das Richtige für uns.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Wir werden dort sehr glücklich sein.«
Von diesem Zeitpunkt an blieb mir kaum ein Moment, um Luft zu holen, was eigentlich ganz gut war. Hätte ich Zeit gehabt, über das, was wir taten, nachzudenken, hätte ich sicher alles abgesagt, denn die Wahrheit war, dass der Umzug mir wahnsinnige Angst einjagte.
Auf dem Papier klang das Haus perfekt, und ich vertraute Bens Urteil. Außerdem war es ja auch nicht so, als hätte er das alles ohne mich entschieden, sagte ich mir jedes Mal, wenn ich mir Sorgen darüber machte, dass ich unser neues Zuhause noch nicht einmal besichtigt hatte. Aber ich hatte es entdeckt. Ich hatte es über Video und auf der Webseite des Immobilienmaklers gesehen. Ich war also immer an der Entscheidungsfindung beteiligt gewesen, von Beginn an.
Deshalb konzentrierte ich mich lieber auf die Tatsache, dass der neue Mieter unseres Londoner Hauses es geradezu unverschämt eilig hatte, bei uns einzuziehen. Ich rechnete mir aus, ob unser altes, abgenutztes Sofa ins neue Wohnzimmer passen würde und ob die Jungs neue Betten brauchten. Und ich erträumte mir mein eigenes Arbeitszimmer, meinen kleinen Rückzugsort auf dem Dachboden.
Der einzige Wermutstropfen war Dad, dem ich natürlich irgendwann sagen musste, dass wir wegziehen würden. Also nahm ich mir eines Tages – etwa eine Woche bevor wir endgültig abreisen würden und kurz bevor meine Kündigung wirksam wurde – einen halben Tag frei und fuhr runter nach Kent, um ihn und Barb, meine Stiefmutter, zu besuchen.
»Ich dachte, wir könnten vielleicht zusammen im Pub essen, ein verspätetes Mittagessen sozusagen«, schlug ich direkt nach meiner Ankunft vor, mit dem Hintergedanken, dass der Tag vermutlich besser verlaufen würde, wenn ich Dad die Neuigkeiten in der Öffentlichkeit verkündete. Mir fiel ein kleiner Stein vom Herzen, als Barb und Dad sofort zustimmten, und so schlenderten wir wenig später die Straße zu ihrem Stammpub hinunter. Um ehrlich zu sein, hatte ich keine Ahnung, wie Dad reagieren würde – schließlich hatte ich bisher noch nie etwas gegen seine Zustimmung getan.
»Vielleicht findet er es ja gar nicht so schlimm«, hatte Ben gemeint. »Ich glaube, du machst dir zu viele Gedanken. Letztendlich will er doch nur, dass du glücklich bist.«
Aber da war ich mir wirklich nicht sicher. Ich hatte Angst, dass meine Beziehung zu meinem Dad ausschließlich darauf aufgebaut war, dass ich immer tat, was er wollte. Ich wusste, dass ihn das Risiko, das wir eingingen, beunruhigen würde, und er würde erwarten, dass ich mir seine Bedenken anhörte, ihm anschließend recht gab und meine Meinung änderte. Aber diesmal würde ich das nicht tun. Und genau das machte mir Sorgen.
Ich war in Tunbridge Wells aufgewachsen. In unserem Haus lebte Dad allerdings nicht mehr, weil er und Barb – die ich unheimlich gernhatte – nach ihrer Hochzeit umgezogen waren, kurz nachdem ich angefangen hatte zu studieren. Das neue Haus war nicht weit entfernt von unserem alten, aber weit genug, wenn Sie verstehen, was ich meine.
»Und wie ist Ben mit seiner neuen Arbeit zufrieden?«, erkundigte sich Dad, nachdem wir an unserem Tisch Platz genommen hatten.
»Sehr zufrieden«, sagte ich. »Es läuft wirklich gut.«
»Aber diese Pendelei ist sicher anstrengend«, merkte Dad an.
»Ja, furchtbar«, pflichtete ich ihm bei. »Deshalb haben wir auch eine Entscheidung getroffen.«
Gespannt sahen Dad und Barb mich an, während ich tief durchatmete und ihnen dann von unseren Plänen erzählte.
»Es ist ein wunderschönes Haus«, sagte ich. »Und wir mieten erst mal nur, wobei Ben meinte, der Vermieter wäre auch bereit zu verkaufen, wenn wir das wollen.«
Barb lächelte mir zu. »Das klingt fantastisch«, befand sie. »Aber bedeutet das nicht, dass du stattdessen pendeln musst?«
»Na ja«, sagte ich. »Eigentlich …«
Dad nahm seine Brille ab, um sich über seine Nasenwurzel zu reiben, und ich spürte, wie mich langsam der Mut verließ.
»Eigentlich?«, drängte er schließlich.
»Eigentlich habe ich die Kündigung eingereicht«, räumte ich ein, griff nach meinem Wasser und kippte es runter, während ich wünschte, es wäre Gin.
Entgeistert sahen Barb und Dad sich an.
»Das ist ein großer Schritt«, sagte Barb vorsichtig.
»Ja, das stimmt«, bestätigte ich, »aber wir sind wirklich davon überzeugt, dass es die richtige Entscheidung ist. Ben verdient genug für uns alle, und ich hab ja noch meine Bücher.«
Dad nickte, als hätte er gerade einen Entschluss gefasst. »Am besten nimmst du dir ein Sabbatjahr«, riet er. »Was haben sie denn in deiner Firma gesagt, als du das vorgeschlagen hast? Falls sie abgelehnt haben, kannst du wahrscheinlich triftige Gründe geltend machen, die sie dazu bringen, sich das noch mal zu überlegen. Wenn du willst, kann ich mal mit Pete aus meiner alten Kanzlei sprechen. Er ist Experte für Arbeitsrecht …«
»Dad«, unterbrach ich ihn. »Ich habe nicht gefragt, ob ich ein Sabbatjahr nehmen kann, weil ich das nicht will. Ich gebe meinen Job auf und werde ab jetzt Vollzeitautorin. Wir haben das alles gut durchdacht.«
Einen Moment lang sah Dad mich irritiert an. »Nein, Ella«, sagte er dann. »Das ist zu riskant. Was, wenn Ben doch Probleme auf seiner neuen Stelle bekommt? Oder wenn die Jungs sich nicht richtig einleben können? Hast du dir schon eine neue Schule für Oscar angesehen? Er ist ein sehr kluger kleiner Kerl und muss gefordert werden. Und denkt bloß nicht darüber nach, euer Haus in London zu verkaufen. Wenn ihr einmal aus London raus seid, könnt ihr nie wieder zurück. Nicht bei den derzeitigen Immobilienpreisen.«
»Dad«, sagte ich erneut. »Es ist alles gut. Wir wissen, was wir tun.«
»Ich rufe Pete gleich jetzt an«, verkündete Dad. »Hm, wo hab ich denn wieder dieses verdammte Handy hingesteckt?«
»Dad«, wiederholte ich, diesmal in einem schärferen Tonfall. »Lass das.«
Dad zuckte zusammen und verzog das Gesicht. »Schrei doch nicht so, Ella«, sagte er. »Was ist denn mit dir los?«
Kopfschüttelnd sah ich ihn an. »Ich wusste genau, dass du so reagieren würdest«, entgegnete ich. »Ich wusste, du würdest nicht wollen, dass ich meinen Job aufgebe oder dass wir umziehen.«
»Ich mache mir nur Sorgen«, sagte Dad.
Ein Funken Mitgefühl glomm in mir auf. Natürlich machte er sich Sorgen. Aber ich war nicht mehr sein kleines Mädchen, und wir mussten uns nicht mehr wie zwei Ertrinkende aneinanderklammern, so wie wir es während meiner Kindheit und Jugend getan hatten.
»Dann hör damit auf«, erwiderte ich härter, als ich es beabsichtigt hatte. »Hör auf, dir Sorgen zu machen. Mir geht’s gut. Ben geht’s gut. Und den Jungs auch.«
Barb legte ihre Hand auf Dads Finger, als wollte sie ihn beschwören, die Sache auf sich beruhen zu lassen, doch Dad war nun mal Dad und verstand die Andeutung nicht.
»Ich denke, ich sollte Pete trotzdem anrufen«, sagte er. »Nur zur Sicherheit.«
Mit Schwung schob ich meinen Stuhl zurück und stand auf. »Wehe, du holst dein Handy raus«, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus. »Wage es ja nicht.«
Dad und Barb starrten mich völlig perplex an, was nicht weiter erstaunlich war. Ich war Dad gegenüber noch nie laut geworden. Ich hatte ja noch nicht einmal seine Entscheidung infrage gestellt, welches Essen wir an unseren Filmabenden bestellen würden.
»Ella«, sagte Dad schließlich. »Ich finde, du reagierst ein wenig unverhältnismäßig.«
Doch diese Antwort machte mich nur noch entschlossener, meinen Standpunkt zu vertreten.
»Ich reagiere nicht unverhältnismäßig«, gab ich zurück. »Ich will nur, dass du verstehst, was wir machen: Ich habe meinen Job gekündigt, und wir ziehen nach Sussex. Wodurch wir übrigens näher bei euch wohnen werden als jetzt. Ich dachte eigentlich, das würde dich freuen.«
Meine Stimme wurde immer schriller, und ich stand kurz davor, in Tränen auszubrechen, trotzdem fuhr ich fort, während Dad mich, stumm vor Schreck, anstarrte. »Ich weiß, es ist riskant, aber wir haben beschlossen, dieses Risiko einzugehen, weil es uns das wert ist. Du weißt doch selbst, Dad, dass sich die Dinge innerhalb von Sekunden zum Negativen ändern können. Das weißt du besser als jeder andere.«
Dad nickte, sagte jedoch immer noch nichts.
»Also, das ist beschlossene Sache. Und ich wusste, du bist dagegen. Und es tut mir leid, wenn du mich jetzt für zickig hältst. Oder wenn du mich nicht mehr in deinem Leben haben willst, weil ich etwas tue, das dir nicht gefällt. Aber ich tue es trotzdem.«
»Ella …«, begann Dad. »Ella, ich verstehe das nicht.«
»O doch, du verstehst mich sehr gut«, widersprach ich, befeuert von all den Sorgen um den Umzug und von dem Gespräch mit Dad. Meine Stimme troff nur so vor Gift, während ich mich auf die Tischplatte aufstützte und zu Dad vorlehnte. »Du verstehst mich ganz genau. Ich war immer ein gutes Mädchen und hab brav gemacht, was du wolltest, nicht wahr?«
Dad wirkte immer noch verwirrt, und später – als ich die Unterhaltung wieder und wieder im Kopf durchging (sofern man das überhaupt als Unterhaltung bezeichnen konnte, denn eigentlich hatte nur ich geredet) – konnte ich die ehrliche Bestürzung auf seinem Gesicht sehen und den Schmerz in seinen Augen, und das brach mir das Herz. In jenem Moment allerdings dachte ich nur daran, dass ich recht hatte.
»Zum ersten Mal in meinem Leben tue ich, was ich will«, sagte ich. »Und es mag nicht das sein, was du willst, aber ich tue es trotzdem.« Ich griff nach meiner Tasche. »Und diesmal kannst du mich nicht wegschicken, weil ich nämlich freiwillig gehe.«
Ohne Dads schockierte Miene und Barbs tröstende Hand auf seinem Arm weiter zu beachten, warf ich meinen Mantel über die Schulter und stampfte aus dem Pub, marschierte die Straße hinauf zu meinem Auto, wo ich eine Weile sitzen blieb und leise in meine Hände schluchzte. Ich wusste selbst nicht genau, was gerade passiert war, aber ich hatte das schreckliche Gefühl, dass ich alles vermasselt hatte.
Auf der Fahrt von Kent nach Hause ignorierte ich das Display meines Handys, das ständig aufleuchtete, weil mein Vater versuchte, mich anzurufen. Und das Gleiche zog ich auch in den nächsten Tagen durch, wenn Dad oder Barb mich anriefen. Währenddessen packten wir Umzugskisten und verabschiedeten uns von unseren Freunden in London.
»Ruf ihn an«, sagte Ben, als ich mich für meinen letzten Tag im Büro zurechtmachte, doch ich antwortete gar nicht darauf.
»Es wird nicht spät bei mir«, verkündete ich stattdessen. »Ich habe keine Lust, noch was trinken zu gehen oder so was.«
Prüfend musterte ich mein Spiegelbild. Ich hatte das Haar ordentlich hochgesteckt, so dass es mir nicht ins Gesicht hing, dazu trug ich einen schicken Hosenanzug und flache Schuhe.
»Dieses Outfit fliegt danach raus«, fügte ich hinzu. »Und ich werde mir die Haare abschneiden lassen.«
»Schön«, ertönte Bens Kommentar. Da er sich den Tag freigenommen hatte, um in Ruhe packen zu können, saß er noch im Bett, trank eine Tasse Tee und las die Biographie eines Fußballers, von dem ich noch nie etwas gehört hatte. »Dann ruf deinen Dad vom Friseur aus an.«
Finster sah ich ihn an. »Ich telefoniere mit ihm, wenn wir uns im Haus eingerichtet haben«, entgegnete ich. »Dann lade ich ihn übers Wochenende ein. Das reicht doch.«
Wobei ich mir da ehrlicherweise selbst nicht so sicher war.
Als wir am Umzugstag vor unserem neuen Haus hielten, spürte ich ein nervöses Kribbeln in meinem Bauch. Natürlich wusste ich, wie das Haus aussah, aber nun, da ich wirklich davorstand, fühlte sich das Ganze auf einmal doch wie eine ziemlich bedeutende Entscheidung an, die ich Ben für mich hatte treffen lassen. Plötzlich kamen mir all die Warnungen von Dad in den Sinn – dass wir ein großes Risiko eingingen und kein Sicherheitsnetz hatten.
Kein besonders schönes Haus, dachte ich, während ich das Auto in unsere neue Einfahrt lenkte. Man hatte es ans Ende der Straße gesetzt, im rechten Winkel zu den anderen Häusern, mit dem Rücken zum Meer. Damals, Monate zuvor, hatten wir vom Strand aus nur die Rückseite gesehen – und die war um einiges hübscher als die Frontansicht, wie ich in diesem Moment feststellte. Die Mauern waren aus rötlich schimmernden Backsteinen gebaut, und über den drei Stockwerken thronten weiß gestrichene Giebel. An der einen Seite befand sich ein Anbau, der ebenso wenig zum Hauptgebäude passte wie dessen Fenster.
Das Haus hatte so gar nichts zu tun mit dem idyllischen Bilderbuchcottage, das sich alle ausgemalt hatten, als wir verkündet hatten, dass wir nach Sussex ziehen würden. Doch Ben hatte darauf beharrt, dass alles perfekt sei. Selbst die Tatsache, dass es die ganze Zeit leer gestanden hatte, deutete er als gutes Zeichen. Ich hatte schon gehört, wie er zu Freunden gesagt hatte, dass wir exakt das gleiche Haus für uns entworfen hätten, wenn es nicht schon dort gestanden hätte. Ich konnte nur hoffen, dass er damit recht hatte und Dad unrecht. Jetzt, da wir tatsächlich mit unserem neuen Leben beginnen würden, schien meine neu entdeckte Spontaneität mich auf einmal gänzlich zu verlassen.
Als ich die Handbremse anzog, grinste Ben mich an, und ich konnte nicht anders, als zurückzulächeln. Seine Begeisterung war ansteckend, und trotz meiner Ängste spürte ich tief in meinem Innern, dass unser Neustart etwas Gutes war. Aus dem Autofenster heraus betrachtete ich unser neues Zuhause: Es war vermutlich einmal ziemlich prächtig gewesen, auch wenn es mittlerweile etwas vernachlässigt aussah und dringend Zuwendung brauchte. Vielleicht würden wir dem Haus einen neuen Anstrich verpassen, dachte ich und überlegte sogar, ob wir, falls wir es irgendwann kaufen sollten, hinten einen Wintergarten anfügen könnten, wo wir dann sitzen und aufs Meer schauen würden.
Als ich meinen Gurt lösen wollte, nahm Ben meine Hand.
»Es ist noch nicht zu spät, deine Meinung zu ändern«, raunte er mir zu, damit die Jungs es nicht mitbekamen. »Wir können sofort umdrehen und nach London zurückfahren, wenn du das möchtest.«
Erneut verspürte ich einen nervösen Schub. Nachdem ich meine Stelle aufgegeben hatte, würden sämtliche finanziellen Verpflichtungen unserer Familie ab jetzt auf Bens Schultern lasten. Bisher war alles gut, doch er stand auch unter enormem Druck: In seinem Verein gab es eine Menge hoch dotierter Spieler, und die Beine, um die Ben sich kümmerte, waren Millionen wert. Das war seine große Chance, und er musste dafür sorgen, dass alles rundlief.
In der Zwischenzeit hatte ich meiner Lektorin Lila verkündet, dass ich – nachdem ich monatelang kein einziges Wort geschrieben hatte – nun endlich anfangen würde. Diese Zusage bereute ich mittlerweile ein bisschen, weil ich weder Ideen hatte noch sonderlich motiviert war und Lila mir nun erst recht im Nacken saß. Außerdem machte ich mir Sorgen, dass Ben sich selbst zu sehr unter Druck setzte und das Haus mit zu vielen Erwartungen überfrachtete. Was, wenn ich gar nicht mehr schreiben konnte? Was, wenn Ben seine Stelle verlor? Was, wenn das alles ein schrecklicher Fehler war – also genau das, wovor Dad mich gewarnt hatte?
Ich atmete einmal tief durch. »Natürlich will ich nicht nach London zurück«, sagte ich, zu ihm genauso wie zu mir, und drückte seine Hand. »Das hier ist das Richtige für uns.«
Ben musterte mich einen Moment lang, bevor er meine Hand ebenfalls drückte. »Na dann mal los, ziehen wir ein.«
Ich beugte mich zu Stan hinüber, um dessen Gurt zu lösen. »Es wird alles super laufen«, sagte ich mit Nachdruck.
»Du meinst, in diesem perfekten Haus, mit dieser perfekten Familie?«, fragte Ben und lachte leise – vor Erleichterung, nahm ich an. Oder war er vielleicht genauso nervös wie ich? »Wie sollte es da nicht super laufen?«
Er half Stan, aus dem Auto zu klettern, bevor er ihn hochhob und an sich drückte. »Was denkst du, kleiner Mann?«, fragte er. »Wie findest du unser neues Zuhause?«
Statt einer Antwort schlug Stan ihm mit seiner Holzfigur von Thomas, der kleinen Lokomotive, auf den Kopf. »Schön«, sagte er dann. »Das ist ein schönes Haus.«
Oscar nahm meine Hand und zog daran. »Komm. Mit. Los, Mummy.« Mit diesen Worten zerrte er mich aus dem Auto und anschließend den Weg zur Haustür hoch. »Schnellerschnellerschneller«, stieß er atemlos hervor, während er mich hinter sich her schleifte.
Stan wand sich aus der Umarmung seines Vaters und rannte zu seinem Bruder und mir herüber. Ich konnte Bens Blick auf mir spüren, als er uns folgte. Wir mussten dafür sorgen, dass dieser Neuanfang funktionierte, dachte ich. Aber er hatte ja recht: Wie konnte etwas so Perfektes nicht funktionieren?
»Die Tür müsste auf sein«, rief Ben uns hinterher.
Prompt drückte Oscar die Klinke herunter, und tatsächlich öffnete sich die Tür. »Mummy, Mummy«, keuchte mein Sohn überrascht, während wir alle buchstäblich mit der Tür ins Haus fielen. »Guck mal, die Treppe.«
»Treppe, Mummy«, wiederholte Stan.
»Mummy, können wir einen Hund haben? Daddy hat Ja gesagt. Also, können wir einen Hund haben?«
Ergeben ließ ich mich durchs Haus ziehen und musste lachen, als die Jungs und Ben fast übereinander stolperten, weil jeder der Erste sein wollte, der mir etwas zeigte.
»Guck mal, Mummy, da ist ein Kühlschrank«, verkündete Oscar stolz, als ich die riesige, wenn auch etwas in die Jahre gekommene Küche bestaunte.
Die Sonne strömte durch die blitzblanken Fensterscheiben in den Raum herein. Tatsächlich war das ganze Haus strahlend sauber. Dafür hatte der Immobilienmakler – Mike – gesorgt, wie Ben mir erzählte. Überall glänzte es im Sonnenschein, und die Räume waren voller Licht, trotzdem spürte ich eine seltsame Dunkelheit in mir.
Ben war sichtlich stolz, während er mich herumführte; es war überdeutlich, dass er dieses Haus liebte. Und was war mit mir? Na ja, ich hatte ein merkwürdiges Gefühl. Als wären wir hier nicht richtig zu Hause. Wahrscheinlich musste ich mich erst eingewöhnen, unsere Sachen einräumen und alles einrichten. Dennoch blieb dieser komische Eindruck, dass wir nur übergangsweise hier leben würden, und das machte mich nervös.
»Es ist toll«, sagte ich und drückte Bens Arm. Da mich plötzlich das Gefühl überkam, dringend hier rauszumüssen, entschuldigte ich mich damit, dass ich mir den Garten ansehen wolle, und trat durch die mit Butzenscheiben versehenen Terrassentüren auf den Rasen hinaus.
Während die Stimmen der Jungs mir folgten, die begeistert durchs Haus rannten, schlenderte ich zum Ende des Gartens und atmete dabei tief durch, froh, das Haus wieder verlassen zu haben.
Der Rasen wurde von einer Baumreihe gesäumt, und dahinter führte ein steiniger Weg zu dem schmalen Kiesstrand hinunter, auf den rauschend die Wellen liefen.
»Wahnsinn«, entfuhr es mir. Es war einfach unglaublich: Ich dachte an unser Haus in London mit dem winzigen Garten, in dem die Jungs wie eingesperrte Tiger hin- und hergelaufen waren. Hier konnten sie rennen. Sich gefahrlos austoben. Im Meer schwimmen. Muscheln sammeln. Es würde richtig idyllisch werden, sagte ich mir im Stillen. Eine perfekte Kindheit in einem perfekten Haus.
Doch der Gedanke an das Haus ließ mich erneut schaudern. Ich wandte den Blick vom Meer ab und überquerte den Rasen bis zur Hintertür, konnte mich allerdings immer noch nicht überwinden, wieder hineinzugehen. Stattdessen hockte ich mich im Schneidersitz ins Gras und betrachtete die Rückseite des Hauses.
Hinten war es weniger unansehnlich. Im Gegensatz zu den roten Backsteinen an der Vorderseite war die Wand hier weiß gestrichen und glitzerte im hellen Sonnenlicht. Auch die Architektur wirkte nicht mehr so zusammengewürfelt. Ich stellte mich wirklich albern an, rügte ich mich innerlich. Es würde wunderschön werden, so nah am Meer zu wohnen, und das Licht war einfach toll. Vielleicht würde es mich sogar beim Schreiben inspirieren.
In diesem Moment verschwand die Sonne hinter einer Wolke, und ich hob den Blick in Richtung Dachgeschoss, um herauszufinden, welche Fenster zu dem Raum gehörten, der mein neues Arbeitszimmer werden würde.
Auf dieser Seite gab es zwei hohe Fenster im Obergeschoss, durch die viel Licht in den Raum strömen würde. Außerdem befand sich dort noch ein kleineres Fenster. Da ich auf einmal wieder neuen Tatendrang verspürte, beschloss ich, nach oben zu gehen und mir das Zimmer anzusehen; Ben war so begeistert davon gewesen, und ich dachte – oder hoffte –, dass ein bisschen von seinem Enthusiasmus auf mich abfärben und vielleicht meine Schreibblockade lösen würde. Als ich jedoch aufstand, erregte eine plötzliche Bewegung im Obergeschoss meine Aufmerksamkeit.
Blinzelnd hob ich den Kopf in die Richtung. Es sah aus, als wäre jemand dort oben, eingerahmt von dem kleinen Dachbodenfenster. Ich konnte es nicht genau erkennen, aber es war definitiv eine menschliche Gestalt.
Meine Mund wurde ganz trocken. »Ben«, krächzte ich, in der Hoffnung, dass er da oben war. »Ben.«
Mein Mann tauchte an den Terrassentüren des Wohnzimmers auf. Verwirrt sah ich ihn an, dann wieder hinauf zum Fenster. Dort war niemand. Ich hatte es mir nur eingebildet.
»Was ist los?«, fragte Ben. »Ist was passiert?«
Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Ach, ich dachte, ich hätte da oben jemanden gesehen«, erklärte ich. »Offensichtlich hab ich Halluzinationen – wahrscheinlich bin ich müde. Wo sind die Jungs?«
Ben kam in den Garten heraus und kniff im hellen Sonnenlicht die Augen zusammen. »In der Küche«, sagte er. »Wo hast du denn jemanden gesehen?«
Ich deutete zum Fenster hinauf, und genau in diesem Moment kam die Sonne wieder hinter der Wolke hervor und spiegelte sich in der Fensterscheibe, so dass mich das Licht blendete. »War wahrscheinlich nur die Sonne«, sagte ich blinzelnd.
»Offensichtlich, da oben ist nämlich keiner.« Ben stupste mich sanft mit dem Ellbogen an. »Komm mit rein und trink einen Tee mit mir – ich hab den Wasserkocher ausgepackt. Wir sind alle müde, und eine Pause wird uns guttun.«
Ich ließ mich von Ben zurück ins Haus führen und redete mir währenddessen ein, dass die Sonne meinen Augen einen Streich gespielt hatte. Das gab es doch – oder? –, dass das Gehirn irgendwelche abstrakten Gebilde zu menschlichen Gestalten umformte? So etwas in der Art musste es gewesen sein.
Während Ben Tee kochte, redete ich ohne nachzudenken auf die Jungs ein, erinnerte sie an den Strand und fragte sie, ob sie morgen im Meer planschen wollten. Ohne die Möbel kam mir das Haus zu groß vor, und es hallte überall. Wo blieben eigentlich die Möbelpacker?
Ich blickte mich um. Ganz rational betrachtet wusste ich, dass dieses Haus genauso perfekt für unsere Familie war wie der Garten. Es war nur ganz anders als unser altes Zuhause, und auf einmal erschien mir der Schritt, den wir gewagt hatten, so groß; viel zu groß für uns.
»Sollen wir noch ein wenig weiterschauen?«, fragte ich in dem verzweifelten Versuch, zumindest ein wenig Enthusiasmus zu entwickeln. Natürlich ergriffen die Jungs sofort ihre Chance und rasten nach oben. Ben und ich folgten ihnen in etwas ruhigerem Tempo. Ich wollte unbedingt das Arbeitszimmer sehen, war jedoch gleichzeitig nervös, weil ich nicht wusste, was ich dort vorfinden würde. Außerdem war ich mir immer noch unsicher, ob ich nicht doch jemanden am Fenster gesehen hatte.
Als die Jungs und Ben darüber zu diskutieren anfingen, welches Zimmer Oscar wollte und welches das beste Zimmer für Stan wäre, atmete ich einmal tief durch und stieg die Treppe zum Dachboden hoch.
Er war – natürlich – leer und absolut perfekt. Genervt verzog ich das Gesicht, weil Ben auch in diesem Punkt recht gehabt hatte, was sicher ein wenig unfair von mir war. Der Raum war groß und zur Vorderseite hin abgeschrägt, dort, wo das Dach verlief. An der Rückseite fiel das Licht durch die beiden hohen Fenster – das Fenster, hinter dem ich die Gestalt vermutet hatte, befand sich links. Der Boden war komplett mit Dielenbrettern ausgelegt, die man weiß gestrichen hatte. Auch die Wände waren mit weißer Farbe versehen worden, sowohl die Backsteinseite als auch die Flächen, an denen noch alte Tapeten klebten. Es herrschte eine kühle, aber helle Atmosphäre.
Ich legte die Hände um meine Teetasse und ging zum Fenster hinüber. Der Ausblick war atemberaubend und das Licht einfach unglaublich. Für mich wirkte der Raum wie das Studio eines Malers, und ich fragte mich, ob früher einmal jemand hier oben gemalt hatte. Bestimmt, oder? Einen anderen Zweck konnte ich mir für diesen Raum nicht vorstellen. Er war weder als Schlaf- noch als Gästezimmer geeignet. Die Treppe, die hier hinaufführte, war schmal und die Tür ebenfalls. Dass man ein Bett hier hinaufschaffen konnte, wagte ich zu bezweifeln, es sei denn, man zerlegte es in Einzelteile und baute es direkt im Raum auf.
Ich blickte auf den Rasen hinunter, wo ich vorhin gesessen hatte, und schaute mich dann in dem leeren Zimmer um, auf der Suche nach etwas, das wie eine Person aussehen konnte. Doch ich fand nichts.
Ich hockte mich auf den Fenstersims, wie ich es immer in London getan hatte, und nahm von hier aus das Studio noch einmal genauer unter die Lupe. Es wirkte weder bedrohlich noch angsteinflößend. Es war einfach nur ein großer, leerer Raum. Ein großer, leerer, wahnsinnig schöner Raum. Anscheinend hatte ich richtiggelegen: Das Licht musste mir einen Streich gespielt und mir eine Gestalt vorgegaukelt haben. Im Garten war der Sonnenschein so grell gewesen, dass die Strahlen sich gut in der alten Glasscheibe gespiegelt haben konnten …
Der Gedanke verhallte, als mir plötzlich etwas klar wurde. Von unten aus hatte ich zwei große und ein kleines Fenster gesehen. Hier oben gab es jedoch nur zwei hohe Fenster. Wie seltsam.
Ich stellte meine leere Tasse auf dem Sims ab und ging in den Treppenflur hinaus. Soweit ich das beurteilen konnte, war auf der anderen Seite nichts: kein weiteres Zimmer, noch nicht einmal eine Tür. Unwillkürlich stellten sich mir die Nackenhaare auf. Das war wirklich ein merkwürdiges Haus.
Ein neugieriges Kribbeln erfasste mich, und gleichzeitig war ich auch ein wenig unruhig, und so stieg ich die Treppe wieder hinunter in den ersten Stock, in dem sich die Schlafzimmer befanden.
Ben und die Jungs waren im größten Zimmer, von dem aus man ebenfalls einen Blick in den Garten hatte. Stan hatte ganz rote Wangen, während Oscar ziemlich ärgerlich aussah.
»Mummy«, sagte er, als ich hereinkam. »Ich finde, ich sollte dieses Zimmer bekommen, weil ich der Ältere bin. Aber Stan meint, er will es haben, weil er nach Piraten gucken will.« Seine Augen füllten sich mit Tränen, und er verzog das Gesicht. »Aber ich will auch nach Piraten gucken.«
»Etagenbetten«, schlug ich vor. »Ihr bekommt ein Etagenbett, und das gestalten wir so um, dass es wie ein Schiff aussieht. Dann könnt ihr abends zusammen wegsegeln und nach Piraten schauen.«
Ben warf mir einen dankbaren Blick zu, und ich lächelte ihn an.
»Ich hab was Komisches gefunden«, sagte ich ganz beiläufig. »Kannst du dir das mal ansehen?«
Ben und die Jungs folgten mir die schmale, wacklige Treppe zum Dachboden hinauf. Mitten im Zimmer blieben wir stehen und blickten aufs Meer hinaus.
»Schau mal«, sagte ich zu Ben. »Als ich im Garten war, habe ich drei Fenster in diesem Zimmer gesehen: zwei große und ein kleines, weißt du noch?«
Ben nickte, und auf seinem Gesicht machte sich Erkenntnis breit. »Aber hier sieht man nur zwei Fenster«, stellte er fest. »Das ist ja verrückt.«
Er ging zu einem der Fenster hinüber und schob es hoch, doch es ließ sich nicht weit öffnen. »Ich dachte, man könnte sich rauslehnen und das andere Fenster sehen«, sagte er. »Aber mein Kopf passt nicht durch den Spalt.«
»Meiner aber«, verkündete Oscar.
»Nein!«, protestierten Ben und ich gleichzeitig.
Oscar wirkte enttäuscht. »Vielleicht ist das Fenster ja vom Nachbarhaus«, überlegte er.
Ben wuschelte ihm durchs Haar. »Guter Gedanke, mein Sohn. Aber das Nachbarhaus ist nicht an unser Haus angebaut, so wie in London.«
Ich stand ganz regungslos da und starrte die Fenster an, während sich in meinem Magen ein leises Flattern bemerkbar machte. War das etwa Abenteuerlust?
»Das gefällt dir, hm?«, sagte Ben nach einem Blick in mein Gesicht. »So ein kleines Rätsel, und du bist ganz in deinem Element.«
Da war durchaus etwas dran.
»Ach komm«, entgegnete ich. »Jetzt tu doch nicht so, als würde dich das nicht auch reizen. Ich meine, ein verschwundenes Fenster …«
Lächelnd sah Ben mich an und machte sich gar nicht erst die Mühe, meine Behauptung abzustreiten.
»Vielleicht gibt es ja eine Geheimkammer«, sagte ich. »Oder ein Portal nach Narnia.«
»Oder es gibt einen Lüftungsschacht in diesem alten, dicken Gemäuer.«
Ich stieß ein grunzendes Lachen aus. »Jetzt mach doch nicht gleich wieder alles kaputt.«
Ben grinste. »Wenn das Haus außen größer wäre als innen, hätten wir das sicher festgestellt«, meinte er.
»So wie die TARDIS bei Dr. Who«, rief Oscar voller Begeisterung, bevor er gleich darauf die Stirn in Falten legte. »Aber andersrum.«
Ich musste lachen. »Also, anscheinend nehmt ihr Jungs die Sache nicht ernst«, sagte ich gespielt streng. »Dabei könnte was richtig Spannendes dahinterstecken.«
Ben nickte. »Okay«, lenkte er ein, »ich kümmere mich darum.«
Er ging zur gegenüberliegenden Wand und klopfte dagegen. Dann probierte er es an einer anderen Stelle und wiederholte das ganze Prozedere mehrmals. Ich setzte mich auf den Boden, nahm Stan auf den Schoß und sah meinem Mann zu.
»Was machst du denn da?«, fragte ich schließlich.
Mitleidig schaute Ben mich an. »Ich teste, ob es irgendwo hohl klingt«, erklärte er fachmännisch. »Das würde auf einen Raum hinweisen, der sich dahinter befindet.«
»Und? Klingt es irgendwo hohl?«
»Keine Ahnung«, gab er zu.
Ich brach in Gelächter aus.
»Also, dann sollten wir vielleicht ausprobieren, wie die anderen Wände klingen, um einen Vergleich zu haben«, schlug ich vor.
Im nächsten Moment brach ein Tohuwabohu los. Stan und Oscar rannten durchs Zimmer und hämmerten wahllos gegen die Wände, während Ben und ich lauschten und das Ganze mit einem »Hmm« kommentierten. Wir hatten zwar keinen blassen Schimmer, worauf wir achten mussten, aber es machte Spaß. Die Jungs riefen aufgeregt durcheinander, während wir uns kaputtlachten, und irgendwann kam mir der Gedanke, dass vielleicht doch alles gut werden würde.
1855
Violet
Beinahe wäre ich auf den Felsen ausgerutscht, während ich mühevoll den Weg zum Strand hinunterkletterte, obwohl ich schon Hunderte Male hier entlanggegangen war. Meine Staffelei war nicht schwer, aber unhandlich, und die Tasche mit den Farben und Pinseln, die ich ebenfalls trug, schlug mir gegen die Beine. Schließlich jedoch fand ich den perfekten Platz. Es war warm dort, und die Sonne blendete nicht so stark, während die frische Seeluft tief in meine Lungen drang.
Rasch baute ich meine Staffelei auf und befestigte das Papier daran. Meine Farben legte ich auf dem Felsblock hinter mir ab, in der Reihenfolge, die ich vorgesehen hatte. Dann schob ich mir eine Haarsträhne hinters Ohr, die sich gelöst hatte, und griff nach einem Pinsel. Einen kurzen Augenblick hielt ich inne, um den Moment in mich aufzunehmen. Ich war vollkommen zufrieden. Genau so hatte ich mir meine Arbeit erträumt, bereits seit … hm, Monaten, vielleicht sogar Jahren. Endlich, endlich fühlte ich mich wie eine richtige Malerin. Natürlich war mein Zimmer auf dem Dachboden auch ganz wunderbar, und ich würde Philips auf ewig dankbar sein. Der junge Mann aus dem Dorf erledigte all die kleinen Aufgaben im Haus und Garten und hatte mir dabei geholfen, mir heimlich ein eigenes Atelier einzurichten.
Unwillkürlich legte ich die Stirn in Falten, als ich an Vater denken musste, dem es nicht gefiel, wenn ich malte. Er hielt es für gewöhnlich. Seiner Ansicht nach sollte ich heiraten und ein für eine Frau angedachtes Leben führen. Ein langweiliges Leben, wie ich fand. Oberflächlich. Ohne Sinn.
Hier draußen jedoch, an der Seeluft, die ich tief einsog, hatte ich das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Ich erzählte eine Geschichte durch meine Arbeit, und es kam mir vor, als hätte ich darauf mein ganzes Leben gewartet. Jahrelang hatte ich nichts anderes gezeichnet als mich – und die Katzen, die unsere Küche besuchten. Ein nicht enden wollender Strom an Selbstporträts, die zweifellos dazu beigetragen hatten, meine Technik zu verbessern, mich aber ehrlicherweise zu Tode gelangweilt hatten.
Dann, eines Tages, hatte ich mir Vaters Times genommen und einen Artikel über eine neue Gruppe von Künstlern gelesen, die als die Präraffaelitische Bruderschaft bekannt waren. Sie malten Geschichten – aus der Bibel, Stücke von Shakespeare und dergleichen – und bedienten sich dafür real existierender Modelle. Als ich das las, war es, als hätte jemand in meinem Kopf ein Licht angezündet. Plötzlich wusste ich, was ich tun wollte: Ich wollte wie diese Künstler sein. So malen wie diese Künstler. Das gleiche Leben führen wie sie.
Von diesem Moment an verschlang ich jeden Artikel über die Präraffaeliten in Vaters Zeitung und las außerdem die Illustrated London News und sogar den Punch, wenn ich eine bekommen konnte. Vater schätzte dieses satirische Magazin nicht besonders. Ich dagegen behielt jede Ausgabe, in der etwas über Kunst geschrieben stand, und versteckte sie dort, wo ich auch meine Malutensilien aufbewahrte.
Die Times – und manchmal auch die anderen Blätter – äußerte sich oft kritisch über meine Helden, die sich entschlossen hatten, die Kunstwelt in Aufruhr zu versetzen. Doch je mehr Kritik über sie ausgeschüttet wurde, desto mehr bewunderte ich sie. Diese Künstler waren so aufregend und dachten so fortschrittlich. Genau so sollte mein Leben aussehen.
In meinen Träumen stellte ich mir vor, wie es wäre, in London zu wohnen, und wie ich mit anderen Künstlern darüber diskutierte, was gute Kunst ausmachte; mit Dante Gabriel Rossetti zum Beispiel, der auf den Bildern in den Zeitungen unwahrscheinlich attraktiv aussah, oder mit John Millais, der ein liebevolles, freundliches Gesicht hatte. Ich musste zugeben, dass meine Vorstellung von den Orten, an denen diese Debatten stattfinden sollten, in meinem Kopf noch ziemlich nebulös waren. Ein eher unangenehmes Gefühl sagte mir, dass die Maler, die ich so bewunderte, sehr viel Zeit in Wirtshäusern verbrachten. Aber ich wusste ganz sicher, dass ich mich bereits lebendig fühlen würde, wenn ich mich nur in ihrer Gegenwart aufhielte.
»Meine liebe Miss Hargreaves«, hörte ich Dante oder John sagen, »die Kunstwelt sollte sich wahrlich vor Ihnen in Acht nehmen.«
Doch ich bewunderte nicht nur die Männer. Ich hatte gelesen, dass Elizabeth Siddal – die für die Maler Modell stand und über die das Gerücht ging, Rossetti unterhalte eine Liebesbeziehung zu ihr – ebenfalls malte. Oh, wie sehnte ich mich danach, so zu sein wie sie. Manchmal, wenn ich in eine besonders eitle Stimmung verfiel, bildete ich mir ein, ihr ein wenig ähnlich zu sehen, weil ich langes rotes Haar hatte, genau wie sie.
Einige Leute hingen dem Aberglauben an, rotes Haar brächte Unglück, doch an Lizzie sah es wunderschön aus. Sie versteckte es weder, noch drehte sie es unter ihrem Hut zu einem Knoten zusammen, wie ich es immer getan hatte. Nun dagegen trug ich es ebenfalls offen, wann immer es möglich war. Abseits von Vaters missbilligendem Blick. Es fiel mir zwar ins Gesicht und war mir oft lästig, aber ich betrachtete es als Teil meines Plans. So wie ich mich heimlich an den Strand schlich, um zu malen. Wenn Lizzie Siddal Malerin sein durfte, warum dann nicht auch ich, Violet Hargreaves?
Während ich meinen Träumen von einer erfolgreichen Zukunft nachhing, malte ich mit raschen Bewegungen, ließ meinen Pinsel geradezu über das Papier fliegen. Heute würde ich nur den Hintergrund malen. Ich hatte bereits eine Skizze von Philips angefertigt, gehüllt in ein Bettlaken, das ich so festgesteckt hatte, dass es wie eine königliche Robe ausgesehen hatte, und mit einer Krone auf dem Kopf, die ich in meiner Truhe mit alten Verkleidungen gefunden hatte. Dabei stand er in einer Zinnschale mit Wasser, das ihm bis zu den Knöcheln reichte. Er hatte sich ohne zu zögern bereit erklärt, mir Modell zu stehen. Er war so gut zu mir, und obwohl ich mich darüber freute, dass er so freundlich war, fragte ich mich von Zeit zu Zeit, ob er vielleicht Gefühle für mich hegte, die – möglicherweise – unangemessen waren. Vater wäre sehr aufgebracht.
Wohlgemerkt wäre er auch sehr aufgebracht, wenn er wüsste, was ich gerade tat, dachte ich. Er gestattete mir zähneknirschend, meiner Liebe für die Kunst nachzugehen, solange ich im Haus war und er mich nicht sah. Wäre er nicht für eine Woche nach London gefahren, hätte ich es nie gewagt, zum Strand hinunterzugehen.
Ich verwischte weiße Farbe auf den Wellen, die ich gemalt hatte, und trat dann einen Schritt zurück, um das Meer hinter der Staffelei zu betrachten.
»Knut der Große, der versucht, die Flut aufzuhalten?«, ertönte unvermittelt eine Stimme hinter mir.
Erschrocken zuckte ich zusammen und spürte, dass eine tiefe Röte meinen Hals hinaufstieg und meine Wangen erreichte. Ich hatte nicht erwartet, dass mir jemand beim Malen begegnen würde, und war bestürzt, dass offenbar jemand auf mich aufmerksam geworden war.
»Verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken.« Die Stimme gehörte zu einem Mann, der älter war als ich – und attraktiv, mit einem freundlichen, intelligenten Gesicht und strahlend blauen Augen. Ich senkte den Blick auf meine Füße, nicht sicher, was ich erwidern sollte. Dass Vater meine Malerei so missfiel, tat weh, deshalb hatte ich außerhalb des Hauses noch nie mit jemandem darüber gesprochen.
»Das ist sehr gut«, befand der Fremde. »Ist das Ihre Arbeit?«
Ich nickte und konnte spüren, wie der Blick des Mannes über mich glitt. Verlegen scharrte ich mit den Füßen im Sand.
»Interessant, wie Sie die alte Legende in eine realistische Landschaft einbetten«, sagte er.
»Ich habe mich von der Präraffaelitischen Bruderschaft inspirieren lassen.«
Erneut betrachtete der Fremde mein Bild und nickte dann langsam. »Natürlich«, fuhr er fort. »Das erkenne ich.«
Überrascht keuchte ich auf. Er konnte es erkennen? Vielleicht machte ich tatsächlich etwas richtig.
»Ich bewundere sie«, erzählte ich, und die Worte purzelten nur so aus meinem Mund. »Sie sind so wundervoll. Ich möchte so detailreich malen wie sie. Die Farben und die Formen … so natürlich …« Ich verstummte, weil mir auf einmal bewusst wurde, dass ich vor mich hin plapperte und das, was ich sagte, kaum Sinn ergab.
Doch der Mann fasste sich an den Hut und lächelte mich an. »Edwin Forrest«, stellte er sich vor.
Nachdem ich die Fassung wiedergewonnen hatte, neigte ich leicht den Kopf. »Ich bin erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Sir«, log ich, während ich im Stillen wünschte, er würde wieder gehen.
»Verzeihen Sie mir«, sagte Mr Forrest, »es ist sehr heiß, und ich bin schon eine Weile gewandert. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich mich hier ausruhe?« Er wartete gar nicht erst auf meine Antwort, sondern nahm seinen Hut ab und setzte sich auf einen großen Felsbrocken, etwas abseits von mir.
Entsetzt sah ich ihm zu. Ich wollte keinen Zuschauer, während ich malte. Und noch weniger wollte ich, dass mir ein Mann – noch dazu ein attraktiver Mann – über die Schulter blickte. Ich war ohnehin scheu und fühlte mich nicht wohl in der Gegenwart von Fremden. Bei Männern, die mir unbekannt waren, verstärkte sich dieses Gefühl noch zu einem großen Unbehagen.
»Bitte fahren Sie fort«, sagte Mr Forrest. »Ich würde sehr gern zusehen, wie Sie arbeiten.«
Befangen griff ich zum Pinsel. Ich wollte mich keiner Diskussion mit ihm aussetzen, deshalb versuchte ich, die Wellen weiterzumalen, doch ich konnte mich nicht konzentrieren, solange Mr Forrest mich beobachtete. Ich spürte seine Blicke auf mir, die sich so heiß anfühlten wie die Sonnenstrahlen, und während ich die Farbe auf dem Papier verteilte, fing meine Hand an zu zittern.
Schließlich atmete ich einmal tief durch. »Ich möchte nicht unhöflich sein, Sir«, sagte ich, »aber würde es Ihnen etwas ausmachen, Ihren Spaziergang fortzusetzen?«
Ich konnte es selbst nicht glauben, dass ich meine Gedanken so freiheraus geäußert hatte. Aber mir war bewusst, wie schrecklich schnell die Zeit verging, und ehe ich mich’s versah, würde Vater zurückkommen, und meine Gelegenheit, draußen zu malen, wäre vorbei.
»Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Miss …«
Ich zwang mich zu einem leisen Lächeln. »Hargreaves. Violet Hargreaves.«
»Miss Hargreaves, ich bitte Sie untertänigst um Verzeihung, dass ich Sie aufgehalten habe.« Mr Forrest tätschelte den Platz neben sich auf dem Felsen. »Ich bin mir bewusst, dass Ihre Zeit kostbar ist, dennoch frage ich mich, ob Sie sich vielleicht einen Moment mit mir unterhalten würden. Ich interessiere mich sehr für die Kunst und glaube, wir könnten einander vielleicht von Nutzen sein.«
Er schenkte mir ein strahlendes Lächeln, und erneut ertappte ich mich bei dem Gedanken, dass sein Äußeres sehr anziehend war. Trotz meines Drangs, unbedingt malen zu wollen, setzte ich mich neben ihn und zog meinen Rock über die Knöchel. Am Strand war es warm, und plötzlich verspürte ich die Sehnsucht, meinen Unterrock auszuziehen und mich ins kalte Wasser zu stürzen. Ich warf meinem Gegenüber einen scheuen Seitenblick zu und fragte mich, was er wohl tun würde, wenn ich meinem Bedürfnis nachgäbe.
»Ich habe viele Freunde in London, die Gefallen an der Kunst finden«, sagte er in diesem Moment.
»Ja?«, fragte ich aus Höflichkeit.
Mr Forrest richtete seinen Blick aufs Meer hinaus, als versuchte er, sich an irgendetwas zu erinnern. »Da wäre zum Beispiel John Everett …« Er verstummte, und ich konnte dem Reiz einfach nicht widerstehen.
»Millais?«, fragte ich nach. »Sprechen Sie etwa von John Everett Millais?«
Mr Forrest bedachte mich mit einem weiteren atemberaubenden Lächeln. Mir wurde ein wenig schwindlig, und ich fragte mich, ob ich mich wohl zu lange in der Sonne aufgehalten hatte.
»In der Tat«, antwortete Mr Forrest. »Sie kennen seine Arbeiten?«
Mein Herz schien einen Moment lang auszusetzen, und ich hatte das Gefühl, kaum sprechen zu können. Er kannte Millais? Meinen Helden? »Millais?«, brachte ich keuchend hervor. »Natürlich kenne ich seine Arbeiten.«
»Ich weiß, dass es ihm ein Anliegen ist, junge Talente zu fördern. Daher habe ich mich gefragt, ob Sie noch mehr haben«, fuhr Mr Forrest fort. »Mehr Bilder wie dieses?«
Ich nickte. Ich hatte noch drei vollendete Bilder und viele Zeichnungen. Mir schwirrte der Kopf.