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Vertraue niemals einem Fremden, ganz egal, wie nett dieser zu dir ist …
In tiefer Nacht sinkt ein Boot vor der Küste Schottlands. Nichts als ihr Leben können die deutschen Aussteiger Nathan und Livia Moor retten. Von der Engländerin Virginia Quentin und deren Mann werden sie mit dem Notwendigsten versorgt, doch dann folgt der undurchsichtige Nathan Virginia ungebeten in das Zuhause der Familie nach Norfolk. Virginia, die ihn anfangs nur aufdringlich findet, öffnet sich ihm bald mehr als je zuvor einem anderen Menschen. Dann geschieht das Unfassbare: Virginias siebenjährige Tochter verschwindet spurlos …
Millionen Fans sind von den fesselnden Krimis von Charlotte Link begeistert. Dunkle Geheimnisse und spannende Mordfälle erwarten Sie. Alle Bücher können unabhängig voneinander gelesen werden.
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Seitenzahl: 723
In tiefer Nacht sinkt ein Boot vor der Küste Schottlands. Virginia, die mit Mann und Kind in einem Ferienhaus Urlaub macht, nimmt das schiffbrüchige Ehepaar Moor bei sich auf und versorgt sie mit dem Notwendigsten. Als der Mann des Paares ihr ungebeten in ihr Zuhause nach Norfolk folgt, findet Virginia ihn zunächst nur aufdringlich. Doch mit der Zeit öffnet sie sich ihm mehr als je zuvor einem anderen Menschen, bis plötzlich das Unfassbare passiert: Virginias siebenjährige Tochter verschwindet spurlos …
Charlotte Link, geboren in Frankfurt/Main, ist die erfolgreichste deutsche Autorin der Gegenwart. Ihre Kriminalromane sind internationale Bestseller und erobern auf Anhieb die SPIEGEL-Bestsellerliste. Allein in Deutschland wurden bislang über 33 Millionen Bücher von Charlotte Link verkauft; ihre Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. Charlotte Link lebt mit ihrer Familie in der Nähe von München.
Charlotte Link
Kriminalroman
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ISBN 978-3-641-05194-5V009
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Im Traum sah er den kleinen Jungen vor sich. Die blitzenden Augen. Das strahlende Lachen. Die Zahnlücken. Die Sommersprossen, die im Winter verblassten und im Frühjahr mit den ersten Sonnenstrahlen aufblühten. Die dichten dunklen Haare, die so eigenwillig in alle Himmelsrichtungen abstanden.
Er konnte sogar seine Stimme hören. Sehr hell, sehr melodisch. Eine weiche, fröhliche Kinderstimme.
Er konnte ihn riechen. Es war ein ganz besonderer Geruch, der nur zu dem Jungen gehörte. Es war ihm nie gelungen, diesen Geruch genau zu beschreiben, weil er so einzigartig war. Eine Mischung vielleicht aus dem Salz, das der Wind vom Meer her manchmal bis weit ins Landesinnere trug und das nur noch schwach, ganz zart wahrnehmbar war. Und aus dem würzigen Duft, den die Sonnenstrahlen der Baumrinde entlockten. Aus den Gräsern, die im Sommer am Wegrand wuchsen.
Manchmal hatte er seine Nase in den Haaren des Jungen vergraben, um den Geruch tief einzuatmen.
Im Traum nun tat er es wieder und empfand seine Liebe zu diesem Kind fast schmerzhaft.
Dann begann das Bild des strahlenden Jungen zu verblassen, und andere Bilder schoben sich darüber.
Der hellgraue Asphalt einer Straße. Ein lebloser Körper. Ein kalkweißes Gesicht. Sonne am blauen Himmel, blühende Narzissen, Frühling.
Er setzte sich ruckartig im Bett auf, hellwach von einem Moment zum anderen, schweißnass. Sein Herz hämmerte laut und schnell. Es verwunderte ihn, dass die Frau, die neben ihm lag und schlief, nicht wach wurde von diesem Herzschlag. Aber es war in jeder Nacht so, in jeder Nacht seit dem Unglück: Er verstand nicht, dass sie schlafen konnte, während ihn die Bilder quälten und aus den Träumen rissen. Immer die gleichen Bilder von der Straße, dem Körper, dem blauen Himmel, den Narzissen. Irgendwie machte das alles noch schlimmer: dass es Frühling war. Er hegte den völlig irrationalen Gedanken, er würde die Bilder eher ertragen, wären sie von schmutzigen Schneerändern am Straßenrand begleitet. Aber vermutlich stimmte das nicht. Er würde sie so oder so nicht ertragen.
Er stand leise auf, schlich an den Schrank, zog ein frisches T-Shirt heraus. Das völlig verschwitzte, das er trug, streifte er über den Kopf, ließ es auf den Boden fallen. Er musste sein Hemd jede Nacht wechseln. Nicht einmal das bekam sie mit.
Vor dem Schlafzimmerfenster gab es keine Läden, und der Mond schien, sodass er sie recht gut sehen konnte. Ihr schmales, kluges Gesicht, die langen blonden Haare, die sich über das Kopfkissen ausbreiteten. Sie atmete ruhig und gleichmäßig. Er betrachtete sie voller Zärtlichkeit und stellte sich gleich darauf die Frage, die er sich in jeder seiner schlaflosen Nächte stellte: Liebte er den Jungen so sehr, weil er ihre Liebe nicht gewinnen konnte? Hatte er seinen Geruch so begierig eingesogen, weil sie ungeduldig wurde, wenn er mit geschlossenen Augen an ihren Haaren, an ihrer Haut zu riechen versuchte? Hatte er sich vom Lächeln des Kindes verzaubern lassen, weil sie ihm kaum mehr ein Lächeln schenkte?
Vielleicht, dachte er, ist es müßig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.
Denn der Junge würde sterben. In den Nächten wusste er dies mit glasklarer Gewissheit. Tagsüber schaltete er seinen Verstand ein und sagte sich, dass es nicht so kommen musste, dass er es zumindest nicht vorhersehen konnte. In den Nächten aber, kaum aus den Träumen erwacht, sprach nicht sein Kopf zu ihm, sondern eine Stimme aus seinem Unterbewusstsein, und die ließ sich nicht zum Schweigen bringen.
Der Junge wird sterben.
Und es ist deine Schuld.
Er begann, leise zu weinen. Er weinte in jeder Nacht.
Die schöne blonde Frau in seinem Bett vermochte er dadurch nicht zu wecken, sie bemerkte seine Tränen so wenig wie seinen Herzschlag und sein gehetztes Atmen. Sie hatte schon vor so langer Zeit aufgehört, sich für ihn zu interessieren, dass sie kaum in der Lage sein würde, nun damit anzufangen, nur weil eine Katastrophe in sein Leben getreten war.
Irgendwann, ein paar Nächte zuvor, hatte er überlegt, wie es wäre, einfach fortzugehen. Sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen: das Haus, den Garten, seine Freunde, seine vielversprechende Karriere. Die Frau, die sich nicht mehr für ihn interessierte. Vielleicht sogar seinen Namen, seine Identität. Alles, was zu ihm gehörte. Am liebsten auch die Bilder, die ihn so quälten, aber da machte er sich nichts vor: Gerade sie würde er nicht loswerden. Wie sein eigener Schatten würden sie ihm folgen, immer dort sein, wo er gerade war. Aber vielleicht konnte er sie besser ertragen, wenn er stets in Bewegung blieb, sich nie zu lange an einem Ort aufhielt, nirgendwo verweilte, keine Wurzeln mehr schlug.
Man konnte seiner eigenen Schuld nicht davonlaufen.
Aber man konnte versuchen, so schnell zu laufen, dass man ihr nicht ständig in die verzerrten Züge blicken musste.
Vielleicht war es ein richtiger Gedanke.
Wenn der Junge starb, würde er gehen.
Rachel Cunningham sah den Mann, als sie von der Hauptstraße in die kleine Sackgasse abbog, an deren Ende sich die Kirche und unweit davon das Gemeindehaus befanden. Er trug eine Zeitung unter dem Arm, hielt sich im Schatten eines Baumes und schaute sich ein wenig teilnahmslos in der Gegend um. Hätte er nicht am vergangenen Sonntag an genau derselben Stelle gestanden, er wäre Rachel wohl kaum aufgefallen. So aber dachte sie: Komisch. Schon wieder der!
Aus der Kirche konnte sie das Dröhnen der Orgel und den Gesang der Gemeinde hören. Gut, dort war die Messe noch in vollem Gang. Ihr blieb also noch Zeit, bis der Kindergottesdienst anfing. Donald, ein netter junger Theologiestudent, war damit betraut. Rachel schwärmte ein bisschen für Don, wie die Kinder ihn nannten, deshalb war sie gern etwas zu früh dran, um einen Platz in der ersten Reihe zu ergattern. Don hielt seine Gottesdienste im Gemeindehaus ab. Wenn man ganz vorne saß, kam man öfter dran, hatte Rachel herausgefunden, und man durfte mehr Aufgaben übernehmen: die Tafel sauber wischen zum Beispiel, oder helfen, den Diaprojektor zu bedienen. Angesichts ihrer Verliebtheit war Rachel ziemlich begierig auf derartige Bevorzugungen. Ihre Freundin Julia behauptete allerdings, mit ihren acht Jahren sei Rachel viel zu jung für einen erwachsenen Mann und wisse noch gar nichts von der wahren Liebe.
Als ob, dachte Rachel, Julia dies beurteilen könnte!
Rachel ging jeden Sonntag in den Kindergottesdienst, außer wenn ihre Eltern etwas gemeinsam mit den Kindern geplant hatten. Nächsten Sonntag zum Beispiel, da hatte Mums Schwester Geburtstag, und sie würden schon früh am Morgen zu ihr nach Downham Market fahren. Rachel seufzte. Kein Don. Ein öder, langweiliger Tag mit vielen Verwandten, die sich ständig über Dinge unterhielten, die sie nicht interessierten. Und danach würden sie gleich in die Ferien aufbrechen. Für fast zwei Wochen. In irgendein blödes Ferienhäuschen auf der Insel Jersey.
»Hallo!«, sagte der fremde Mann, als sie an ihm vorüberging. »Na, was hat dir denn die Laune verhagelt?«
Rachel zuckte zusammen. Sie hätte nicht gedacht, dass sich die missmutigen Gedanken offenbar so deutlich auf ihrem Gesicht abzeichneten.
»Ach, nichts«, sagte sie und merkte, dass sie ein bisschen rot wurde.
Der Mann lächelte. Er sah nett aus. »Schon gut. Fremden soll man sich ja nicht gleich anvertrauen. Sag mal, gehst du in die Kirche? Da bist du nämlich ein wenig spät dran.«
»Ich gehe in den Kindergottesdienst«, sagte Rachel, »und der fängt erst an, wenn die Kirche aus ist.«
»Hm, ja. Verstehe. Den veranstaltet doch … na, wie heißt er …?«
»Donald.«
»Donald. Richtig. Alter Bekannter von mir. Wir hatten ein paar Mal miteinander zu tun … Ich bin Pfarrer, weißt du. In London.«
Rachel überlegte, ob es in Ordnung war, dass sie hier stand und mit einem wildfremden Mann redete. Ihre Eltern sagten immer, sie solle sich von Fremden nicht ansprechen lassen und gleich weitergehen, wenn es jemand versuchte. Andererseits wirkte dieser Mann so nett, und die Situation schien völlig ungefährlich. Der helle, sonnige Tag. Die singenden Stimmen in der Kirche. Vorne auf der Straße promenierten Spaziergänger vorüber. Was sollte hier schon passieren?
»Weißt du«, sagte der Mann, »offen gestanden habe ich gehofft, jemanden aus dem Kindergottesdienst zu treffen. Und zwar jemanden, der mir helfen kann. Du siehst mir sehr aufgeweckt aus. Meinst du, dass du ein Geheimnis für dich behalten kannst?«
Und ob Rachel das konnte. Julia hatte ihr schon viele Geheimnisse anvertraut, und sie hatte sich noch nie verplappert.
»Klar kann ich das«, erwiderte sie.
»Es ist nämlich so, dass ich meinen alten Freund Donald gern überraschen würde«, sagte der Mann. »Er hat keine Ahnung, dass ich wieder in der Gegend bin. Ich war lange in Indien. Kennst du Indien?«
Rachel wusste, dass das ein Land in weiter Ferne war und dass die Menschen, die von dort kamen, eine dunklere Hautfarbe hatten als die Engländer. In ihre Schulklasse gingen zwei indische Mädchen.
»Ich war da noch nicht«, sagte sie.
»Aber es würde dich doch interessieren, Bilder von dort zu sehen, oder? Von den Kindern in ihren Dörfern. Wie sie leben und spielen und wo sie zur Schule gehen. Na, wäre das nicht spannend?«
»Doch. Ja.«
»Siehst du. Und ich habe ganz viele Dias von Indien. Die würde ich gern in eurem Kindergottesdienst zeigen. Aber ich brauche jemanden, der mir dabei assistiert.«
Das Wort kannte Rachel nicht. »Was heißt das?«
»Nun, jemanden, der mir hilft, die Kästen mit den Dias hineinzutragen. Die Leinwand aufzuhängen. Glaubst du, dass du das könntest?«
Das hörte sich genau nach einer Aufgabe an, wie Rachel sie liebte. Sie stellte sich vor, wie Don staunen würde, wenn sie mit seinem alten Freund ankam und dann mit ihm Dias von jenem fernen Land zeigte. Julia würde platzen vor Neid!
»Das könnte ich! Auf jeden Fall! Wo sind denn die Dias?«
»Halt«, bremste der Mann. »Die habe ich noch nicht dabei. Ich wusste ja nicht, dass ich hier eine so begabte, hilfsbereite Person wie dich treffen würde. Ich dachte an den nächsten Sonntag?«
Rachel wurde schwach vor Schreck. Ausgerechnet der nächste Sonntag! Den sie bei ihrer Tante in Downham Market verbringen würde … Und anschließend die Ferien auf Jersey …
»Oh, das ist ja furchtbar! Da bin ich nicht hier! Meine Eltern …«
»Dann muss ich doch versuchen, jemand anderen zu finden«, meinte der Mann.
Das war eine schier unerträgliche Vorstellung.
»Bitte«, flehte Rachel, »können Sie nicht noch …«, sie rechnete hastig nach, »… noch drei Wochen warten? Wir fahren nämlich in die Ferien. Aber wenn wir zurück sind, würde ich auf jeden Fall mitmachen! Ganz sicher!«
»Hm«, überlegte der Mann. »Das dauert aber noch ganz schön lange«, meinte er dann.
»Bitte«, flehte Rachel wieder.
»Glaubst du wirklich, du kannst das Geheimnis so lange für dich behalten?«
»Ganz bestimmt. Ich sage niemandem etwas! Ehrenwort!«
»Du dürftest Donald nichts erzählen, denn den will ich ja überraschen. Und deiner Mum und deinem Dad auch nichts. Meinst du, das geht?«
»Ich sage meiner Mum und meinem Dad sowieso nichts«, behauptete Rachel, »die interessieren sich auch gar nicht für mich.«
Das stimmte nicht ganz, das wusste sie. Aber seit drei Jahren, seitdem Sue auf der Welt war, die kleine Schwester, die Rachel nie gewollt hatte, war alles anders geworden. Früher war sie der Mittelpunkt der Welt für Mum und Dad gewesen. Jetzt drehte sich alles um den Quälgeist, der ständig beaufsichtigt werden musste.
»Und deiner besten Freundin?«, vergewisserte sich der Mann. »Der sagst du auch nichts?«
»Nein. Ich schwöre es!«
»Gut. Gut, ich glaube dir. Pass auf, wir treffen uns dann am Sonntag in drei Wochen unweit meiner Wohnung. Wir fahren zu mir, und du hilfst mir, die Sachen ins Auto zu laden. Du wohnst in King’s Lynn?«
»Ja. Hier in Gaywood.«
»Okay. Dann kennst du sicher den Chapman’s Close?« Den kannte sie. Ein Neubaugebiet mit noch nicht fertiggestellten Mehrfamilienhäusern. Der Chapman’s Close endete in einem Feldweg. Eine ziemlich einsame Gegend. Rachel und Julia fuhren dort manchmal mit ihren Fahrrädern herum.
»Ich weiß, wo das ist«, sagte sie.
»Sonntag in drei Wochen? Um Viertel nach elf?«
»Ja. Ich bin ganz bestimmt da!«
»Allein?«
»Natürlich. Wirklich, Sie können sich auf mich verlassen.«
»Ich weiß«, sagte er und lächelte wieder sein sympathisches Lächeln, »du bist ein großes, vernünftiges Mädchen.«
Sie verabschiedete sich von ihm und ging dann weiter in Richtung Gemeindehaus. Mit stolzgeschwellter Brust.
Ein großes, vernünftiges Mädchen.
Noch drei lange Wochen. Sie konnte es kaum abwarten.
Am Montag, den 7. August, verschwand Liz Albys einziges Kind.
Es war ein wolkenloser Sommertag, so heiß, dass man hätte meinen können, man sei in Italien oder Spanien, aber keinesfalls in England. Obwohl sich Liz schon immer über die abfälligen Bemerkungen, das englische Wetter betreffend, geärgert hatte. So schlecht war es nämlich gar nicht, die Leute klebten einfach nur an ihren Klischeevorstellungen. Zumindest war es eine Frage der Region. Der Westen, der die Wolken abbekam, die Tausende von Kilometern über den Atlantik herangezogen waren, war zweifellos recht feucht, und auch oben in Yorkshire und Northumberland regnete es oft. Aber unten in Kent klagten die Bauern in vielen Sommern über Dürre und Trockenheit, und auch in Liz’ Heimat, in East Anglia, konnte man im Juli und August ganz schön ins Schwitzen geraten. Liz mochte Norfolk, wenn es ihr auch nicht immer leichtfiel, ihr Leben überhaupt zu mögen. Schon gar nicht, seitdem Sarah vor viereinhalb Jahren zur Welt gekommen war.
Es war tragisch, mit achtzehn schwanger zu werden, und zwar aus purer Dummheit, weil man einem Typen vertraut hatte, der verkündete, er »werde schon aufpassen«. Mike Rapling hatte offensichtlich keine Ahnung vom Aufpassen gehabt, denn schon Liz’ erste sexuelle Begegnung mit ihm hatte sich als Volltreffer erwiesen. Später hatte Mike noch herumgeschimpft und behauptet, er sei hereingelegt worden, Liz habe ihn in eine Ehe nötigen wollen, aber er werde den Teufel tun, sich in seinem jugendlichen Alter bereits in Ketten legen zu lassen.
Liz hatte Ströme von Tränen vergossen. »Und was ist mit meinem jugendlichen Alter? Und meinen Ketten? Ich habe jetzt das Kind am Hals, und mein Leben ist zerstört!«
Erwartungsgemäß hatte Mike dies nicht besonders gekümmert. Er weigerte sich rundweg, Liz zu heiraten, und verlangte sogar einen Vaterschaftstest, als das kleine Mädchen geboren war und die Frage der Unterhaltszahlungen drängend wurde. Zumindest an seiner Eigenschaft als Erzeuger konnte es danach keinen Zweifel mehr geben. Er zahlte widerwillig, wenn auch halbwegs regelmäßig, hatte aber nach zwei oder drei kurzen Besuchen jedes Interesse an seiner Tochter verloren.
Es war keineswegs so, dass Liz ein Interesse an Sarah gehabt hätte, aber ihr blieb nichts übrig, als sich irgendwie um das Kind zu kümmern. Sie hatte gehofft, ihre Mutter, bei der sie noch immer lebte, würde ihr helfen, aber Betsy Alby war so geschockt von der Tatsache, dass in Zukunft ein Baby in der winzigen Sozialwohnung im trostlosesten Viertel von King’s Lynn herumschreien würde, dass sie ihrer Tochter unmissverständlich klarmachte, sie werde sich dieses Problems keinesfalls annehmen.
»Es ist dein Kind! Und es war deine idiotische Geilheit, die dich in diese Lage gebracht hat! Glaub nicht, dass irgendjemand zur Stelle ist, um dir diese Scheiße abzunehmen. Ich schon gar nicht! Du kannst verdammt froh sein, dass ich euch nicht alle beide vor die Tür setze!«
Sie hatte geschimpft und geflucht und auch später, als die Kleine da war, nicht die geringsten Anzeichen großmütterlicher Gefühle gezeigt. Eisern blieb sie bei ihrer Drohung, sie werde sich »dieses Balg nicht ein einziges Mal aufs Auge drücken lassen!«. Zwar saß sie den ganzen Tag in der Wohnung vor dem Fernseher, aß Kartoffelchips und begann in den späten – und zunehmend auch in den früheren – Nachmittagsstunden mit ihrem immensen Konsum von billigem Schnaps, aber selbst wenn Liz einkaufen ging, durfte sie ihre Tochter nicht zurücklassen, sondern musste mitsamt sperrigem Kinderwagen und schreiendem Baby in den Supermarkt trotten. Es konnte für Liz keinen Zweifel geben: Dieses Ergebnis einer leichtsinnigen verliebten Aprilnacht badete sie vollkommen allein aus.
Manchmal war sie nahe daran, zu verzweifeln. Dann wieder riss sie sich zusammen und schwor sich, sie würde sich nicht ihr Leben zerstören lassen. Sie war jung und attraktiv. Irgendwo musste es doch einen Mann geben, der sich trotz der Last, die sie mit sich herumtrug, ein gemeinsames Leben mit ihr vorstellen konnte.
Denn so viel stand fest: Ewig wollte sie nicht in dem düsteren Loch bei ihrer Mutter sitzen, wo selbst an strahlenden Sommertagen schon frühmorgens alle Rollläden heruntergelassen waren, damit man das Fernsehbild besser erkennen konnte und keine Hitze hereindrang, die Betsy, die ständig schwitzte, fürchtete wie der Teufel das Weihwasser. Liz wollte eine hübsche Wohnung, und am meisten wünschte sie sich einen kleinen Balkon davor, auf dem sie Blumen pflanzen konnte. Sie hoffte auf einen netten Mann, der ihr manchmal Kleinigkeiten mitbrachte, hübsche Wäsche oder ein Parfüm, und der sich als Sarahs Vater fühlen würde. Er sollte genügend Geld verdienen, sodass sie nicht mehr im Drogeriemarkt für einen kläglichen Lohn an der Kasse würde sitzen müssen. An den Wochenenden konnten sie zu dritt Ausflüge unternehmen, Picknicks und Fahrradtouren machen. Wie oft sah sie fröhliche Familien, die zu einer gemeinsamen Unternehmung aufbrachen! Während sie selbst immer nur einsam mit dem quengelnden kleinen Ding herumzog, stets auf der Flucht vor dem plärrenden Fernseher zu Hause und vor dem Anblick ihrer knapp vierzigjährigen Mutter, die bereits wie sechzig aussah und für sie das schrecklichste Beispiel eines verpfuschten Lebens darstellte.
Dieser Augusttag versprach schon am frühen Morgen besonders herrlich zu werden. Der Kindergarten, in den Sarah bislang gegangen war, machte Ferien, und zwangsläufig hatte auch Liz Urlaub nehmen müssen. Sie nahm sich vor, diesen Tag am Strand von Hunstanton zu verbringen, sich zu sonnen, zu baden und ein wenig ihre ausgesprochen hübsche Figur zur Schau zu stellen, in der Hoffnung, jemand wäre so fasziniert davon, dass er das viereinhalbjährige missmutige Geschöpf an ihrer Seite nicht mehr als echten Hinderungsgrund für eine Beziehung betrachtete. Zwar unternahm sie einen schwachen Versuch, doch einmal an die Hilfsbereitschaft ihrer Mutter zu appellieren und Sarah für diesen Tag bei ihr zu lassen, aber Betsy Alby sagte emotionslos, ohne den Blick vom Fernseher zu wenden und den automatischen Griff in die Chipstüte zu unterbrechen: »Nein.«
Liz und Sarah fuhren mit dem Bus. Er schaukelte durch jedes Dorf in der Umgebung von King’s Lynn, und es dauerte eine gute Stunde, bis sie in Hunstanton ankamen, aber Liz war so erwartungsvoll und gut gelaunt, dass ihr das nichts ausmachte. Mit jeder Meile, die sie zurücklegten, meinte sie, das Meer stärker riechen zu können, obwohl das sicher Einbildung war, denn es roch um sie herum nur nach dem Diesel, mit dem der Bus betrieben wurde. Aber sie liebte das Meer so sehr, dass ihre Nase es wahrnahm, selbst wenn das eigentlich noch nicht möglich war. Und als es dann plötzlich vor ihren Augen auftauchte, so weit und glitzernd in der Sonne, fühlte sie eine jähe, tiefe Freude, und für einen Moment waren ihr nur ihre Jugend bewusst und die Tatsache, dass das Leben vor ihr lag, und sie vergaß die quengelnde Last an ihrer Seite.
Sarah brachte sich jedoch recht rasch in Erinnerung. Der Bus fuhr auf den großen Parkplatz von New Hunstanton, dem Strandbad mit all seinen Imbissbuden, Andenkenläden, Karussells und Eisverkäufern, und schon begann Sarah, beim Anblick der hölzernen Pferdchen zu kreischen, auf denen man sich für den Preis von einem Pfund ein paar Runden lang im Kreis drehen konnte.
»Nein«, sagte Liz, die keine Lust hatte, ihr spärliches Geld für derartigen Blödsinn zum Fenster hinauszuwerfen, »vergiss es! Wenn ich dir eine Runde erlaube, willst du noch eine und dann noch eine, und am Ende heulst du trotzdem. Wir suchen uns jetzt einen schönen Platz, bevor es zu voll wird.«
Es war Ferienzeit, nicht nur in England, sondern praktisch überall in Europa, und schon strömten sowohl Einheimische als auch Touristen in Scharen zum Strand. Liz wollte möglichst rasch all ihre Utensilien weiträumig ausbreiten und sich nicht plötzlich auf engstem Raum, zwischen zwei Großfamilien eingequetscht, wiederfinden. Doch Sarah stemmte beide Füße in den Sand. »Mama … ich will … Karussell«, heulte sie.
Liz trug in der einen Hand ihre Badetasche, den Korb mit einer Mineralwasserflasche und ein paar belegten Broten darin und die kleine Schaufel, mit der Sarah buddeln und graben sollte, und mit der anderen versuchte sie, ihre sich heftig sträubende Tochter vorwärtszuziehen.
»Komm, wir bauen eine tolle Burg!«, versuchte sie, sie zu locken.
»Karussell!«, schrie Sarah.
Liz hätte ihr gern eine kräftige Ohrfeige gegeben, aber es waren zu viele Menschen um sie, und heutzutage durfte sich eine nervenzerrüttete Mutter gegen ihr Kind ja nicht mehr zur Wehr setzen. »Nachher vielleicht«, sagte sie. »Komm, Sarah, sei lieb!«
Sarah dachte nicht daran, lieb zu sein. Sie schrie und tobte und ließ sich nur millimeterweise und unter heftigster Gegenwehr vorwärtsziehen. Liz war im Nu schweißgebadet, ihre gute Laune war verflogen. Dieser verfluchte Mike hatte ihr Leben tatsächlich zerstört. Klar, dass sie keinen Kerl mehr fand. Wer sie so erlebte wie jetzt, machte natürlich einen riesengroßen Bogen um sie, und das konnte sie niemandem verdenken. Die Badetasche rutschte ihr aus der Hand, ein freundlicher Herr hob sie ihr auf, und sie hatte dabei den Eindruck, dass er sie mitleidig ansah. Als Nächstes fiel die Sandschaufel zu Boden, und diesmal war es eine ältere Dame, die sie ihr reichte. Wieder einmal stellte sie fest, dass andere Leute viel nettere Kinder hatten; jedenfalls konnte sie nirgendwo eine Mutter entdecken, die so kämpfen musste wie sie. Ihr fiel ein, wie sie damals über Abtreibung nachgedacht hatte. Sie war nicht religiös, hatte aber dennoch eine undefinierbare Furcht vor einer Art Rache des Schicksals gehabt, wenn sie das Kind in ihrem Bauch töten würde. Heute, während sie sich, das schreiende kleine Ungeheuer mit sich zerrend, schwitzend den Strand entlangquälte, dachte sie plötzlich inbrünstig: Hätte ich es doch getan! Hätte ich doch bloß den Mut gehabt! Ganz gleich, was an Bösem auf mich zurückgefallen wäre, es hätte nicht schlimmer sein können als das hier!
Irgendwann hatten sie eine Stelle erreicht, die Liz geeignet erschien, den Tag dort zu verbringen. Sie breitete ihr Handtuch und das von Sarah aus und machte sich daran, eine Sandburg zu bauen – damit Sarah endlich Ruhe gäbe. Tatsächlich hörte die Kleine auf zu schreien und beteiligte sich eifrig am Bauen. Liz atmete auf. Vielleicht vergaß Sarah ja die hölzernen Pferde. Vielleicht wurde es doch noch ein harmonischer Tag.
Sie zog ihren neuen Bikini an und wusste, dass sie großartig aussah. Er war im Preis herabgesetzt gewesen, dennoch eigentlich zu teuer für ihr schmales Gehalt, aber sie hatte nicht widerstehen können. Ihre Mutter durfte ihn natürlich nie entdecken, sonst würde sie losschreien, Liz könnte von nun an einen höheren Betrag zu Hause beisteuern, wenn sie offenbar in der Lage war, ihr Geld für Luxusartikel zu verschwenden. Als ob sie ewig in dem schäbigen Einteiler, der mittlerweile vier Jahre alt war, herumlaufen könnte! Wenn sie einen Mann finden wollte, der sie aus all dem Elend herausholte, musste sie zuvor etwas investieren. Aber derlei Dinge mit Mum besprechen zu wollen, war völlig sinnlos.
Sarah baute noch immer mit Hingabe an ihrer Burg. Liz streckte sich auf ihrem Handtuch aus und schloss die Augen.
Sie hatte wohl eine ganze Weile geschlafen, denn als sie sich aufsetzte und um sich blickte, merkte sie, dass die Sonne schon sehr hoch stand und es auf Mittag zugehen musste. Der Strand war noch viel bevölkerter als am Morgen; ringsum wimmelte es von Menschen. Viele lagen einfach nur in der Sonne, andere spielten Federball oder Boccia oder liefen gerade zum Wasser. Kinder schrien und lachten, das Meer plätscherte leise. In der Ferne konnte man das undeutliche Brummen eines Flugzeuges hören. Es war ein vollkommener Tag.
Liz’ Gesicht brannte; sie hatte zu lange in der Sonne gebraten und sich zuvor nicht einmal mit einem Schutzmittel eingerieben. Zum Glück vertrug ihre Haut eine Menge. Sie wandte sich um und sah, dass Sarah ebenfalls eingeschlafen war. Offenbar hatten ihr Geschrei und das Bauen der Burg sie ermüdet, denn sie lag zusammengerollt auf ihrem Badetuch, atmete tief und gleichmäßig, und der Mund stand ein wenig offen.
Gott sei Dank, dachte Liz. Schlafend fand sie ihre Tochter stets am liebenswertesten.
Sie merkte, dass sie Hunger bekommen hatte und dass sie keine Lust auf ihre eigenen Brote mit der faden Margarine und dem Käse, der immer nach Seife schmeckte, verspürte. Gleich bei der Bushaltestelle gab es einen Imbissstand, an dem man besonders köstliche Baguettebrötchen, die dick mit Tomaten und Mozzarella belegt waren, kaufen konnte. Liz liebte diese Brötchen und Sarah ebenfalls. Dazu eine schöne eiskalte Cola anstelle des warmen Mineralwassers in ihrem Korb … Liz stand auf und kramte ihren Geldbeutel hervor. Kurz betrachtete sie ihr schlafendes Kind. Wenn sie Sarah jetzt aufweckte und mitnahm, würde diese wieder das Karussell mit den Pferden entdecken und nur unter Tränen und Geschrei zur Rückkehr an den Strandplatz zu nötigen sein.
Wenn ich mich beeile, dachte Liz, dann bin ich gleich wieder zurück, und sie merkt überhaupt nichts. So tief, wie sie schläft …
Es waren so viele Menschen ringsum; was sollte passieren? Selbst wenn Sarah aufwachte und zum Wasser ging, konnte sie kaum unter den Augen so vieler Leute ertrinken.
Ich bin ja in spätestens zehn Minuten zurück, dachte Liz und lief los.
Die Strecke war länger, als sie gedacht hatte, offenbar waren sie und Sarah am Morgen doch ein ganzes Stück den Strand entlanggelaufen. Aber es war schön, sich zu bewegen, und sie registrierte genau, dass ihr viele Männerblicke folgten. Sie hatte eben eine tolle Figur, trotz der Schwangerschaft, und der Bikini war einfach perfekt für sie, das hatte sie schon im Geschäft gleich gemerkt. Niemand, der sie so sah, konnte ahnen, dass es ein schreiendes Anhängsel in ihrem Leben gab. Sie war einfach eine junge Frau, dreiundzwanzig Jahre alt, attraktiv und begehrenswert. Sie versuchte, optimistisch und fröhlich dreinzublicken. Seit sie wegen Sarah so viel weinte, hatte sie ständig Angst, Tränensäcke und hängende Mundwinkel zu bekommen. Sie musste unbedingt aufpassen, dass man ihr nicht ansah, wie unglücklich sie oft war.
An dem Imbissstand hatte sie Pech: Eine Handballmannschaft drängelte sich dort, und die meisten der jungen Männer waren sich noch nicht im Klaren, was sie eigentlich bestellen wollten, und überlegten lautstark hin und her. Ein paar von ihnen flirteten heftig mit Liz, worauf diese voller Freude und mit der Schlagfertigkeit, für die sie bekannt war, einging. Wie herrlich war es, zwischen attraktiven, sonnengebräunten Männern zu stehen und zu spüren, welche Anziehungskraft man auf sie ausübte. Sie überlegte gerade fieberhaft, wie sie das Problem Sarah lösen sollte, falls sich einer der Jungs mit ihr verabreden wollte, da beendete der Trainer der Mannschaft das Geturtel und scheuchte seine Truppe weiter. Liz stand innerhalb von Sekunden allein vor der Imbissbude und konnte endlich ihre Baguettes und ihre Cola kaufen.
Als sie sich auf den Rückweg machte, stellte sie fest, dass fünfundzwanzig Minuten seit ihrem Aufbruch vergangen waren. Mist. Bis sie zurückkehrte, würde es mehr als eine halbe Stunde sein. So lange hatte sie keinesfalls fort sein wollen. Sie betete, dass Sarah nicht aufgewacht war und heulend zwischen den fremden Menschen herumirrte. Sie konnte sich die vorwurfsvollen Blicke der anderen vorstellen. Natürlich, eine gute Mutter tat so etwas nicht, ließ ihr Kind nicht unbeaufsichtigt zurück, um sich selbst irgendwelche Wünsche zu erfüllen. Eine gute Mutter hatte überhaupt keine Wünsche mehr. Sie lebte ausschließlich für ihr Kind und dessen Wohlergehen.
Scheiße, dachte Liz, die haben ja alle überhaupt keine Ahnung!
Jetzt schlenderte sie nicht mehr unter bewundernden Männerblicken dahin, jetzt rannte sie. Die Cola schwappte in der Flasche, die Brötchen hielt sie fest an sich gedrückt. Sie keuchte und bekam Seitenstechen. Es war anstrengend, im Sand zu laufen. Wieder und wieder fragte sie sich, wie sie sich in der Länge des Wegs so hatte verschätzen können!
Da war ihr Badetuch. Ihre Tasche. Die Schaufel. Die Burg, die Sarah gebaut hatte. Sarahs Badetuch, das hellblaue mit den gelben Schmetterlingen darauf.
Aber keine Sarah.
Liz blieb schwer atmend stehen, krümmte sich für einen Moment unter ihrem Seitenstechen zusammen, richtete sich aber sofort wieder auf und sah sich hektisch um. Hier hatte sie doch gelegen, fest schlafend, eben noch.
Nicht eben. Vor etwa vierzig Minuten.
Vierzig Minuten!
Natürlich konnte sie nicht weit sein. Sie war aufgewacht, hatte Angst bekommen, weil Mama nicht da war, und lief jetzt irgendwo im näheren Umkreis umher. Wenn es nur nicht so voll wäre. Es wimmelte von Menschen, es schienen mit jeder Minute mehr zu werden. Wie sollte sie ein so kleines Kind zwischen den vielen Beinen entdecken?
Sie legte die Brötchen und die Flasche auf ihr Badetuch, den Geldbeutel behielt sie in der Hand. Sie hatte nicht den geringsten Hunger mehr, im Gegenteil, ihr war übel, und sie konnte sich nicht vorstellen, einen einzigen Bissen herunterzubringen.
Wo, verdammt, war die Kleine?
In ihrer Not wandte sie sich an eine Frau, die gleich neben ihr lag, ziemlich dick war und vier Kinder hatte, die um sie herum krakeelten.
»Entschuldigen Sie, haben Sie vielleicht meine Tochter gesehen? So groß etwa«, sie deutete mit der Hand Sarahs Größe an, »dunkle Haare, dunkle Augen … Sie trägt blaue Shorts und ein gestreiftes T-Shirt …«
Die Dicke starrte sie an. »Das Kind, das hier geschlafen hat?«
»Ja. Ja, genau. Sie schlief tief und fest, und ich … ich habe nur ganz schnell etwas zu essen besorgt, und jetzt komme ich wieder, und …«
Es war offensichtlich, dass die Dicke ihr Verhalten missbilligte. »Sie haben die Kleine allein gelassen und sind bis nach vorn zu den Buden gelaufen?«
»Ich war ja sofort wieder da«, log Liz. Vierzig Minuten!, hämmerte es in ihrem Kopf.
»Zuletzt habe ich sie gesehen, wie sie da schlief. Dann habe ich nicht mehr auf sie geachtet, weil meinem Denis schlecht wurde. Zu viel Sonne.«
Denis kauerte im Sand und sah in der Tat bleich und jämmerlich aus. Aber er war wenigstens da.
»Sie kann ja nicht weit sein«, sagte Liz, um sich selber Mut zuzusprechen.
Die Dicke wandte sich an eine Bekannte, die ein Handtuch weiter im Sand saß. »Hast du die kleine Dunkelhaarige gesehen, die hier schlief? Die Mutter war vorn bei den Buden, und nun ist das Kind verschwunden!«
Natürlich musste auch die Bekannte ihrer Empörung über Liz’ Fehlverhalten Ausdruck verleihen. »Bis da vorn? Also, so lange würde ich mein Kind nicht allein lassen!«
Blöde Kuh, dachte Liz inbrünstig.
Tatsächlich hatte einfach niemand auf Sarah geachtet. Die Dicke nicht, ihre Bekannte nicht, und auch sonst niemand von den Leuten ringsum, die Liz in steigender Panik und Verzweiflung fragte. Sie zog immer größere Kreise, und es wurde immer unwahrscheinlicher, dass sie auf jemanden stieß, der ihr etwas über den Verbleib der Kleinen sagen konnte. Sie lief ans Wasser hinunter, aber auch dort fand sich keine Spur von Sarah.
Sie konnte nicht ertrunken sein. Vor den Augen so vieler Menschen ertrank kein Kind.
Oder doch?
Noch einmal keimte Hoffnung in ihr, als ihr der Gedanke kam, Sarah könnte sich auf eigene Faust auf den Weg zu dem Karussell mit den Pferden gemacht haben. Schließlich war sie ganz verrückt danach gewesen. Also lief sie erneut den Weg bis zur Bushaltestelle und sah tatsächlich etliche Kinder am Karussell, aber Sarah war nicht darunter. Sie fragte den Besitzer. »Sie fällt auf. Sie hat lange schwarze Haare, sehr dunkle Augen. Sie trägt blaue Shorts und ein gestreiftes T-Shirt!«
Der Besitzer des Karussells dachte nach. »Nein«, sagte er dann, »nein, ein solches Kind war hier heute nicht. Da bin ich mir ziemlich sicher.«
Sie lief zurück. Unterwegs begann sie zu weinen. Sie war in einen Albtraum geraten. Sie hatte völlig verantwortungslos gehandelt, und nun wurde sie auf bitterste Weise dafür bestraft. Bestraft für alles: für ihre Gedanken an Abtreibung, für ihre zornigen Tränen, als man ihr Sarah nach der Geburt in den Arm gelegt hatte, für die vielen Male, da sie gewünscht hatte, es möge dieses Kind nicht geben, für all ihr Hadern und Fluchen. Für ihren Mangel an mütterlichen Gefühlen.
Sarah war nicht am Strandplatz, als Liz erneut dort ankam. Der Anblick ihres kleinen Badetuchs tat Liz plötzlich so weh, dass die Tränen, die sie gerade mühsam zurückgedrängt hatte, erneut hervorschossen. Neben dem Tuch lag die Papiertüte mit den unseligen Baguettes im Sand, und die Colaflasche. Wie unwichtig diese Dinge waren! Und doch hatte Liz über eine Stunde zuvor einen solchen Heißhunger darauf verspürt, dass sie sich sogar um die Sicherheit ihres Kindes nicht mehr gekümmert hatte.
Die dicke Frau, die noch immer die Stellung hielt, musterte sie nun mitleidig. »Keine Spur?«, fragte sie.
»Nein«, sagte Liz weinend, »keine Spur.«
»Warum haben Sie mich denn nur nicht gleich angesprochen? Ich hätte doch aufgepasst, während Sie das Essen holten!«
Ja, warum hatte sie das nicht getan? Liz konnte sich selbst nicht verstehen. Was wäre einfacher gewesen, als eine andere Mutter zu bitten, ein Auge auf das schlafende Kind zu haben?
»Ich weiß nicht«, murmelte sie, »ich weiß nicht …«
»Sie müssen die Polizei verständigen«, mischte sich die Bekannte der Dicken ein. Sie wirkte durchaus betroffen, aber es war auch spürbar, dass sie diesen Strandtag als unerwartet spannend empfand. »Und die Badeaufsicht. Vielleicht …« Sie wagte offenbar nicht, den Satz auszusprechen.
Liz blitzte sie böse an. »Wie soll denn ein Kind hier ertrinken? Es sind mindestens hundert Menschen im Wasser! Ich meine, ein schreiendes, strampelndes Kind würde doch irgendjemandem auffallen!«
Die Dicke legte ihr die Hand auf den Arm. Ihr Mitleid schien sehr aufrichtig. »Trotzdem. Sie gehen jetzt zur Badeaufsicht. Dort wird man wissen, was als Nächstes zu tun ist. Vielleicht kann man Ihre Tochter auch ausrufen. Es ist bestimmt nicht das erste Mal, dass ein Kind und seine Eltern sich hier in diesem Gewühl verlieren. Lassen Sie nicht den Kopf hängen!«
Die freundlichen Worte der anderen ließen Liz’ Selbstbeherrschung endgültig zusammenbrechen. Sie schluchzte nun haltlos, ließ sich in den Sand fallen, krümmte sich nach vorn und konnte kein Wort mehr hervorbringen. Für den Moment hatte sie jegliche Energie verlassen.
Die dicke Frau seufzte, beugte sich zu ihr und nahm ihre Hand. »Kommen Sie. Ich begleite Sie. Elli kann auf meine Kinder aufpassen. Sie sind ja völlig fertig. Jetzt geben Sie doch nicht alle Hoffnung auf!«
Willenlos ließ sich Liz mitziehen.
Sie hatte in diesem Moment das nicht erklärbare Gefühl, dass sie Sarah nicht wiedersehen würde.
Als er ihr sagte, dass sie am nächsten Tag mit ablaufendem Wasser ablegen und weitersegeln würden, wusste sie nicht, ob sie sich freuen oder traurig sein sollte. Die Hebriden waren nicht der Ort, an dem sie noch wochenlang hätte verweilen wollen, das Klima machte ihr zu schaffen, und ihr fehlten die Farben des Sommers. Selbst der August war hier auf der Isle of Skye ziemlich kühl und windig, es regnete häufig, und dann verschmolzen Meer und Himmel zu einem bleiernen Grau, und die Gischt, die bei Sturm an der Hafenmauer von Portree emporschwappte und in der Luft zersprühte, hinterließ einen kalten Hauch auf den Lippen. Irgendwo war es Sommer, gab es einen satten, behäbigen August mit reifem Obst, warmen Nächten, Sternschnuppen und späten Rosen. Sie musste immer an das Gefühl von warmem Gras unter nackten Füßen denken. Manchmal trieb ihr die Sehnsucht danach die Tränen in die Augen.
Weitersegeln hieß, irgendwann in wärmere Gefilde zu kommen. Sie wollten hinunter zu den Kanaren, dort Proviant fassen und anschließend die Überquerung des Atlantiks in Angriff nehmen. Nathan plante, den Winter in der Karibik zu verbringen, und dass er nun zum Aufbruch drängte, hing damit zusammen, dass er dort vor Beginn der Hurrikan-Saison eintreffen wollte. Sie hingegen hatte Angst, Europa zu verlassen, schauderte vor der Aussicht, tage- und wochenlang auf dem Atlantik herumzutreiben. Die Karibik erschien ihr als fremde, ferne Welt, die ihr eine undefinierbare Furcht einflößte. Sie hätte gern auf den Kanalinseln überwintert, auf Jersey oder Guernsey, aber Nathan hatte erklärt, die Winter dort seien zwar mild, aber auch sehr nass. Ein Schiff war nicht der komfortabelste Ort bei tagelangem Regen und bei undurchdringlichem Nebel, der vom Wasser aufstieg und die Sicht so verhüllte, dass man vom einen Ende des Schiffes nicht bis zum anderen blicken konnte.
Sie hatten eine knappe Woche auf Skye verbracht, und sie hatte gerade begonnen, sich trotz des schlechten Wetters ein wenig an die Insel zu gewöhnen. Das war es, was sie traurig machte beim Gedanken an die Abreise. Was sie betraf, krankte dieses ganze Projekt der Weltumsegelung an ihrem Bedürfnis nach einem sicheren Zuhause, einem unverrückbaren Lebensmittelpunkt. Sie sehnte sich danach, täglich in demselben Supermarkt einzukaufen, vertraute Spazierwege zu haben, geselligen Umgang mit immer denselben Freunden und Bekannten zu pflegen. Sie wollte morgens ihre Brötchen bei einem Bäcker holen, der sie fragte, ob ihre Erkältung besser geworden sei, und sie wollte zu einem Friseur gehen, zu dem sie nur sagen musste: »Wie immer, bitte.« Das Gleichmaß der Dinge war ihr wichtig. Seitdem sie es verloren hatte, war ihr bewusst geworden, wie sehr.
Da sie nicht den ganzen Tag auf der in der Bucht von Portree ankernden Dandelion verbringen konnte, hatte sie in den sechs Tagen ein wenig gejobbt. Eigentlich hatten sie und Nathan vereinbart, dass jeder von ihnen versuchen würde, in den jeweiligen Häfen eine Arbeit zu finden, denn in ihrer Reisekasse herrschte chronische Ebbe. Alles, was sie besaßen, hatte Nathan in den Kauf des Schiffes gesteckt. Aber aus irgendeinem Grund schien Nathan von der Dringlichkeit des Geldverdienens nicht überzeugt zu sein.
»Skye bedeutet eine ungeheure Inspiration für mich«, hatte er erklärt, »die muss ich nutzen!«
Das Wetter, so hatte er behauptet, sei genau das, was er suchte. Vier bis fünf Windstärken aus Nordwest, Wolken, die über die Berge der Insel jagten. Regen, der auf das Ölzeug prasselte, das er trug. Jeden Tag hatte er sie mit dem Beiboot an Land gerudert, war dann selbst wieder zum Schiff zurückgekehrt, hatte die Insel halb umrundet und sich in seine Lieblingsbucht bei Loch Harport verzogen. Was er dort über Stunden tat, wusste sie nicht. Einmal, als es nicht regnete, war er in den Black Cuillins herumgeklettert, wie er erzählte. Ansonsten gab er, wie üblich, nichts von sich preis.
Und manchmal, wenn sie am späten Nachmittag mit dem Bus nach Portree zurückkehrte, fragte sie sich, ob sie ihn vorfinden würde. Oder ob er einfach davongesegelt war, für immer, ohne sie. Sie wusste nie genau, ob sie diese Vorstellung erschreckte oder ob irgendetwas in ihr fast wünschte, es möge passieren.
Sie hatte einen Job im Ferienhaus einer englischen Familie gefunden, in Dunvegan, ein ganzes Stück von der Inselhauptstadt Portree entfernt, aber mit dem Bus recht gut zu erreichen. Die Familie hatte einen Zettel im Gemischtwarenladen am Hafen ausgehängt, auf dem sie für die Dauer ihres Ferienaufenthalts eine Hilfe für Haus und Garten suchte, da ihre gewohnte Zugehfrau erkrankt war. Sie hatte sich sofort gemeldet. Nathan war dagegen gewesen, denn er meinte, der Job einer Putzfrau sei nun wirklich unter ihrem Niveau, aber da ihm auch nichts Besseres einfiel, wie sie zu Geld kommen sollten, hatte er schließlich zugestimmt.
Das Haus, etwas außerhalb von Dunvegan mit einem herrlichen Blick über die Bucht gelegen, war geräumig und gemütlich, und sie hatte sich dort recht wohlgefühlt. Nette Menschen, mit denen man plaudern konnte, leichte Arbeit, auch im Garten, der sehr groß war und ihr gut gefiel. Das Wetter war wirklich schlecht gewesen – es regnete in diesem Sommer hier oben ganz besonders viel, wie die Einheimischen betonten –, und sie hatte die ganze Zeit über nicht recht verstehen können, weshalb man seine Ferien in diesem Teil der Erde verbrachte, aber sie hatte sofort gemerkt, dass es für sie einen Unterschied machte, festen Boden unter den Füßen zu haben, einen Garten, der von einer Mauer begrenzt wurde, einen Kamin, eine Ordnung in allen Dingen. Sie ging gern in das Haus, staubte die Fensterbretter ab, schrubbte die Steinfliesen in der Küche, bis sie glänzten, stellte frische Blumen in eine Vase auf den großen Holztisch im Wohnzimmer. In einer Regenpause pflanzte sie Efeu an der Südseite des Hauses und mähte im hinteren Teil des Gartens den Rasen. Es ging ihr besser als in all der Zeit zuvor.
Bis zum Spätnachmittag, wenn sie zurückkehrte auf das Schiff. Es war das Schiff. Es waren nicht die Hebriden, nicht die Kanalinseln. Es würde auch nicht besser werden in der Südsee an weißen Sandstränden unter Palmen. Sie war nicht für das Nomadenleben geboren. Sie hasste Häfen. Sie hasste schwankende Bohlen unter den Füßen. Sie hasste die ewige Feuchtigkeit. Die Enge. Sie hasste es, kein Zuhause zu haben.
Morgen würden sie auslaufen.
Nathan hatte es sich im Cockpit der Dandelion gemütlich gemacht, eng an die Wand der Kajüte geschmiegt. Halb zehn Uhr am Abend. Die teure Thermounterwäsche, die er trug, bewährte sich hier oben im Norden – selbst im August. Die kühle nächtliche Seeluft spürte er nur an der Nasenspitze und auf den Wangen. Nachdem sein Ärger abgeflaut war, begann er, sich nun ein wenig besser zu fühlen.
Er war wütend auf Livia gewesen und, was noch schlimmer wog, wütend auf sich selbst, weil er ihr wieder einmal nachgegeben hatte. Er gab oft nach, einfach nur um sich ihre tränenreichen Monologe zu ersparen. Er hatte vorgehabt, am frühen Morgen um sechs Uhr, eine Stunde nach Hochwasser, aus dem Hafen von Portree auszulaufen, um die Passage des Sound of Harris auf jeden Fall bei Tageslicht zu segeln. Livia, die, seitdem sie auf Skye angelegt hatten, über das schlechte Wetter auf der Insel jammerte, hatte nun begonnen, mit der gleichen Intensität über die Abreise zu klagen, obwohl diese ihr eigentlich hätte gelegen kommen müssen. Nathan vermutete oft, dass es ihr einfach nur um das Lamentieren ging. Sie war nicht zufrieden, wenn sie sich nicht über irgendetwas beschweren konnte.
Schließlich hatte sie behauptet, sie habe den Leuten in Dunvegan, bei denen sie seit einer Woche putzte, versprochen, noch einmal zu erscheinen, und sie könne nun unmöglich einfach verschwinden. Da sie über diesem Problem bereits wieder zu verzweifeln drohte, hatte er die Abreise zähneknirschend auf den späten Nachmittag verschoben. Er war sich ziemlich sicher, dass Livia nur noch ein paar Stunden auf dem Festland hatte herausschlagen wollen, aber er konnte ihr das schwerlich nachweisen.
Er hatte sich ins Pier Hotel verzogen, ein Pub, in dem sich vorwiegend Fischer und Hafenarbeiter herumtrieben, und hatte in einer Zeitschrift gelesen, die er sich am Hafen gekauft hatte. Ziemlich spät erst bemerkte er, dass er eine völlig veraltete Ausgabe erwischt hatte, vom Februar diesen Jahres. Nichts von dem, was er dort geschrieben fand, war noch aktuell. Ob das hier jemanden störte? Auf den Hebriden tickten die Uhren schon ein wenig anders, das Leben folgte einem Rhythmus, der sich von dem der übrigen Welt unterschied. Die ganze Zeit über hatte er sich gefragt, wie Menschen so leben konnten. Er hatte sich viele Notizen dazu gemacht, Gedankenfragmente und angerissene Überlegungen niedergeschrieben. Es gab interessante Betrachtungen, die man dazu anstellen konnte. Es war faszinierend, fand er, in das Leben anderer Menschen hineinzublicken.
Gegen fünf Uhr am Nachmittag waren sie endlich aufgebrochen.
Seit dem Vortag meldeten die BBC im Radio und der Luftdruck auf dem Schiffsbarometer endlich eine stabile Hochdrucklage. Die große Genua hatte er aus dem Segelsack geholt und angeschlagen, um wenigstens zwei Knoten im Schiff zu haben, während er den Kurs querab vom Leuchtfeuer von Rodel auf der Karte absteckte. Vielleicht schafften sie es noch, mit ein wenig Tageslicht die Meerenge zu passieren. Kurz überlegte er, ob Livia die Abreise verzögert hatte, um ihn zu zwingen, zwischen den Inseln Uist und Skye hindurch den direkten Weg nach Süden zu nehmen, anstatt hinaus auf den Atlantik zu segeln. Sie hatten auch zu dieser Frage Diskussionen geführt. Das Schlimme war, dass Livia solche Angst vor dem Wasser hatte.
Er war dennoch entschlossen, den Kurs außerhalb der Hebriden zu nehmen.
Kurz vor neun Uhr hatte die kritischste Passage hinter ihnen gelegen. Livia war längst nach unten in die Kajüte verschwunden. Sie hatte behauptet, müde zu sein und Kopfschmerzen zu haben. Er war nicht traurig gewesen. Ihr ewig waidwunder Blick ging ihm entsetzlich auf die Nerven.
Vom Atlantik her stand eine alte Dünung aus Westen, sie befanden sich jetzt bereits im Gezeitenstrom, der gegen ihren Kurs stand. Egal, dachte er, ein Knoten Strömung gegen mich, zwei Knoten Fahrt macht das Schiff, bleibt noch ein Knoten übrig, der uns nach Südwesten trägt.
Vielleicht würde er gar nicht mehr wie geplant den Hafen von Youghal in Südirland ansteuern, sondern gleich durchsegeln bis zunächst hinunter nach A Coruña. Er hatte keine Lust mehr auf Verzögerungen. Weg von Europa. Endlich freie Fahrt über den Atlantik. Die Karibik. Weiße Strände, Sonnen, Palmen. Ihn hatte die fast mystische Stimmung auf Skye in Regen und Nebel zutiefst fasziniert, aber für den Winter konnte er sich ein Leben in der Wärme auch gut vorstellen. Sehr gut sogar.
Er saß im Cockpit, genoss den Frieden und die Klarheit der Nacht und hing seinen Gedanken nach.
Er sah die Lichter ganz deutlich. Sie näherten sich von achtern, zwei grüne Lichter, ein rotes und ein weißes darüber. Offensichtlich zwei Frachter, die denselben Kurs fuhren wie er selbst. Er war überzeugt, dass man ihn sehen konnte; er hatte seine Navigationsleuchten eingeschaltet, und der Radarreflektor oben am Mast würde ein deutliches Echo geben. Er musste sich um nichts kümmern. Nachdem er den Sound of Harris verlassen hatte, hatte er den Autopiloten aktiviert, der nun leise schnurrend seinen Dienst tat.
Er fühlte, wie seine Glieder immer schwerer wurden. Einmal sackte sein Kopf nach vorn, ruckartig wachte er auf, gähnte. Was, zum Teufel, machte ihn so schläfrig? Er war ein Nachtmensch, kam abends, nachts eigentlich erst richtig in Gang. Aber die hohe Luftfeuchtigkeit der letzten Tage, das lange, zornige Warten heute auf den Aufbruch, die schwierige Passage bei verdämmerndem Licht – das alles hatte ihn Kraft gekostet. Sein Kopf sank auf die Brust. Die Müdigkeit war so schwer, so elementar, dass es kaum noch Sinn zu machen schien, sich dagegen wehren zu wollen. Von einem Moment zum anderen fiel er in einen kurzen Schlaf, der, wie er später rekonstruierte, wohl nur wenige Minuten gedauert hatte. Dennoch entscheidende Minuten.
Er wachte so plötzlich auf, wie er eingeschlafen war.
Er wusste nicht, ob es das Geräusch der leise schlagenden Segel gewesen war, das ihn geweckt hatte, oder das Schlagen der Großschot – wahrscheinlich keines von beiden, sondern ein eigentümliches, lautes Geräusch, das an einen riesigen Hammer erinnerte, der krachend auf eine Stahlplatte schlug.
Er blickte auf, sah, dass die Genua nur noch von der Dünung des Atlantiks bewegt wurde. Der Wind war völlig abgeflaut.
Dieses Geräusch … der Hammer, der auf Stahl schlug …
Die Lichter, dachte er.
Im selben Moment sah er sie wieder, es waren nur noch drei Lichter, ein rotes, ein grünes und darüber ein weißes, und sie waren höchstens noch eine halbe Seemeile von der Dandelion entfernt. Sie bewegten sich direkt auf sie zu.
Er sprang auf, und es schoss ihm durch den Kopf: Verdammt noch mal, sehen die uns denn nicht?
Er hastete zum Steuerrad, schaltete den Autopiloten aus. Er musste sofort den Motor starten und die Dandelion, so rasch er konnte, wenigstens hundert Meter weiter nach Backbord steuern, andernfalls würde es zur Kollision kommen. Verflucht, er hätte nicht einschlafen dürfen. Die See war in dieser Gegend viel zu dicht befahren, um sich mitten in der Nacht auf Wache ein kurzes Nickerchen leisten zu können.
Warum sprang der Motor nicht an? Nicht einmal der Anlasser drehte sich. Er versuchte es noch einmal … und noch einmal … Nichts geschah.
Wie die Front eines Hochhauses baute sich der Bug eines großen Schiffes vor ihm auf, um ein Vielfaches größer als die Dandelion, und er näherte sich in erschreckend schneller Fahrt. Das Schiff hielt direkt auf das Segelboot zu, das plötzlich zur Nussschale schrumpfte, und es war klar, dass ein Zusammenstoß nicht zu überstehen war, dass von der Dandelion in zwei oder drei Minuten nur noch ein Haufen Schrott übrig sein würde.
Im Niedergang tauchte Livias Kopf auf. Er sah wirre Haare, angstvoll aufgerissene Augen. Die Motorengeräusche des riesigen Frachters veranstalteten inzwischen einen höllischen Lärm.
»Nathan!«, schrie sie, blieb aber bewegungslos stehen und starrte auf das immer näher kommende Unheil. Mit einer einzigen Bewegung riss er die Rettungsinsel unter dem Steuersitz hervor.
»Runter vom Schiff!«, brüllte er. »Hörst du nicht, sofort runter vom Schiff!«
Livia rührte sich nicht.
»Spring!«, schrie er, und als sie zögerte, packte er sie an den Armen, zerrte sie die Stufen hinauf und stieß sie mit aller Kraft über Bord. Schleuderte die Rettungsinsel hinterher und sprang dann, in der letzten Sekunde, selbst.
Das Wasser war eiskalt, empfing ihn mit grausam schmerzenden Nadelstichen. Ganz kurz dachte er, sein Herz werde aussetzen vor Kälte, aber dann merkte er, dass er lebte, dass sein Herz also offensichtlich schlug. Prustend und keuchend tauchte er wieder aus den Wellen auf. Zum Glück trug er, wie stets an Bord, seine Schwimmweste.
Das Geräusch des auf Stahl schlagenden Hammers war nun genau über ihm. Eine riesige Welle erfasste ihn, schleuderte ihn mehrere Meter weit zur Seite. Die stählerne Wand des Schiffes, fast zum Greifen nah, zog wie in Zeitlupe an ihm vorbei.
Die Dandelion wurde vom Bug des Frachters frontal getroffen und sofort unter Wasser gedrückt.
Ihm kamen die Tränen – ihm! Er weinte nie. Er hätte nicht gedacht, dass er noch einmal weinen würde. Zuletzt war es ihm als kleinem Jungen passiert, als sie den Sarg mit seiner Mutter darin an ihm vorbeitrugen. Seitdem nicht ein einziges Mal. Aber diese Hinrichtung zu erleben, war zu schlimm, vielleicht war es auch zu schnell gegangen, eben hatte er noch in der Steuerkajüte gesessen und geträumt und ein paar unverzeihliche Minuten lang geschlafen, und jetzt trieb er im kalten Wasser des Nordmeers, und vor seinen Augen wurde vernichtet, woran sein Herz hing. Und was seine Existenz war.
Die Rettungsinsel, die sich im Wasser entfaltet hatte, musste ebenfalls von der Bugwelle des Frachters erwischt worden sein. Im Schraubenwasser des Schiffs drehte sie sich mit aufgerissener Plane einige Meter von ihm entfernt. Daneben konnte er Livia erkennen. Sie war direkt aus ihrem Bett gekommen, trug daher keine Schwimmweste. Er rief nach ihr, aber sie reagierte nicht. Mit ein paar kräftigen Schwimmstößen war er neben ihr.
»Schwimm, Livia«, drängte er, »los, schwimm endlich! Wir müssen in die Rettungsinsel!«
Sie machte keinerlei Anstalten, sich in Richtung Insel zu bewegen. Zwar hielt sie sich mit matten, mechanischen Bewegungen über Wasser, aber ihre Augen waren weit aufgerissen und starr, und sie schien in diesem Moment nicht ansprechbar zu sein. Nathan drehte sich auf den Rücken, packte Livia unter beiden Armen und zog sie mit sich zur Insel. Er keuchte, schluckte immer wieder Wasser. Wenigstens leistete Livia keinerlei Widerstand. Er ließ sie für einen Moment los, zog sich langsam und mühevoll auf die Insel hinauf, wandte sich dann um, zerrte Livia ebenfalls hinauf. Er gab nicht auf, obwohl er zwischendurch meinte, keine Sekunde weitermachen zu können. Als er auch Livia in Sicherheit gehievt hatte, brach er völlig erschöpft zusammen.
Erst nach einer ganzen Weile konnte er wieder einen klaren Gedanken fassen.
Sie hatten es geschafft. Sie waren nicht untergegangen, waren nicht in die Tiefe gerissen worden. Trotz allem gelang es ihm, für ein paar Sekunden Dankbarkeit zu empfinden. Beide hatten sie überlebt, dabei war ihr Leben praktisch keinen Pfifferling mehr wert gewesen. Sie besaßen nichts mehr als das, was sie auf dem Leib trugen: sie einen hellblauen Schlafanzug, der aus kurzen Hosen und einem ausgeleierten Oberteil bestand, er zumindest noch seine Jeans, Unterwäsche, einen Wollpullover und ein Paar Socken. Seine Schuhe hatte er verloren, als er über Bord gehechtet war.
Und eine Rettungsinsel, dachte er mit einem Anflug von Sarkasmus, eine Rettungsinsel besitzen wir auch noch. Kann man ja auch immer mal brauchen.
Noch immer war die Nacht klar, blitzten hier und da die Sterne am Himmel. Teilnahmslos starrte er über das dunkle Wasser. Für den Moment weigerte sich sein Verstand weiterzudenken. Weder was die Vergangenheit noch was die Zukunft betraf. Selbst die Verzweiflung, die ihm wenige Minuten zuvor noch die Tränen in die Augen getrieben hatte, konnte er nicht mehr spüren. In ihm war nur Leere, eine tief erschöpfte, fast barmherzige Leere.
Virginia Quentin hörte in den frühen Morgenstunden des 19. August von dem Schiffsunglück, das sich nicht weit vor den Äußeren Hebriden in der Nacht vom Donnerstag auf den Freitag ereignet hatte. Es gab einen kleinen Radiosender auf den Inseln, der Meldungen verbreitete, die hauptsächlich für die Inselbewohner interessant waren. Dabei ging es in erster Linie um das Wetter, dem hier oben, wo viele Menschen vom Fischfang lebten, eine entscheidende Bedeutung zukam. Natürlich wurden auch manchmal Katastrophen gemeldet; es hatte Fischer gegeben, die nicht zurückgekehrt waren, und schon manches Mal hatten die wilden, kalten Winterstürme, die über das Nordmeer herangebraust kamen, Dächer abgedeckt und einmal sogar eine Frau über die Klippen geweht. Was es noch nicht gegeben hatte, zumindest soweit Virginia wusste, war eine derartige Tragödie, die Ausländern zustieß.
Sie war in aller Frühe aufgestanden und zu ihrem Lauf über die Hochebene am Meer aufgebrochen. Sie liebte die Stille und Klarheit der ersten Morgenstunden; es bereitete ihr keine Probleme, ihr Bett noch vor sechs Uhr zu verlassen und sich an der Frische und Unberührtheit des beginnenden Tages zu berauschen. Auch daheim in Norfolk joggte sie frühmorgens, aber hier oben auf Skye war es ein ganz besonderes Erlebnis. Ein Glas mit eiskaltem Champagner konnte ihrer Ansicht nach nicht so belebend, so prickelnd, so besonders sein wie das Atmen des Windes, der über das Meer gestrichen kam.
Sie fand auch, dass sie hier oben mehr Ausdauer hatte als daheim, was sicherlich am Sauerstoffgehalt der sie umgebenden Luft lag. So oder so aber war sie gut in Form. Sie lief in langen, federnden Schritten, wiegte sich in ihren eigenen Rhythmus hinein, brachte ihren Körper und ihr Atmen in einen vollkommenen Gleichklang. Das Laufen am Morgen gehörte ihr ganz allein und war ihre Kraftquelle für den folgenden Tag. Sie hätte niemals einen anderen Menschen dabeihaben wollen. Sie genoss das Alleinsein, und sie genoss es in der wunderbaren Einsamkeit der Isle of Skye auf eine besondere Weise.
Daheim duschte sie und setzte sich dann, mit einem Handtuch um den Kopf, an den Tisch im Wohnzimmer und trank ihren Kaffee mit viel heißer Milch, hörte Radio dabei, fühlte Kraft und Ruhe in ihrem Körper und sagte sich, dass ihre Ehe mit Frederic zwar in mancher Hinsicht langweilig sein mochte, ihr aber zwei wundervolle Geschenke eingebracht hatte: ihre siebenjährige Tochter Kim und dieses Häuschen in Dunvegan.
Sie hatte sich ihren Gedanken hingegeben und das Radio nur als Hintergrundgeräusch wahrgenommen, aber sie horchte auf, als der Sprecher von dem Unglück berichtete, das einem deutschen Ehepaar zugestoßen war. Mitten in der Nacht waren sie von einem Frachter, in dessen Fahrrinne sie sich befunden hatten, buchstäblich überrollt worden, nachdem offensichtlich eine Verkettung unglücklicher Geschehnisse ein Ausweichmanöver verhindert hatte. Von dem kleinen Segelschiff gab es keine Spur mehr, seine Einzelteile ruhten auf dem Grund des hier überall sehr tiefen Meeres. Den Namen des Frachters, der das Unglück verursacht hatte, oder auch nur seine Nationalität kannte niemand. Der Skipper des Segelschiffs konnte keine Angaben zu seiner Position zum Zeitpunkt des Unglücks geben. Fischer hatten die im Wasser treibende Rettungsinsel gesichtet und das Ehepaar aufgenommen. Die junge Frau, so wurde berichtet, stehe unter Schock. Beide seien unterkühlt, nachdem sie, aus dem kalten Wasser kommend, fast zwölf Stunden in der Rettungsinsel hatten ausharren müssen. Man hatte sie zu einem Arzt gebracht. Seit dem gestrigen Tag seien sie in einem Bed and Breakfast nahe Portree untergebracht.
»Also, das werden doch nicht …«, sagte Virginia zu sich selbst, sprach den Satz aber nicht zu Ende. Wie viele deutsche Ehepaare, die in einem Segelboot auf Weltreise waren, gab es derzeit auf den Hebriden?
Sie vernahm Frederics Schritte auf der Treppe, stand automatisch auf, holte eine zweite Tasse, füllte sie mit Kaffee und Milch. In den Ferien leisteten sie sich den Luxus, den Morgen mit Kaffee und Geplauder zu vertrödeln. Sie redeten über das Wetter, über irgendwelche Neuigkeiten aus dem Dorf, manchmal auch über Bekannte oder Verwandte. Sie gingen vorsichtig miteinander um und mieden ihre Beziehung als Gesprächsthema, ohne dass es dafür einen ersichtlichen Grund gegeben hätte. Gerade an diesen Urlaubsmorgen, aber manchmal auch daheim in Norfolk, konnte Virginia plötzlich von einem Gefühl des Friedens und der Dankbarkeit durchströmt werden, wenn sie sich selbst betrachtete, zusammen mit Frederic, die kleine Kim, die so hübsch und so liebenswert war, dieses Leben ohne materielle Sorgen in einer geordneten, überschaubaren Welt, die enge Grenzen haben mochte, aber dafür ohne Gefahren, Ängste und Dämonen war. Es gab ein paar wenige Momente, in denen Virginia das sichere Gefühl, dass ihre Welt nicht völlig real war, als beklemmend empfand, aber es waren tatsächlich nur Momente, Augenblicke, die schnell vergingen.
Frederic kam zur Tür herein. Daheim sah sie ihn fast nur in Anzug und Krawatte, aber sie mochte es besonders, wenn er so aussah wie jetzt, in Jeans und grauem Rollkragenpullover, ausgeschlafen und entspannt, ohne den etwas verbissenen Zug um den Mund, den er sonst oft trug, weil ihn sein Beruf und alle seine Karrierepläne stets etwas überanstrengten.
»Guten Morgen«, sagte er und fügte, obwohl die Antwort klar war, die Frage hinzu: »Du bist schon gelaufen heute früh?«
»Es war wunderbar. Wie leben andere Menschen, ohne sich richtig zu bewegen?« Sie reichte ihm seine Kaffeetasse, er setzte sich und nahm den ersten Schluck.
»Nur noch heute«, sagte er, »dann müssen wir zurück. Oder möchtest du mit Kim noch ein wenig bleiben?«
Es waren noch zwei Wochen, bis die Schule begann. Und sie liebte es, hier oben zu sein. Auch Kim liebte es. Dennoch schüttelte Virginia den Kopf.
»Wir kommen mit. Glaubst du etwa, ich lasse dich allein?«
Er lächelte. Er war so oder so viel allein, zumindest war er ohne seine Familie. Er verließ das Haus morgens um halb acht. Oft kam er nicht vor zehn oder halb elf am Abend zurück. Tagelang hielt er sich in London auf, wo sich seine Bank befand. In Norfolk war er eigentlich nur, wenn es die politische Arbeit in seinem Wahlkreis erforderte. Seine Tochter sah er manchmal die ganze Woche über nicht. Seine Frau im Vorbeilaufen oder abends, wenn sie auf ihn gewartet hatte und noch zehn Minuten mit ihm plauderte, ehe er todmüde ins Bett fiel.
Es war nicht so, dass er diesen Zustand besonders geschätzt hätte. Und bis vor zwei Jahren war es auch ganz anders gewesen. Da hatten Virginia und Kim noch bei ihm in London gelebt, und er hatte sich viel mehr als Teil einer Familie gefühlt als derzeit. Nicht dass Virginia die elegante Wohnung in South Kensington häufig verlassen hatte, um etwas mit ihm zu unternehmen. Er kannte sie nur als einen Menschen, der zum Rückzug neigte, dazu, sich gegen die Außenwelt abzuschirmen. Weniger aus Angst, wie ihm schien. Nach seinem Eindruck hatte es etwas mit der Melancholie zu tun, die fast immer über ihr lag, mal stärker, fast an eine Depression grenzend, dann auch wieder schwächer. Sie hatte diese Krankheit – Frederic bezeichnete es insgeheim als