Einsame Nacht - Charlotte Link - E-Book

Einsame Nacht E-Book

Charlotte Link

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Beschreibung

Nicht einmal der Schnee verdeckt alle Spuren …

Mitten in den einsamen North York Moors fährt eine junge Frau allein in ihrem Wagen durch eine kalte Dezembernacht. Am nächsten Morgen findet man sie ermordet auf, in ihrem Auto, das fast zugeschneit auf einem Feldweg steht. Es gibt eine Zeugin, die beobachtet hat, dass ein Mann unterwegs bei ihr einstieg.
Ihr Freund? Ein Fremder? Ihr Mörder?
Kate Linville beginnt mit ihren Ermittlungen und ist schnell auf einer Spur, die in die Vergangenheit führt, zu einem Cold Case, in dem Caleb Hale damals ermittelt hat und der nie gelöst werden konnte …

Weitere dunkle Geheimnisse und spannende Mordfälle warten auf Kate Linville und Caleb Hale – lesen Sie auch »Die Suche«, »Ohne Schuld«, »Einsame Nacht« und »Dunkles Wasser«!
Alle Bücher können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Seitenzahl: 714

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Buch

Mitten in den einsamen North York Moors fährt eine junge Frau allein in ihrem Wagen durch eine kalte Dezembernacht. Am nächsten Morgen findet man sie ermordet auf, in ihrem Auto, das fast zugeschneit auf einem Feldweg steht. Es gibt eine Zeugin, die beobachtet hat, dass ein Mann unterwegs bei ihr einstieg.

Ihr Freund? Ein Fremder? Ihr Mörder?

Kate Linville beginnt mit ihren Ermittlungen und ist schnell auf einer Spur, die in die Vergangenheit führt, zu einem Cold Case, in dem Caleb Hale damals ermittelt hat und der nie gelöst werden konnte …

Autorin

Charlotte Link, geboren in Frankfurt am Main, ist die erfolgreichste deutsche Autorin der Gegenwart. Ihre Kriminalromane sind internationale Bestseller, auch »Die Suche« und zuletzt »Ohne Schuld« eroberten wieder auf Anhieb die SPIEGEL-Bestsellerliste. Allein in Deutschland wurden bislang über 32 Millionen Bücher von Charlotte Link verkauft; ihre Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. Charlotte Link lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Frankfurt am Main.

Von Charlotte Link bereits erschienen:

Die Kate-Linville-Reihe:

Die Betrogene, Die Suche, Ohne Schuld

Die Sturmzeit-Trilogie:

Sturmzeit, Wilde Lupinen, Die Stunde der Erben

Außerdem:

Die Entscheidung, Im Tal des Fuchses, Der Beobachter, Das andere Kind, Die letzte Spur, Das Echo der Schuld, Der fremde Gast, Am Ende des Schweigens, Die Täuschung, Die Rosenzüchterin, Das Haus der Schwestern, Der Verehrer, Die Sünde der Engel, Schattenspiel

Charlotte Link

Einsame Nacht

Ein Kate-Linville-Thriller

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2022 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Lektorat: Nicole Geismann

Covergestaltung: www.buerosued.de

Covermotiv: mauritius images / PSC-Photography / Alamy / Alamy Stock Photos; www.buerosued.de

NG · Herstellung: sam

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN978-3-641-29325-3V004

www.blanvalet.de

Prolog Montag, 26. Juli 2010

Er lag auf dem Sofa, starrte hinaus in den Garten und fragte sich, wann der Tag endlich vorbei wäre.

Sommertage waren schlimmer als andere, weil er sich noch viel ausgeschlossener fühlte als sonst. Wolkenloser blauer Himmel, der Duft von Blumen und frisch gemähtem Gras, die warme Luft. Das Leben.

Hier drinnen war es trotz der Hitze draußen recht kühl. Und einsam.

Alvin Malory blickte sich um: Der Raum war klein und düster. Zu viele Möbel, zu schäbig, zu vollgestellt. Kein Ort, an dem man sich wohlfühlen konnte. Sein Zimmer oben im ersten Stock gefiel ihm besser, aber um dort hinzukommen, hätte er aufstehen und sich die Treppe hinaufquälen müssen. Ihn schauderte allein bei der Vorstellung. Seine schmerzenden Gelenke. Sein keuchender Atem. Zudem war die Treppe schmal, machte eine scharfe Biegung. Er hasste es, sie hinaufzugehen. Er hasste es, sie hinunterzugehen. Er hasste es, hier im Wohnzimmer zu liegen.

Er hasste sein Leben.

Um ihn herum standen leer gegessene Aluminiumbehälter und Styroporschachteln, daneben große Pappbecher, die meisten ebenfalls leer. Er hatte heute Indisch bestellt. Mehrere Portionen Reis und Lammcurry, Chicken Vindaloo, mit Gemüse gefüllte Pasteten, frittierte Teigtaschen, Fladenbrot. Und Cola. Literweise Cola. Ein Dessert aus Honig, Kokos und Mandeln, zuckersüß. Ehrlich gesagt, mehrere Desserts. Von dem, was er geordert hatte, hätte eine Großfamilie problemlos satt werden können.

Er musste die Packungen wegräumen, ehe seine Eltern nach Hause kamen. Seine Mutter wusste Bescheid, sein Vater hatte keine Ahnung. Seine Mutter würde all die Behältnisse später irgendwo entsorgen, denn im Mülleimer direkt am Haus hätte sein Vater sie bemerken können. Alvin stopfte immer alles in einen Müllsack und stellte ihn in die Speisekammer, ganz nach hinten, verdeckt von einem Regal. Seine Mutter brachte ihn später von dort weg.

Stöhnend richtete er sich auf. Wie immer, wenn er hemmungslos gegessen hatte, wurde er von heftigen Schuldgefühlen geplagt: wieder versagt. Wieder keine Selbstbeherrschung gezeigt. Wieder die Kontrolle verloren. Morgen – morgen würde er damit aufhören. Er würde nichts bestellen. Garantiert nicht. Morgen schaffte er es.

Insgeheim wusste er aber, dass er es nicht schaffen würde.

Alvin Malory war sechzehn Jahre alt, einen Meter fünfundsiebzig groß und hundertachtundsechzig Kilo schwer.

Er schlurfte in die Küche, nahm einen Müllsack aus dem Schrank, schlurfte ins Wohnzimmer zurück, sammelte die Überreste seiner Mahlzeit ein und brachte dann alles in die Speisekammer. Jeder andere Junge hätte für diese Tätigkeit höchstens fünf Minuten gebraucht, bei Alvin waren es am Ende fast zwanzig Minuten. Sich zu bücken und die Schachteln aufzuheben … hin- und herzugehen … Wohnzimmer, Küche, Wohnzimmer, Küche … Allein davon taten ihm alle Knochen weh, und er war schweißgebadet.

Vor allem war ihm so schwer ums Herz, und er hatte wieder das Gefühl, tiefinnerlich zu frieren, trotz der Hitze. Als würde seine Seele frösteln. Eine kaum ertragbare Traurigkeit, gemischt mit einer verzweifelten Wut. Er sah sich selbst mit glasklarem Blick, wie er hier im Haus herumschlich und schwitzte, anstatt wie andere Jugendliche seines Alters am Strand zu sein oder beim Fußballspielen oder beim Eisessen mit Freunden. Es war Sommer, und er hatte Ferien. Er sah sich mitsamt seinem riesigen Bauch in seiner XXL-Trainingshose. Sah seine geschwollenen Füße. Sah sich selbst in seiner ganzen Einsamkeit. Die er nur lindern konnte, indem er aß. Während er aß, fror er nicht. Während er aß, fühlte er sich nicht allein.

Er blickte sich in der Küche um. Da standen noch abgedeckte Kuchenplatten, und es gab belegte Brote, Bier und Limonade im Kühlschrank. Am Vortag hatten sie den Geburtstag seiner Mutter gefeiert. Es waren Gäste da gewesen. Alvin überlegte gerade, ob sein Vater es merken würde, wenn er ein paar Tortenstücke wegnahm, da klingelte es an der Haustür.

Alvin erschrak. Es klingelte fast nie, während er hier allein war. Außer natürlich wenn der Lieferdienst mit dem Essen erschien. Aber der war an diesem Tag ja schon da gewesen.

Vom Küchenfenster aus konnte er nicht sehen, wer vor der Tür stand, und kurz überlegte er, einfach so zu tun, als sei niemand zu Hause. Vielleicht war es ein Staubsaugervertreter. Oder jemand von den Zeugen Jehovas.

Er zögerte. Es klingelte erneut.

Wenn er jetzt öffnete, vergaß er vielleicht die Torte. Besser für seinen Körper. Besser, falls sein Vater sich gemerkt hatte, wie viel noch übrig war.

Auf schmerzenden Füßen humpelte Alvin zur Haustür.

Er öffnete.

Keine fünfzehn Minuten später wünschte er voller Verzweiflung, er hätte es nicht getan.

Seitdem Isaac Fagan im Ruhestand war, verbrachte er jeden Tag viele Stunden in seinem Garten. Er hatte Rosen gepflanzt, die an der Wand seines kleinen Häuschens emporkletterten, und entlang des Zauns, der sein Grundstück umschloss, schossen Ritterspornstauden und Sonnenblumen in die Höhe. Ein blühendes Paradies, wie er fand. Als Witwer lebte er schon seit Jahren allein, aber dank seines Gartens fühlte er sich nie wirklich unglücklich. Er empfand so viel Freude beim Hegen und Pflegen seiner Pflanzen; das Herz hätte man ihm nur dann brechen können, hätte man ihn aus seinem Paradies vertrieben.

An diesem Tag hatte er den Rasen gemäht. Jetzt im Juli musste man das vergleichsweise selten tun, es war nicht wie im April, wenn man dem Gras beim Wachsen förmlich zusehen konnte und mit dem Mähen kaum hinterherkam. Aber Isaac liebte das Rasenmähen, weil er den Geruch des frisch geschnittenen Grases liebte. Heute hatte er sich das wieder einmal gegönnt, obwohl es vielleicht noch nicht wirklich nötig gewesen wäre.

Er ging am Zaun entlang und kratzte mit einem Rechen Grasreste zusammen, die dem Auffangkorb des Mähers entgangen waren. Dabei kam er an der Stelle vorbei, an der das Nachbarhaus sehr dicht an seiner Grundstückgrenze stand. Er mochte die Familie Malory, die dort lebte. Am Vortag war er bei Mrs. Malorys Geburtstagsfeier gewesen und hatte sich zwischen den vielen Menschen eigentlich recht gut gefühlt. Leider hatten die Malorys nicht einmal für die Party den Garten in Ordnung gebracht. Der Rasen gehörte längst wieder gemäht, die Büsche beschnitten. Und in den Beeten wucherte das Unkraut. Andererseits, das Ehepaar arbeitete hart, wann hätten sie die Zeit finden sollen, sich um all das zu kümmern? Aber der Sohn, Alvin, hätte ab und zu draußen arbeiten können. Das würde vielleicht auch seiner Figur guttun. Isaac fand Alvin nett und höflich, aber er war wirklich unförmig dick, und er wirkte sehr unglücklich. Immer allein, offenbar hatte er überhaupt keine Freunde. Seltsam für einen Sechzehnjährigen. Für Isaac war klar, dass das nur an seinem Äußeren liegen konnte. Armer Kerl.

Isaac warf einen Blick hinüber. Alvin hatte doch jetzt Schulferien. Er könnte wirklich … Aber er lag ja fast immer nur auf dem Sofa im Wohnzimmer herum und hantierte mit diesem Smartphone oder wie das Ding hieß, das heutzutage jeder ständig in der Hand hielt und hineinstarrte, als finde dort das eigentliche Leben statt. Isaac konnte das gerade an dieser Stelle am Zaun immer sehen, wenn er durch die Glastür einen Blick in das Wohnzimmer der Familie Malory warf. Auch jetzt schaute er hinüber, erwartete, Alvin auf dem Sofa liegen zu sehen.

Stattdessen zuckte er zurück.

Was war das denn?

Direkt jenseits der Glastür, drinnen im Zimmer, kauerte etwas … eine massige, dunkle, in sich zusammengesunkene Gestalt … Isaac kniff die Augen zusammen. Was war das? Ein Mensch? Oder ein Tier? Oder ein Gegenstand? Er konnte es einfach nicht richtig erkennen. Normalerweise war dort nichts. Aber jetzt war dort etwas.

Er trat näher an den Zaun, lehnte sich hinüber. Ihn trennten nur wenige Meter von der Tür.

Das Etwas bewegte sich.

Es richtete sich auf und schaute Isaac Fagan an.

»Oh Gott«, keuchte Isaac. Er erkannte Alvin, aber eigentlich nur deshalb, weil das Wesen jenseits der Tür Alvins Figur hatte. Ansonsten hatte Alvins Gesicht kaum etwas von dem Gesicht, das man an ihm gewohnt war. Die Augen waren unnatürlich weit aufgerissen und völlig starr, die Züge zu einer grotesken Grimasse verzerrt, und vor dem Mund stand Schaum, der unablässig neue Blasen bildete. Alvin hob eine Hand, ließ sie an die Glasscheibe sinken, in einer flehenden Geste. Kraftlos rutschte die Hand dann am Glas entlang nach unten. Alvins Kopf kippte nach vorn, er erbrach sich, es sah aus, als spucke er dabei Blut.

»Oh Gott«, wiederholte Isaac, »oh Gott!«

Was war denn bloß passiert? Der Schaum … ein epileptischer Anfall? Die weit aufgerissenen Augen … Isaac setzte an, über den Zaun zu klettern. Er musste irgendwie in das Haus hineinkommen. Er wusste, dass Mr. und Mrs. Malory wie üblich nicht da waren, der Junge war allein, und irgendetwas Schlimmes war ihm passiert.

Der Zaun schwankte unter seinem Gewicht. Einen Moment lang fürchtete Isaac, er werde in das unkrautüberwucherte Blumenbeet auf der anderen Seite stürzen. Für einen Mann seines Alters stellte ein solcher Zaun ein beachtliches Hindernis dar. Aber irgendwie schaffte er es, wenn ihm auch ein lautes, ratschendes Geräusch verriet, dass er sich die Hose eingerissen hatte. Er stand auf der anderen Seite zwischen Blumen, Unkraut und hohem Gras und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Vor ihm die Terrassentür, dahinter Alvin, eine große, unförmige, bewegungslose Masse. Er war völlig in sich zusammengesunken.

Isaac war mit ein paar Schritten auf der schmalen Terrasse, auf der dicht gedrängt ein paar Stühle und ein kleiner Tisch standen. Er versuchte, die Tür aufzudrücken, aber sie war verschlossen. Er presste sein Gesicht an die Scheibe, um in das Innere des Hauses zu blicken, erkannte die Wohnzimmermöbel, konnte in den Gang sehen, der zur Haustür führte. Alles schien so zu sein wie immer.

Aber nicht wie immer war, dass Alvin hier lag und sich nicht rührte. Isaac lief um das Haus herum, versuchte es probeweise an der leuchtend grün lackierten Haustür, aber auch sie ließ sich nicht öffnen. Als Nachbar besaß er einen Zweitschlüssel zum Haus der Malorys, für den Fall, dass sich jemand aussperrte. Er hätte gleich daran denken sollen, er war völlig konfus. Über den Gehsteig lief er zu seinem Haus zurück. Gleich in der Diele stand sein Telefon. Er wählte den Notruf.

»Einen Krankenwagen«, sagte er. »Schnell. Bitte!«

Er nannte die Adresse. Die Frauenstimme am anderen Ende der Leitung sagte, der Wagen sei unterwegs. Sie wollte Details zu dem Verletzten und seinen Verletzungen, aber dazu konnte Isaac nichts sagen. Er legte schließlich einfach den Hörer auf, nahm den Schlüssel der Malorys aus einer Schublade und rannte wieder zum Nachbarhaus zurück. Er keuchte und schwitzte. Das lag nicht nur an der Hitze. Sondern auch an seiner Aufregung und seiner Furcht vor dem, was er vorfinden würde.

Kaum betrat er das Haus, spürte er eine Bedrohung. Zunächst hatte er geglaubt, Alvin sei krank, habe einen Hirnschlag erlitten, einen Anfall, irgendeine Art von körperlichem Zusammenbruch, aber jetzt, wie ein Tier, das eine Gefahr wittert, wusste er, dass es um mehr ging. Er nahm das Böse wahr, das Gewalttätige … etwas Schlimmes war hier geschehen, etwas sehr Schlimmes, und es ging weit über alles hinaus, was er bislang gefürchtet hatte.

»Alvin?«, rief er leise. »Mrs. Malory? Mr. Malory?«

Er bekam keine Antwort, aber das war ja klar gewesen. Alvin war nicht in der Lage zu reagieren. Und seine Eltern waren bei der Arbeit.

Das ganze Haus roch nach Alkohol und Zigaretten, wie ihm plötzlich aufging. Das war mehr als befremdlich, auch wenn am Vortag die Geburtstagsparty stattgefunden hatte. Er spähte kurz in die Küche. Überall Bierflaschen, die meisten geöffnet, aber teilweise nur zur Hälfte leer getrunken. Zigarettenkippen lagen auf dem Tisch und über den Fußboden verstreut. Die Teebecher, die Alvin als kleiner Junge in der Schule getöpfert und bemalt hatte und die Mrs. Malory stolz jedem Besucher zeigte, waren aus dem Regal über der Spülmaschine gefegt worden und in tausend Stücke zerbrochen.

»Oh Gott, oh Gott«, murmelte Isaac geschockt.

Er hatte Angst. Richtige Angst. Kurz überlegte er, wieder nach draußen zu gehen und auf das Eintreffen der Sanitäter zu warten, aber vermutlich würde das zu lang dauern. Für Alvin konnte es um Minuten oder Sekunden gehen.

Im Wohnzimmer sah es so schlimm aus wie in der Küche, das hatte er nur durch die Glastür nicht erkennen können. Undefinierbare Flecken auf Teppich und Polstern, Zigarettenkippen, Brandlöcher. Geöffnete, umgestoßene Flaschen. Eine Szenerie, wie Isaac sie bei dieser Familie noch nie erlebt hatte und wie sie auch mit Sicherheit nicht von der gestrigen Party stammte. Der Cateringservice hatte alles aufgeräumt, und auch Mrs. Malory hätte ihr Haus niemals in diesem Zustand verlassen.

Alvin lag direkt vor der Tür nach draußen, und er schien sich in der Zeit, in der Isaac den Rettungsdienst verständigt und den Schlüssel geholt hatte, nicht bewegt zu haben. Isaac kniete schwerfällig neben ihm nieder. Er berührte Alvins Schulter.

»Alvin? Junge! Bist du noch da? Was ist passiert?«

Alvin gab keinen Laut von sich. Isaac hatte den schrecklichen Verdacht, dass er nicht mehr atmete, zumindest konnte er kein Heben und Senken des Körpers beobachten, aber vielleicht lag das auch an seiner Körperfülle. Man müsste den Puls fühlen. Alvin hatte einen Arm unter sich begraben, der andere, mit dessen Hand er an die Scheibe gefasst hatte, lag schwer erreichbar für Isaac. Er hatte zudem Angst, Alvin zu berühren. Der Junge schien so sehr verletzt, dass er fürchtete, er könnte sterben, wenn ihn nur ein Hauch streifte. Falls er überhaupt noch lebte.

Wann, du lieber Himmel, traf endlich der Rettungswagen ein?

Isaac nahm inzwischen auch den scharfen Geruch des Erbrochenen wahr und daneben noch etwas … etwas Undefinierbares … irgendwie chemisch … Er sah eine grüne Plastikflasche, die neben dem Kopf des Jungen lag, und griff nach ihr. Die Flasche war leer. Fassungslos blickte er auf das Etikett, das einen schwarzen Totenkopf zeigte sowie die Warnung, das Produkt keinesfalls zugänglich für Kinder aufzubewahren. Ein hoch aggressiver Abflussreiniger. Isaac benutzte den gleichen.

Wieso lag der leer neben Alvins Kopf?

Ihm fielen der Schaum vor Alvins Mund und das Blut ein, und ein fürchterlicher Verdacht keimte in ihm auf. Aber das konnte nicht sein. Nie im Leben. Nie im Leben würde Alvin Abflussreiniger trinken!

Und wenn er es nicht freiwillig getan hatte?

Isaac schaute sich erneut im Zimmer um. Entweder war Alvin aus irgendeinem Grund vollkommen durchgedreht, hatte geraucht, gesoffen, Alkohol in der Gegend verschüttet, Löcher in den Sofabezug gebrannt und sich anschließend mit Abflussreiniger das Leben genommen.

Oder … das waren Fremde gewesen. Einbrecher.

Alvin war überfallen und auf furchtbarste Art gefoltert worden. Es war fraglich, ob er das überleben würde. Ob er überhaupt noch lebte.

Draußen hielt ein Wagen. Das mussten die Sanitäter sein. Ächzend kam Isaac wieder auf die Füße und humpelte in Richtung Haustür. Die Flasche mit dem Totenkopf hielt er noch immer in der Hand.

»Schnell!«, rief er. »Ganz schnell! Es ist etwas Furchtbares passiert!«

Er fing an zu weinen. Vor Aufregung, vor Stress, vor Erschütterung.

Er bemerkte es nicht einmal.

TEIL 1

Montag, 16. Dezember 2019

Anna Carter bedauerte an diesem Abend nichts so sehr wie die Wahl ihrer Schuhe. Sie trug ein türkisfarbenes Strickkleid, das Sam an ihr besonders mochte. Nicht, dass sie sich je nach Sams Geschmack richtete, aber bei diesem Kleid stimmte sie mit seiner Einschätzung überein. Am Samstag hatte sie in einem Schuhgeschäft in der Innenstadt ein paar zierliche Stiefeletten aus weichem Leder und mit zehn Zentimeter hohen Bleistiftabsätzen gesehen, die exakt die Farbe des Kleides hatten. Wann fand man schon türkisfarbene Stiefeletten? Sie war in den Laden gestürmt, wo sich herausstellte, dass es die Schuhe in ihrer Größe nicht mehr gab, also hatte sie die Stiefeletten eine Nummer kleiner genommen, und natürlich war das ein Fehler gewesen. Ihre Füße schmerzten jetzt am Ende des Abends so sehr, dass sie sich schon fragte, wie sie nachher die Treppe hinunter und bis zu den Parkplätzen auf der anderen Seite der Straße kommen sollte.

Sie seufzte.

Außer ihr saßen noch acht Leute an dem langen, festlich gedeckten Tisch, vier Männer und vier Frauen. Sie alle waren Teilnehmer eines Singlekochkurses, der im November begonnen hatte und in der Weihnachtswoche mit einem besonders festlichen Dinner beendet werden würde. Die siebte Woche trafen sie einander jetzt an jedem Montag zum Kochen in den Räumen von Trouvemoi, der Partnervermittlungsagentur, die Annas Freundin Dalina einige Jahre zuvor gegründet und zu einem umwerfenden Erfolg geführt hatte. Anna hatte dem Geschäftsmodell skeptisch gegenübergestanden, aber Dalina hatte all ihre Bedenken vom Tisch gefegt.

»Das ist das Modell der Zukunft. Und der Gegenwart. Nie gab es in den westlichen Gesellschaften mehr Singles. Nie mehr unfreiwillige Singles. Du wirst sehen, das läuft großartig.«

Sie hatte recht behalten. Trouvemoi bot Singlewanderungen an, Singlewochenenden, Singlestädtetrips, Speeddating, Candle-Light-Dinner und, und, und. Und Singlekochkurse.

Letztere betreute zumeist Anna. Weil sie so gut kochen konnte. Sie empfand es als eine Ironie des Schicksals, dass sie ausgerechnet bei Dalina, deren Idee sie nie gemocht hatte, hatte unterkriechen müssen. Nach dem Klinikaufenthalt. Nach dem Verlust ihrer Arbeit. Eigentlich nach dem Verlust ihrer selbst.

Aber sie hatte keine Wahl gehabt. Sie musste dankbar sein.

»He, Anna, sind Sie noch da?«, fragte jemand. Sie merkte, dass sie so tief in Gedanken versunken war, dass sie überhaupt nichts mehr von der Unterhaltung ringsum mitbekommen hatte. Sie sollte sich zusammenreißen. Schließlich wurde sie dafür bezahlt, dass sie hier saß und Konversation betrieb. Die Menschen, die den teuren Kurs gebucht hatten, sollten sich wohlfühlen. Entspannt. Im besten Fall sogar bereit, sich zu verlieben.

»Ja klar«, sagte sie und rang sich ein Lächeln ab.

Der Mann, der sie angesprochen hatte, hieß Burt. Anna fand ihn extrem unsympathisch. Laut, unsensibel. Er war stolz darauf, wie er häufig verkündete, nie mit seiner Meinung hinter dem Berg zu halten, was aber nur die Umschreibung dafür war, dass er Menschen zu nahe trat, jedem ungefragt sagte, was er über ihn dachte, dabei keinerlei Gefühl für Grenzen zeigte und schon häufig andere so verletzt hatte, dass sogar Tränen geflossen waren.

»Wir haben gerade alle beschlossen, dass wir uns am kommenden Samstag einfach noch mal zwischendurch treffen. In einem Pub. Wäre doch cool, oder?«

Oh Gott, dachte Anna, nicht noch ein Treffen!

Im Prinzip konnte sie niemand zu einem Treffen außer der Reihe zwingen, das gehörte nicht zu ihrem Job. Aber sie wusste genau, was Dalina, ihre Chefin, sagen würde: Natürlich gehst du mit. Es ist super, wenn die sich als Gruppe wohlfühlen. Aber die sollen sich nicht von jetzt an allein weiter treffen, sondern hier im nächsten Kochkurs. Und da kommst du ins Spiel. Du gehst mit und sorgst dafür, dass sie möglichst gleich für Januar die Fortsetzung buchen.

Unauffällig zog sie ihren rechten Fuß ein Stück weit aus dem Stiefel und verschaffte ihm dadurch etwas Linderung. Wenn sie nur nicht solche Schmerzen hätte. Wenn es ihr nur besser ginge. Psychisch. Wenn das neue Jahr nicht so trostlos und unüberschaubar vor ihr läge. Sie wusste, dass es Menschen gab, die jeden Jahreswechsel freudig begrüßten, die in den Januar gingen mit der Erwartung, dass alles besser würde, dass Gutes auf sie wartete. Dieses Gefühl hatte Anna noch nie gehabt. Im noch nicht begonnenen Jahr sah sie die Ödnis und Leere eines noch nicht bepflanzten Feldes. Andere hatten schon die im leichten Sommerwind wogenden Ähren vor Augen. Sie die Dürre und die Disteln. Jahre der Therapie hatten das nicht zu ändern vermocht.

Sie setzte ein Lächeln auf, von dem sie hoffte, dass es nicht zu gequält ausfiel.

»Gute Idee«, sagte sie munter, »ich muss mal schauen … ich hoffe, es klappt. So kurz vor Weihnachten …«

»Sie haben doch keinen Mann und auch keine Kinder, also Weihnachtsstress dürften Sie ja eigentlich nicht haben«, sagte Burt in seiner gewohnt empathischen Art. »Warum also nicht mit Freunden in ein Pub gehen? Besser, als daheim allein herumzuhängen.«

»Ich habe einen Freund«, sagte Anna, »mit dem ich Weihnachten verbringe.«

»Ach stimmt, tatsächlich, Ihr Freund«, sagte Burt, und irgendwie klang das anzüglich. Da Sam sie nach den Kochabenden manchmal abholte, hatten die Kursteilnehmer ihn bereits gesehen. »Warum heiraten Sie ihn eigentlich nicht?«

»Burt, das ist doch wirklich Annas Sache«, sagte Diane, eine junge blonde Frau, die so attraktiv war, dass sich Anna immer wunderte, weshalb sie es überhaupt nötig hatte, Singleveranstaltungen aufzusuchen. Vielleicht lag ihr Problem darin, dass sie extrem scheu und zurückhaltend war.

Anna sah auf ihre Uhr und tat so, als sei sie überrascht, dabei verfolgte sie seit einer Stunde ständig den Minutenzeiger und betete, er möge sich schneller bewegen.

»Zehn Uhr!«, rief sie. »Meine Güte, wie schnell hier immer die Zeit verfliegt!« Sie quetschte ihren Fuß in den Stiefel zurück und unterdrückte einen Schmerzenslaut. Sie stand auf. »So, wer hilft mir?«

Alle erhoben sich schwerfällig, sie hatten viel zu viel gegessen, manche Alkohol getrunken, alle wären gerne in der Wärme und Trägheit des Abends sitzen geblieben. Aber bis um zehn Uhr war gebucht, das wussten sie und auch, dass Anna das sehr genau nahm.

Burt blieb sitzen und trank genießerisch seinen Rotwein, während die anderen beim Abräumen halfen. Wie immer hatte jeder Tupperdosen mitgebracht, in die die Reste des Essens verpackt wurden. Schnell war die riesige Spülmaschine gefüllt und angeschaltet, der Kühlschrank eingeräumt, waren Arbeitsflächen abgewischt, Kerzen ausgeblasen. Zu Annas Aufgaben gehörte es, dass sie am nächsten Morgen hierherkam, die Spülmaschine ausräumte, die Tischdecken zum Waschen mitnahm, die Stühle wieder an ihre Plätze rückte. Jetzt jedoch wollte sie einfach nur noch nach Hause.

Irgendwann sah sogar Burt ein, dass der Abend vorbei war, und stand widerwillig auf. Sie liefen den Gang entlang, und es wirkte auf Anna, als würde sich die Gruppe hinaus in die Nacht ergießen, in die Ruhe und Finsternis und Kälte des späten Dezemberabends, und als würde sie ihn für Momente mit Stimmen und Gelächter überschwemmen, ihm seinen Zauber nehmen, seine Ruhe stören. Denn eigentlich war die Welt dunkel, neblig und still. In der Ferne rauschte das Meer.

Anna sehnte sich so sehr danach, allein zu sein, dass es fast wehtat. Sie humpelte über die Straße. Sie musste riesige Blasen an ihren Füßen haben.

Ein paar Taxis warteten auf die, die getrunken hatten. Die anderen stiegen in ihre eigenen Autos. Auch Anna öffnete die Tür ihres blauen Fiat.

Endlich, dachte sie. Endlich Ruhe.

Sie fuhr durch das spätabendliche Scarborough. Durch den Nebel, der vom Meer aufstieg, schimmerte die weihnachtliche Beleuchtung in den Häusern, den Geschäften und auf den Straßen. Die feuchten Schwaden verschluckten jedoch viel davon. Der Abend schien kalt und trostlos, aber Anna wusste, dass sicher viele Menschen unterwegs waren. In Restaurants, Pubs, Bars, Clubs. Weihnachtsfeiern überall, Musik und Gelächter, Unmengen an Alkohol und exaltierter Fröhlichkeit. Die Leute trugen Papierhüte und würden sich von Stunde zu Stunde enthemmter benehmen. Anna war absolut kein Fan solcher Veranstaltungen, sie war zu ausgelassener Fröhlichkeit noch nie wirklich fähig gewesen. Sie dachte an die Schulpartys ihrer frühen Jugend – solche mit Anwesenheitspflicht. Selten hatte sie etwas als so quälend empfunden.

»Achtung!«, sagte sie plötzlich laut zu sich selbst, jäh aus ihren düsteren Erinnerungen gerissen, und trat auf die Bremse. Direkt vor ihr war ein kleiner roter Renault aus dem Nebel aufgetaucht, dem sie bereits gefährlich nah aufgefahren war.

Warum hatte sie ihn nicht gesehen? So extrem dicht war der Nebel auch wieder nicht. Wahrscheinlich war sie zu tief in Gedanken versunken gewesen.

Ich muss mich besser konzentrieren, dachte sie.

Sie fuhr langsamer, blieb in angemessenem Abstand hinter dem roten Auto. Sie konnte erkennen, dass der Fahrer lange blonde Haare hatte. Also handelte es sich vermutlich eher um eine Fahrerin.

Sie kam an der Lindhead School vorbei, verließ die letzten Ausläufer der Stadt, fuhr nun die Lindhead Road entlang. Rechts und links Wiesen und Weiden, durchzogen von Zäunen und steinernen Mauern, die man in der Dunkelheit natürlich höchstens erahnte. Ab und zu ein Haus, ein Gehöft, ein Bed and Breakfast. Aber sonst nur Weite und Stille. Der North Yorkshire National Park begann schon hier. Mit seinen Tälern, Hügeln, Wäldern und Feldern. Den zahllosen berühmten und beliebten Wanderwegen. Aber hier gingen auch Menschen verloren. Nicht einmal so selten.

An der Abzweigung Lindhead Road / Harwood Dale Road bremste das rote Auto plötzlich so abrupt, dass Anna, die schon wieder zu dicht aufgefahren war, es nur mit einer scharfen Vollbremsung schaffte, einen Auffahrunfall zu vermeiden. Ihr Auto sprang praktisch in den Stand, leise tuckernd verstummte der Motor.

»Was ist denn mit der los?«, rief sie.

Dann erst bemerkte sie den Grund für das Verhalten der Fahrerin vor ihr. Auf der Kreuzung, von der aus die Straße in Richtung Scalby abzweigte, stand ein Mann. Zumindest schien es sich bei dem Menschen um einen Mann zu handeln, was Größe und Statur betraf: eine ungewöhnlich große, breitschultrige Gestalt. Stiefel, Parka. Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Er stand so, dass die Fahrerin vor Anna hatte bremsen müssen, wollte sie ihn nicht überfahren. Er trat an die Beifahrertür heran, riss sie auf.

Anna beobachtete die Szene mit Fassungslosigkeit. Wieso stand ein Mann, wieso stand irgendjemand um diese Uhrzeit an dieser gottverlassenen Kreuzung herum? Sie befanden sich hier praktisch im Nichts. Scarborough lag ein ganzes Stück hinter ihnen. Nach Scalby, in die eine Richtung, war es noch ein gutes Stück Weg. Nach Harwood Dale, die andere Richtung, ebenfalls. Wer stand in einer nasskalten, nebligen Dezembernacht an dieser Weggabelung herum?

Der Mann stieg in das Auto.

Anna schnappte nach Luft.

Diese Frau konnte doch nicht am späten Abend an dieser Stelle einen fremden Mann in ihr Auto steigen lassen! Allerdings sah es auch nicht so aus, als habe sie ihn tatsächlich freiwillig einsteigen lassen. Es war so schnell gegangen. Sie hatte notgedrungen gebremst, im nächsten Augenblick war er schon neben ihrem Auto gewesen, eine Sekunde später drinnen. Selbst wenn sie versucht hätte, die Zentralverriegelung zu betätigen, hätte sie es wahrscheinlich so schnell und so überrumpelt nicht geschafft.

Anna spähte in das Auto hinein. Die langen blonden Haare der Fahrerin … Es könnte sich tatsächlich um Diane handeln. Diane aus dem Singlekochkurs. Sie wohnte, wie Anna auch, in Harwood Dale. Es wäre logisch, dass sie um diese Zeit genau hier unterwegs war. Fuhr sie ein rotes Auto? Anna war sich nicht sicher.

Sie blendete ihre Scheinwerfer auf, um der Fahrerin ein Signal zu geben, dass sie nicht allein war.

»Steig aus und komm her«, murmelte sie. »Los, mach schon!«

Die Frau, vielleicht Diane, musste das Lichtsignal bemerkt haben, aber sie schien keinen Versuch zu unternehmen, ihr Auto zu verlassen. Weil sie nicht konnte? Wurde sie bedroht? War der Typ bewaffnet?

Anna versuchte sich zu erinnern, ob sie irgendetwas in seinen Händen gesehen hatte, aber sie wusste es nicht mehr. Es war eben auch alles so unerwartet passiert, so schnell.

Oder hatte der Mann hier gewartet, weil sie verabredet waren, er und die Frau?

Aber an diesem Ort … Wer traf sich ausgerechnet hier?

Während Anna noch überlegte, was sie tun sollte, setzte sich das rote Auto vor ihr in Bewegung.

Ich muss dranbleiben, dachte sie.

Der rote Wagen verschwand um die Straßenbiegung Richtung Harwood Dale. Anna fingerte am Zündschlüssel herum. Der Motor stotterte kurz, verstummte dann wieder.

»Verdammt!«, schrie sie.

Die Feuchtigkeit. Bei Feuchtigkeit war ihr uraltes Auto einfach unberechenbar.

»Komm schon«, murmelte sie, »komm schon!«

Sie wusste, dass sie zwischen den einzelnen Versuchen am besten immer einige Minuten wartete, das erhöhte ihre Chance, dass es irgendwann klappte. In der Zeit konnten jedoch die schlimmsten Dinge passieren. Sie versuchte es hektisch ein paarmal hintereinander. Der Motor röchelte einfach nur leise.

Sie wartete. Vibrierte. Schaute immer wieder durch den Rückspiegel, um sofort das Warnblinklicht einzuschalten, sollten in der Ferne Scheinwerfer auftauchen. Sie stand sehr ungünstig, mitten auf der Straße. Ein Auffahrunfall wäre jetzt die Krönung. Aber die Nacht blieb dunkel und still.

Nach fünf Minuten versuchte sie es erneut, und diesmal sprang der Motor an.

Endlich.

Sie fuhr weiter. Mit überhöhter Geschwindigkeit. Sie wusste, dass das Auto mit der Frau und dem Fremden darin längst über alle Berge sein konnte. Sie hatte sich nicht einmal das Kennzeichen notiert.

Ich mache alles falsch, was immer ich tue.

Sie kam am Woodpeckers Cottage vorbei, einem Bed and Breakfast, in dem aber kein Licht brannte. Das Gebäude wirkte verlassen. Vielleicht waren die Besitzer den Winter über gar nicht da.

Ein Stück weiter gab es eine Parkbucht, direkt vor einer Schafweide. Als Sam Anna zum ersten Mal nach Hause gefahren hatte, ganz zu Anfang ihrer Beziehung, hatten sie hier gehalten und stundenlang geknutscht. Es war eine helle Sommernacht gewesen, Licht am Himmel bis in die Morgenstunden. Anna entsann sich des Zaubers, den sie damals empfunden hatte. Als wende sich etwas zum Guten. Endgültig.

Jetzt sah sie das rote Auto in der Parkbucht stehen. Ziemlich dicht am Weidezaun, also ein Stück entfernt von der Straße. Die Lichter waren ausgeschaltet. Anna hatte es nur wahrgenommen, weil es für den Bruchteil einer Sekunde im Lichtkegel ihrer eigenen aufgeblendeten Scheinwerfer aufgetaucht war. Dann war sie an der Stelle auch schon vorbei. Sie wurde langsamer. Wieso standen die jetzt hier?

Doch ein Liebespaar? Das hier knutschte, genauso wie Anna und Sam damals?

Ich sollte umkehren, dachte sie, mich vergewissern.

Sie fuhr inzwischen im Schneckentempo. Hin- und hergerissen. Nachschauen und sich lächerlich machen? Sich selbst in Gefahr bringen?

Gingen diese Leute sie etwas an?

Sie hatte der Frau Hilfe signalisiert, aber keine Reaktion erhalten. Die andere hätte nicht losfahren müssen, oder?

Wenn ihr ein Messer an die Kehle gehalten wurde?

Aber dann konnte man immer noch blitzschnell aus dem Auto springen.

Wenn es einem gelang, den Gurt zu lösen, ehe der Typ zustach.

»Warum passiert mir so etwas?«, rief sie.

Sie war so müde. Ihre Füße brannten. Sie wollte in ihr Bett.

Sie hielt an und schaute wieder in den Rückspiegel. Ganz weit in der Ferne sah sie Scheinwerfer. Entweder fuhr hier noch jemand entlang, oder das rote Auto hatte sich wieder in Bewegung gesetzt. Wenn Letzteres der Fall war, hatte sie sowieso den Moment verpasst, da sie hätte nachschauen können, ob alles in Ordnung war.

Wahrscheinlich war alles in Ordnung. Sie war hier nicht bei Crime Watch.

Sie konnte nicht für den Rest der Nacht mitten auf der Straße stehen bleiben.

Anna fuhr nach Hause.

Dienstag, 17. Dezember

1

Kate Linville machte sich selten Gedanken um ihre Kleidung, was auch damit zusammenhing, dass sie einfach kein Gefühl dafür hatte, was ihr stand und was nicht, und auch dann danebengriff, wenn sie Stunden überlegte und probierte. Oder vielleicht sogar gerade dann. Modetrends drangen nicht zu ihr durch, und wenn sie es doch taten, war das meist ein Zeichen dafür, dass sie bereits wieder im Abklingen waren. Aber selbst wenn es ihr gelungen wäre, sich modischer zu kleiden, bezweifelte sie, dass das etwas an ihrer völligen Unscheinbarkeit verändert hätte. Dinge, die an anderen toll aussahen, wirkten bei ihr einfach nicht. Sie hatte eine hübsche Figur, wenngleich manche sie wahrscheinlich als zu dünn bezeichnen würden. Aber das war auch alles. Ansonsten glänzte sie durch Unauffälligkeit. Graue Maus nannte man Frauen wie sie. Nicht hässlich. Nicht hübsch.

Einfach nichts.

Kate hatte sich im Lauf der Zeit angewöhnt, auf Nummer sicher zu gehen und einfach jeden Tag mehr oder weniger das Gleiche anzuziehen. Eine schwarze Hose, schwarze Schnürschuhe oder Stiefel, ein sauberes weißes T-Shirt, einen schwarzen oder grauen Blazer. Damit machte sie nichts verkehrt, fand sie. In den Schuhen konnte sie ewig laufen, und wenn ihr zu warm wurde, zog sie einfach den Blazer aus. Im Winter einen Mantel darüber.

Da sie sich nicht schminkte, sondern nur kurz über ihre glatten braunen Haare bürstete, war sie morgens zumindest immer sehr schnell fertig.

Heute jedoch stand sie vor ihrem Schrank im Schlafzimmer und überlegte. Der Tag war schmuddelig und kalt. Es regnete, aber es könnte sein, dass der Regen in Schnee übergehen würde.

Nächste Woche war Weihnachten. Kate mochte gar nicht daran denken.

»Meinst du, ich sollte heute etwas Besonderes anziehen?«, fragte sie in Richtung Bett. Dort lag ihre schwarze Katze Messy zwischen den zerwühlten Kissen und schaute aufmerksam zu ihr hinüber. Leider konnte sie ihr keine Antwort auf diese Frage geben. Sie begann stattdessen damit, ihre Pfoten sorgfältig zu putzen.

Heute würde sich die neue Chefin im CID Scarborough, der Kriminalbehörde, vorstellen, und Kate graute davor. Dabei wusste sie nichts über diese Frau, deren direkte Mitarbeiterin sie von nun an sein würde. Detective Inspector Pamela Graybourne. Sie wechselte von Manchester hierher, irgendein Deal des Chief Superintendent. War wahrscheinlich nicht so leicht abzuwickeln gewesen, sonst hätte es nicht so lange gedauert und würde nicht so kurz vor Jahresende stattfinden. Dass der Chief jemanden von draußen holte und auf niemanden aus der eigenen Behörde zurückgriff, stieß natürlich alle vor den Kopf, aber wie üblich scherte er sich nicht darum. Vor allem Kate war gekränkt, obwohl sie geahnt hatte, dass sie kaum eine Chance gehabt hatte. Sie war erst seit dem Sommer bei der North Yorkshire Police, aber das war immerhin länger, als es die Neue von sich behaupten konnte. Andererseits hatte sie gleich ihren ersten Fall vermasselt, zumindest in den Augen des Superintendenten, und, wenn sie ehrlich war, auch in ihren eigenen. Genauer gesagt: Sie war nahezu traumatisiert daraus hervorgegangen.

Wie üblich biss sie die Zähne zusammen und machte weiter.

Es war ihr Lebensmotto: weitergehen. Nicht zu viel nach rechts oder links schauen, auch nicht zurück, nur nach vorn und nicht stehen bleiben.

Aber vielleicht wussten ihre Vorgesetzten, dass es ihr psychisch nicht gut ging. Oder man vermutete es.

Außerdem hatte sie gegen die Vorschriften verstoßen. Aus einer absoluten Notlage heraus, wie sie fand, aber diese Sichtweise hatte der Chief nicht akzeptiert.

Abgesehen von all dem bekleidete sie auch nur den Rang eines Detective Sergeant. Sie hätte weiter sein können mit Mitte vierzig. Niemand hatte sie je für die weiterführende Prüfung vorgeschlagen, was normalerweise der jeweils Vorgesetzte tat. Von jetzt an also Pamela Graybourne.

Am Schluss zog Kate an, was sie immer anzog, hatte aber jetzt so viel Zeit verplempert, dass sie nicht mehr frühstücken konnte. Es reichte noch, um Messys Futter in die Schüssel zu geben, ihr Wasser aufzufüllen und selbst eine halbe Tasse Kaffee im Stehen hinunterzukippen. Dann verließ sie ihr kleines Haus, das sich in einem Vorort von Scarborough befand und das sie fast sechs Jahre zuvor von ihrem Vater geerbt hatte.

Ihr Vater – auch ein Trauma.

Nicht nachdenken, befahl sie sich.

Sie lief durch den Regen, der die Haut wie Nadelstiche traf. Die Tropfen kristallisierten bereits ganz leicht. Sie hatte es geahnt, bis zum Abend spätestens würde es schneien. Der Abend. Sie sehnte ihn herbei. Sie wünschte, sie hätte den vor ihr liegenden Tag bereits überstanden.

Detective Inspector Pamela Graybourne war schon da, als Kate eintraf. Kate wusste, dass sie selbst nicht zu spät war, trotzdem hätte es einen besseren Eindruck gemacht, wenn sie nicht später als die neue Chefin eingetroffen wäre. Pamela war offensichtlich schon in ihr neues Büro eingezogen – das früher das von Caleb Hale gewesen war –, denn sie saß hinter dem Schreibtisch, hatte die beiden Sessel, die vorher in der Ecke gestanden hatten, in der Mitte des Raumes platziert, dafür eine seltsame große Pflanze in der Ecke aufgestellt. Außerdem hing ein neues Bild an der Wand, ein Kunstdruck, wahrscheinlich nicht besonders wertvoll, aber sehr schön. Der Raum hatte zweifellos bereits jetzt gewonnen. DI Graybourne hatte Geschmack.

Sie kam hinter dem Schreibtisch hervor, als Kate, nachdem sie angeklopft hatte, zögernd den Raum betrat.

»Ah … Detective Sergeant Linville, richtig?« Sie streckte ihr die Hand hin. Ihr Händedruck war kräftig. »Ich habe schon viel von Ihnen gehört.«

Kate nahm an, dass es nichts ausgesprochen Gutes gewesen war. Sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.

»Oh«, sagte sie und dachte gleich darauf: Wie bescheuert kann man denn sein?

Pamela deutete ein Lächeln an. »Ich weiß, dass es ein schlimmer Sommer war. Ein schlimmer Fall. Ein schlimmes Ende.«

»Es war sehr hart«, bestätigte Kate, obwohl hart nicht im Mindesten der Begriff war, der den Geschehnissen vom August gerecht wurde.

»Am härtesten war es zweifellos für Sophia Lewis«, bemerkte Pamela. Kate wusste, dass sie sich nicht einmal gezielt hatte informieren müssen, um alles zu wissen, denn der Fall war wochenlang in den Schlagzeilen gewesen. Das ganze Land hatte geholfen, nach der Entführten zu suchen. Eine gelähmte Frau, die ihr Entführer nach eigenen Angaben lebend in einer Kiste vergraben hatte. Dann war er, nach einem Kampf mit Kate, in dessen Verlauf sie auf ihn geschossen hatte, gestorben. Man hatte die Frau, Sophia Lewis, bis zu diesem Tag nicht gefunden.

»Natürlich«, sagte Kate nun auf Pamelas Bemerkung hin. Sie musterte die andere unauffällig. Pamela war fast einen Kopf größer als sie, eine Frau von radikaler Einfachheit in ihrer Aufmachung. Sie trug einen grauen Hosenanzug und fast so praktische Schuhe wie Kate, dazu sehr kurz geschnittene dunkelblonde Haare, in die sich bereits eine Menge grauer Strähnen mischten. Keinerlei Make-up. Sie hätte unscheinbar sein können, aber sie war es nicht. Eine Frau von großer Präsenz. Sehr beeindruckend. Eine Frau, die Aufmerksamkeit erregte und Interesse weckte.

Ganz anders als ich, dachte Kate. Kein Wunder, dass sie den Posten bekommen hat. Wahrscheinlich ist sie hervorragend geeignet.

»Ich weiß, dass Sie von Scotland Yard hierher gewechselt sind, um mit Detective Chief Inspector Caleb Hale zusammenzuarbeiten«, sagte Pamela. »Aber er hat ja den Dienst quittiert. Nach den Geschehnissen im Sommer.«

»Ja.«

»Und sein Nachfolger, Detective Inspector Robert Stewart, wurde von einem Psychopathen erschossen«, fuhr Pamela fort. »Nachdem Sie und er ohne jede Absicherung ein Haus betreten hatten, in dem sich ein Killer mit Geiseln verschanzt hatte.«

Kate schluckte die Bemerkung herunter, dass sie von der Geiselnahme nichts gewusst hatten. Zudem hätte sie darauf hinweisen können, dass sie sehr wohl gewarnt hatte – dass sich jedoch Robert Stewart als ihr Vorgesetzter mit seiner Bedenkenlosigkeit durchgesetzt hatte. Er hatte mit dem Leben dafür bezahlt. Kate mochte nichts Nachteiliges über den Toten sagen, daher schwieg sie.

Vielleicht ergab sich irgendwann ein Moment, in dem sie aufdecken konnte, wie es wirklich gewesen war.

Pamela musterte sie aus kühlen Augen. »Sergeant, ich möchte Ihnen nicht verhehlen, dass ich mit einer vorgefertigten Meinung über Sie meine Stelle hier antrete – auch wenn ich weiß, dass man das eigentlich vermeiden sollte. Und natürlich bin ich sehr gerne bereit, meine Meinung zu revidieren, aber ob ich das können werde, liegt vor allem an Ihnen.«

Kate schwieg erneut.

»Ich habe den Eindruck, dass Sie es mit den Vorschriften nicht allzu genau nehmen und gerne eigenmächtige Entscheidungen treffen«, fuhr Pamela fort. »Und wie Sie sicher erkannt haben, führt das nicht immer zu guten Verläufen … Ich bin, ehrlich gesagt, ein wenig verwundert, dass Sie nach allem, was im Sommer geschehen ist, nicht vom Dienst suspendiert wurden und sich einem Disziplinarverfahren stellen müssen. Ich kann es mir nur mit der allgemeinen Überlastung der Polizei erklären. Und durch die spezielle Situation hier beim CID Scarborough, wo der Chief Inspector erst suspendiert wurde und dann von selbst den Dienst quittiert hat und sein Nachfolger erschossen wurde. Man hält an Ihnen fest, Sergeant, weil es andernfalls diese Abteilung schon fast nicht mehr geben würde.«

Klar, dachte Kate, obwohl ich im Grunde eine einzige Katastrophe bin.

Wut gemischt mit Traurigkeit stieg in ihr auf, beide Gefühle bemühte sie sich hinter einem unbewegten Gesichtsausdruck zu verbergen. Ein halbes Jahr war sie jetzt in Scarborough, nach langem innerem Ringen hatte sie London aufgegeben, ihre Stelle bei Scotland Yard, war mit Sack und Pack in ihre Geburtsstadt zurückgekehrt, getrieben von dem Gefühl, einen Neuanfang zu brauchen und ihn auch schaffen zu können, und gleich der erste Fall hatte dafür gesorgt, dass sie genau da war, wo sie im Yard gewesen war: misstrauisch beäugt von den Vorgesetzten, ohne Anerkennung für das, was sie geleistet hatte, nicht wirklich akzeptiert, bloß geduldet. Statt einen Neuanfang auf die Beine zu stellen, war es ihr im Handumdrehen gelungen, den alten Zustand zu etablieren. Sie hasste eigentlich die gerne zitierte Binsenweisheit, mit der andere Menschen denen, die den Wechsel wagten, den Schneid abzukaufen versuchten: Deine Probleme nimmst du sowieso immer mit!

Am Ende war da etwas dran.

»Ich habe Sie sehr genau im Blick, Sergeant«, sagte Pamela. »Das möchte ich Sie einfach wissen lassen. Ich dulde keine Alleingänge und nicht den geringsten Verstoß gegen eine Vorschrift oder eine großzügige Auslegung derselben. Wenn Sie sich daran halten, kommen wir miteinander zurecht.«

Unausgesprochen stand der Nachsatz im Raum: wenn nicht, bekommen Sie ein riesiges Problem.

»Ich hoffe, wir haben uns verstanden, Sergeant.«

»Das haben wir, Inspector.«

Pamela nickte. »In Ordnung. Dann gehen wir jetzt durch, was ansteht. Ich habe mich im Vorfeld natürlich eingehend kundig gemacht, würde aber auch gerne Ihre Einschätzung kennenlernen.«

Immerhin, dachte Kate, sie ist nicht unfair. Sie bezieht mich ein. Allerdings sind wir tatsächlich dünn besetzt. Mich auszugrenzen wäre schwierig.

In der nächsten halben Stunde gingen sie die aktuellen Fälle durch. Es gab viel Arbeit, aber es stand nichts an, was undurchschaubar gewesen wäre und ihnen Rätsel aufgab. Der spektakulärste Fall war der einer alten Dame, Patricia Walters, die ums Leben gekommen war, nachdem ihre Betreuerin ohne vorherige Absprache einfach verschwunden war. Sie hatte der alten Dame Essen und Trinken für einige Tage bereitgestellt, aber dann war diese auf der Treppe in ihrem Haus gestürzt und an den Folgen des Sturzes gestorben. Ihre Tochter, die sich wunderte, weil niemand mehr ans Telefon ging, kam aus Südengland angereist und fand ihre tote Mutter. Sie zeigte die Betreuerin wegen fahrlässiger Tötung an, und die Polizei hatte eine Fahndung eingeleitet, weil die junge Frau spurlos verschwunden blieb.

»Sie suchen jetzt am besten noch einmal die Tochter auf«, sagte Pamela. »Wir brauchen mehr Informationen über diese verschwundene Betreuerin. Mila Henderson. Die Tochter wohnt, wenn ich das richtig verstehe, derzeit im Haus ihrer Mutter hier in Scarborough.«

»Das ist auch meine Information«, sagte Kate. »In Ordnung. Ich mache mich gleich auf den Weg.«

Sie war froh, der forschen Pamela erst einmal zu entkommen. Obwohl es natürlich Schöneres gab, als der wahrscheinlich traumatisierten Tochter einer auf schreckliche Weise ums Leben gekommenen Frau gegenübersitzen zu müssen.

2

Eineinhalb Stunden später verließ Kate das Haus der Verstorbenen, das in der Nordbucht von Scarborough gelegen war und einen wunderschönen Meeresblick hatte. Sie war ein wenig ernüchtert: Die Tochter, Eleonore Walters, hatte nicht traumatisiert gewirkt, sondern vor allen Dingen rachedurstig, wobei es Kate klar war, dass eines mit dem anderen zusammenhängen konnte. Trotzdem hatte sie einmal zu oft betont, extra aus Southampton angereist zu sein und jetzt hier alles auflösen zu müssen. Waren das die vorherrschenden Gedanken, wenn man gerade seine Mutter verloren hatte? Die Betreuerin bezeichnete sie ausschließlich als Schlampe.

»Sie war relativ jung. Dreißig. Ausgebildete Altenpflegerin. Gute Referenzen. Schien mir sehr zuverlässig. So kann man sich täuschen. Wahrscheinlich macht sie sich irgendwo mit ihrem Freund eine gute Zeit und hat darüber alles vergessen!«

»Freund? Kannten Sie ihn?«

»Nein.«

»Sie wissen demnach auch gar nicht, ob Mila Henderson überhaupt einen Freund hat?«

Widerstrebend räumte Eleonore Walters ein, das tatsächlich nicht zu wissen. »Aber wie soll es denn sonst sein? Worüber vergessen die jungen Dinger denn ihre Pflicht – wenn nicht wegen irgendwelcher Typen, mit denen sie sich einlassen?«

»Nun ja, da gibt es schon einige Möglichkeiten.«

»Ich nehme an, sie hat sich irgendwo ein flottes Wochenende gemacht. Kam dann am Sonntagabend zurück und sah meine Mutter tot am Fuße der Treppe liegen. Wusste, dass eine Menge Ärger auf sie zukommt. Da hat sie das Weite gesucht. Es ist nichts mehr von ihr da. Ihr Zimmer ist leer. Keine Klamotten, keine Wäsche, keine Utensilien im Bad. Sie hat sich aus dem Staub gemacht.«

»Das ist eine Vermutung.«

»Ich habe der Schlampe sehr viel Geld bezahlt, wissen Sie. Meine Mutter war kein Pflegefall, wir hätten niemals von ihrer Versicherung eine Betreuung rund um die Uhr bezahlt bekommen. Aber meine Mutter war unsicher auf den Beinen und manchmal etwas durcheinander. Man durfte sie nicht allein lassen, die Gefahr eines Unfalls war zu groß. Wie man ja nun gesehen hat. Das Geld hat das kleine Miststück gerne eingesteckt. Davon sehe ich natürlich auch nichts wieder.«

Immerhin erbte die Tochter vermutlich das sehr schöne Haus. Kate fand es befremdlich, wie sehr sich diese Frau bei der Frage des Geldes aufhielt. Vielleicht verbarg sie dahinter ihren Schmerz.

Als sie Kate zur Tür begleitete, sagte sie: »Ich hoffe, Sie finden diese Person. Sie darf nicht einfach davonkommen.«

»Ich denke, wir finden sie«, sagte Kate. »Es ist äußerst schwierig, für immer unterzutauchen.«

Als Kate zu ihrem Auto zurücklief, ging der Regen gerade in Schnee über. Schon lag weißer Puderzucker auf Bogenlampen und Balustraden, der bislang unwirtliche Tag bekam einen weihnachtlichen Anstrich. Noch eine Woche bis zum Fest. Kate sank auf den Fahrersitz und blickte in den Flockenwirbel hinaus. Weihnachten war einfach eine so schreckliche Klippe im Jahr. Nicht für jeden. Aber für eine alleinstehende Frau von vierundvierzig Jahren, die ihr Leben ausschließlich mit einer Katze teilte. Jedes Jahr von Neuem die Frage, wie man die Feiertage hinter sich bringen sollte. Die sentimentale Musik im Radio überstehen, den Lichterglanz in der Innenstadt, die von Liebe und Zusammengehörigkeit erzählenden Fernsehfilme.

»Macht sich irgendjemand eigentlich Gedanken, was dieses Fest für Dauersingles bedeutet?«, fragte sie laut, obwohl sie niemand hörte. Oder weil sie niemand hörte. Denn sie würde sich eher die Zunge abbeißen, als andere wissen zu lassen, wie schlecht es ihr manchmal ging.

Sie ließ den Motor an und fuhr los.

Zehn Minuten später hielt sie vor dem unscheinbaren Gebäude, das auf dem South Cliff lag, in der dritten Reihe jedoch und daher ohne Sicht auf die Bucht und das Meer. Stille Straßen, eine kleine Parkanlage, an deren Wegen entlang Tafeln angebracht waren, die Hinweise und Erklärungen zu heimischen Seevögeln gaben. Überall standen Bänke, die jetzt weiß bedeckt waren vom Schnee. Das Haus selbst verriet zunächst nicht, dass sich hier eine Agentur für partnersuchende Singles befand; vermutlich deshalb, weil Diskretion ein Teil des Geschäftes war. Erst auf dem Klingelschild entdeckte Kate den Hinweis: Trouvemoi.

Sie hatte die Agentur im Internet gefunden und immer wieder überlegt, sich dort anzumelden. Am einfachsten wäre das natürlich online gewesen, aber sie hatte sich nicht entschließen können, hatte gezögert und gezaudert und die Entscheidung ständig vor sich hergeschoben. Nun war sie einfach direkt hierhergefahren.

Jetzt oder nie, dachte sie.

Sie litt unter dem Alleinleben, und sie hatte manchmal das Gefühl, es werde sich daran einfach nichts ändern, wenn sie ihr Geschick nicht selbst in die Hand nahm.

Die Wochenenden empfand sie inzwischen als tödlich, und am tödlichsten waren die Sonntage. Deutlich schlimmer als die Samstage, an denen Kate den Vormittag damit verbrachte, die notwendigsten Lebensmittel für die kommende Woche einzukaufen, sich mit Katzenfutter einzudecken oder irgendwelche sonstigen Dinge zu besorgen, die sie für Haus und Garten brauchte. Am Samstag hasteten die Menschen noch in der Stadt herum, und der Tag war von einer regen Geschäftigkeit erfüllt, die allerdings zum Abend hin abklang. Am Samstagabend merkte Kate immer schon, wie sich die Melancholie in ihr auszubreiten begann und sie sich fragte, warum nicht einfach jemand neben ihr auf dem Sofa sitzen, die fünfte Staffel irgendeiner spannenden Netflix-Serie mit ihr anschauen und dabei eine Pizza aus einem Pappkarton essen konnte. Der mit ihr in der Dunkelheit noch einmal zum Meer lief. Oder mit ihr zusammen etwas Genießbares zu kochen versuchte und die Küche in ein Schlachtfeld verwandelte.

Es waren diese Dinge, die Kate vor allem aus Büchern und Filmen, aus den Erzählungen anderer und aus einer eigenen, sehr kurzen Beziehung kannte und nach denen sie sich schmerzhaft sehnte. Danach, dass einfach jemand da war, mit dem man irgendetwas Unspektakuläres tun konnte. Der einen vor Notfallverabredungen mit Menschen schützte, bei denen man nach fünf Minuten erkannte, dass der gemeinsame Abend so zäh werden würde wie ein ausgekautes Kaugummi. Kate wusste zu gut, wie sich Verabredungen anfühlten, die man nur deshalb einging, um nicht allein zu sein und um den Ratschlägen zu folgen, die aus jedem Buchratgeber tönten: Tu etwas für dein Glück! Geh hinaus und nutze den Tag! Sitz nicht herum! Geh unter Menschen! Ergreife die Initiative!

Die Wirklichkeit sah komplizierter aus, als die meisten Ratgeber sie darstellten. Unter Menschen zu gehen konnte das Problem verschärfen. Manchmal war es weniger deprimierend, allein vor dem Fernseher zu sitzen und sich mit einem Glas Wein zu trösten, als sich in einem Restaurant mit einer penetranten Frohnatur zu treffen, die den ganzen Abend lang mit ihrem tollen Leben prahlte. Nie hätte man sich freiwillig mit ihr verabredet, wäre man nicht in einer verzweifelten Notlage. Kate zumindest kam ihr Alleinsein nie erbärmlicher vor als in solchen Momenten.

Trotzdem hatte sie gezögert, sich bei Trouvemoi anzumelden. In London war sie bei Parship gewesen und hatte etliche Dates absolviert, aber dort hatte sie nie die Sorge gehabt, dabei jemandem zu begegnen, den sie kannte. London war eine riesige Metropole, die Wahrscheinlichkeit war sehr gering gewesen, dass jemand aus ihrem beruflichen Umfeld mitbekam, was sie in ihrer Freizeit so trieb. In Scarborough sah das anders aus. Die Stadt war nicht besonders groß, man traf ständig auf Menschen, die man kannte. Kate wusste, dass es überhaupt keine Schande war, aktiv einen Partner zu suchen, und doch hatte sie Angst davor, dass es an ihrem Arbeitsplatz zum Thema wurde. Bei der Vorstellung, wie Pamela Graybourne sie spöttisch mustern würde, wenn sie erführe, dass Kate beim Speeddating mitmachte, wurde ihr ganz anders.

Jedoch … wenn sie nicht weitersuchte, käme sie sich immer mehr vor wie ein Trauerkloß, der zu Hause herumsitzt und auf etwas wartet, das nie eintrifft. Und da Parship bislang nichts gebracht hatte, würde sie es diesmal anders versuchen. Trouvemoi gab Menschen die Gelegenheit, einander im wahren Leben bei der Ausübung gemeinsamer Interessen kennenzulernen. Vielleicht wäre das für sie die größere Chance.

Wenn sie jetzt hier nicht hinging und sich anmeldete, tat sie es nie. Nicht dass sie glaubte, innerhalb der nächsten Woche, die noch bis Weihnachten blieb, den Mann fürs Leben zu finden. Aber selbst wenn sie sich für etwas anmeldete, das erst im Januar stattfinden würde, hätte sie das Gefühl, etwas auf den Weg gebracht, eine Entwicklung eingeleitet zu haben. Und dass dann vielleicht am nächsten Weihnachtsfest … Sie drückte auf die Klingel.

Womöglich war gar niemand da. An einem Dienstagvormittag. Dann hätte sich alles sowieso erledigt.

Der Öffner summte, Kate drückte die Tür auf. Vor ihr lag ein Gang, an dessen Ende eine weitere Tür geöffnet wurde. Eine junge Frau streckte den Kopf hinaus. »Hallo«, sagte sie.

»Hallo«, sagte Kate. »Sind Sie von Trouvemoi?«

»Dalina Jennings. Mir gehört die Firma.« Sie streckte Kate die Hand hin. »Kommen Sie doch herein, bitte.«

Kate betrat die Wohnung. Ein schmaler Gang, drei große Zimmer, soweit sie das auf den ersten Blick erkannte. Eine ebenfalls recht große Küche. Im Flur stand ein Wäschekorb, in dem sich fleckige Tücher türmten. Dalina war ihrem Blick gefolgt.

»Wir hatten den Kochkurs gestern Abend. Mit anschließendem Dinner. Die Leiterin hätte heute früh hier sein müssen, um alles aufzuräumen, aber sie hat angerufen, weil es ihr nicht gut geht. Sehr seltsam, gestern war sie noch fit.« Dalina klang verärgert, auch wenn sie sich bemühte, es zu verbergen. »Ich müsste unbedingt eine weitere Kraft einstellen. Heute Nachmittag findet hier ein Kaffeetrinken für ältere Singles statt, und nun muss ich alles sauber machen, die Tische decken, die Spülmaschine ausräumen und …« Sie unterbrach sich. »Aber Sie sind nicht hierhergekommen, um sich meinen Ärger mit meiner Mitarbeiterin anzuhören, Mrs. …?«

»Linville. Kate Linville.«

»Kommen Sie.« Dalina ging voran in einen kleineren Raum, der gleich neben der Küche lag. Hier befanden sich Regale voller Ordner, ein großer Schreibtisch mit Bildschirm, zwei Sessel und an der Wand ein berühmtes Filmplakat: Leonardo DiCaprio und Kate Winslet am Bug der Titanic, eingetaucht in das rote Licht der Abendsonne. Suggeriert wurde die Vorstellung eines verliebten Paares, das eine strahlende Zukunft vor sich hat … Kate fand das Bild eher unpassend, da man ja wusste, dass das Schiff kurz darauf untergehen und Leonardo sterben würde.

Andererseits, dachte sie, ist es vielleicht auch einfach realistisch. Wenn überhaupt ein gemeinsames Glück möglich ist, dann ist es von kurzer Dauer.

»Nehmen Sie Platz«, sagte Dalina. Sie setzte sich hinter ihren Schreibtisch und fuhr den Computer hoch. Kate beschlich das Gefühl, dass sie hier nicht mehr rauskam, ohne nicht mindestens ein Angebot gebucht zu haben. Die Frau erschien ihr äußerst geschäftstüchtig.

»Das sind ja wirklich sehr weitläufige Räumlichkeiten«, sagte sie, um überhaupt etwas zu sagen.

»Ja, einfach perfekt«, sagte Dalina. »Hier war zuvor ein Restaurant untergebracht. Daher die tolle Küche. Eignet sich wunderbar für das Singlekochen. Wissen Sie, viele versuchen es ja heutzutage über Tinder … nach rechts wischen, nach links wischen … Als ob man so schnell und nur aufgrund eines Fotos beurteilen könnte, wer zu einem passt und wer nicht. Ich habe auf eine vergleichsweise altmodische Schiene gesetzt. Meine Kunden treffen sich zu gemeinsamen Unternehmungen. Und ich kann Ihnen nur sagen, es funktioniert hervorragend.«

Warum finden sich die Menschen nicht mehr im Alltag?, fragte sich Kate. Sie wusste zumindest, warum es bei ihr nicht klappte: Wo sollte sie jemanden kennenlernen? Eigentlich hätten nur der Beruf und Kollegen eine Möglichkeit geboten, aber da hatte sich nie etwas ergeben. Und wahrscheinlich war sie auch einfach zu schüchtern. Sie traute sich nicht, auf andere Menschen – Männer – offensiv zuzugehen.

»Also, Kate Linville«, sagte Dalina und gab den Namen in ihr System ein. »Verraten Sie mir Ihre Adresse und Ihr Geburtsdatum?«

Kate gab beides an und dachte, dass diese noch vergleichsweise junge Frau ihr Geschäft wirklich verstand. Sie befand sich gerade seit zwei Minuten in den Räumen der Agentur, da landete sie schon im Computer und wurde zur Kundin. Fast schneller, als man Luft holen konnte. Sie fühlte sich überfahren, zwang sich jedoch, ruhig zu bleiben.

Sei froh. Würde man dich nicht überfahren, würdest du dich wahrscheinlich schon wieder nicht entschließen.

»Was machen Sie beruflich?«, fragte Dalina.

Kate zuckte zusammen. Ihren Beruf hatte sie eigentlich nicht nennen wollen. Damit kam man ihr zu nah, damit erfuhr man zu viel über sie.

Dalina blickte sie fragend an.

Warum hatte sie sich bloß nicht rechtzeitig etwas überlegt? Kein Mensch musste minutenlang nachdenken, ehe ihm sein Beruf einfiel. Sie dachte an den Fall der abgängigen Altenbetreuerin, von dem sie gerade kam.

»Ich betreue alte Menschen«, sagte sie und fügte rasch hinzu: »Ich meine, ich organisiere ihre Betreuung.«

Ging es noch blöder? Sie hatte überhaupt keine Ahnung von diesem Gewerbe. Außerdem konnte das sehr leicht auffliegen. In einer sehr überschaubar großen Stadt. Warum hatte sie nicht einfach gesagt, dass sie ihren Beruf nicht nennen wollte? Was ging er diese Dalina Jennings überhaupt an? Wenn man sie ohne Berufsangabe nicht akzeptiert hätte, wäre sie eben wieder gegangen. Ihr Leben hing schließlich nicht von Trouvemoi ab.

Jemand mit etwas mehr Selbstsicherheit als ich, dachte sie, hätte einfach instinktiv gewusst, was zu tun ist.

»Ach, wie großartig«, sagte Dalina, »eine so wichtige Aufgabe, nicht wahr?«

Kate vermutete, dass sie das bei jedem Beruf sagte. Es gehörte zu ihrem Job, ihre Kunden in eine positive, optimistische Stimmung zu versetzen und erst einmal alles bei ihnen gut zu finden.

»Aber sicher sehr zeitaufwendig, nicht? Da ist es kein Wunder, dass die Möglichkeiten, einen Partner zu finden, auf der Strecke bleiben.«

»Hm … ja …«

»Nun, hier sind Sie jetzt auf jeden Fall richtig. Was glauben Sie, wie viele Menschen einander schon in diesen Räumen gefunden haben?«

Kate hätte eine genaue Zahl durchaus interessant gefunden, aber Dalina hielt sich, wohlweislich vermutlich, nicht mit Details auf.

»Was schwebt Ihnen denn vor? Wir bieten wirklich alles an. Und zwar für jede Form der Partnerorientierung. Darf ich fragen, sind Sie an einer heterosexuellen Beziehung interessiert?«

»Ja. Heterosexuell. Also … ein Mann.« Ich stottere wie ein Schulmädchen, dachte sie.

»Es gibt Speeddating, Candle-Light-Dinner, Singlewanderungen, Singlewochenenden, Singlestädtereisen, Singlekochkurse … Haben Sie sich schon etwas überlegt?«

Kate hatte vieles erwogen, war jedoch nicht zu einem Entschluss gelangt. Nur auf jeden Fall nicht sofort ein ganzes Wochenende oder gar eine Reise … Nun dachte sie an die Wäsche draußen in dem Korb und daran, dass Dalina die Küche vom Vorabend aufräumen musste, und sie dachte: Warum nicht? Es ist egal, und das ist das Erste, worüber ich praktisch gestolpert bin.

»Ein Kochkurs«, sagte sie.

Dalina schien begeistert. Wahrscheinlich waren die Kochkurse besonders teuer.

»Genau dazu hätte ich Ihnen auch geraten. Unsere Kochkurse laufen über acht Wochen, jeweils am Montagabend ab sieben Uhr. Sechs bis acht Personen, gleiche Anzahl Männer wie Frauen. Das Gute ist, man sieht sich nicht nur einmal, sondern immer wieder. Es entsteht eine Gruppe, ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Daraus entwickelt sich dann leicht auch mehr.«

»Ja, das klingt gut.«

»Der laufende Kochkurs endet nächsten Montag. Der neue beginnt am dreizehnten Januar.«

Dadurch hatte sie immerhin noch etwas Zeit.

»Ja. Dann nehme ich den.«

»Gut. Ich trage Sie ein. Die Leiterin, Anna Carter, wird Ihnen gefallen. Eine sehr kompetente, sympathische Person, die darüber hinaus fantastisch kochen kann. Können Sie eigentlich kochen?«

»Nein. Praktisch gar nicht.«

»Umso besser, dann schlagen Sie zwei Fliegen mit einer Klappe. Sie lernen, ein paar wirklich schöne Gerichte zuzubereiten, und finden dabei auch noch Ihren Prinzen.«

An das Vokabular in diesem Umfeld muss man sich wahrscheinlich gewöhnen, dachte Kate.

Dalina druckte im Handumdrehen den Vertrag aus, und Kate unterschrieb ihn trotz der stattlichen Gebühr, die sie würde bezahlen müssen, um kochen zu lernen und einen Prinzen zu finden. Das war jetzt alles so schnell gegangen, dass ihr fast schwindelig wurde.

Sie stand wieder auf der Straße, mitten im Flockenwirbel. Gut. Immerhin, sie war aktiv geworden. Niemand konnte ihr vorwerfen, dass sie nur herumsaß und jammerte. Sie ging das Problem an. Im Januar.

Dadurch hatte sie bereits mehr als nur einen guten Vorsatz für das neue Jahr: Sie hatte ihn nahezu schon in die Tat umgesetzt.

3

Carmen Rodriguez schob den Putzwagen durch die schmalen Gänge des Crown Spa Hotel. Wie immer verschluckte der dicke rote Plüschteppich alle Geräusche. Es waren nicht allzu viele Zimmer belegt, es war nicht die Jahreszeit, in der die Menschen in Scharen an die Küste strömten. Immerhin würden sie in der nächsten Woche über Weihnachten fast völlig ausgebucht sein. Das bedeutete natürlich mehr Arbeit. Aber auch mehr Trinkgeld.

Für diesen Tag war Carmen fertig. Seit dem frühen Morgen arbeitete sie, hatte dafür den Nachmittag frei. Sie hatte die Zimmer gestaubsaugt, die Betten gemacht, die Badezimmer geputzt, die Handtücher ausgewechselt. Sie mochte ihren Job. Wegen ihres Freundes war sie aus Spanien nach England gekommen und hatte eine Arbeit in demselben Hotel gefunden, in dem auch er angestellt war. Er hatte den Vormittag über hinter der Rezeption gestanden, würde jetzt auch ein paar Stunden freihaben und erst am Abend wieder seinen Dienst antreten.

Carmen war an diesem Tag unruhig, weil ihre Kollegin und Freundin Diane nicht erschienen war. Diane mochte ihren Job im Crown Spa