Das Erbe der Karolinger - Claudius Crönert - E-Book

Das Erbe der Karolinger E-Book

Claudius Crönert

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Was geschieht, wenn Neid und Gier zu Streit und Krieg führen: das große Karolinger-Epos

Eigentlich macht Ludwig, Kaiser der Franken und Sohn Karls des Großen, alles richtig: Er regelt seine Nachfolge früh, ernennt seinen ältesten Sohn Lothar zum Mitregenten und bedenkt die jüngeren Söhne mit großen Ländereien. Schnell zeigt sich jedoch, dass Ludwig und Lothar unterschiedliche Vorstellungen darüber haben, wie das Land regiert werden soll. Während sich der Vater um Frieden und Ausgleich bemüht, drängt der Sohn darauf, die Interessen des Reiches mit Härte durchzusetzen. Als Ludwig nach dem Tod seiner Frau ausgerechnet um Judith wirbt, für die sich auch sein Sohn interessiert, eskalieren die Streitigkeiten. Bald steht alles auf dem Spiel, was Karl der Große einst geschaffen hat ...

In seinem gut recherchierten und einfühlsam erzählten Roman über Politik, Familie und Liebe im frühmittelalterlichen Frankenreich lässt Claudius Crönert eine wichtige Epoche der Geschichte lebendig werden.


Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1046

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cover for EPUB

Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Personenverzeichnis

Teil eins

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

Teil zwei

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

Teil drei

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

53

54

Teil vier

55

56

57

58

59

60

61

62

63

64

65

66

67

68

69

70

Teil fünf

71

72

73

74

75

76

77

78

79

80

Nachwort

Über das Buch

Eigentlich macht Ludwig, Kaiser der Franken und Sohn Karls des Großen, alles richtig: Er regelt seine Nachfolge früh, ernennt seinen ältesten Sohn Lothar zum Mitregenten und bedenkt die jüngeren Söhne mit großen Ländereien. Schnell zeigt sich jedoch, dass Ludwig und Lothar unterschiedliche Vorstellungen darüber haben, wie das Land regiert werden soll. Während sich der Vater um Frieden und Ausgleich bemüht, drängt der Sohn darauf, die Interessen des Reiches mit Härte durchzusetzen. Als Ludwig nach dem Tod seiner Frau ausgerechnet um Judith wirbt, für die sich auch sein Sohn interessiert, eskalieren die Streitigkeiten. Bald steht alles auf dem Spiel, was Karl der Große einst geschaffen hat ...

Über den Autor

Claudius Crönert wurde 1961 in Hamburg geboren. Er lebt in Berlin, wo er Philosophie und Kunstgeschichte studiert und viele Jahre als Journalist für Zeitungen, Radio und Fernsehen gearbeitet hat. Heute schreibt er vor allem Historische Romane. Sein Roman FREYAS LAND wurde 2016 mit dem GOLDENEN HOMER ausgezeichnet. Einzelheiten finden Sie unter www.claudius-croenert.de.

Claudius Crönert

Das Erbe der Karolinger

Historischer Roman

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Langenbuch & Weiß Literaturagentur.

Copyright © 2025 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Bei Fragen zur Produktsicherheit wenden Sie sich bitte an [email protected]

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Lisa Kuppler, Berlin

Vorsatzkarte: Markus Weber, Guter Punkt, München

Covergestaltung: Birgit Gitschier, Augsburg

Covermotiv: © shutterstock: Rudchenko Liliia | Vakana | Lukas Gojda | Phatthanit

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN978-3-7517-7472-7

Sie finden uns im Internet unter luebbe.de

Bitte beachten Sie auch: lesejury.de

Personenverzeichnis

Die kaiserliche Familie

Ludwig, fränkischer Kaiser. Sein Vater war Karl der Große

Irmgard, seine Frau

Lothar, ihr ältester Sohn

Pippin, ihr zweiter Sohn

Rotrud, ihre Tochter

Ludwig (der Jüngere), der dritte Sohn

Judith, Ludwigs zweite Frau

Gisela, ihre Tochter

Karl, ihr Sohn, der vierte Sohn des Kaisers

Irmgard von Tours, Ehefrau von Lothar

Ringart, Ehefrau von Pippin

Emma, Judiths Schwester

Vertraute des Kaisers

Benedikt von Aniane, Ludwigs Beichtvater und Berater

Bernhard von Septimanien, Ludwigs Patensohn

Eckwin, kaiserlicher Arzt

Der Kronrat

Helisachar, Kanzler

Hatto, Marschall

Gerrik, Falkner

Botwin, Kämmerer

Fridugis, Kanzler, Nachfolger Helisachars

Guntbert, Marschall, Nachfolger Hattos

Die Adeligen und Würdenträger aus der Francia:

Hugo von Tours, später Lothars Schwiegervater

Matfried von Orléans

Wala, ein Abt

Eilard, Pfalzgraf in Compiègne

Lambert, Graf der bretonischen Mark

Alamar, ein Bischof

Daniel, Graf der Bretagne

Eilard, Graf von Nantes

Clara, eine Äbtissin

Die germanischen Adeligen:

Welf, alemannischer Graf, Vater von Judith und Emma

Heilwig, seine Frau

Rudolf, sein Sohn

Volkhard, Pfalzgraf in Regensburg

Martin, ein alemannischer Bauer

Gismut, ein Diener

Außerdem:

Morvan, ein bretonischer König

Gaetan, sein Bruder

Holaz, ein Bergführer

Teil eins

817 – 819 n. Chr.

1

Es war eiskalt im Kronsaal, und Helisachar wollte den Krieg.

Ludwig kniff die Augen zusammen, als er sich ihm zuwandte. Die Gestik und Mimik des alten Kanzlers verrieten, was in ihm vorging. Wer von den anderen Mitgliedern des Kronrates für Härte gegenüber den Bretonen plädierte, erhielt von ihm ein Nicken oder etwas, das man mit ein wenig gutem Willen für ein Lächeln halten konnte. Sprach sich dagegen jemand für Zurückhaltung aus, runzelte Helisachar die Stirn, hob den Zeigefinger und wackelte damit hin und her, als wäre er ein Hundeschwanz. Ein klares Nein.

Er war der Kanzler, seine Meinung hatte Gewicht. Der alte Mann hatte ein Habichtsgesicht mit eingefallenen Wangen und spitzer Nase. Seine Strategie beim Verhandeln bestand darin, immer als Fragen vorzubringen, was er zu sagen hatte. »Meint Ihr nicht, Kaiser, dass es an der Zeit ist, den Bretonen zu zeigen, wer die Macht hat?«, fragte Helisachar nun.

So etwas ging natürlich nur mit Waffengewalt. Aber das erwähnte Helisachar nicht, er setzte darauf, dass eines der anderen Ratsmitglieder diese Schlussfolgerung zog, und blieb bei seinen Fragen. »Sollten wir ihre Frechheiten nicht ein für alle Mal unterbinden?«

Lothar, Ludwigs Ältester, hatte sich vom ersten Moment an auf die Seite des Kanzlers gestellt, was sicher auch der großen Distanz geschuldet war, die zwischen Ludwig und seinem Sohn herrschte. Inzwischen schien auch Pippin, sein Zweitgeborener, Helisachar zuzuneigen, genauso wie der Marschall und der Kämmerer. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Mehrheit vollends kippte und sich gegen ihn, den Kaiser, stellte.

»Wir sollten nicht voreilig reagieren«, sagte er.

»Voreilig, Vater?« Lothar hielt sofort dagegen. »Wir haben eine Menge Geduld mit den Bretonen gehabt.«

»Auf was wollen wir noch warten, Kaiser?«, fragte Helisachar.

Am liebsten hätte Ludwig die Versammlung einfach beendet. Das Osterfest stand bevor. Vor allem aber fror er. Obwohl die Tage schon wieder deutlich länger waren, lag eine Kälte über dem Saal, gegen die kein Mantel und kein Pelzkragen half. Marschall Hatto knetete seine blutleeren Finger und rieb sich mit ihnen über den kahlen Kopf, Lothar hob abwechselnd die Füße und ließ sie auf den Boden fallen, Pippin atmete weißgraue Wölkchen aus. Der Kamin ließ sich nicht heizen, seitdem neulich eine Rauchwolke aus ihm herausgeplatzt war und den ganzen Saal in schwarzen Ruß gehüllt hatte.

Zwar hatten Mägde inzwischen saubergemacht, doch der Schornstein würde erst nach Ostern gefegt werden und wieder benutzbar sein. Derzeit strahlte von den Wänden der Frost ab wie im tiefsten Winter. Ludwigs Thron war trotz der Lammfelle darauf eisig, unerbittlich drang die Kälte aus ihm heraus. Hinzu kam, dass sie alle am Ende der Fastenzeit jegliche innere Wärme verloren hatten.

Helisachar hatte eine rote Nase. Der Kanzler war der letzte verbliebene Berater von Ludwigs Vater. Alle anderen Getreuen des Alten hatte er nach seinem Amtsantritt ausgetauscht. Drei Jahre lag das zurück. Mit Helisachar hatte er nicht so verfahren können, denn sein Vater hatte Ludwig das Versprechen abgenommen, den Kanzler im Amt zu belassen. Schon damals hatte Ludwig unterstellt, dass der Alte von der Vorstellung besessen war, die Geschicke des Reiches über seinen Tod hinaus zu bestimmen, notfalls dadurch, dass ein Getreuer sie in den Händen hielt.

Zudem stellte sich Ludwig die Frage, ob die neuen Berater tatsächlich loyaler waren. Bei Marschall Hatto und dem Kämmerer Botwin war er nie ganz sicher, wo sie standen. Es gab nur einen einzigen Mann im Kronsaal, auf den er sich bedingungslos verlassen konnte, nämlich Gerrik, seinen Falkner. Gerrik hatte eine tiefe, vertrauenswürdige Stimme und war ein Ehrenmann, ein Ritter und unbedingt loyal. Das Problem war, dass der Falkner in Beratungen wie dieser kaum je den Mund aufmachte. Er schien von der Angst beherrscht zu werden, weniger politischen Einblick zu haben als die anderen, deshalb äußerte er sich nicht.

Ein anderes Ratsmitglied, dem Ludwig blind sein Leben anvertraut hätte, war sein Beichtvater Benedikt. Doch Benedikt fehlte bei dieser Sitzung, denn er bereitete die Karfreitagsmesse vor. Ludwig vermisste seine Überzeugungskraft. Ähnlich wie Helisachar besaß er die Fähigkeit, andere allein mit der Kraft seiner Worte umzustimmen.

»Sollten wir nicht zu einer Entscheidung kommen?«, fragte Helisachar. »Bedenkt, Herr, morgen ist Karfreitag.«

Der Kanzler witterte seine Chance auf eine Abstimmung. Der Feldzug könnte dann gleich nach dem Auferstehungsfest beginnen. Ludwig erkannte, dass dies der Plan war, den Helisachar von Anfang an verfolgt hatte. Aus diesem Grund hatte der Kanzler zunächst mit unbeteiligter Stimme Berichte aus dem Grenzgebiet, der Bretonischen Mark, vorgetragen, Berichte über Raub und Plünderungen, Entführungen von Bauern und Knechten, die auf Sklavenmärkten verkauft wurden, und dazu, wie immer, Schändungen ihrer Frauen und Töchter. Die Schilderungen hatten ihre Wirkung nicht verfehlt, die anderen Männer im Saal hatten ihrer Empörung lautstark Ausdruck verliehen. Lothar hatte sogar die Hand an sein Schwert gelegt.

»Sie weigern sich immer wieder, uns Tribut zu leisten. Damit brechen sie den Vertrag. Was noch bedeutsamer ist: Zum ersten Mal seit Menschengedenken sind sie sich einig«, erklärte Lothar jetzt. Er war inzwischen zweiundzwanzig, ein kräftiger junger Mann mit blondem Haar, schmalem Mund und großer Entschlossenheit.

»Das glaube ich nicht«, entgegnete Ludwig. »Zwei Bretonen, drei Meinungen – so heißt es doch.«

»Ihr habt recht, mein Kaiser«, erklärte Helisachar. »So hieß es immer. Doch hört Ihr nicht auch, dass sie sich um ihren angeblichen König geschart haben, Morvan oder wie auch immer sein Name ist?«

»Ein König der Bretonen – einen solchen Titel gibt es nicht.«

»Ich gebe nur wieder, wovon die Berichte von dort künden«, erwiderte Helisachar achselzuckend, während er Lothar in die Augen blickte, wahrscheinlich in der Hoffnung, der Kaisersohn würde den Feldzug oder zumindest eine Abstimmung darüber verlangen und die Sitzung endlich zu einem Ende bringen. Auch der Kanzler zitterte jetzt vor Kälte.

Ludwig hatte in der Tat die Sorge, sein Sohn würde ihm mit dem nächsten Satz in den Rücken fallen. Helisachar wäre schnell genug, den Moment zu nutzen und abzuzählen, wer zu seinem Vorschlag nickte, und wenn es die Mehrheit war, würde der Kanzler sich an die Spitze der Kriegsfraktion setzen. Dann brauchte es nicht einmal mehr eine offizielle Abstimmung.

Ludwig aber wollte diesen Krieg nicht. Als Jugendlicher hatte er Feldzüge geführt, damals von Aquitanien aus, das er regierte. Besonders in Spanien hatte er furchtbare Massaker erlebt, hatte die Schreie der Sterbenden gehört und solche Mengen von Blut gesehen, dass sich ganze Wiesen dunkelrot färbten, dazu verstreute Gliedmaßen, schreiende Männer ohne Orientierung, verwirrte Pferde, die ausschlugen, sobald sich ihnen jemand näherte. Diese Erinnerungen stammten aus Kämpfen gegen die Mauren genauso wie aus denen gegen die Basken, ein Volk, das in mancherlei Hinsicht mit den Bretonen zu vergleichen war. Beide siedelten am Meer, waren immerzu Wind und Wellen und dem ewigen Regen ausgesetzt. Und beide Völker werteten ihre Ehre höher als das Leben, weshalb sie lieber in den Tod gingen als in Gefangenschaft.

Damals hatte Ludwig begonnen, sich seinem Beichtvater Abt Benedikt anzunähern, der die Überzeugung vertrat, Jesus sei gegen Gewalt gewesen, deshalb setze ein wahrhaft christlicher Herrscher nicht das Schwert ein. Viele Gespräche waren notwendig gewesen, ungezählte Stunden, in denen sie über Fragen der Herrschaft, der Mission und der Notwehr sprachen und stritten. Lange wollte es nicht in Ludwigs Kopf, wie man ohne Zwangsmittel regieren konnte. Mit der Zeit aber überzeugte Benedikt ihn, weil er immer wieder zeigte, dass ein Krieg nur neue Gewalt nach sich ziehe, und gleichzeitig näherte sich der Abt auch Ludwigs Standpunkt an. Sie einigten sich darauf, dass Angriffe nicht gerechtfertigt waren, wohl aber durfte man sich verteidigen, wenn es sein musste.

Im Zusammenhang mit den Bretonen war die Lage längst nicht so eindeutig, wie Helisachar sie darstellte. Gegenüber den Ratsmitgliedern hatte Ludwig auf Berichte verwiesen, nach denen fränkische Grafen leichtfertig Gewalt ausübten, wenn sie den Tribut eintrieben. Die Erfahrung besagte, dass solche Berichte nur einen kleinen Teil dessen erfassten, was tatsächlich geschah. So gesehen war es vorstellbar, dass sich die Bretonen, weil sie der vielen Demütigungen überdrüssig waren, zur Wehr setzten.

Wie auch immer, Ludwig hatte den ersten echten Konflikt in seiner Amtszeit, und er wollte mit dem Nachbarvolk einen anderen Weg suchen, einen, der ihnen ihre Würde ließ. Der Weg des Friedens war immer der mühsamere, doch er hatte eine Idee: Gegen die vertragliche Zusage, die fränkischen Grenzen zu respektieren und alle Raubzüge einzustellen, würde das Reich auf einen Teil der vereinbarten Zahlungen verzichten. Wenn die Bretonen weniger Tiere und Getreide abliefern müssten, bliebe mehr für sie selbst. Dann müssten sie nicht plündern. Außerdem würde dieser Vorschlag dem kleinen Küstenvolk schmeicheln, und auch das konnte hilfreich sein.

»Mit einem Feldzug gewinnen wir nichts«, sagte er. »Sobald wir wieder abziehen, ist alles beim Alten.«

»Willst du sie etwa ungestraft davonkommen lassen?«, fragte Lothar.

»Das nicht. Aber …«

»Wir könnten sie für die Schäden zahlen lassen«, schlug Botwin vor. Er war schwarzhaarig und schmal, hatte das Amt des Kämmerers inne und dachte dementsprechend in Einnahmen und Geld.

Helisachars Mundwinkel zuckten für einen kurzen Moment. »Dann sagt mir: Wer setzt das durch?«

»Stimmt auch wieder«, gab Botwin zu und lachte verlegen. »Dazu bräuchte es ein Heer.«

Die Kälte des Throns drang immer tiefer in Ludwigs Körper ein. Seine Muskeln krampften. Er sehnte sich nach einem Kaminfeuer, einem gewärmten Zimmer. Als Kaiser hatte er selbstverständlich das Recht, sich über Entschlüsse des Kronrats hinwegzusetzen. Am Ende traf er die Entscheidungen allein. So war es nach Gottes Willen festgelegt. In der Praxis allerdings wog ein Misserfolg viel schwerer, wenn er zuvor die Meinung seiner Berater ignoriert hatte.

»Wir sollten ihnen Verhandlungen anbieten«, sagte er.

Helisachar machte wieder eine seiner ausdrucksstarken Gesten, diesmal drehte er den Kopf weg, wenig nur und trotzdem ausreichend, dass alle Anwesenden seine Missbilligung mitbekamen.

»Damit lassen wir uns zum Narren halten, Vater!«, platzte es aus Lothar heraus. »Und schaffen ein Beispiel für andere Völker, denen wir sagen, dass es sich lohnt, uns den Gehorsam zu verweigern.«

Die Worte schmerzten Ludwig. Aus ihnen sprach nicht nur Unverständnis, sondern vor allem eine mangelnde Bereitschaft, sich auf die Sichtweise des Vaters einzulassen. Sie überhaupt in Erwägung zu ziehen. Ludwig versuchte zu ergründen, was in Pippin vorging. Bislang hatte er zu Helisachars angeblichen Fragen zweimal genickt, so war Ludwigs Hoffnung, sein zweiter Sohn würde sich am Ende doch noch auf seine Seite schlagen, wohl vergeblich. Dabei hatte er immer gedacht, Pippin verstünde seine Gedanken besser als Lothar.

»Haben die Bretonen unsere Angebote nicht schon oft in den Wind geschlagen?«, fragte der Kanzler.

»Sie haben ja auch genug Wind in ihrem Land«, versuchte Ludwig einen Scherz, um die Stimmung ein wenig aufzulockern. Aber keiner lachte. Lothar verdrehte sogar die Augen.

»Die Erfahrung zeigt, dass ihre Zusagen schon am nächsten Tag nicht mehr gelten«, meinte Marschall Hatto.

»Wir geben ihnen noch ein Mal Gelegenheit. Von mir aus ein letztes Mal«, sagte Ludwig.

Hatto schüttelte den Kopf, Botwin starrte auf seine Schuhspitzen. Ludwig hatte sie nicht überzeugt, und offenbar auch Pippin nicht, dessen Blick in den weitläufigen Saal ging.

Helisachar erkannte seinen Vorteil. »Meint ihr nicht, Herr, dass Marschall Hatto die Wahrheit sagt und wir in den letzten Jahren oft genug erfahren mussten, wie sinnlos es ist, mit den Bretonen zu verhandeln?«

»Man kann ja nicht einmal mit ihnen reden«, sagte Botwin. »Weil sie diese seltsame Sprache haben, die kein Mensch versteht.«

»Und auch keine Verträge mit ihnen abschließen, weil sie nicht lesen können«, ergänzte Pippin.

Ludwig schluckte und spürte dabei, wie trocken seine Kehle war. Er wünschte sich, Pippin hätte diesen Satz nicht gesagt. Nun hatte sein Sohn Position bezogen. »Für diese Dinge haben wir Übersetzer«, beschied er ihm kühl.

»Herr«, begann wiederum Helisachar, »die Bretonen sind wie unerzogene Kinder, und so müssen wir mit ihnen umgehen.« Endlich wagte er eine Aussage anstatt einer Frage. »Kinder, die nicht gehorchen, muss man züchtigen. So machen es gute Eltern. Die Bretonen sollen unsere Knute spüren, und wenn sie sich nicht beugen, schlagen wir sie so lange, bis sie ihre Lektion gelernt haben. Wie alle anderen müssen sie Frieden halten und Tribut abführen.«

Die Ratsmitglieder nickten. Alle außer Gerrik.

»Also brennen wir ihre Felder ab?«, fragte Ludwig. »Zerstören ihre Dörfer?« Mit einem Mal wusste er, wie er Helisachar eine Falle stellen konnte.

»Und verkaufen ihre widerspenstigen Männer unsererseits auf den Sklavenmärkten«, erklärte der Kanzler. »Das bringt wenigstens ein bisschen Entschädigung, die wir an unsere Bauern verteilen können.«

»Was ist mit ihren Frauen und Töchtern?«

»Man wird einen Krieger kaum daran hindern können, sich zu nehmen, wonach ihn dürstet.«

»Soll ich euch sagen, Kanzler, was das Ergebnis sein wird, außer dass sie uns hassen?« Ludwig lehnte sich an den eiskalten Thronrücken. »Sie werden überhaupt keinen Tribut mehr zahlen. Weil sie es nicht können. Denn wir haben ihre Ernten verwüstet.«

Die anderen Männer verfolgten den Disput. Keiner von ihnen hätte sich getraut, was sich der Kanzler herausnahm, selbst Lothar nicht, da war Ludwig sich sicher.

»Ich meine«, sagte Helisachar, »das ist ein vertretbarer Preis. Schon im nächsten Jahr, mit einer neuen Ernte, können sie ihren Pflichten wieder nachkommen.«

Ludwig legte die kalten Hände ineinander. Auf einmal packte ihn der Ehrgeiz, den Kanzler in die Schranken zu weisen. Er richtete den Blick auf ihn.

Helisachar hielt seinem Blick stand und rührte sich nicht.

»Unser Kanzler ist ein kluger Mann«, erklärte Ludwig. »Leider ist auch er aber nicht in der Lage, in die Zukunft zu schauen. Werden sich die Bretonen beugen, wenn wir sie nur hart genug anfassen? Oder werden ihre Angriffe in ihrer Verzweiflung noch gewaltsamer werden? Die Wahrheit ist: Wir wissen es nicht. Die Erfahrung mit den Basken zeigt, dass Härte nicht unbedingt Frieden bringt. Sie erheben sich immer wieder gegen uns.«

»Die Basken leben viel weiter entfernt«, unterbrach Helisachar. »Der größere Teil von ihnen sogar jenseits eines Gebirges. Deshalb ist es viel schwerer, sie zu züchtigen.«

»Ich war noch nicht fertig«, wies Ludwig ihn zurecht. »Und anders als Ihr habe ich gegen baskische Heere gekämpft. Was aber die Bretonen angeht: Wenn sie nicht aufgeben, sondern sich mit den normannischen Piraten verbünden, dann haben wir auf Jahre hin Überfälle, gegen die wir uns nicht schützen können. Stellt es euch vor: Die Bretonen bekämpfen die Piraten nicht mehr, sondern lassen sie an ihrer Küste gewähren, und dann segeln die Normannen in unsere Flüsse, rauben, brandschatzen, nehmen Gefangene und sind schneller verschwunden, als wir überhaupt Meldung von ihren Taten erhalten.«

Nach diesen Sätzen kehrte Schweigen ein. Ludwig stieß ein paar Atemwölkchen aus. Die Welt um ihn war wie erfroren.

»Euer Vater …«, begann Helisachar, der nicht bereit war aufzugeben.

Ludwig wusste, was nun kommen würde. Der Alte war immer das leuchtende Beispiel. Er hatte das Reich groß gemacht und mit harter Hand regiert. Wer Grenzen verletzt oder sich sonst wie erhoben hatte, wurde zwangsläufig mit einem Feldzug bestraft. Karl, der große und strenge Vater des Reiches. »Lasst den Vergleich. Mein Vater ist tot. Ich bin der Kaiser.«

»Das weiß ich, Herr. Als Kanzler gebe ich nur zu bedenken, dass es Konsequenz braucht, um das Frankenreich zu regieren. Darin dürfen wir nicht nachlassen.«

»Ich stimme zu«, sagte Lothar.

»Ich auch.« Die zweite Äußerung von Pippin. Damit hatte sein mittlerer Sohn endgültig Stellung bezogen, die Verhältnisse waren jetzt eindeutig. Würde Helisachar sie nun einzeln nach ihrer Meinung fragen, würden sie für den Feldzug eintreten. Ludwig war nicht in der Lage, sie noch umzustimmen.

Neben ihm räusperte sich Gerrik. Überrascht schaute Ludwig zu ihm. Wollte der Falkner tatsächlich den Mund aufmachen?

»Darf ich einen Vorschlag machen, Herr?«

»Bitte.«

»Vertagen wir uns. Morgen ist der Todestag unseres Herrn Jesus Christus, und wir sollten beten. Außerdem geht die Fastenzeit zu Ende.«

Ludwig grinste – da war der Ausweg. »Genau«, sagte er eilig. »Nächste Woche, mit gefülltem Bauch, sieht die Welt anders aus. Dann entscheiden wir.«

Kaum hatte er seinen Satz ausgesprochen, zwang er seine steifen Knochen aus dem Thron, ein klares Zeichen, dass die Sitzung beendet war. Seine Beine waren so unbeweglich, dass die Knie ächzten und er Mühe hatte, auch nur einen Schritt zu setzen. Doch insgeheim empfand er Genugtuung, weil selbst Helisachar nun nicht weiterreden konnte. Die höfische Etikette galt auch für ihn.

Der Mund des Kanzlers stand offen, während Kämmerer und Marschall bereits auf den Beinen waren und sich vor dem Kaiser verneigten. Sofort fing sich Helisachar und beugte ebenfalls den Kopf.

Ludwig nickte Gerrik zu. Dabei nahm er sich vor, dafür zu sorgen, dass Benedikt nächste Woche an der Sitzung teilnahm und seine Seite, die der Verhandlung, stärkte.

Zusammen mit seinen Söhnen und den Beratern trat Ludwig in den Pfalzhof und warf einen Blick zur Mondscheibe am Himmel. Sie war zur Hälfte schwarz. Eine Finsternis. Vor ein paar Tagen hatte ihm der Hofastronom erklärt, dass es sich um einen Schatten der Erde handelte, der sich über den Mond gelegt hatte, und damit um ein natürliches Phänomen. Dennoch konnte Ludwig kaum anders, als in dem schwarzen Schleier ein Zeichen Gottes zu sehen, ein Omen, eindeutig wie nur wenige. Die Dunkelheit war eine Zeit der Einkehr und nicht des Handelns, schon gar nicht war sie günstig für einen Feldzug. Er hatte doppelt recht und Helisachar nicht, das zeigte dieser schwarze Mond. Wie in der Nacht blieb man bei einer Finsternis zu Hause, da zog man nicht ins Abenteuer, sondern suchte das, was Ludwig anstrebte: ein friedliches Auskommen mit seinen Nachbarn. Auch mit den Bretonen.

Während er weiterging, waren die Ratsmitglieder stehengeblieben und begannen, hinter seinem Rücken zu tuscheln. Ihre Stimmen waren zu leise, um sie zu verstehen. Trotzdem war er sich sicher, dass sie über seinen Vorschlag lästerten, sein Angebot an die Bretonen. Er ließ es sich egal sein und schritt auf den überdachten Gang zu, der zum Wohnhaus führte. Einzig Gerrik war neben ihm.

»Das hast du gut gemacht«, sagte er.

»Danke, Herr.«

Ludwigs Bauch knurrte. Die Fastenzeit war ihm in diesem Jahr lang vorgekommen, er konnte Suppen, hartes Brot und ungesalzenes Gemüse nicht mehr sehen. In der Küche begannen sie bereits das Ostermahl vorzubereiten, er hatte die Lämmer schreien hören, inzwischen waren sie geschlachtet und bluteten aus. Vor Ludwigs innerem Auge entstand ein herrliches Bild, da saß er im Wohnhaus am Kopf des großen Tisches in der Halle, vor sich einen Krug schäumendes Bier und silberne Platten, auf denen sich gebratenes Fleisch stapelte. Er meinte, das Fett und die Gewürze bereits riechen zu können. Die Vorstellung des Ostermahls wurde so stark, dass andere Gedanken daneben keinen Platz hatten. Das Reißen im Dach über dem Gang hörte er zwar, dachte sich aber nichts dabei.

Im nächsten Moment traf ihn ein Schlag an der Schulter.

Er konnte ihn nicht zuordnen. Tastete nach der Stelle, die sich betäubt anfühlte. Ehe er sich umsah und etwas verstand, traf ihn ein zweiter Hieb, diesmal am Ohr. Seine Beine gaben nach. Er nahm noch wahr, wie er taumelte. Niedersank. Dann trug der Schmerz ihn in eine Traumwelt fort, in der nur ein verschatteter Mond schien.

Wie viel Zeit vergangen war, als er die Augen wieder aufschlug, wusste er nicht. Ludwig fand sich im Staub liegend, mit Erdkrümeln im Mund. Wie aus großer Ferne blickte er auf den Auflauf um ihn herum, erkannte Beine, Hosen und Kleider, hatte keine Vorstellung davon, wo er war. Vielleicht im Jenseits. Er hörte aufgeregte Stimmen. Jemand hockte auf Knien neben ihm, legte ihm eine Hand unter den Kopf und die andere auf die Brust. Ludwig blinzelte, um schärfer sehen zu können. Nein, er war nicht tot. Das da war Gerrik. Der Falkner blutete am Kopf.

Ludwig schaute nach oben. Das Dach über ihm sah aus, als wäre ein Fels darauf geworfen worden. In ihm klaffte ein großes Loch, durch das man den Himmel sehen konnte. Dachsparren standen quer. Mehrere davon waren eingeknickt wie dünne Hölzchen. Und der Mond war immer noch zur Hälfte schwarz.

Er fasste sich an die schmerzende Schulter und versuchte hochzukommen.

Gerrik drückte mit den Fingern etwas stärker auf Ludwigs Brust. »Bleibt liegen, Herr. Der Arzt ist bereits unterwegs.«

Sein Kopf tat weh. Er dröhnte, und es war ein Grummeln darin wie vor einem Gewitter. Er tastete nach seinem Ohr. Irgendetwas hatte ihn auch hier erwischt. Und er hatte Durst.

»Was ist passiert?«, fragte er mit schwacher Stimme.

»Ein Stück des Daches ist eingestürzt«, erwiderte Gerrik. »Gerade als wir darunter waren. Es ist auf Euch gefallen.«

Ludwig war verwirrt. »Auf mich?«

»Ja, Herr. Auf mich auch.«

Das Blut aus Gerriks Wunde hatte eine Bahn über seine Wange gezogen. Ludwig gelang es nicht, scharf zu sehen, er hatte schwarze Punkte in seinem Blick, die nicht verschwanden. Er blinzelte. Es waren drei Punkte, und sie standen wie ein Dreieck in gleichem Abstand zueinander. Er schloss und öffnete die Augen. Die Punkte waren noch da.

Die Mitglieder des Kronrats standen um ihn herum und redeten auf ihn ein, auch seine Söhne. Er verstand nicht, was sie sagten. Helisachar hielt sich im Hintergrund. Als Ludwig ihn an der Mauer entdeckte, musste er an Judas denken, und die Vorstellung schoss ihm in den Sinn, dass es sich um einen Anschlag gehandelt haben könnte.

Er verwarf den Gedanken sofort. Niemand ließ einen Kaiser umbringen, allein schon deshalb nicht, weil Gott eine solche Sünde niemals vergab, nicht bis zum Tag des Jüngsten Gerichts. Den Kaiser zu morden, hieß in die Hölle einzufahren und dort auf alle Zeiten zu brennen. Davon abgesehen wäre es für einen Attentäter kaum möglich, das Dach gerade in jenem Moment zu zerschmettern, als der Kaiser darunter ging.

Ludwigs Name wurde laut gerufen, dazu erklang ein Schreckensschrei, und er erkannte die Stimme. Im nächsten Augenblick war Irmgard da, raffte ihr Kleid und ging neben ihm in die Knie, gegenüber von Gerrik, der nach wie vor seinen Kopf hielt.

»Ludwig, um Himmels willen!« Ihre Stimme war voller Angst und deshalb zu hoch. »Was ist passiert?«

Er freute sich, ihr Gesicht zu sehen, die dunklen Haare, die weichen Wangen, und tastete nach ihrer Hand, erleichtert, dass er noch am Leben war. »Ich weiß es nicht.«

Gerrik zeigte nach oben, wohin Irmgard ihren Blick wendete. Die Bruchstelle sah böse aus, Ludwig verstand nicht, wie sie hatte entstehen können. Doch etwas anderes besorgte ihn mehr, die schwarzen Punkte vor seinen Augen, die einfach nicht verschwanden. Er tastete nach seiner Stirn und kam an eine weitere schmerzende Stelle am Haaransatz. Dort hatte sich bereits eine Beule gebildet.

»Das Gebälk ist gebrochen«, sagte Gerrik. »Warum auch immer.«

»Oh mein Gott!«, rief Irmgard.

Der Arzt drängte sich durch die Herumstehenden. Er hieß Eckwin und war ein weißhaariger Mann, der die Heilkunst bei den Mauren in Cordoba studiert hatte. Ludwig vertraute ihm, weil er stets die Ruhe bewahrte. Bevor Eckwin etwas tat, dachte er stets gründlich nach.

»Darf ich?«, fragte Eckwin die Kaiserin und zeigte auf den Platz, an dem sie kniete.

Er half Irmgard auf und hockte sich neben Ludwig. Er hatte ein Ziegenbärtchen, so dünn, dass man es nur aus der Nähe sah, und dazu ein schmales Gesicht und wache Augen.

»Wie fühlt Ihr Euch?«, fragte er.

»Benommen.«

Eckwin hieß ihn, Arme und Hände zu bewegen, auch die Beine, schließlich den Kopf. Dann hielt er ihm einen Finger vor die Augen, bewegte ihn nach beiden Seiten, und Ludwig sollte ihm mit dem Blick folgen. Schließlich tastete der Arzt an die schmerzenden Stellen an der Stirn, am Ohr und durch die Tunika hindurch an der Brust. Die Untersuchung dauerte lange.

»Und?«, fragte Ludwig.

»Ein paar Prellungen. Zwei am Kopf, eine an den Rippen, eine dort, wo Ihr auf Euren Schwertgriff gestürzt seid. Wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung. Das Ohr ist in Mitleidenschaft gezogen worden, die Augen ebenfalls.«

»Ich sehe nicht richtig.«

»Das kommt von der Erschütterung. Eure Augen werden sich erholen. Insgesamt habt Ihr Glück gehabt. Gott hat Euch geschützt.«

»Schau nach Gerrik. Er blutet am Kopf.«

Während sich Eckwin dem Falkner zuwandte, stemmte sich Ludwig mit den Ellenbogen hoch und wollte aufstehen.

Der Arzt hielt ihn zurück. »Bleibt besser liegen, Herr. Ich lasse eine Trage bringen. Ihr solltet ein paar Tage Bettruhe halten.«

»Aber nein. Es ist doch nichts.«

»Ludwig«, mischte sich Irmgard ein. »Du bist von schweren Balken getroffen worden.«

Er fügte sich, zumal er sich tatsächlich schwach fühlte. Die letzten beiden Tage der Fastenzeit würde er im Bett zubringen, aber zum Ostermahl wieder aufstehen. Das war sicher.

Doch als zwei Männer mit dem Holzgestell kamen und es neben ihm abstellten, bereute er seine Entscheidung und wäre lieber selbst gegangen, als sich ins Haus tragen zu lassen. Was Eckwin als Trage bezeichnet hatte, war in Wahrheit eine Bahre aus abgegriffenen Bohlen, auf der die Toten zum Friedhof gebracht wurden. Es kam Ludwig wie ein Frevel vor, sich darauf legen zu lassen. Man spaßte nicht mit dem Tod. Und dennoch ließ er es zu.

»Was ist mit Gerrik?«, fragte er.

»Eine Platzwunde an der Stirn«, erwiderte Eckwin. »Sieht schlimmer aus als es ist. Ich verordne auch ihm zwei Ruhetage.«

Die Träger brachten Ludwig ins Haus und schleppten ihn in sein Schlafzimmer im ersten Stock, wo sie ihn vorsichtig auf sein Bett hoben. Irmgard zog ihm die Schuhe aus. Ludwigs Mund war wie ausgetrocknet. Ein Diener brachte ihm Dünnbier. Es war schmerzhaft, mit dem Oberkörper so weit hochzukommen, dass er trinken konnte.

Er ließ sich zurücksinken. »Ich bin erschöpft.«

»Du kannst gleich einschlafen«, sagte Irmgard. »Vorher wollen die Kinder dich noch sehen.«

Sie kamen alle vier, Lothar, der seine Schwester Rotrud stützte, Pippin und der Kleinste, der nach ihm ebenfalls Ludwig hieß. Rotrud trat an das Bett und nahm seine Hand. »Vater.«

Sie war vierzehn und blass im Gesicht. Seit der Geburt hatte sie eine faustgroße Blase am unteren Rücken, die sie oft kraftlos machte, dann konnte sie nicht einmal allein gehen. Im Laufe der Jahre hatten sich viele Ärzte diese Blase angesehen. Die einen wollten sie aufstechen, damit die bösen Säfte abfließen konnten, andere hielten das für einen Fehler. Die elterliche Entscheidung hatte am Ende Eckwin am stärksten beeinflusst. Er sagte, niemand könne mit Sicherheit sagen, was beim Aufstechen passiere, deshalb solle man es lieber lassen.

Ludwig drückte ihre Finger. »Der Herr hat seine Hand über mich gehalten, wie er sie über uns alle hält.«

»Wirst du wieder gesund?«, fragte sie.

»Bestimmt. Ich soll mich nur ausruhen.«

Während Lothar und Pippin Abstand hielten, hockte sich sein jüngster Sohn auf die Bettkante. Ludwig strich ihm über den Kopf. Der kleine Ludwig war elf und hatte ein rundes Knabengesicht. »Auch du sei nicht besorgt. Gott wollte, dass ich am Leben bleibe.«

»Wir wollen ihm dafür danken«, sagte Irmgard. »Du hast Glück gehabt. Und jetzt raus mit euch. Der Vater braucht Ruhe. Wir werden beten, dass all das keine schlimmen Folgen hat.«

Sie schlossen die Tür. Ludwig drehte sich auf die Seite und legte seine Wange auf das Kissen. Der schwarze Schatten vor der Mondscheibe ging ihm nicht aus dem Sinn. Er fragte sich, wieso er es war, der den Unfall gehabt hatte und jetzt im Bett lag. Die Antwort hieß doch sicherlich nicht, dass sich der Herr auf die Seite Helisachars und der Kriegsfraktion geschlagen hatte. Gleichwohl war es nicht zu verstehen, warum Er Ludwigs Verletzung gebilligt, vielleicht sogar befohlen hatte.

Bevor Ludwig einschlief, bat er um Antwort auf diese Frage.

2

Judith ließ ihr Pferd Schritt gehen. Sie ritt am Ufer des Bodensees entlang. Die Sonne schien, ein paar Wolken standen am Himmel. In der Ferne konnte sie die schneebedeckten Alpengipfel ausmachen, eine scharfe Linie am Horizont, als hätte sie jemand gezeichnet. Dieser Anblick war ihr vertraut, in dieser Gegend war sie aufgewachsen. Am Seeufer hatte sie mit ihren Geschwistern gespielt, hier hatte die Mutter ihnen das Schwimmen beigebracht, schließlich wollte sie keins ihrer Kinder an das Wasser verlieren. Auch die bunten Boote der Fischer kannte Judith gut. Sie fuhren zu jeder Tageszeit hinaus. Manche schworen darauf, dass man morgens in aller Früh ausfahren musste, andere nutzten den Nachmittag, und sie hatte gehört, dass einige sogar in der Nacht auf Fang waren, in der Hoffnung wahrscheinlich, dass ihnen schlafende Tiere leichter ins Netz gingen.

Obwohl sie zu Martin unterwegs war, fühlte sich Judiths Herz alles andere als leicht an. Ein schlechtes Gewissen quälte sie. Wenn der Vater nicht da war, duldete ihre Mutter, dass sie allein ausritt, sie schaute einfach nicht hin, wenn die Tochter die Haustür hinter sich zuschlug. Judith wusste, wie ungewöhnlich das war, kein anderes Mädchen aus ihrer Bekanntschaft durfte allein durch die Gegend reiten. Sie war dankbar für diese Freiheit. Allerdings ging sie nicht gut damit um. Die stillschweigende Erlaubnis zum Ausritt bedeutete selbstverständlich nicht, dass ihre Mutter damit einverstanden war, wenn Judith heimlich einen Nachbarsjungen traf. Im Gegenteil.

Alles um diese Begegnungen mit Martin war geheim. Weil sie nicht gesehen werden durften, trafen sie sich in einer der Scheunen. Und wenn auf den Feldern gearbeitet wurde, verzogen sie sich in einer Jagdhütte tief im Wald, auf die Judith auch jetzt zuhielt. Sie trieb ihr Pferd durch dichtes Gebüsch. In den Baumkronen saßen Vögel und zwitscherten. Nie gingen Martin und sie auseinander, ohne das nächste Treffen verabredet zu haben, und es gab sogar eine Absprache für den Fall, dass einer von ihnen nicht kommen konnte. Dann würden sie sich eine Woche später am gleichen Ort treffen.

Diese Geheimniskrämerei war zutiefst unwürdig. Mehrere Male hatte Judith sich bereits dazu entschlossen, sie zu beenden. Allerdings konnte sie sich leicht ausmalen, was das bedeutete, nämlich dass sie Martin gar nicht mehr sehen würde. Hier lag das Problem. Die Kraft, mit der es sie zu ihm zog, war stark, stärker als sie. Wenn sie nicht bei ihm war, dachte sie immerzu an ihn, redete sogar im Stillen mit ihm.

Die Hütte war aus dunklem Holz und mit einer dünnen Lage Stroh gedeckt. Sein Pferd, ein Falbe, stand bereits da. Ihr Herz schlug lauter. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, es anzubinden, sondern die Schnur nur einmal um den Balken gewickelt. Das war typisch, er war lässig, manchmal auch nachlässig, und wenn etwas schiefging, lachte er darüber. Seine Leichtigkeit ließ ihre Brust weit werden. Einen solchen Charakterzug besaß kein anderer Mann, den sie kannte. Allerdings hatte sie sich auch schon gefragt, ob man mit einem Menschen, der die Dinge so wenig ernst nahm, durchs Leben gehen konnte. Doch der Gedanke hatte sich verflüchtigt. Er war nichts gegen ihre Liebe zu ihm.

Sie band ihr Tier neben seins und machte einen Knoten in den Zügel. Als sie auf den hölzernen Stufen war, zog er die Tür auf und breitete die Arme aus.

»Judith, endlich.«

Sie drückte sich an ihm vorbei und trat ein. »Schneller ging es nicht. Mein Vater ist erst spät aufgebrochen.«

Bevor sie sich von ihm umarmen ließ, schloss sie die Tür. Ohne das Tageslicht war es in der Hütte dunkel. Es roch nach Holz. Er begann, sie zu küssen, erst auf die Wangen, dann auf den Mund. Seine Lippen fühlten sich wie immer weich an.

»Willst du kein Licht machen?«, fragte sie.

»Das brauchen wir nicht.« Er zog sie tiefer in den Raum hinein.

An der Wand stand ein Holzgestell, eine Art Nachtlager mit Stroh darauf. Er setzte sich und zog sie mit leichter Hand auf den Platz neben sich. Wieder umarmte und küsste er sie und ließ sich dabei sanft zur Seite fallen. Da er sie festhielt, kippte sie mit ihm.

Sie kannte Martin seit ihrer Kindheit. Er stammte von einem Bauernhof und war ein Junge, der mit seinen Geschwistern durch die Wälder streifte und seine Angelrute am Seeufer auswarf. Viele Jahre lang hatten sie nicht mehr getan, als einander einen genuschelten Gruß zuzuwerfen. Im vergangenen Herbst aber war sie ihm bei einem Ausritt begegnet. Damals hatte er seinen Falben am Zügel hinter sich hergezogen.

»Hat er dich abgeworfen?«, hatte sie gerufen.

»Sieht so aus.«

»Und jetzt kannst du nicht wieder hoch?«

»Ich bin unterwegs zum Hufschmied«, sagte er und sah zu ihr. »Komm, begleite mich.«

Sie hatte gezögert. Durfte nicht zustimmen, mochte nicht Nein sagen.

»Na los«, rief er. »Dann lernen wir uns endlich ein wenig kennen.«

Sie war abgestiegen und zu Fuß neben ihm gegangen. Ihr gefielen seine kräftige Stimme und das Knabenhafte, das in dem männlichen Gesicht durchschimmerte. Außerdem konnte er gut reden. Die eine Stunde, die sie bis zum Dorf nebeneinanderher liefen, verging schnell, er erzählte Geschichten von zu Hause, stellte aber auch Fragen, hörte ihr zu, brachte sie zum Lachen. Auf dem Rückweg ritten sie, und Judith hielt ihr edles Pferd zurück und passte sich der Geschwindigkeit an, die der Falbe gehen konnte. Sie wollte neben Martin bleiben.

Erst an einer Wegkreuzung, ungefähr dort, wo sie einander begegnet waren, hatten sie angehalten. Judith war die Tochter eines Grafen, des größten Grundbesitzers in der Gegend. Es war ausgeschlossen, ihn nach einem neuerlichen Treffen zu fragen.

»Das war schön«, sagte er. »Ein schöner Nachmittag.«

»Ja, fand ich auch. Also dann …«

Sie nickte ihm zu, zog am Zügel, ihr Pferd trabte an.

»Judith!«

Sie drehte sich um. Martin ließ sein Pferd einen Satz machen, was so komisch ausgesehen hatte, dass sie aufgelacht hatte.

Im nächsten Moment war er neben ihr gewesen. »Sehen wir uns einmal wieder?«

»Ich weiß nicht«, hatte sie gesagt, doch sie hatten sich wieder getroffen. Seit einem halben Jahr waren sie inzwischen ein Paar. Sie konnte nichts dagegen tun, dass Worte von ihm immerzu in ihrem Ohr klangen und sie sich sein Gesicht vorstellte, seinen Mund, der sich zum Kuss spitzte, die Augen mit dem Schalk darin.

Halb auf der Pritsche liegend öffnete sie jetzt ihre Lippen und spürte, wie sich seine Zunge vortastete. Das Schönste an der körperlichen Nähe war, dass man sich vollkommen in ihr vergessen konnte.

Genau an dieser Stelle lauerte allerdings auch die Gefahr. Sie durfte nicht alles vergessen! Das galt umso mehr, als seine Hand bereits den Weg unter ihren Rock suchte und ihr über die nackten Beine strich. Sie schlug die Augen auf. Sie war inzwischen zwanzig und immer noch unverheiratet. Wenn sie ihre Ehre verlöre, würde sie es auch bleiben.

Martin ließ seine Finger an ihrem Schenkel aufwärtsgleiten. Sie atmete in Stößen. Auch er war erregt, das ließ sich unschwer spüren, sein Geschlecht war hart, er presste seine Lenden gegen sie und bewegte sich vor und zurück. Seine Fingerspitzen erreichten ihren Schoß, eine Stelle, die verboten war. In Judith waren zwei Stimmen gleichzeitig, die eine rief Ja, die andere Nein, und sie rangen miteinander und gewannen abwechselnd die Oberhand.

Judith ließ ihre Augen wieder zufallen.

»Martin«, flüsterte sie gleichwohl. »Das geht nicht.«

»Doch«, raunte er, stemmte sich ein wenig hoch und streifte mit einer schnellen Bewegung seine Beinkleider herab.

Darunter war er nackt und rieb sich gegen sie. In diesem Moment fühlte sie sich bereit, sich ihm hinzugeben, direkt hier in der Jagdhütte und obwohl ihr das alte Stroh in Arme und Hals pikste. Alle Besorgnis war in den Hintergrund gerückt. Ihr war egal, was danach geschah.

Erschrocken riss sie den Kopf hoch. »Nein«, sagte sie laut.

Er hielt inne. Seine Hand lag an ihrem Schenkel, ein Stückchen höher fühlte sie sein steifes Gemächt. »Judith, meine schöne Judith«, stieß er aus, »ich gehe zu deinem Vater und bitte ihn, dich mir zur Frau zu geben. Gleich morgen oder übermorgen.«

Der Hof seiner Eltern lag nicht weit vom Seeufer, er umfasste ein paar Getreidefelder, Schafe und Schweine, aber alles in allem war er so klein, dass ihr Vater ihn wahrscheinlich nicht einmal kannte.

»Warte besser noch«, sagte sie.

Er lachte, wie es typisch für ihn war, ein leichtes, jungenhaftes Lachen. »Worauf warten? Auf die Hilfe der Heiligen? Ich gehe zu ihm, und von mir aus knie ich vor ihm auf dem Boden. Kommst du mit?«

Sie stellte sich eine solche Unterredung vor und schüttelte den Kopf.

»Ich habe einen Plan«, sagte er, »und lege ihn Graf Welf dar. Wir werden im Haus meiner Eltern leben. Ich bin mir sicher, dass sie dich freundlich aufnehmen. Und wenn sie sterben, erben wir den Hof.«

»Und deine Geschwister?«

»Die finden schon irgendwo ihr Auskommen.«

Sie seufzte. »Ich weiß nicht.«

Er strich ihr über die Wange und küsste sie. »Mach dir nicht so viele Sorgen. Das Glück ist mit denen, die etwas versuchen.«

»Wenn es so leicht wäre.«

»Es ist so leicht. Ich spreche gleich heute Abend in eurem Haus vor.«

»Vater ist nicht da und kommt erst spät.«

»Dann morgen.«

»Am Karfreitag?«

Es schien ihr sinnvoller, wenn sie vor Martins Besuch allein mit dem Vater redete. Allerdings war er ein strenger Mann, und sie hatte keine Idee, wie sie ein derartiges Gespräch beginnen sollte; wenn sie nur daran dachte, empfand sie eine Scham und Angst, die ihr unüberwindlich schienen. Sie würde die Hilfe der Mutter benötigen und ihr zunächst einen Teil der Geschichte erzählen müssen. Und selbst das kam ihr mehr oder weniger unmöglich vor.

Martin begann, ihr wieder über die Beine zu streicheln.

Sie hielt seine Hand fest. »Bis es so weit ist und wir verheiratet sind, hüte ich meine Jungfräulichkeit. So gebietet es unsere Kirche, und sie wird wissen, warum sie das tut.«

Nun war er es, dem ein Seufzer entfuhr. Er war lang und tief. »Muss das sein?«

»Ja.«

»Wie du meinst. Ich komme zu euch. Bald brauchen wir uns nicht mehr heimlich zu treffen. Dann haben wir ein gemeinsames Schlafzimmer.«

Judith glaubte, draußen die Hufe eines Pferdes zu hören, sie hielt den Atem an. Martin presste sie ihren Zeigefinger auf den Mund.

»Was ist?«, fragte er trotzdem.

»Da ist jemand.«

Er runzelte die Stirn und wartete. »Ich höre nichts«, sagte er dann.

Es kam kein weiteres Geräusch, weshalb sie glaubte, sich das Hufgetrappel eingebildet zu haben. Doch dann drang ein Schnauben herein.

Ein Pferd, eindeutig.

Sie entwand sich Martins Umarmung und setzte sich auf. »Da ist jemand«, wiederholte sie.

Er zog sich die Hose hoch, blieb neben ihr und hielt ihre Hand. Ohne sich zu regen, warteten sie, bis sie wieder Hufschläge hörten. Diesmal entfernten sie sich.

»Wer kann das gewesen sein?«, fragte Martin.

»Ich weiß es nicht.«

»Soll ich nachsehen?«

»Lieber nicht.« Sie stand auf. »Ich muss gehen.«

»Schon?«

»Du kennst die Antwort.«

»Wegen deiner Eltern? Ich denke, dein Vater ist unterwegs, und deine Mutter lässt dir die Freiheit.«

»Das tut sie auch. Und dennoch. Mach’s mir nicht schwer, Martin, ich bitte dich.«

Zum Abschied drückte er sie an sich, und sein Kuss schien kein Ende finden zu wollen. Sie musste sich losreißen.

»Wann kann ich zu euch kommen? Übermorgen?«

»Besser nach Ostern. Nächste Woche.«

Sie sah ihm an, dass ihre Antwort ihn enttäuschte, und das tat ihr leid. Dennoch war es richtig so. Sie musste seinen Besuch vorbereiten.

»Treffen wir uns vorher noch einmal hier?«, fragte er.

»Ja.«

Auf dem Rückweg trieb Judith ihr Pferd in den Galopp. Sie war besorgt, wollte schnell nach Hause und war erleichtert, als sie den väterlichen Hof mit dem Steinhaus sah. Sie übergab das Tier einem der Stallburschen und eilte hinein.

In der Halle kam ihr Emma entgegen, ihre kleine Schwester. Obwohl der Fußboden aus Stein war, hörte man ihre Schritte nicht, so leise trat sie auf.

»Ich habe dein Pferd gesehen«, sagte sie halblaut.

Judith fuhr zusammen. »So?«, fragte sie. Also war es Emma gewesen, die sie in der Hütte gehört hatte.

»Ja. Und ein zweites. Einen Falben.«

Judith gab ihr einen Stoß gegen die Schulter. »Kann es sein, dass du deine Nase in Dinge steckst, die dich nichts angehen?«

»Nein, das kann nicht sein«, erwiderte Emma mit der ganzen Ernsthaftigkeit einer Zwölfjährigen. »Ich bin dir nicht gefolgt, ich habe nur durch Zufall etwas gesehen.«

»Seit wann reitest du allein durch die Gegend?«

»Seit heute«, antwortete die Kleine ungerührt.

»Und Mutter weiß davon?«

Emma zuckte mit den Schultern.

»Nun … Aber sag, wenn du etwas siehst, heißt es dann auch, dass du darüber redest?«, wollte Judith wissen.

»Mit unseren Eltern, meinst du?«

»Zum Beispiel. Oder mit Rudolf.« Judith traute ihrem Bruder nicht, sie unterstellte ihm, dass er dem Vater heimlich zutrug, was er mitbekam.

Emma antwortete nicht. Sie zwinkerte aber mit den Augen.

»Also?«, fragte Judith.

Die Kleine grinste und schüttelte den Kopf. Judith war sich sicher, dass sie sich auf sie verlassen konnte.

3

Lothar saß in Rotruds Zimmer. Die Stühle waren mit weichem Samt gepolstert, und auch wenn die Lehnen wegen der Blase an ihrem Rücken erst in Höhe der Schulterblätter begannen, waren sie so bequem, dass seine Schwester einen großen Teil ihres Tages darauf verbrachte. Sie nähte und stickte, manchmal kam auch Besuch, sodass sie Unterhaltung hatte. Lothar streckte die Beine aus und schaute zu, wie sich im Kamin die Flammen emporschlängelten. Das Feuer hatte er gerade erst entfacht.

»Was glaubst du, was Vater passiert ist?«, fragte Rotrud. Er konnte ihr ansehen, wie nahe ihr der Unfall gegangen war, sie kam ihm noch blasser als sonst vor, ihre Augen waren feucht. Immerhin weinte sie nicht. Lothar mochte es nicht, wenn seiner Schwester die Tränen kamen.

»Im Dach sind ein paar Sparren gebrochen.«

»Einfach so?«

»Wahrscheinlich waren sie alt. Holz wird morsch, wenn es immerzu dem Wetter ausgesetzt ist. Irgendwann kann es die Last nicht mehr tragen.«

Sie nickte. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich, er wurde schwer, Lothar fand, dass sie müde aussah. Auch er hätte sich am liebsten ein wenig ausgestreckt. Sein Rücken schmerzte. Es war anstrengend gewesen, sie in ihr Zimmer zu begleiten, er hatte sie mehr getragen als gestützt, und obwohl sie in den vergangenen Fastenwochen leichter geworden war, hatte er geschwitzt unter der Last. Sie hätte nicht mitmachen müssen, für Kranke ließ die Kirche Ausnahmen zu, aber Rotrud beharrte darauf, genauso behandelt zu werden wie alle anderen und wie alle zu verzichten. Sie redete nie darüber, trotzdem wusste er, dass sie hoffte, der Schöpfer würde, wenn sie dereinst vor ihm stünde, ihre besonderen Anstrengungen würdigen. Dabei führte sie bereits ein durch und durch sündenfreies Leben.

»Ich bin froh, dass Vater nichts Schlimmeres passiert ist«, sagte sie mit halb geschlossenen Augen. »Wenn er eines Tages nicht mehr ist und Mutter vielleicht auch nicht, bin ich allein. Dann wird es schwierig für mich.«

»Nein! Warum sagst du so etwas?«

»Weil es so ist.«

»Ich werde immer auf dich aufpassen, Rotrud.« Er nahm ihre Hand und strich mit den Fingerspitzen darüber. »Wie oft habe ich dir das schon versprochen?«

»Und wie oft habe ich dir gesagt, dass du bald anderen Aufgaben nachgehen wirst? Du reist in entfernte Teile des Reiches, hältst Gerichtstage, ziehst vielleicht sogar in den Krieg.«

»Und wenn schon. Ich kümmere mich um dich. Du solltest mir vertrauen, schließlich bin ich dein Bruder.«

Sie öffnete die Augen wieder und gab sich sichtlich Mühe, ein Lächeln auf ihr mageres Gesicht zu zaubern. »Ich vertraue dir doch. Aber ich kann nichts dafür, wenn ich Angst bekomme.«

Er streckte ihr die Hand hin, die sie ergriff. »Ruh dich ein wenig aus. Dir ist der Schreck in die Glieder gefahren.«

Er half ihr auf und stützte sie bei den Schritten zu ihrem Bett. Sie legte sich wie immer auf die Seite, anders ging es nicht. Als sie ihre Augen schloss, verließ Lothar leise das Zimmer, stieg die Treppe hinunter und ging in den Pfalzhof. Dort herrschte große Geschäftigkeit. Knechte und Mägde liefen hin und her, schleppten Schüsseln, Brennholz oder Bierfässer, hatten allesamt ein Ziel. Morgen, am Todestag des Herrn, hatte Ruhe zu herrschen, deshalb galt es, bereits heute Vorbereitungen für das Ende der Fastenzeit zu treffen. Die Dienstleute bewegten sich langsam. Auch sie schienen nach den sechs Fastenwochen am Ende ihrer Kräfte zu sein. Die Körbe auf den Rücken der Frauen waren bestenfalls zur Hälfte gefüllt.

Im Hofgang hatten Leibeigene die gebrochenen Sparren und zersplitterten Dachpfannen zu einem Haufen zusammengeschoben. Ein Holzkarren stand bereit, den sie beluden. Schutt auf einem der Wege konnte am Karfreitag selbstverständlich nicht geduldet werden. Die Leibeigenen, langhaarige Heiden aus östlichen Ländern, fasteten nicht, deshalb packten sie kräftig zu. Schaufel für Schaufel luden sie auf den Karren. Einer von ihnen fegte den Gang.

Lothars Magen knurrte. Er drückte beide Hände darauf, gleichwohl hörte das Knurren nicht auf.

»Wie geht es dem Kaiser?«, fragte jemand hinter ihm.

Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, wer ihn angesprochen hatte, zu gut kannte er die Stimme. Sie gehörte Bernhard von Septimanien, dem Patensohn seines Vaters. Lothar und er waren gleich alt, Bernhard war in ihrer Familie aufgewachsen, als sein Vater damals in ein Kloster eingetreten war. Ursprünglich stammte er aus Toulouse, einer Stadt im Süden, zwischen Mittelmeer und Ozean und in der Nähe der Pyrenäen gelegen. Wie die meisten Leute dort hatte er pechschwarzes Haar und dunkelbraune Augen.

»Ein paar Prellungen und Schrammen«, antwortete Lothar und zuckte mit den Schultern. »Von denen er sich jetzt erholt. Er schläft.«

»Ich habe mir das eingestürzte Dach angeschaut. Ein großes Loch. Da ist schweres Material heruntergestürzt.«

»Sieht so aus.« Lothar hatte nicht viel für Bernhard übrig und keine Lust auf eine Unterhaltung mit ihm.

Er konnte nicht recht benennen, was ihn an Bernhard störte. Irgendwie war der Kerl undurchsichtig; man wusste nie, welchen Standpunkt er einnahm oder was er dachte. Außerdem kam es Lothar vor, als wäre er kein richtiger Mann. Er war verweichlicht. Sein schmales Gesicht mit den ewig blitzenden Augen zeugte davon, dass er sich für Vieles interessieren mochte, aber nicht für den Kampf.

»Der Tod ist allgegenwärtig.«

Das war ein typischer Bernhard-Satz, er sollte bedeutungsvoll klingen und war letztlich nichtssagend.

»Das glaubt mein Vater auch«, gab Lothar trocken zurück.

»Er ist ein ganzes Stück vor euch anderen gegangen«, sagte Bernhard. »Wie kam das?«

Lothar gewann den Eindruck, dass in der Frage eine versteckte Anschuldigung lag. »Offenbar hatte er es eilig.« Er hob die Hand und machte eine wischende Bewegung zur Seite. »Wohin er so dringend musste, solltest du ihn selbst fragen.«

Es war Mittagszeit. Am Tor hatte sich die übliche Schlange von Bittstellern gebildet, einfaches Volk, aber auch niedere Adelige, manche aus Aachen, andere aus ferneren Gegenden, jeder mit einem Anliegen und dem Wunsch, zum Kaiser oder wenigstens zum Kanzler vorgelassen zu werden. Viele von ihnen waren angesichts des kalten Tages in Decken gehüllt. Andere traten von einem Bein aufs andere oder rieben sich die Hände. Auf den Kaiser würden sie heute vergeblich warten. Und dann kamen die Ostertage.

Irgendwie musste er Bernhard loswerden. »Ist noch etwas?«

»Wollen wir ausreiten?«

»Nein.«

»Ein wenig Bogenschießen?«

»Was willst du von mir?«

Lothar hörte selbst, wie ungehalten er klang. Als Kinder hatten sie gemeinsam gespielt, auch als Jugendliche viele Stunden miteinander verbracht, damals, als sie noch in Aquitanien lebten, sie hatten oft irgendwo im Schatten gesessen, den Mädchen nachgeschaut, Wein getrunken und getratscht. Pippin war der Dritte in ihrem Bunde gewesen. Doch diese Zeiten waren lange vorbei, und Lothar wollte auch nicht, dass sie wiederkamen.

Bernhard hob die Hände, als müsse er einen Angriff abwehren. »Ich will gar nichts«, sagte er. »Ich dachte, du würdest dich über ein wenig Gesellschaft freuen.«

»Ich bleibe lieber allein.«

Bernhard blickte an ihm vorbei. »Es ist gut für uns und gut fürs Reich«, sagte er mit leiserer Stimme, »dass der Unfall glimpflich ausgegangen ist.«

Lothar verzog den Mund. Auch diesmal konnte er den Sinn von Bernhards Satz nicht erkennen. Was ging in diesem Dummerjan vor? Er musste doch sehen, wie es um das Frankenreich stand. Es wurde regiert von einem Kaiser, der blind gegen die Gefahren war, die von seiner Politik ausgingen. Andere Völker würden sich die Bretonen zum Vorbild nehmen. Wenn man Milde walten ließ, folgte daraus zwangsläufig, dass weitere Nachbarn aufbegehrten, die Slawen östlich der Elbe, dann die Bulgaren und die Dänen, und im nächsten Schritt würden Völker innerhalb des Reiches, die Sachsen, Bayern oder Langobarden, den Gehorsam verweigern.

Alle im Kronrat hatten begriffen, dass es galt, den Anfängen zu wehren. Nur der Vater sah das nicht. Und Bernhard offenbar auch nicht.

Während er Bernhard schlichtweg für dumm hielt, vermutete er bei seinem Vater ganz andere Gründe für dessen Haltung. Der Kaiser stand unter dem Einfluss seines Beichtvaters. In Wahrheit war Abt Benedikt derjenige, der diese Milde gegenüber den Angreifern verlangte, und sein Einwirken war so umfassend, dass man sich am Hof bereits zuraunte, der Priester mache die Vorgaben, die der Kaiser dann ausführte. Wie ein Zauberer habe er ihn willenlos gemacht.

Lothar ließ Bernhard stehen und ging davon. Zwar hatte er kein Ziel, aber er hielt auf die Ställe zu und hoffte, dass Bernhard ihm nicht folgte.

Seit langer Zeit trieb ihn die Frage um, wie sich die Entwicklung, die Abt Benedikt und der Kaiser ausgelöst hatten, rückgängig machen ließ. Er wusste, dass es vor allem auf ihn ankam, schließlich war er der älteste Sohn und würde das Reich eines Tages regieren, zumindest das, was dann noch davon übrig war.

Wenn er verhindern wollte, dass sein Vater alles kaputtgehen ließ, musste er eingreifen. Die Frage hieß allein, wie er das anstellen sollte. Es gab Leute, die auf seiner Seite standen. Dazu zählte vor allem der Kanzler. Auch andere Mitglieder des Kronrats hielten zu ihm, das hatte die Sitzung gerade erst wieder bewiesen. Bei seinem Bruder Pippin allerdings war er sich nicht sicher.

Die Kanzlei lag in einem Nebenhaus, auf das Lothar nun zuging. Es wäre gut, mit Helisachar zu sprechen, denn in der Bretonenfrage ging es um viel. Sie brauchten eine Strategie, umso mehr, als Abt Benedikt an der nächsten Kronratssitzung sicherlich wieder teilnehmen würde und er viel Überzeugungskraft besaß.

Lothar wurde langsamer, und das nicht nur, weil er sich hungrig und kraftlos fühlte. Ihm war nicht ganz klar, wie er ein Gespräch mit dem Kanzler beginnen sollte. Wenn er es ungeschickt anfing, stünde der Vorwurf der Illoyalität im Raum. Andererseits war es sinnlos, wenn er sich nicht klar äußerte. Gab es einen Mittelweg?

Er öffnete die Tür und stieg die Treppe in den ersten Stock hinauf. Die Tür der Kanzlei war doppelflügelig und reich verziert, man erkannte sofort, dass dahinter ein bedeutender Mann seinen Dienst leistete. Lothar drückte die Klinke und trat ein.

Zwei Schreiber standen an ihren Pulten in dem weitläufigen Saal. Die beiden Männer arbeiteten konzentriert, er hörte das Kratzen ihrer Federn. Erst als er einen weiteren Schritt in den Saal machte, blickten beide auf. Helisachar war nicht da.

»Ich suche den Kanzler«, sagte Lothar, »und komme später wieder.«

Ohne eine Reaktion der Schreiber abzuwarten, ging er hinaus und kehrte in den Pfalzhof zurück, wo er sich an eine Mauer lehnte. Wieder knurrte sein Magen, diesmal noch länger und vernehmlicher. Ein Stück weiter schlurfte sein Bruder Pippin über den Hof. Lothar würde auch mit ihm über den Zustand des Reiches sprechen und auf klaren Antworten bestehen müssen. Heute war allerdings kein guter Tag dafür, Pippin wirkte mehr als kraftlos, sein schwarzes Haar hing wie ein Vorhang um das Gesicht. Dass die Fastenzeit so strikt eingehalten werden musste, hatten sie ebenfalls Benedikt zu verdanken. Milde gegen die Nachbarn, aber Strenge gegen sich selbst, so hieß dessen Devise. Was daran christlich sein sollte, konnte Lothar nicht erkennen. Neuerdings wurde sogar die Küche abgeschlossen, damit niemand der Versuchung nachgeben konnte, die von den herrlichen Gerüchen ausging. Wem aber ging es mit diesem strikten Verzicht besser? Keinem von ihnen, und ganz sicher nicht dem Kaiser, der ohne Essen erst recht zu lächerlichen Entscheidungen kam. Und also ging es dem Reich auch nicht gut.

Wie ein sinnvolles Leben aussah, zeigte ihm sein jüngster Bruder, der hinter Pippin herlief. Der kleine Ludwig war noch zu jung, um zu fasten. Seine Bewegungen waren kraftvoll wie immer. Beneidenswert.

4

Am Vorabend des Heiligen Freitags wurde es still im Haus. Judith hatte den Eindruck, als wäre nicht nur das Essen verboten, sondern auch jede Bewegung verpönt. Keine Diele knarrte, nirgendwo schlugen Becher aneinander, weder Stimmen noch Schritte waren zu hören und natürlich auch keine Musik. Wenn es einen Moment der Einkehr gab, dann war es dieser, die Stunde des Brotbrechens, des letzten Abendmahls, nach dem der Leidensweg Christi begann. In Judith begann die biblische Geschichte mehr und mehr lebendig zu werden, der Verrat, die Dornenkrone, der Spott, schließlich der Schmerz, als die Nägel durch Haut, Fleisch und Knochen getrieben wurden. Ihre Vorstellungen wurden immer bildhafter, nicht nur die des Abschieds am Esstisch, sondern auch die der Schmerzen, als die Wunden aufrissen. Sie hätte gern gewusst, wann die Ohnmacht eingetreten war, und hoffte, dass dem Gekreuzigten diese Gnade schnell zuteilgeworden war. Die Vorstellung eines langen Leidens gruselte sie.

Ein Klopfen an ihrer Zimmertür riss sie aus ihren Gedanken. »Ja?«

Ein Diener trat ein. »Der Graf wünscht Euch zu sprechen.«

»Jetzt?«

»Das hat er gesagt.«

Judith fiel es schwer, von ihrem Stuhl aufzustehen, ihre Glieder waren seltsam steif. Ihr Vater war nicht sonderlich fromm, dennoch galten auch für ihn die letzten Abende vor dem Osterfest als Zeit der Stille, in der man keine Unterhaltungen führte. Womöglich hatte Emma sie doch angeschwärzt.

»Ich komme«, sagte sie.

Der Diener führte sie in die Schreibstube. Es war noch nicht dunkel, trotzdem brannten zwei Lampen. In einem Wandregal lagen Schriftrollen, hauptsächlich Berichte über die Ernten, Preise für Getreide und Schlachtvieh und Tabellen zu den Steuereinnahmen. Der Vater selbst saß hinter seinem Tisch. Sein Gesicht war reglos, der Blick ernst. Judith schluckte trocken.

»Setz dich«, befahl er und zeigte auf den Besucherstuhl.

Judith gab sich Mühe, unbesorgt zu wirken, auch wenn sie Angst hatte. Irgendwoher musste der Vater von ihrem Ausritt erfahren haben, und niemand außer Emma wusste davon.

»Wie geht es dir?«, fragte der Vater.

»Ich habe gerade an das letzte Abendmahl gedacht. Der traurige Abschied von den Jüngern. Deshalb …« Sie brach ab. Es galt, dass sie ihre Worte sorgsam wog. Jedes einzelne.

»Was?«

»Deshalb kann ich nicht behaupten, dass es mir gut ginge.«

»So?« Ihr Vater hatte um den Mund einen dunklen Bart, über den er sich mit zwei Fingern strich. Dabei glitzerte der Ring an seinem Finger im Lichtschein. »Warst du heute ausreiten?«

Sie spürte, wie ihr heißes Blut in den Kopf schoss. »Ich …« Weiter kam sie nicht.

»Nun?«

Sie zwang ihre Stimme zu Beiläufigkeit. »Ja. Ich glaubte, mein Pferd sollte bewegt werden.«

»Und du warst ganz allein?«

Würde sie eine Begleitung benennen, ihren Bruder oder die kleine Schwester, wäre sie augenblicklich aus allem Verdacht heraus, denn der Vater wollte vor allem nicht, dass seine Töchter allein umherstromerten. Er fand das zu gefährlich, wie Judith von ihrer Mutter wusste. Allerdings ging sie davon aus, dass das nicht die ganze Wahrheit war: Dem Vater lag daran, dass sich seine Töchter nicht heimlich mit einem Burschen trafen. Einem wie Martin.

Rudolf als Begleitung anzugeben, verbot sich. Er würde ihre Lüge auffliegen lassen und dabei wahrscheinlich noch Genugtuung empfinden. Bei Emma wollte sie sich nicht festlegen. Noch vor ein paar Stunden hatte die Kleine ihre Verbundenheit zu Judith gezeigt. Und jetzt womöglich doch geplaudert.

Sie wählte die sichere Variante. »Ich war allein, aber ich bin in der Nähe geblieben.«

»So?«, fragte er wieder und machte den Eindruck, mehr zu wissen.

»Ja. Es bestand keinerlei Gefahr«, erklärte sie und hoffte auf einen entschiedenen Klang in ihrer Stimme. Wenn man schon log, dann musste man so überzeugend wirken, dass beim anderen keine Zweifel entstanden.

»Lass das in Zukunft. Ich möchte es nicht.«

»Ich bin vorsichtig, Vater.«

»Lass es sein«, sagte er etwas lauter.

Sie schaute ihm in die dunklen Augen, und während er ihren Blick hielt und die kleine Kraftprobe reglos annahm, empfand sie ein Gefühl tiefer Fremdheit. Er hieß Welf, und soweit sie verstanden hatte, war sein Ziel, ein starkes Geschlecht zu begründen, eine Grafenfamilie, die einmal zu den mächtigsten im Frankenreich gehören sollte. Das wusste sie von ihrer Mutter. Er selbst sprach nur selten mit ihr, und wenn er es doch tat, dann um sie zu maßregeln. Freundliche Worte, eine Umarmung, gar einen Gutenachtkuss, so etwas kannte sie von ihm nicht. Als Mädchen hatte sie einiges versucht, um seine Aufmerksamkeit zu wecken, hatte ihr Instrument geübt, sich für Landwirtschaft und die Führung des Gutes interessiert und altklug über diese Dinge gesprochen. Auch gebetet hatte sie um seine Liebe, abends auf Knien vor ihrem Bett oder in der Kapelle. Das alles war vergebliche Müh gewesen.

Ihren Geschwistern gegenüber verhielt sich der Vater in ähnlicher Weise abweisend. Rudolf trank schon morgens unverdünnten Wein und tat alles, um einen Zipfel vom Mantel der väterlichen Gunst zu erhaschen. Wenn er es für nötig hielt, verriet er dafür auch seine Geschwister. Emma hingegen hatte sich in eine Welt von Musik und Dichtkunst zurückgezogen.

Judith dachte an Martin. Obwohl sie ihre Treffen manchmal unwürdig gefunden hatte, schmerzte es sie, dass sie nicht mehr stattfinden würden, und sie fand, dass sie ihm zumindest den Grund mitteilen musste. Deshalb musste sie zumindest noch ein weiteres Mal allein ausreiten.

»Und wenn ich in der Nähe bleibe?«

»Nein«, erwiderte der Vater.