0,99 €
Die Story von den Myriaden Parallelwelten …
Die Story von den gestressten Bewohnern des Hyperraums …
Die Story vom kannibalischen Bewusstsein …
Und noch weitere 15 Storys.
Coverbild: Tithi Luadthong/Shutterstock.com
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Zum Buch
Jürgen Müller
Das erste Mal
Science-Fiction-Storys
Die Story von den Myriaden Parallelwelten … Die Story von den gestressten Bewohnern des Hyperraums … Die Story vom kannibalischen Bewusstsein … Und noch weitere 15 Storys.
Coverbild: Tithi Luadthong/Shutterstock.com
Durchgangszimmer
Er war überall, hier wie da, und alles zur gleichen Zeit. Und überall, hier wie da, zwickte es ihn, flogen gelbe Klumpen und blaue Kugeln an ihm vorbei oder mitten durch ihn hindurch. Zum Glück nur, dass er sie nicht hörte! Ein ständiges Zischen und Brausen, Summen und Brummen, das hätte ihm noch gefehlt!
Er hatte es satt. So etwas hatte es zur Zeit der Alten nicht gegeben! Nicht einmal in Ruhe schlafen konnte man mehr, von nachdenken gar nicht zu reden.
Mer Lybal richtete sich auf und schaute zornig nach vorn und hinten, links und rechts. Und da waren sie: Seltsame Schemen und Funken, diffuse Farbkleckse und Lichtschweife nahten von allen Seiten, unwirklich, wie nicht von dieser Welt, und änderten ständig Form und Farbe.
Es schienen immer mehr zu werden. Manche glitten mitten durch ihn hindurch, ohne dass er Schmerz verspürte oder auch nur den kleinsten Ruck. Sehr selten nur war ihm, als streifte ihn ein Hauch. Aber das war nur Einbildung. Und dennoch störten sie, konnte man wahnsinnig werden.
Das muss anders werden, sagte er sich. Wir müssen etwas dagegen unternehmen.
Über Gedanken verständigte er sich mit allen, die er kannte. Ihnen ging es ähnlich, alle waren sie am Ende ihrer Geduld. Jeder befragte jeden, und bald wussten sie, woher die Störenfriede kamen: Von draußen.
Nun – draußen war von ihnen noch niemand gewesen. Dieses Draußen brauchte keiner. Man konnte gut und gerne darauf verzichten, wenn es Schuld an der Misere war. Man konnte es abdichten.
Sie dichteten den Übergang nach draußen ab.
Buntgewürfelt waren die Insassen des Hyperraumbusses. Vom Rigel kamen sie und von der Wega, menschenähnlich oder völlig anders geartet, hatten sich wie er in Capellas Disco-Stadt amüsiert und wollten nun ins irdische Sonnensystem zur Mondausstellung. Auf ihn jedoch wartete morgen früh das Gymnasium. Aber wenigstens hatte er zuvor richtig abgetanzt.
Noch fünf Minuten bis zum Start. Utz Biernacki freute sich auf die Rückreise. Vom Hyperraum war er schon als Kind fasziniert gewesen. Seine Mutter hatte ihn oft mitgenommen, wenn sie Freunde oder Verwandte in anderen Sternsystemen besuchte. Schon mit vier hatte er sämtliche Typen von Hyperraumfahrzeugen anhand ihrer Erscheinungsformen in der fünften Dimension zu unterscheiden gelernt. Ohne sich je zu täuschen erkannte er in den gelblichen Klumpen, den blauen Kugeln und sonstige Formen den Typ bereits von fern, und wenn sie näher herankamen sogar den Hersteller und selbst das Baujahr. Nicht einmal diffuseste Farbkleckse und Lichtschweife vermochten ihn zu beirren, da konnten sie Form und Farbe wechseln, so oft sie nur wollten – er kannte sie alle. Kein Gefährt, dass die Abkürzung durch die höheren Dimensionen benutzte, war ihm unbekannt, nicht einmal die erst geplanten.
Noch zwei Minuten. Utz schnallte sich an. Von der hintersten Sitzbank aus betrachtete er versonnen all die verschiedenen Aliens vor ihm. Manche hätte man eher für einen Strauch gehalten oder einen Fels.
Noch drei Sekunden. Zwei. Null. Der Andruck presste ihn in die Lehne.
Ein Warnschrei des Piloten ertönte. Doch kam er zu spät. Im nächsten Augenblick wurden die Insassen in die Gurte geschleudert, als sei der Hyperraumbus gegen eine Mauer gerast. Alles fluchte, peitschte mit den Tentakeln, glomm feurig auf oder stöhnte.
Als Utz wieder Atem bekam, fuhr er mit den Händen unter den Sicherheitsgurt und massierte die schmerzende Brust. Ein Fehler des Piloten konnte es nicht gewesen sein – zu viele Systeme des Gefährts waren automatisiert. Also eine Panne. Und zwar eine gehörige: Sie waren noch draußen, im Einsteinschen Raum, der vierdimensionalen Raumzeit. Das war noch nie passiert. Utz glaubte kaum, dass der Pilot sie beheben konnte.
Und richtig: Schon strebte der Bus mit Unterlichtgeschwindigkeit zum nächsten Dock.
Nicht ein Platz war frei. Wie aufgefädelt schwebten vor ihnen Dutzende und Aberdutzende Raumbusse und -taxis. Und noch mehr nahten. Mit Unter-, Licht- und Überlichtgeschwindigkeit, so zuckelten sie heran. Utz sah alle Typen, die er kannte, und sogar noch ein paar neue, derzeit noch in Erprobung. Der Werkstattbesitzer schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
Bald wusste man: Allen war das Gleiche passiert, keiner war in den Hyperraum gelangt, nicht mit dem stärksten Antrieb und nicht mit der unübertrefflichsten Form. Jeder wollte der Erste sein, bestand auf Dringlichkeit oder versuchte den Werkstattbesitzer zu bestechen. Es herrschte Chaos.
»Sicher ein Herstellerfehler«, sagte der Pilot. »Er wird gleich gefunden sein. Entschuldigen Sie die kurze Verzögerung, verehrte Passagiere. Ein Modulaustausch, wahrscheinlich der String-Kupplung, und schon geht es los. Sie kommen rechtzeitig ins Sol-System.«
Ein Herstellerfehler? Utz schüttelte ungläubig den Kopf. Aber doch nicht überall zur gleichen Zeit, und schon gar nicht bei verschiedenen Herstellerfirmen – bei allen Herstellerfirmen, so weit er sehen konnte. Nein, der Pilot versuchte nur, sie zu beruhigen, glaubte selber nicht an das, was er sagte – so war das!
Vor Morgen kam er hier nicht weg, selbst wenn es nur an der String-Kupplung liegen sollte.
Utz legte die Hände in den Nacken und versuchte zu schlafen. Was weder er noch der Pilot noch der Werkstattleiter zu dieser Zeit wussten – überall in der Galaxis herrschte das gleiche Bild, war jedes Weltraumdock belagert, der Weg in den Hyperraum versperrt ... und blieb es auch.
Nichts zwickte ihn noch, flog an ihm vorbei oder mitten durch ihn hindurch. Einige Zeit spürte Mer Lybal Erschütterungen, als wollte jemand von draußen herein, dann wurde es ruhiger und ruhiger. Schließlich hörten sie ganz auf. Befriedigt versank er in Sinnen und Dösen. Endlich war die Welt wieder, wie von alters her gewohnt: ruhig und still.
Felder und Gärten, all die Äcker und Parks waren verschwunden, das Unkraut hatte gesiegt. Selbst Großstädte wurden von dichtem Urwald überwuchert, die Dörfer waren es längst. Weltweit auf der Erde sah es so aus. Nur die höchsten Türme und Hochhäuser schauten aus dem Blätterdach, bemoost und flechtengrün. Die Scheiben der Gebäude waren zerbrochen, Vögel hausten in den Räumen, Fledermäuse und allerlei Getier. Bis hinauf in Penthouse-Höhe war jede Nische besetzt. Nur eines sah man in ihnen nicht – Menschen: Sara und Martin kamen sich einsam vor.
»Seit zwei Wochen haben wir keinen Fremden mehr getroffen«, sagte sie. »Sind wir die Letzten hier?«
Er antwortete nicht, schaute sich nur um, deutete seitwärts. »Dort drüben«, sagte er.
Sie schlenderte ihm nach, wie schon so oft.
Seine Erfahrung hatte ihn nicht getäuscht. Wie auf Bestellung fand er jeden Abend und im größten Dickicht einen Unterschlupf, eine Datsche oder ein Einfamilienhaus, dessen Dach noch dicht war. Sie wäre achtlos daran vorbeigegangen ohne ihn, hätte im Freien schlafen müssen.
Wie immer fanden sie Konserven, deren Haltbarkeitsdatum noch nicht abgelaufen war, und stärkten sich. Engumschlungen schliefen sie ein.
Im Traum hatte sie Freunde und Familie, Bekannte und Kollegen, lachte und scherzte mit ihnen, war glücklich. Das Aufwachen, als die menschenleere Weite nach ihr griff, war schrecklich. Sie warf sich schluchzend an seine Brust, und er streichelte sie, redete begütigend auf sie ein. Dann frühstückten sie, nahmen etwas Wegzehrung mit und wanderten weiter, wie an jedem Tag.
»Sind denn alle fort«, fragte sie, »restlos alle?«
»Wir müssen uns damit abfinden«, sagte er. »Die Jungen finden das Leben auf der Erde uncool, fliegen zu den Kolonien, und die Alten sterben aus.«
Vor vier Generationen eroberten erste Abenteurer fremde Welten und besiedelten sie. Gutbetuchte Familien folgten ihnen und die Raumfahrtprogramme der Länder schlossen sich an. Später nahmen schon Halbwüchsige Kredite auf, um der ›drögen‹ Erde zu entfliehen. Bald war sie so gut wie unbewohnt. Nur wenige Verspottete wie Sara und Martin hingen an ihr, verließen sie nicht. Und sie waren entschlossen zu bleiben, allen Widrigkeiten zum Trotz. Außerdem war es für einen Flug längst zu spät; kein Raumschiff gab es mehr hier, alle waren sie unterwegs oder längst auf einem fremden Planeten gelandet.
Letztes Jahr, selbst vor Monaten noch, hatten sie des Öfteren Gleichgesinnte getroffen, miteinander gelagert und sich Geschichten erzählt. Jetzt schien es sie nicht mehr zu geben, lag das Land wie ausgestorben da. Sara erschauerte, schmiegte sich an Martin. Ihr war nach Heulen zumute. Kino, Zirkus, Feste – nichts davon gab es mehr. Liebespärchen, Kinder, Babys – leere Worte. Eine Menschenansammlung? Was war das? Bald würde sie erschrecken, sollte sie jemals auf mehr als drei Leute treffen. Ein ganzer Planet nur für sie beide, das war zu viel. Das war einfach nicht auszuhalten. Sie schluchzte erneut, ließ sich zu Boden sinken und reagierte auf nichts. Martin hockte sich hilflos neben sie.
Ein Schatten schreckte ihn auf, drüben am anderen Waldrand. Das Knacken von Zweigen drang herüber. Schritte. Menschliche Schritte, die es eilig hatten, sich schnell entfernten.
»Hallo«, rief er und richtete sich auf. »Hallo. So warten Sie doch!«
Stille. Nichts rührte sich. Nur Sara sah mit neuer Hoffnung auf zu ihm. »War da jemand?«
»Ja«, rief er. »Verdammt noch mal – ja!«
Gemeinsam liefen sie über die Lichtung, nach kurzem Suchen fand Martin die Fußspuren. Er hatte sich nicht geirrt, war keiner Täuschung unterlegen. Hier war jemand gegangen. Sie folgten der Spur, riefen erneut, doch niemand antwortete. Der Unbekannte musste inzwischen weit voraus sein. Den ganzen Tag lang liefen sie ihm nach und erreichten ihn doch nicht bis Abend. Es war schon duster, als Martin Rast befahl und einen Unterschlupf samt Nahrung fand.
Mit Bangen legten sie sich schlafen.
»Wenn nur kein Regen oder Sturm die Spur verwischt«, bangte Sara.
»Wir kennen die Richtung«, sagte Martin, »er geht stetig geradeaus. Hab keine Angst, wir verlieren ihn nicht, holen ihn bald ein.«
Ein Dröhnen erklang in der Luft, ein greller Lichtschein traf sie, huschte weiter. Das Dröhnen verklang.
Sara richtete sich ungläubig auf. »Das war schon das fünfte Raumschiff heute. Hätte nie gedacht, dass noch so viele Leute auf der Erde sind. Das heißt, waren.« Tränen traten ihr in die Augen.
»Wenn das so weiter geht«, sagte er, »sind wir wirklich bald die Letzten. Gestern waren es nur drei. Es werden immer mehr der Verbliebenen, die der Erde nun doch den Rücken zu kehren scheinen. Woher sie nur die Raumschiffe haben? Ja, bald werden wir wohl ganz allein sein.«
Das Gefühl des Verlassenseins ließ ihre Mägen zu harten, schweren Steinen werden. Stumm warteten sie auf den Schlaf.
Am nächsten Tag war es dann soweit. Sie hörten Stimmen weit voraus, Gelächter, Streit: Es mussten Dutzende Menschen sein, nicht nur einer.
Sara glaubte an eine Täuschung, traute sich nicht weiter. Martin musste sie mit sich ziehen.
Und dann sahen sie sie! Es war kein Wahn, kein Trug: Ganze neun Paare waren hier versammelt. Einem davon waren sie sogar einst begegnet, weit von hier, in einem andern Land.
»Philippa! Eugen!«, schrie Sara voller Glück. »Ich dachte, ihr wäret abgeflogen, hättet uns allein gelassen wie all die andern auch! Oh, was bin ich froh, euch zu sehen.« Sie schaute sich um. »Was macht ihr hier?«
Dann sah sie es selbst. Mit vereinten Kräften fällten die Männer Bäume, legten Häuser und Straßen frei, reparierten die Dächer, während die Frauen das Gesträuch und die Äste wegschleppten und Unkraut jäteten und drinnen aufräumten. Ein halbes Dorf lag schon frei und lud zum Verweilen ein. Zum Verweilen für wen – für die paar Mann reichte ein Gasthaus, das war allemal genug.
»Verrückte«, entfuhr es Martin, »schuften ohne Sinn und ohne Verstand.«
Zum Glück flüsterte er es, hörte es niemand außer Sara.
Philippa aber und Eugen eilten auf sie zu, begrüßten und umarmten sie, stellten ihnen die anderen vor. »Das sind Carol und Gus«, sagte Eugen, »Claire und Leif, Donatella und Frans, Gesine und Fabian, Fay und Ian, Frantje und Ingmar, Gwendolin und Igor, Rosalie und Sascha« – bei den wenigen Menschen auf der Erde brauchte es keine Familiennamen mehr. »Die anderen sechs sind ausgezogen, um Verstärkung zu holen, jeden den sie treffen. Wollt ihr mittun?«
»Äh ...«, machte Martin.
»Jaah ...«, sagte Sara. »Wobei? Ich meine: Was wird das hier?«
Alles lachte fröhlich auf bei ihrer Frage, nur Martin schaute verbissen in die Runde. Wie konnte man so ausgelassen sein beim Tod des Planeten?
»Verrückte«, murmelte er abermals, »die Hoffnungslosigkeit hat sie übermannt.«
»›Wobei‹ fragt sie«, rief Rosalie, »habt ihr das gehört!« Erneut lachte alles schallend auf.
Mit strahlenden Gesichtern kamen die Männer und Frauen auf Sara und Martin zu, küssten ihnen Wangen und Nasen.
»Ihr werdet uns beim Bau des Landeplatzes helfen«, sagte Frantje, »morgen machen wir den ersten Spatenstich. Schön, dass ihr da seid.« Sie küsste Sara erneut.
»Ja, ein Landeplatz«, rief Philippa Martin ins verdutzte Gesicht, »du hast recht gehört: kein Startplatz! Die Raumschiffe, die ihr saht – es sind Rückkehrer, Leute, die es draußen nicht aushielten, aber auch Eltern und Großeltern, die ihren Kindern oder Enkeln die Welt zeigen wollen, von der sie stammen. Begreift ihr nicht – die Nostalgiewelle hat eingesetzt, die Erde ist wieder ›in‹, und sei es auch nur für einen kurzen Besuch. Von Tag zu Tag werden es immer mehr, die sie sehen wollen, auf jedem freien Plätzchen landen sie, schauen sich staunend um. Wir werden einen Ort schaffen, wo sie sich wohlfühlen, wo sie willkommen sind, von wo aus sie die Erde erkunden können. Wenn wir uns richtig ins Zeug legen und alles schön vorrichten, werden sie uns vielleicht sogar für Unterkunft und Verpflegung bezahlen. Dann sind wir gemachte Leute und brauchen nicht mehr nach Konserven zu suchen und aus Bächen zu trinken. Macht ihr mit?«
Und diesmal sagten Sara und Martin einstimmig ja.
Sie gefällt mir vom Scheitel bis zur Scheide. Die Beine sind nicht so der Bringer. Kurz und krumm, wie stets bei Kleinwüchsigen von knapp einem Meter. Das Gehen fällt ihr schwer. Ich nenne sie Lilly Liliput. Eigentlich heißt sie Liliane Völk. Sie ist frisch zugezogen, neu in der Stadt. Ich heiße Bodo Sterz und wohne schon lange hier.
Man kann Lilly übersehen. Aber nicht überhören. Nicht nachvollziehbar, wo an diesem Persönchen der Platz für ein so großes Mundwerk sein soll.
Lillys Stimme ist nicht piepsig, wie erwartet, sondern kräftig und laut, dröhnt und tönt durch Räume, Straßen und Plätze. Da steckt Druck dahinter. Lilly besteht aus linkem Lungenflügel, rechtem Lungenflügel und Rest. Die Lungenflügel sind hübsch nach außen gewölbt und gefallen mir sehr.
Lilly hält nichts von Krücken mit Achselauflage oder Unterarmstütze. Sie geht lieber am „lebendigen Stock“.
Der lebendige Stock bin seit Neuestem ich, einen Meter achtzig groß und wohlgebaut. Vor mir hatte sie ein Stöckchen: Benny Franzen, satte einen Meter neunzehn hoch, Zirkusclown, zumeist unterwegs und sonst wohl auch nicht so der Bringer. Deshalb hat sie aufgestockt. Ich weiß bis heute nicht, wie es geschah, aber plötzlich waren wir ein Paar. Meine Idealvorstellung war immer eine Frau bis unters Kinn. Dazu muss ich jetzt in die Hocke.
In der Hocke bin ich nur selten. So vermuten die Leute erst Vater und kleine Tochter, sehen dann Lillys Lungenflügel und ihr reifes Gesicht, glotzen, tuscheln, kichern, lachen, verletzen. Verletzen Lilly und mich. Wir haben nur wenige Freunde. Die meisten Menschen wollen nichts von Lilly und mir wissen.
Ich will Verschiedenes von Lilly wissen, wo sie wohnt, was sie macht, doch sie sagt stets: „Das erfährst du noch früh genug“, taucht unerwartet vormittags bei mir auf und fährt wie angekündigt, aber von mir nicht gewollt, zum Spätnachmittag in einem Taxi davon, lässt mich ratlos zurück, da kann ich betteln und flehen, dass sie über Nacht bleibt. Andere Leute führen eine Wochenendbeziehung, wir eine Tageslichtromanze. Nur dass es für mich längst keine Romanze mehr ist. Ich fühle mich wie eine Krücke, von Lilly ab und zu mal gebraucht und benutzt, und wenn nicht, achtlos beiseite gestellt.
Was ist es für Lilly? Was fühlt Lilly für mich? Und was, zum Teufel, macht sie jede Nacht? Ich denke an Pornodreh und Prostitution und komme doch nicht los von ihr, will es auch nicht, hoffe aber, sie ist zum Wenigsten ein Clown im Zirkus oder Varietee, schämt sich bloß dafür.
Ansonsten verstehen wir uns prächtig, streiten uns nur über Musik. Ich liebe Rock und Pop, sie Klassik.
Neulich gingen wir Hand in Händchen zu einem Ständchen. Blaskapelle. Wochenmarkt.
Ein Angedröhnter schwankte auf uns zu, deutete hämisch grinsend auf Lilly. „Toll, deine Puppe, Alter! Sogar mit Mechanik. Einmal einwickeln bitte und dann ab mit der Post zu mir, ich sammle Nippes. Was macht das?“
„Zwei blaue Augen, eine gebrochene Nase und weitere diverse Kleinigkeiten“, wollte ich gerade sagen, aber Lilly war schneller. Sie brach in so gewaltiges Gelächter aus, dass es die Blaskapelle glatt überschallte und den Dirigenten mitten in der Bewegung verharren ließ. Die Musik wurde zu Missklang, verstummte. Alle wandten uns den Kopf zu.
Da begann Lilly zu singen, klassisch, irgendeine Opernarie. Die Leute waren hin und weg, wollten mehr und mehr. Und Lilly sang und sang, abwechselnd in Alt und tiefem Mezzosopran. Die Blaskapelle stimmte ein. Es wurde ein voller Erfolg. Der Angedröhnte starrte Lilly mit dummem Gesicht an und ich ebenso. Dann strahlte ich: Von wegen Pornodreh, Prostitution oder Clown!
Das war letzten Monat.
Lilly fährt weiterhin jeden Nachmittag in einem Taxi davon, kommt aber immer nach ihren Auftritten gegen Mitternacht zurück, huscht zu mir ins Bett.
Oft besuche ich auch die Vorstellung und ergötze mich an Lillys Anblick und Gesang. Kein Problem, auf Wunsch steckt sie mir Freikarten für die besten Plätze zu. Auftritte auf drei Kontinenten stehen an, und wie ihr Manager sagt, sei sogar das Fernsehen interessiert; die Autogrammkarten gehen zu Tausenden weg. Am meisten aber genieße ich die Proben und Generalproben, wo noch nicht alles rund läuft – Pleiten, Pech und Pannen frei Haus. Was haben wir gelacht! Und ich dachte immer, Operndarsteller sind der Ernst pur.
Wir haben jetzt viele Freunde und Bekannte, laden oft Leute ein oder werden von ihnen eingeladen.
Ich bin stolz auf Lilly. Niemand hat an sie geglaubt, als sie Gesangsunterricht nahm, nicht mal dann, als sie ihre Ausbildung begann. Doch sie hat ihren kleinen Brustkasten in Hochform gebracht, ihre Lungenflügel gewölbt und geformt, und jetzt zeigt sie es uns allen.
Neuerdings lege ich Oper auf, und Lilly lächelt mir zu. Wir streiten uns über nichts mehr.
Ich bin Lilly keine Krücke mehr. Ich bin ihr Stock.