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Die Story von der Welt, in der Schreibcomputer die Bücher schreiben und es menschliche Autoren sehr schwer haben …
Die Story von den verirrten Erinnerungen …
Die Story von den Zeitmaschinen, die wirklich Zeit erzeugen …
Und noch 34 weitere Storys.
Coverbild: Ad libitum/Shutterstock.com
„Jürgen Müller entführt uns nur selten in die Welten weitab, vielmehr mit Vorliebe in die gleich nebenan; nicht Laserschwert und Phaser, vielmehr absurde Situationen und obskure Gedankenspiele sind sein Metier, bei einigen seiner Stories ist man geneigt anzunehmen, dass der Begriff SF-Groteske eigens für ihn erfunden wurde."
(aus einer Rezension von Torstern Altmann)
„Jürgen Müllers Geschichten sind keine Schnellschüsse aus der lockeren Hüfte, die dann an der nächsten Tresentür abprallen – er liefert Hintergründiges, auch wenn das AHA-Erlebnis manchmal erst auf dem zweiten Blick entsteht, Lustiges und Skurriles. … Insgesamt bietet Jürgen Müller mit seinem Kurzgeschichtenband abwechslungsreiche und interessante Unterhaltung auf hohem Niveau, oftmals besser als das, was anderswo gebunden auf den Markt geworfen wird."
(aus einer Rezension von Jürgen Eglseer)
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Zum Buch
Jürgen Müller
Gedanken sind frei
Science-Fiction-Storys
Inhalt:
Die Story von der Welt, in der Schreibcomputer die Bücher schreiben und es menschliche Autoren sehr schwer haben … Die Story von den verirrten Erinnerungen … Die Story von den Zeitmaschinen, die wirklich Zeit erzeugen … Und noch 34 weitere Storys.
Coverbild: Ad libitum/Shutterstock.com
Schreib-Maschinen
Der Vorführsaal des Computerherstellers ROTHAUPT besaß die Ausmaße einer Kathedrale, die Inneneinrichtung eines Raumkreuzers aus einem Science-Fiction-Film, der frühestens in fünf Jahren gedreht würde, und an Stelle der blattgoldumrahmten Orgelpfeifen einen kolossalen Flachmonitor der Marke BRILLANT. Einige Meter vor diesem stand statt eines Spieltisches mit Manualen, Registerzügen und Pedalen ein Rednerpult und darauf eine Computertastatur aus Marmor.
Trotz der Größe des Raums herrschte Gedränge: Aufgeregte Firmenangehörige, hektische TV-Teams und wuselige Journalisten kollidierten untereinander oder mit den Teleobjektiven der aufdringlichen Fotografenschar. Ein Teil der Schaulustigen, die sich den Zutritt zum Medienspektakel der diesjährigen Nominierungen der Anwärter für den Nobelpreis für Literatur leisten konnten, hatte die Absperrung rings ums opulente Kalte Büfett überwunden und schaffte zusätzliches Chaos. Seit die Computer-Riesen am Zuge waren, hatte dieser Literaturwettstreit auf höchster Ebene Kultstatus erlangt.
Das Stimmengewirr brach ab, als Dolf Rothaupt, agiler Seniorchef seiner marktdominierenden Firma, mit gewohnt forschem Schritt ans Rednerpult trat, dabei die Liste mit den Nominierungen schwenkend, die ihm als vorjährigem Gewinner eben vom Sprecher der achtzehn Juroren überreicht worden war. Seine Töchter Isolda, Isalda und Isotta – unzertrennliche Drillinge, wie es hieß, die bereits vor Jahren das Management des Familienunternehmens übernommen hatten – blieben wie immer unsichtbar im Hintergrund; wahrscheinlich waren sie abstoßend hässlich und scheuten aus diesem Grund das Licht der Öffentlichkeit.
»Nominiert wurden«, hob er mit rauer, energischer Stimme an, während zeitgleich die Namen mannshoch auf dem aufgehängten Flachmonitor erschienen, »erstens: TJOST – ein historischer Roman aus meiner Wunderschmiede. Zweitens: SIEBEN MASKEN UND KEIN GESICHT – ein Spionage-Thriller, erstellt von SEVENTEEN-CLICK-STORIES, dem nicht üblen Schreibcomputer meines ärgsten Kontrahenten EASYWRITER. Glückwunsch, Roy, auch wenn er nicht von Herzen kommt!« Gelächter brandete auf und wieder ab. »Drittens: MUSKARIN UND WOHL BEKOMMS – ein Kriminalroman von FAROLT... – Pardauz, wer kennt einen Schreibcomputer FAROLT EHRENSING? Oder ist das die Herstellerfirma?«
»Hier ist jemand umgekippt!«, schallte es aus den Reihen der Zuschauer.
Ein Arzt öffnete dem schmächtigen, bleichen Burschen, der mit ungläubiger Miene dalag, den Hemdkragen und verabreichte ihm einige leichte Ohrfeigen. »Aufgewacht, junger Mann!«
»Was ...?«
»Und da sind wir wieder! Hm, auf den Hinterkopf gefallen, ja? Wo befinden Sie sich, wie heißen Sie?«
»Rothaupt-Anwesen ... Farolt Ehrensing. Warum fragen Sie?«
»Glück gehabt. Stehen Sie au...« Der Arzt erstarrte. »Sie heißen wie ...?« Dann wurde er beiseite gerissen und der junge Mann von der Journalistenmeute umzingelt. Die Fotografenschar bereitete in punkto Helligkeit minutenlang einem ausgewachsenen Tropengewitter Konkurrenz. Dolf Rothaupt indes musste von seinen Leibwächtern gestützt werden. Es schien, als hätte die Sensation, dass ein Mensch die Phalanx der Schreibcomputer in den TOP-TEN-BOOKS sprengte, dem Seniorchef einen Herzanfall beschert.
Farolt aber wurde gefeiert wie Georg Friedrich Händel bei der Aufführung der Feuerwerksmusik im Londoner Green Park.
Zwei Stunden später befand er sich in einem Park, mit zerschlagenem Gesicht im Gras, und zwei maskierte Frauen in Lederkluft traten ihm, bevor sie zwischen angrenzenden Büschen verschwanden, zum Abschied kräftig in den ungeschützten Leib.
»Sind Sie okay?« Eine junge Frau, die in der Nähe am Rand eines Springbrunnens gesessen und Vanilleeis geschleckt hatte, war zu ihm geeilt und versuchte ihm aufzuhelfen.
Eine Frau? Ein Traum von Frau! Vamp, männermordende Sirene und unschuldiges Gör zugleich. Aphrodite, Kleopatra und Helena samt Loreley waren Dreck dagegen! Die Tritte in seinen Solarplexus waren nicht nötig gewesen, damit er atemlos vor ihr auf die Knie fiel!
»Danke, es geht schon wieder.« Er fühlte sich ihr gegenüber schon nichtig genug; sie musste ihm nicht noch hoch helfen.
»Soll ich Sie nicht lieber zur Polizei fahren?«
»Ach wo, das war sicherlich nur eine Verwechslung, ein Einschüchterungsversuch an die falsche Adresse; ich habe weder Schulden noch Feinde.«
»Nun, besonders ernst scheinen die beiden es auch nicht gemeint haben, sonst wären Sie jetzt reif für die Intensivstation«, erwiderte sie so trocken, wie er nass war ... vom Blut, das noch immer von den aufgeplatzten Brauen über die Wangen lief.
Sie lief davon, und er hätte sie so gerne bis ans Ende seiner Tage an seiner Seite gehabt!
An seinen Seiten hatte er jetzt zwei bullige Türstehertypen, die ihn für eine Art »sehr unerwünschter Gast« zu halten schienen. Weit und breit war keine Tür zu sehen, durch die sie ihn schmeißen konnten, trotzdem schmissen sie ihn wiederholt durch die Gegend und zwar konsequent einem schwarzen Lieferwagen mit dunklen Scheiben entgegen.
Die beiden Maskierten sprangen aus den Büschen hervor und schlugen die beiden Männer mit Pistolenknäufen nieder.
Eine seltsam anmutende Nobelkarosse hielt mit kreischenden Bremsen neben ihm. »Rein mit dir! Schnell, Mann!« Eine schmalgliedrige Hand zog ihn auf den Beifahrersitz. »Scheint doch ernst zu sein. Nichts wie weg!« Der Vamp, die Traumfrau, das unschuldige Gör – sein Schutzengel! – ließ den fremdartig wirkenden Luxuswagen davon preschen. Vereinzelte Schüsse knallten wirkungslos hinter ihnen her.
Farolt, der glaubte, in einen schlechten Film geraten zu sein, brauchte eine Weile, um wieder klar denken zu können – wenn solch rationales Tun neben dieser göttlichen Person überhaupt möglich war.
»Das ist Ihr Schlitten?«, brachte er endlich hervor, als er erkannte, worin er saß.
Hätte sie ihn in eine Rikscha gesetzt und diese selbst gezogen, wäre er nicht verblüffter gewesen als in dem Moment, da er bemerkte, dass sie einen robusten Porsche 911 Turbo fuhr, der sicherlich seine 80.000 gekostet hatte, aber vor vier Jahrzehnten, als er hergestellt wurde, und den sie eigenhändig steuerte! Ihrem Erscheinungsbild angemessen hatte er eine gepanzerte tauch- und kurzflugfähige Mercedes- oder BMW-Limousine mit dem neuesten elektronischen Schnickschnack erwartet. Ebenso standen ihr seiner Meinung nach zumindest drei Chauffeure zu, die sich im Dienst ablösten und dafür bezahlten, diese Engelsgleiche fahren zu dürfen. Bewegungslos saß er neben ihr. Ewig hätte er so mit ihr fahren können. Nie hätte er sich getraut, sie anzusprechen oder gar zu berühren. Diese Frau war dreitausend Nummern zu groß für ihn, konnte jeden haben. Jeden Adligen, jeden Prinzen dieser Welt. Wäre er ein Scheich – bedenkenlos würde er seine restlichen sechshundert Haupt- und Nebenfrauen köpfen lassen, sollte sie das leiseste Anzeichen eines diesbezüglichen Wunsches äußern.
»Warum sind die hinter dir her?«
»Keine Ahnung. Hab nichts ausgefressen ... aber vielleicht ein Doppelgänger von mir? Mhm ...«
»Und was machst du so? Erzähl mal!«
Und er erzählte.
»Du schreibst ...? Warum denn nur? Dafür gibts doch Programme!«
»Jetzt reden Sie wie Netti! Such dir eine anständige Arbeit ...«
»Netti? Deine Frau?«
»Nee, große Schwester. Bin solo. – Davon kann man nicht leben! Ein Glück, dass das unsere Eltern nicht erleben mussten – wir sind Waisen, müssen Sie wissen. Und erst mein Schwager, Burkhart Suck, den müssten Sie mal hören: Ibotensäure! Das Hauptgift des Fliegenpilzes ist die I – bo – ten – säu – re, nicht das Muskarin, wie früher fälschlicherweise angenommen! IBOTENSÄURE UND WOHL BEKOMMS muss es heißen! Schon zu dumm zum Recherchieren, aber will es mit Schreibcomputern aufnehmen. So ein Pragmatiker! Wäre nicht meine Schwester dazwischengegangen, er hätte mich aus dem Haus geworfen, meine Sachen zum Fenster raus und mich gleich hinterher, als er erfuhr, dass ich die Eintrittskarte zu den Rothaupts auf dem Schwarzmarkt erstanden habe. Kann sich keine eigene Bleibe leisten, aber achthundert Kröten für ein Scheiß-Billett ausgeben! Nichtsnutziger Schmarotzer! Ich! Tut so, als wäre die ausgebaute Bodenkammer, in der ich hausen darf, ein Appartement. Und ohne Karte oder Einladung kommt man ins streng bewachte Rothaupt-Anwesen nun mal nicht rein. Aber jetzt bin ich wer, hab ich ausgesorgt ... Augen wird der machen, wenn er mich morgen in den Schlagzeilen sieht oder heute schon im Fernsehen ... Und meine Schwester erst!«
»Dich? Im Fernsehen? Besonders telegen schaust du nicht aus.«
»Das nicht, aber ...« Und er erzählte weiter, während sie durch die Stadt fuhren.
»Autsch, das klingt ernst. Ich glaube nicht, dass die Computer-Riesen besonders erfreut sind, dass du in ihre Domäne eingedrungen bist!«
»Sie meinen ...?«
»Genau. Beim nächsten Mal knallen die dich ab. Bis jetzt haben sie nur mit dir gespielt.«
Kalte Schauer überrieselten ihn, und er schaute in kurzen Abständen unauffällig in den Rückspiegel.
Irgendwann hielten sie vor dem Eingang einer Höhle. »So, hier bist du in Sicherheit, bis ich bei vertrauenswürdigen Leuten ein Versteck für dich aufgetrieben habe. Bis gleich.«
Nach ihrer Wiederkehr fuhren sie Meile um Meile und hielten endlich vor einem von hohen Steinmauern umsäumten verschlossenen Tor.
Während sie davor warteten, schaute sie ihn kopfschüttelnd an. »Und du schreibst wirklich selbst? Eigenhändig? Das, was du dir ausgedacht hast? Warum nur? Schon meine Schulaufsätze erledigte ein Schreibcomputer! Mein Vater war so bescheuert und hat mit zum zehnten Geburtstag anstelle des gewünschten 3-D-Heimkinos so ein billiges Schreibdings – POETRY ALPHA VERSION hieß es wohl – geschenkt. Ich hätte es ihm am liebsten an den Kopf geworfen.«
»Dieses ›Schreibding‹ war ein AUTO-AUTOR von ROTHAUPT. Man gibt ein Exposé ein und wartet ab. Bei SEVENTEEN-CLICK-STORIES von EASYWRITER hingegen bestimmt man mit einem Klick das Genre, mit dem zweiten die Länge des Werkes, mit dem dritten die Höhe der Spannung ... mit dem sechzehnten nur neu, und mit dem siebzehnten bestätigt man alles mit okay. Heraus kommen bei beiden Herstellern zum Beispiel Krimis von der bestechenden Güte einer Agatha Christie oder eines Georges Simenon, zwar erst nach einer Dreimonatsfrist, aber eben kein abgekupfertes Zeug, sondern noch nie da gewesene Zeilen voller Spannung, auf Wunsch ebenso stimmungsvolle Lyrik oder Kunstmärchen, und der Verlag bezahlt nur das bisschen Strom. Aber was hilft einem das, wenn man den Kopf voller Geschichten hat, die filmartig vor einem ablaufen, herauswollen und aufgeschrieben ... Was sagten Sie eben: Billig? Ein billiges Schreibding?« Farolt verschluckte sich fast. »Menschenskind, das war der erste gängige AUTO-AUTOR überhaupt. Für das gleiche Geld hätte Ihr Vater eine Luxusjacht erwerben können! Oder etwas Schnittigeres als diesen klapprigen Schlitten aus der Jahrtausendwende.«
»Für das bisschen Plaste? Das Ding sah aus wie eine handelsübliche Tastatur mit Netzstecker, bloß einige Zentimeter höher gebaut. Was soll daran teuer gewesen sein?«
»Daran nichts. Aber darin! Nanotechnik en masse. Und sämtliche bis dato digitalisierte Bücher der Menschheit. Ein Großrechner vor achtzig Jahren hätte für die gleiche Leistung Hochhausformat besitzen müssen ... und wäre langsamer gewesen. Aber der Hauptgrund ist: Es war ein Testmodell. Einzelanfertigung, keine Serienware.«
»Was du alles weißt!« Sie sah ihn schelmisch an. »Das konnte ich nicht wissen. Das Ding war kompakt; man konnte nirgends reingucken. Dann muss ich mich bei Paps wohl nachträglich bedanken. Apropos ›klappriger Schlitten‹: Wenn du glaubst, dieser guterhaltene Oldtimer sei billig ... Du nimmst die Schreibcomputer ja ganz schön in Schutz! Eigentlich müsstest du sie hassen.«
»Nun ja, alles hat seine Vor- und Nachteile. Nehmen Sie nur den Titel der heutigen ROTHAUPT-Nominierung: TJOST.«
»Wieso? Was ist damit?«
»Wissen Sie, was es bedeutet?«
»Was denn?«
»Ich musste selber erst nachfragen. Steht in jedem Wörterbuch, ist aber so veraltet, dass es kaum jemand kennt. Tjost – französisch: mittelalterlicher Reiterzweikampf mit scharfen Waffen. TJOST! Nach solch einem Titel sucht jeder Autor. Kurz und prägnant. Das ist schon die halbe Miete für den Erfolg. Ich meine, stellen Sie sich ein Buch Mittelalterlicher Reiterzweikampf mit scharfen Waffen vor; wer kauft das Ding? Und wenn ich mir nun bewusst mache, dass so ein AUTO-AUTOR diesen kurzen prägnanten Titel, nach dem ich garantiert eine halbe Stunde suchen muss, nach einigen Millisekunden findet und noch in der selben Sekunde weiß, ob es in der Menschheitsgeschichte jemals ein gleichlautendes Buch gab, werde ich schon etwas neidisch.«
Er verstummte, als sich hinter dem Tor Schritte näherten. Ein langgezogenes Knarren, und sie sahen eine vermummte Gestalt, die sie ziemlich nervös in eine halbverfallene Baracke am gegenüberliegenden Ende eines schutthaldenähnlichen Innenhofs geleitete. Innen rollte sie einen Teppich beiseite, klappte die darunter verborgene Falltür auf.
Seine bezaubernde Retterin trat hinzu und stieg ohne zu zaudern eine steile Stiege hinab in die Dunkelheit.
Licht flammte auf. »Komm runter, Bangbüxe! Man hat mich eingewiesen; ich weiß, wo es langgeht.«
Unten sah er sich überrascht um.
»Mach hin! Deine ›Freundinnen‹ können jeden Augenblick hier sein. Oder hältst du sie wirklich für so unbedarft, dass sie deine Spur verlieren – auf Dauer!«
»Du meinst, sie sind noch hinter mir her?« Verängstigt trippelte er ihr nach.
Zirka alle fünfzig Meter trafen sie auf eine druck- und gassichere Stahltür; eine jede wurde von seiner Führerin nach dem Passieren sorgfältig geschlossen, während der Gang inzwischen aus Stahlbeton bestand. Alles hier wirkte irreal, die Stille, die Umgebung, die verursachten Geräusche ... Andere Lebewesen, die Zivilisation – das war Erinnerung ... ach was, hatte es nie gegeben! Es gab nur sie und ihn: Adam und Eva – wozu bedurfte es anderer Leute ...
Hinter dem fünften Schott drückte sie einen Knopf, und sofort bebte der Boden unter ihren Füßen. Farolt stieß einen unterdrückten Schrei aus.
»Keine Panik, ich habe nur die Baracke gesprengt. Auch der Gang bis zum ersten Schott dürfte eingestürzt sein. Jetzt sollen sie uns mal finden!«
Sie zog ihn in eine Kabine und befahl: »Ganz runter!«
Der sprachgesteuerte Hochleistungslift stürzte mit ihnen in die Tiefe. Haltsuchend drängte sie sich an ihn und er hätte sie am liebsten umfasst. Unten traten sie nicht etwa in den nächsten Gang hinaus, sondern in eine nicht mehr aktive Schleuse hinein. Als sich hinter ihnen hydraulisch ein Hauptschott schloss, begriff er endlich, dass sie sich Dutzende Geschosse tief in einem Atombunker aus dem vorigen Jahrhundert befanden.
Wenn seine Verfolger ihn nicht über einen Satelliten beobachtet oder einen Peilsender am Wagen seiner Retterin angebracht hatten, fand ihn hier höchstens der Teufel persönlich! Und mit dem Wagen war gewiss die vermummte Gestalt von vorhin verschwunden.
Das ideale Versteck. Todesstille herrschte hier, hinter den sicherlich mehrere Meter dicken Außenwänden. Kein Mensch schien diesen Ort während der letzten Jahrzehnte betreten zu haben. Niemand würde ihn hier aufspüren ...
»Hören Sie mal – wie sollen wir hier wieder rauskommen, wenn Sie den Eingang gesprengt ...«
Ihr Lachen brach sich geisterhaft im Gang. »Glaubst du wirklich, es gibt nur einen Zugang?«
»Ach so ...«
»Keine Sorge, die andern sind gut getarnt. Kein Mensch kommt hier herein oder heraus, ohne dass wir es wollen.«
Sie öffnete das nächste Schott, er trat in einen Raum von der Größe eines Trucks und prallte entsetzt zurück vor den zehn Männern darin.
Erst glaubte er, seine Häscher, durch einen anderen Eingang gekommen, erwarteten ihn hier, dann sah er, dass sie sich nicht um ihn kümmerten, sah, was sie taten: schreiben, an Computern, mit fiebrig-glänzenden Augen, ohne auch nur einmal aufzusehen. Erleichtert stieß er die angehaltene Luft aus.
»Deine Leidensgenossen. Wie ich von den Verbindungsleuten erfuhr, haben die Computer-Riesen jedem Autoren, der es auch nur auf den letzten Platz der TOP HUNDRED BOOKS schaffte, die gleiche ›Aufmerksamkeit‹ geschenkt. Die das überlebten wollen sich von hier aus rächen und die Computer in Grund und Boden schreiben. Halbirre, schlimmer als du ... schlafen kaum, tippen den ganzen Tag ...«
»Drud!«, schrie er auf. »Jendrich Drud! Er hat es vorletztes Jahr auf Rang 37 im Genre Kriminalroman gebracht – mein großes Vorbild ...«
»Und jetzt hast du ihn übertrumpft!« Sie blickte spöttisch auf Drud, der die Tastatur bearbeitete, dass Pianistenhände dagegen selbst bei prestissimo wie in Slowmotion gewirkt hätten. »Hör mal, mein schüchterner Schreiberling – ich muss los. Tschüß.« Sie gab ihm die Hand, trat zu einem kleinen Bassin am Ende des Raums, kaum drei mal vier Meter und bestimmt drei Meter tief, schöpfte etwas Wasser in die hohle Hand, blickte zur mit – ja was? – zur mit verbeulten Deckeln von Mülltonnen (nicht den heutigen Tonnen, die sich bei Nichtgebrauch automatisch im Gehsteig versenken, sondern den hässlichen runden Blechdingern, in welche die Leute in alten Filmen immer die Asche füllten) verzierten Decke hoch (einen Geschmack besaßen diese Bunkererbauer damals!) und trällerte: »Der Letzte bleibt oben, zehn müssen rein, einer wird schrein ...«
Ein Abzählreim hier unten, also wirklich, ziemlich deplaziert! Kein Wunder, dass einer der Männer zusammenzuckte.
»He, du ...« – er wagte tatsächlich, sie zu duzen –, »wie heißt du?«
»Das wirst du früh genug erfahren ... bei unserem nächsten Treffen!«
Er würde sie wiedersehen! Farolt war der glücklichste Mensch auf und unter Erden.
Lustlos klickte Farolt auf START – ZUBEHÖR – SEITENMONITORE. Nun ein Druck auf die Cursor-Links-Taste: der zwei Zentimeter dicke, 40 Zentimeter hohe und 25 Zentimeter breite linke Seitenmonitor klappte im 135°-Winkel vom 50 Zentimeter breiten Hauptmonitor zur Seite weg. Eine umständliche Angelegenheit – Platz genug für zwei Zusatztasten für die direkte Steuerung der Seitenmonitore war auf der Tastatur allemal; aber allzu oft änderte man die Einstellung auch nicht. Für gewöhnlich blieben beide Hilfsmonitore in der 135°-Stellung – wie bei einem dreiteiligen Schlafzimmerspiegel des vorigen Jahrhunderts, in dem man sich gleichzeitig von vorn und von den Seiten betrachten konnte. Ein weiterer Druck, und der Seitenmonitor bildete eine Linie mit dem Hauptmonitor; dann widmete Farolt sich der Cursor-Rechts-Taste. Anschließend bearbeitete er beide Tasten gleichzeitig, in immer kürzer werdenden Abständen. Der Monitor wirkte nun wie eine gut gemästete und flügelgestutzte Gans beim verzweifelten Versuch, sich in die Luft zu erheben.
Schreiben tat er nichts mehr, seit über einem halben Jahr nicht mehr, als er stolz und glücklich ENDE unter der letzten Zeile seines neuesten Romans LEICHENSCHMAUS, GEPÖKELT tippte und im selben Moment die Arbeit von fünfeinhalb Monaten auf Nimmerwiedersehen vom Bildschirm verschwand – und von der Festplatte! Alles für die Katz. Erst hatte er es nicht wahrhaben wollen, dann hatte er sich in seiner Wohnzelle verbarrikadiert und geheult wie ein Neugeborenes nach dem ersten Klaps, bloß viel länger.
Nein! Schreiben tat er auf dieser Kiste nie wieder etwas ... Dafür schrieben die anderen wie üblich, wenn auch nicht mehr so stoisch wie sonst. Wieder und wieder starrten sie auf die Betonwand links neben dem Bassin. Seit Tagen! Irgendetwas lag in der Luft. Etwas Schreckliches. Längst hatten sie ihn mit ihrer unverhohlenen Furcht angesteckt. Der kleine Fahrige hinter ihm setzte sogar hin und wieder beim Schreiben aus, wirkte direkt panisch.
»Was ist hinter der Wand?«, schrie Farolt sein ehemaliges Idol an. »Ein neunköpfiger Drache, der just erwacht? Wieso habt ihr vor dem Angst; seid ihr Jungfrauen? Der Ausgang, ja? Ist dort ein Ausgang? Wo ist der Ausgang? In einer Toilette? In einer unserer Wohnzellen? Mach den Mund auf, Mann! Ein Jahr bin ich hier unten und hab noch kein Wort von euch gehört. Nicht mal untereinander sprecht ihr: acht Stunden schreiben, vier schlafen, wieder acht schreiben, wieder vier schlafen, ununterbrochen, seit ich hier bin und seit wer weiß wie vielen Jahren davor ... Ich hab euch so satt, ihr Zombies, ihr Maschinen, ihr ... Schreib-Maschinen! Aber wenn es nicht anders geht – vielleicht löst ja ein bisschen Wasser dein verklebtes Maul!«
Alle zehn waren krankhaft wasserscheu, hatten während des vergangenen Jahres nicht ein einziges Mal im Bassin gebadet, während er sich fast jeden Tag darin erfrischte. Nur einmal waren sie ins Wasser gesprungen. Er hatte damals im Becken knapp unterhalb der Wasserlinie einen halbquadratmetergroßen dunkelblauen Schieber entdeckt und einen möglichen Fluchtweg vermutet. Als er ihn beiseite wuchten wollte, waren alle zehn Mann zu ihm gesprungen, hatten ihn vom Schieber weggezerrt und anschließend grün und blau geschlagen.
Und richtig: Kaum hatte er Drud in den Schwitzkasten genommen, um ihn zum Bassin zu zerren, gebärdete dieser sich, als befände sich Schwefelsäure im Becken, und die anderen befreiten ihn aus der Umklammerung.
»Das hab ich gerne! Grüßen sich nicht mal, aber wenn sich die Gelegenheit ergibt, geht es gemeinsam auf einen Einzelnen. Feige Bande!« Farolt zog sich aufgebracht in seine Wohnzelle zurück.
Drei mal zwei Meter maß sein Reich. Ein Lattenrost auf einem Stahlgerüst nahm den meisten Platz ein; gegenüber diesem »Bett« standen ein Stuhl und ein Holztischchen; in einer Wandnische klaffte ein Speisenaufzug von einem so geringen Durchmesser auf, dass sich nicht mal ein Kind hineinzwängen könnte.
Er nahm sein Mittagessen heraus, wie immer reichlich, aber längst kalt geworden, da vernahm er plötzlich gedämpft eine weibliche Stimme.
Jubilierend stürzte er in den Arbeitsraum und rief: »Endlich kommst du! Und nun sag: Wie heißt du? Und dann bring mich hier raus – diese Schlägerinnen suchen mich längst nicht mehr!« – was stimmte: Sie hatten ihn gefunden!
200.000-Volt-Elektroschocker in Hirschkäferform auf den rechten Handrücken geschnallt, in der Linken eine handliche Fernbedienung, trieben die Schlägerinnen aus dem Park die Schreibwütigen zum Bassinrand. Beide waren so wie letztes Jahr gekleidet. Die eine trug dunkelbraune Lederkluft und eine gleichfarbige Vollmaske aus weichem Nappaleder, wie sie in jedem SM-Shop erhältlich war, die andere das Gleiche in tiefstem Schwarz.
Farolt riskierte einen Angriff. Beim Versuch, der näherstehenden Dunkelbraunen den Schocker zu entreißen, berührte er aber dessen Kontaktlamellen und glitt paralysiert und mit entsetzlichen Schmerzen zu Boden.
Die Tiefschwarze hatte inzwischen auf ihre Fernbedienung gedrückt, und die Mülltonnendeckel an der Decke überm Wasserbecken senkten sich, mittig an langen Kletterstangen angeschweißt, langsam bis auf die Wasseroberfläche herab.
Jeder der zehn Bedrängten wurde auf einen Mülltonnendeckel getrieben. Mancher zitterte mehr als die mehrere Zentimeter langen und angsterregend knatternden Funkenentladungen zwischen den »Geweihenden« der »Selbstschutzgeräte«.
Die Dunkelbraune hielt alle in Schach, während die andere die Männer der Reihe nach mit den Rücken an die Stangen zerrte und ihre Hände hinter diesen in Handschellen steckte. Danach zerrten sie Farolt zum Bassin und verfuhren mit ihm ebenso.
Ein erneuter Druck auf eine Fernbedienung, und alle Stangen außer der seinen senkten sich weiter; die Mülltonnendeckel stellten sich leicht schräg und versanken schließlich. Bald standen die zehn Männer bis zum Hals im Wasser.
»Aufhören! Ihr könnt sie doch nicht einfach ersäufen!«, brüllte Farolt aus Leibeskräften.
Als hätte er ihnen etwas vorzuschreiben, folgte der nächste Tastendruck, und die Stangen verharrten auf der Stelle. Die Männer aber mussten bereits den Kopf in den Nacken legen, um wenigstens durch die Nase atmen zu können.
Die Dunkelbraune zog ein Schriftstück unter ihrer Kleidung hervor. »Achtung!«, drang schneidend scharf ihre Stimme hinter der geschlossenen Mundklappe hervor. »Die Platzierungen des letzten Jahres sind: Drud, Jendrich: Platz elf, vierundzwanzig, vierzig und dreiundsiebzig der TOP HUNDRED BOOKS des Genres Krimanalroman. Durchschnitt: runde vierunddreißig. Platz eins. Hoch mit dir!«
Drud stieg wieder über die Wasseroberfläche auf.
Farolt staunte und glaubte zu begreifen: Drud war mit vier Texten in den TOP HUNDRED vertreten und wurde von angeheuerten Killern eines Computer-Riesen dafür bestraft. Mit Sicherheit befand sich seine Nase beim nächsten Abtauchen nicht über der Wasseroberfläche.
Mit den nächsten acht wurde ebenso verfahren. Alle hatten sie es mindestens dreimal in eine Genre-Liste der Top Hundred geschafft, bloß er, Farolt, wurde verschont, weil er nichts fertig geschrieben hatte. Nur – der kleine Fahrige, Florin Tandecki, Schlechtplatziertester hinsichtlich der Durchschnittswerte, wurde bis zur Nase im Bassin belassen! Seltsam wimmernde Töne ausstoßend zog er die Knie an und stemmte sich rücklings an der Kletterstange hoch. Ein weiterer Tastendruck der Tiefschwarzen: unter Wasser glitt der dunkelblaue Schieber beiseite – unzählige etwa einen Viertelmeter lange silbriggoldene und gelbfarbene Fische mit rötlichen Flossen schossen auf Tandecki zu, der sich an der Stange bis etwa einen Meter über dem Wasserspiegel emporgearbeitet hatte.
Seine Hände waren nass, die Handschellen störten beim Festklammern an der Kletterstange, die Muskeln erlahmten. Immer wieder rutschte er tiefer, stemmte sich erneut empor. Dann geriet er bis zu den Knöcheln ins Bassin. Als er mit einem Wehlaut die Beine anzog, fehlten ihm zwei Zehen; das Wasser färbte sich rot. Beim nächsten Abgleiten tauchte er bis zu den Knien ein, und ganze Fleischstücke wurden ihm aus den Waden gerissen. Kraftlos, mit irrem Blick, versuchte er sich erneut mit den verletzten Füßen hochzustemmen, dann ließ er los.
Als das Wasser aufhörte zu brodeln, hatte jeder Rote Piranha im Gegensatz zu Farolt einen wohlgefüllten Magen, und das, was an der wieder hochgleitenden Stange von Florin Tandecki übrig war, wäre, noch etwas ab- und ausgeschabt und anschließend aufrecht auf einem kippsicheren, 5-strahligen Rollenstativ in verstärkter Ausführung befestigt, in keinem Biologiekabinett sonderlich aufgefallen.
Ihre Peiniger befreiten sie nacheinander von den Handschellen, und mit steifen Gliedern traten die Männer der Reihe nach vom Mülltonnendeckel auf sicheren Boden.
Gespannt beobachtete Farolt die Gefährten. Je fünf wehrlose Männer gegen eine Bewaffnete, das konnte gelingen. Kampfbereit spannte er die Muskeln. Und erstarrte, als Ignaz Olivares, ein selbstgefälliger Endfünfziger, an seinen Platz zurücktrottete und ... weitertippte. Als hätten sie soeben eine zehnminütige Pausengymnastik absolviert, taten es ihm die anderen gleich.
Kurz entschlossen entriss Farolt der Tiefschwarzen die Fernbedienung, schleuderte die Überraschte gegen die Dunkelbraune, so dass beide zu Boden gingen, und zertrat die Fernbedienung der Letzteren. Hastig drückte er der Reihe nach die Tasten. Die Mülltonnendeckel schwebten gen Decke, das Wasser im Bassin wurde erneuert, die Tiefschwarze rappelte sich auf, die Piranhas wurden von einem engmaschigen Stahlnetz in ein Rohr getrieben, vor das anschließend der Schieber glitt, die Dunkelbraune kam auf die Beine, die Beleuchtung erlosch und flammte wieder auf, eine Geheimtür schwang auf. Er hechtete durch sie hindurch, drückte geistesgegenwärtig noch einmal die letzte Taste, und die Geheimtür glitt, wie erhofft, lediglich durch feinste Fugen im Stahlbetongang erkennbar, zu.
Der Gang führte nach beiden Seiten. Links, einen Steinwurf entfernt, ein Schott, rechts ebenso. Keine Zeit zum Knobeln – nach rechts gerannt, das Schott geöffnet. Weitere Schotte. Ein Hochleistungslift. Fußspuren! Der Hochleistungslift. Hier hatte er mit ihr gestanden. Wie sehnte er sich nach ihr!
»Ganz hoch!«, rief er. Der Andruck stauchte ihn fast zusammen.
Noch während des Aufstiegs griff er sich an die Stirn – der Ausgang war ja verschüttet – und widerrief. »Eine Etage tiefer!«
Der Lift bremste jäh ab und sauste nach unten. Hielt. Farolt sprang hinaus ... und stand im wohlbekannten Stahlbetongang auf der untersten Ebene.
»Scheißding!«
Er hetzte am Gemeinschaftskerker vorbei zum anderen Ende des Gangs. Keine Tür, kein Schott, keine Treppe, kein Lift. Nicht mal ein Schild mit der Aufschrift: SACKGASSE!
Sein Puls raste, sein Atem pfiff. Er rannte wieder nach rechts, zurück zum Hochleistungslift, dabei ängstlich kontrollierend, ob die Geheimtür noch fest verschlossen war, und bemerkte erstaunt, dass immer in der Mitte zwischen zwei Schotten diese feinen Fugen erkennbar waren. Weitere Kerker? Er zwang sich, vorm letzten Schott stehen zu bleiben, kehrte zögernd zur liftnahesten Geheimtür zurück und streckte ihr mit flatternden Händen die Fernbedienung entgegen.
Und wenn die Kerker untereinander verbunden waren und die Killerinnen da drin auf ihn warteten?
Egal, er musste einen Weg an die Oberfläche finden.
Bang drückte Farolt auf die betreffende Taste. Auch diese Geheimtür schwang auf und gab den Blick frei auf ... zehn Frauen, die mit fiebrig-glänzenden Augen und ohne aufzublicken Computertastaturen bearbeiteten, als hinge ihr Leben davon ab.
»He, alles zu mir«, rief Farolt, hocherfreut, Bundesgenossinnen anstatt der Tiefschwarzen und der Dunkelbraunen vorzufinden, »ich bringe euch raus hier! Irgendwie werden wir mit dem Lift schon klarkommen. Kinderspiel!«
Vielleicht. Nur dass niemand reagierte.
Er trat in den Raum und tippte die Nächstsitzende an. »Hör mal –«
Zwei der Frauen standen auf. Die eine, ein Mannweib von bestimmt zweihundertvierzig Pfund, mit Oberschenkeln wie sein Brustumfang, schritt stumm auf ihn zu und hob ihn einarmig glatte zehn Zentimeter vom Fußboden empor. Wehrlos baumelten ihm die Arme schlaff am Körper. Sie schien über die Vierzig hinaus zu sein, das breite Gesicht war verhärmt und die Figur – nun ja. Und dennoch: Stünde in diesem Augenblick seine göttliche Retterin neben ihr, er könnte sich nur schwer entscheiden. Allein ihr Dutt war einzigartig; gelöst musste ihr blauschwarzes Haar fast bis zum Boden reichen.
Ohne sich seines Tuns bewusst zu werden, löste er den Haarknoten und sah die augenblicklich bis zu den Knien Umwallte fassungslos an.
Der Anflug eines Lächelns verschönte ihre herben Züge, dann trug sie ihn sacht zur Geheimtür zurück.
Die zweite Frau entwendete ihm blitzschnell die Fernbedienung und drückte, nachdem ihn seine Trägerin im gleichen Moment zurück in den Gang gestoßen hatte, die betreffende Taste. Von innen!
Eine Schrecksekunde, danach blieb ihm nichts mehr, als verzweifelt gegen die Tür zu hämmern, bis ihm die Fäuste bluteten.
Er schlurfte in den Lift und hauchte tonlos: »Raus ...«
»Sprechen Sie bitte laut und deutlich!«
»Ich will raus, ganz nach oben, an die Luft, in die Freiheit!«, schrie er. »Laut genug jetzt?«
Scheinbar doch. Der Lift sauste aufwärts. Hielt. Die Kabinentür glitt auf. Farolt, der fest damit gerechnet hatte, im verschütteten Gang zu stehen, glaubte zu träumen. Einen wundervollen Traum, den besten, den er je hatte. Mit einem sonnenhellen großen Zimmer, großen Fenstern, einem grünen Park. Bäumen. Wolken. So sahen die also aus; er hatte es fast vergessen. Der Garten Eden – nach der erlebten einjährigen Hölle da unten.
Der verschüttete Gang war nicht die oberste Plattform, sondern befand sich eine Etage unter der Erde. Das musste einem doch gesagt werden!
Er presste die Nase an eine Fensterscheibe und schaute selig hinaus. Zuckte zurück. Diese Skulptur? Ja, war das nicht ...? Ungläubig schaute er in die Runde. Tatsächlich! Er befand sich in einem Gebäude inmitten des gutbewachten Rothaupt-Anwesens! Wie sollte er hier je lebend hinausgelangen?
Pa – ra – dox! Da ließ gewiss auch dieser Computer-Riese auf der ganzen Welt nach ihm suchen, dabei befand er sich die ganze Zeit ein paar hundert Meter unterm Firmensitz!
Der Geheimverband der »Computer-in-Grund-und-Boden-Schreiber« war bei der Versteckwahl genial vorgegangen. Doch wie gelangte er ungesehen ins Freie?
Immer schön eins nach dem andern! Erst aus diesem Raum, dann aus diesem Gebäude, dann vom Gelände, anschließend zur Polizei. Und danach heim. Netti! Wie freute er sich auf das Wiedersehen. Selbst diesen Burkhart Suck würde er freudeschluchzend umarmen.
Farolt öffnete die nächste Tür ... und stürzte mit dem Oberkörper auf die Platte eines mobilen Operationstisches, den ein untersetzter Pfleger im gleichen Moment ins Zimmer schieben wollte.
»Und da ist ja unser Patient! Nicht so stürmisch, wir wollen uns doch nicht die Beine brechen – die bevorstehende Entfernung der Lingua reicht vorerst«, rief fröhlich der nachfolgende Arzt. »Nehmen Sie bitte auf der Operationstischplatte die Rückenlage ein und legen Sie den Kopf in die U-förmige Kalotte. Das weitere machen wir.«
Eine Verwechslung! Wenn er aber mitspielte, den Kopf zur Seite legte, gelangte er vielleicht unerkannt an den Wachen und Pförtnern vorbei. Im Krankenhaus konnte er dann mit Leichtigkeit entweichen. »Entfernung der Lingua« – das klang so harmlos wie »Blinddarmentfernung«. Spitze! Endlich klappte mal was. Aufatmend tat Farolt, wie ihm geheißen.
Der Pfleger schob ihm Beinrollen unter die Kniekehlen, fixierte ihm Hände und Füße mit gepolsterten Handfesseln und sagte, zum Arzt gewandt: »Fertig. Künstliches Koma?«
»Ja. Für drei, vier Tage.«
»He!«, fuhr Farolt auf. »Sie können mich doch nicht ... Und dann noch hier!«
»Aber, aber«, frotzelte der Arzt, »haben wir schon vergessen, dass wir nicht transportfähig sind? Die nächsten vierzehn Tage verbringen wir in diesem Zimmer.«
»Hören Sie ...« Heilfroh, dass ein Chirurg und kein Psychiater vor ihm stand, beschloss Farolt, alles auf eine Karte zu setzen. »Ich muss bei Bewusstsein bleiben, und ich muss von hier weg, Hilfe holen, Kripo, Feuerwehr ... Da unten, wenn Sie mit diesem Lift dort –«
»Dass die, sobald sie unters Messer sollen, immer so das Flattern kriegen«, stöhnte der Pfleger.
Farolt bäumte sich in seinen Fesseln auf.
»Warten Sie«, bestimmte der Arzt. »Das klingt ernst. Was ist da unten?«
»Neunzehn Gefangene, mindestens. Zwei von mir eingesperrte Killer. Ein kürzlich Ermordeter.«
»Zugekifft schaut der eigentlich nicht aus«, kommentierte der Pfleger nach einem Blick in Farolts Pupillen. »Vielleicht zu viel Krimis oder überschäumende Fantasie ...«
»Nachschauen kostet ja nichts.«
»Sie glauben mir, Doktor ...?«
»Radikes. Doktor Radikes. Aber sicher, sicher ...«
»Aber wir dürfen keine Zeit verlieren. Es ist eine Notoperation!«
»Die Viertelstunde wird er schon überleben.«
Mit widerstrebender Miene schob der Pfleger den mobilen OP-Tisch zum Lift.
»Aber Sie können mich doch nicht noch einmal in diese Gruft ...«
»Überzeugen muss ich mich schon«, meinte Doktor Radikes unnachgiebig, »oder denken Sie, ich will mich bei der Polizei blamieren? Warten Sie, ich mache es Ihnen etwas bequemer.« Während schon der Lift abwärts sauste, zückte er eine Infrarot-Fernbedienung und senkte die Beinplatten der achtfach unterteilten Liegefläche ab und ließ Kopf- und Rückenplatte empor surren, so dass Farolt sich eher wie in einem bequemen Sessel vorkam.
Unten strebte der Doktor unbeirrt von Schott zu Schott.
»Stopp! Da sind die Fugen. Hinter dieser Geheimtür ist der Kerker.«
»Nun, dann wollen wir mal Ihre Angaben überprüfen« Gelassen richtete Doktor Radikes die Fernbedienung des OP-Tisches auf das Hindernis.
Farolt setzte das Herz aus. »He, Sie können doch nicht mit Ihrer –«
»Womit sonst?«, parierte der Arzt. »Die Fernbedienung, die Sie erbeuteten, wurde Ihnen ja wenig später in einem Nebenkerker entwendet!«
»Jaaah ... He, woher wissen Sie das?«
Da schwang die Geheimtür auf! Mit schreckgeweiteten Augen starrte Farolt auf die Killerinnen, die seelenruhig vor seinem Computer saßen und sich auf dem vollständig zu einem 40 mal 100 Zentimeter Breitbild aufgeklappten Monitor eine Zeitlupenaufnahme seines Hinauswurfes aus dem Kerker der Frauen ansahen. Feine Lachfältchen hinter den Augenaussparungen der Vollmasken ließen vermuten, dass sie sich köstlich amüsierten.
»Und da ist ja unser Patient«, sprach die Tiefschwarze. »Entfernung der Lingua. Beginnen Sie, Doktor Radikes!«
Willenlos, nichts begreifend, ließ Farolt die Betäubung geschehen und reagierte kaum, als Doktor Radikes minutenlang mit einem Laser in seinem Rachen herumfuhrwerkte.
»Geschafft«, konstatierte der Arzt.
Erst als etwas Längliches, Rötliches, Blutiges aus seinem Mund in ein Gefäß klatschte, explodierten die Worte »Linguistik« und »Linguallaut« in Farolts Hirn. Dieser verschlagene Teufel hatte ihm die Zunge herausgetrennt, schmerz- und fast blutlos, einfach so!
»Wir danken, Doktor«, sagte die Dunkelbraune und deutete auf die Reste von Florin Tandecki. »Und befreien Sie uns bitte von diesem Anblick.«
»Wird gemacht, und wie immer rückstandsfrei. – Ach«, Radikes griff in die Innentasche seines Kittels, »hier sind die angeforderten Ersatzfernbedienungen. Meine Damen, ich habe die Ehre!«
Inzwischen hatte der Pfleger Farolt von den Fesseln befreit und auf einen Stuhl gesetzt, sich Gummihandschuhe übergestreift und mit gerümpfter Nase Tandeckis Überreste auf den mobilen OP-Tisch gehievt. Nun schob er ihn auf die geöffnete Geheimtür zu.
Im gleichen Moment kam draußen im Gang eine lang herbeigesehnte Göttin herangeeilt – sein Schutzengel! ABER DOCH NICHT JETZT! Hilflos machte Farolt kleine, scheuchende Gesten mit der Hand: Verschwinde! Bring dich in Sicherheit! Wenn sie einen Sprint einlegte, konnte sie vielleicht noch entkommen.
Davon unbeirrt stürmte sie am Pfleger vorbei in den Kerker. »Isolda! Isalda! Ihr seid spät dran: Justin Tacke verlässt gleich den Vorführsaal!«
»Der Spinner wollte fliehen, Isotta«, erklärte ihr Isalda, die Tiefschwarze.
»Ts-ts-ts! Was soll der Unfug«, höhnte Isotta Rothaupt. »Ich sagte dir doch, niemand kommt hier rein oder raus, ohne dass wir es wollen!«
Ja, war er denn von Alzheimer befallen? Sofort als er sah, was die beiden Maskierten mit ihnen anstellten, hätte er an den geträllerten »Abzählreim« seines »Schutzengels« denken und sie mit dem Geschehen in Verbindung bringen müssen. Und diesem Scheusal hatte er vertraut! ›Echt? Das konnte ich nicht wissen. Das Ding war kompakt; man konnte nirgends reingucken ...‹ Von wegen! Wer wusste denn besser über Schreibcomputer Bescheid als sie. Oh Mann, hatte sie ihn zum Narren gehalten! Lautstark ließ Farolt seiner Entrüstung freien Lauf – was ohne Zunge ziemlich schwierig und kaum verständlich war.
»SCHWEIG!«, herrschte ihn Isotta an. »In diesem Raum und auch anderswo kommt kein Laut mehr über deine Lippen! Verstanden!«
Die Drillinge zeigten ihm anhand einer Videoaufzeichnung, was sie mit Klement Mudra, dem ersten und letzten ihrer Gefangenen, welcher es wagte, sich dem Redeverbot zu widersetzen, angestellt hatten, und Farolt war froh, dass sein Magen bereits völlig entleert war.
Als sie gegangen waren, setzte er sich wie tot vor den Computer. Auf dem Hauptmonitor prangte in Form eines zweiseitigen Exposés das erste Auftragswerk für die Firma ROTHAUPT. Gewünschte Länge: 800 Seiten. Genre: Kriminalroman. Zeit bis Vollendung: 3 Monate. Namen und Charaktere der Protagonisten siehe Anhang. Nebenfiguren frei erfindbar.
Ohne ihn! Er klickte auf SCHLIESSEN und schaute der Reihe nach auf seine Mitgefangenen. Eine Welle von Mitgefühl überschwemmte ihn. Sie hatten das Gleiche durchgemacht wie er; wie fühlte er sich diesen armen Schweinen verbunden! Gefangen, gepeinigt und den Ergebnissen ihrer Geistesarbeit beraubt. Aber noch war nicht aller Tage Abend! Er begann zu grübeln.
Stunden später trat er seinem Nebenmann unter Tisch mehrfach verstohlen auf den Fußrücken und beschrieb durch Augenkreisen eine Zehn und eine Zwölf.
Schulterzuckend wandte sich sein Gegenüber ab.
Zehn und Zwölf, brüllte Farolt in Gedanken, verstehst du Depp denn nicht: Die Verleihung des Nobelpreises erfolgt seit langem nicht mehr in Stockholm, sondern beim Gewinner des Vorjahres, aber stets am zehnten Dezember, dem Todestag von Alfred Nobel.
Wieder trat er ihn unter Tisch, beschrieb beim Blickkontakt eine Zehn und eine Zwölf und nickte mit dem Kopf ruckartig aufwärts. Wir brauchen nicht vom Rothaupt-Anwesen auszubrechen; es reicht, wenn wir am zehnten Dezember nach oben gelangen, an diesem Tag ist Presse und Fernsehen da, sobald man uns nur sieht, sind wir frei und die Rothaupts überführt. Wir müssen nur zusammenhalten und nach oben gelangen! Verstanden?
Nicht das Geringste. Der Mann wandte sich erneut ab und schrieb wie die anderen acht mit unverminderter Geschwindigkeit weiter.
Nun gut, nicht jeder besitzt eine gute Auffassungsgabe. Farolt trat seinem Vordermann in die Hacken; da streifte ihn ein Luftzug. Überrascht schaute er sich um.
Isotta Rothaupt betrat mit einem selbstbewussten Mann Ende der Zwanzig den Kerker und zog die gleiche verlogene Show ab von wegen der »Computer-in-Grund-und-Boden-Schreiber« wie vor einem Jahr. Beide wirkten erhitzt. Hatte der Neue Lunte gerochen und einen Fluchtversuch unternommen? Dann war er eine brauchbare Unterstützung.
»Ehrensing! Sie sind der Farolt Ehrensing, nicht wahr! Tacke, mein Name, Justin Tacke. Ihr MUSKARIN UND WOHL BEKOMMS war eine Wucht, hat mich inspiriert wie nichts zuvor.«
»Nun ja, wenn du mich fragst«, versetzte Isotta Rothaupt herablassend, »so ist bereits der Titel schwach. Das Hauptgift des Fliegenpilzes ist die Ibotensäure und nicht das Muskarin, wie früher fälschlicherweise angenommen. Ziemlich dilettantische Arbeitsweise. Ob man damit gegen Schreibcomputer-Bestseller wie zum Beispiel LEICHENSCHMAUS, GEPÖKELT ankommt, wage ich zu bezweifeln!«
Ihr Schweine habt meinen Roman geklaut!, wollte Farolt losbrüllen. Aber kaum dass er den Mund öffnete, zischte Isotta: »Mudra!« Und Farolt, vor dessen geistigem Auge die Folterung, der Todeskampf und die zerstückelte Leiche von Klement Mudra aufblitzten, presste fortan, außer bei der Nahrungsaufnahme in der kleinen Zelle, die Lippen aufeinander, als hätte Doktor Radikes sie aneinandergenäht.
»So, du Ungestüm, ich muss jetzt los.« Isotta Rothaupt gab Justin Tacke einen langen Zungenkuss und sah ihn schmachtend an. »So hat es mir lange keiner mehr besorgt – im Wagen, im Lift und fast an jedem Schott! Ich werd dich vermissen, Süßer!«
»Ich dich auch! Wir sehen uns wieder?«
»Sicher.«
»Wann?«
»Sobald es an der Zeit ist!«
Sie trat ans Bassin, schöpfte etwas Wasser in die hohle Hand und trällerte: »Einer bleibt oben, zehn müssen rein, einer wird schrein!«
Farolt klappte der Unterkiefer herunter. Im nächsten Jahr war er der Zehnte und würde mit untergetaucht werden!
Farolt sah auf seine Konkurrenten und Hass brodelte in ihm auf. Während er sich um ihre Freiheit den Kopf zerbrach, lachten sie sich sicherlich ins Fäustchen, dass er beim Schreiben immer mehr in Rückstand geriet.
Er öffnete das Exposé, studierte es und sendete es zum linken Hilfsmonitor. Auf dem rechten Hilfsmonitor öffnete er ENCARTA TERRA, den weltbesten Wissensspeicher. Ab jetzt würde er recherchieren wie kein anderer. Mal sehen, wer hier als Fischfraß endete!
Farolt öffnete auf dem Hauptmonitor ein neues Dokument und begann zu schreiben wie ein Besessener. Nach vier Tagen und Nächten fast ohne Schlaf kippte er vom Stuhl und trat für die nächsten vierzehn Stunden weg.
Als er erwachte, aß er eine Kleinigkeit, setzte sich an die Tastatur und schrieb weiter, sich dabei endlich dem Rhythmus der anderen anpassend – acht Stunden Arbeit; vier für Nahrungsaufnahme, Toilettengänge, Leibesübungen und Schlaf; wieder acht Stunden Arbeit – Tag für Tag, Woche für Woche; Monat für Monat ...
Ignaz Olivares, der selbstgefällige Endfünfziger, wirkte seit fünf Monaten alles andere als hochmütig. Immer öfter raufte er sich das schüttere Haar und löschte das am Vortag Geschriebene. Fast ein Jahr war seit dem »Besuch« der Rothaupts vergangen, und im Minutentakt starrte er auf die feinen Fugen in der Betonwand links neben dem Bassin. Der nächste Todeskandidat?
Noch nie hatte in dieser Gruft jemand auch nur einen Absatz eines andern gelesen. Nun aber trat Farolt hinter Olivares’ Arbeitsplatz, las drei Zeilen ... und erstarrte. Mit fahrigen Fingern übernahm er ungefragt die Tastatur und öffnete Olivares’ letztes Exposé, stutzte. Olivares, ein gestandener Thriller-Autor, hatte ein Lustspiel zu schreiben. Wie er aus seinem hilflosen Versuch ersah, das erste Mal im Leben!
Farolts Traumgebilde stürzte zusammen wie ein Kartenhaus bei Windstärke vier. Da er mit MUSKARIN UND WOHL BEKOMMS mehr Erfolg gehabt hatte als Jendrich Drud, der beste unter den neun, mit einem Werk, hatte er sich sicher gefühlt.
Nun wurde ihm bewusst, dass die Rothaupt-Drillinge ihn jederzeit vernichten konnten. Sie brauchten nur ein oder zwei Romane aus der Zeit der Antike von ihm verlangen, und er würde vor lauter Recherchieren gar nicht zum Schreiben kommen und nach Olivares das nächste Opfer sein. Krimis – ja! Science-Fiction, Fantasy, Horror – zur Not. Historische Romane – aussichtslos. Ebenso gut konnte man von einem Opernstar verlangen, als Jodelkönig aufzutreten; singen sei ja singen. Nein, für die Vergangenheit hatte er so viel übrig wie ein Kannibale für Spinat. Und er hatte nie ein Hehl daraus gemacht. Den Rothaupts konnte seine Achillesferse durchaus bekannt sein!
Er starrte auf den Schieber im Bassin. Entsetzen schnürte ihm die Kehle zusammen. Die Knie wurden ihm weich, und er musste sich schnell auf Olivares’ Arbeitstisch niederlassen. Wie musste es ihm erst zumute sein!
Er sah nacktes Grauen in seinen Augen und strich ihm spontan über das schüttere Haar.
Olivares vergrub den Kopf in Farolts Schoß und begann zu schluchzen wie ein Kleinkind. Hilflos streichelte er ihn weiter.
In diesem Augenblick kam Justin Tacke aus seiner Wohnzelle zurück und sah diese Szene. Seine Bemerkungen dazu hätten sich selbst tatsächlich homosexuell Veranlagte nicht bieten lassen.
Und da geschah es! Geschlossen wie ein Mann, wie damals, als Farolt sich am Schieber vergriff, stürzten sich die anderen acht auf Justin Tacke und verprügelten ihn. Nie wieder würde er einen der ihren verspotten; jedenfalls nicht, solange er sich im gleichen Raum befand.
Stumm standen sie zu zehnt vor Tacke, der sich vergeblich bemühte, auf die Beine zu kommen, da hörten sie hinter sich etwas angsterregend knattern.
Niemand rührte sich, selbst Farolt unternahm keinen Angriff auf eine der Maskierten. Er wusste, dass ein Fluchtversuch – erst recht an diesem Tag – so gut wie aussichtslos war.
Die Dunkelbraune, Isolda, hielt alle in Schach, während ihre wie üblich tiefschwarz gekleidete Schwester Isalda Justin Tacke am Kragen packte und zu einem der herabgesenkten Mülltonnendeckel schleifte. Bald hockte er gefesselt auf ihm.
Nun wandte sich Isalda Ignaz Olivares zu. Der hatte sich vor Angst eingemacht, wehrte sich aber schon auf einem Mülltonnendeckel stehend mannhaft gegen das Fesseln der Hände. Isalda hatte ihre liebe Mühe mit ihm – schocken konnte sie ihn ja nicht, schließlich sollte er, um sie zu ergötzen, wie ein Äffchen um sein Leben klettern. Isolda musste mit eingreifen. Die eine stand nun links und die andere rechts von Olivares direkt am Beckenrand.
Farolt nickte Drud zu und deutete mit einem Kopfnicken auf Isalda. Dann nahm er Anlauf und stieß ihre Schwester ins Bassin.
Aufatmend wollte er sich in Positur stellen, um Isolda ins Wasser zurückzustoßen, sollte sie sich erdreisten, an den Beckenrand zu schwimmen, da wurde er angegriffen – von Isalda, die er längst im Becken wähnte. Mit einem Gesichtsausdruck, der jeden blutrünstigen Tiger in die Flucht gejagt hätte, starrte Farolt den regungslos dastehenden Versager Drud an und konnte dem zustoßenden Schocker nur ausweichen, indem er im letzten Moment ins Bassin hechtete.
Sofort betätigte Isalda die Fernbedienung. Dass es sich um die Taste handelte, welche die Mechanik des Schiebers auslöste, musste Farolt niemand sagen.
Er packte Isolda, die sich bereits am Beckenrand aus dem Wasser stemmte, am linken Knöchel und zog sie so heftig ins Bassin zurück, dass sie mit Kopf und Oberkörper untertauchte. Erschrocken stieß Isalda einen spitzen Schrei aus und ließ den Schieber zurückgleiten, aber ... zwei ausgehungerte Rote Piranhas waren schon durch das Rohr ins Becken geschossen. Als Isolda schreiend auftauchte, lag ihr linkes Jochbein bloß. Farolt, dem auf der rechten Seite ein gehöriges Stück der Beckenknochen durch das zerfetzte Fleisch ragte, hielt sie dennoch, seinen Schmerz verbeißend und Wasser tretend, von ihrer Schwester fern, die ihr hilfreich die Hand entgegenstreckte.
Jetzt endlich reagierte – Olivares. Der verängstigte Ignaz Olivares entriss Isalda die Fernbedienung und beförderte die sich Bückende mit einem kräftigen Fußtritt ins Wasser.
Den Elektroschocker mochte weder sie noch ihre Schwester inmitten des leitenden Wassers einsetzen; beide hatten während des Sturzes den Finger vom Abzug genommen.
Patt. Eine von ihnen hielt Farolt im Becken fest, und Olivares trat der anderen mit Genuss ins Gesicht, sobald sie sich aus dem Becken stemmen wollte.
Die zwei Piranhas schienen fast gesättigt zu sein und schnappten kaum noch zu, aber Farolt verlor längst aus zahlreichen Wunden Blut. Um die Rothaupts stand es nicht viel besser.
Machs kurz, dachte er, sah Olivares an und dann flehentlich auf den Schieber. Lass die andern Biester rein, damit endlich Schluss ist.
Und diesmal verstand auch Ignaz Olivares nur Bahnhof.
Nun geht endlich, dachte Farolt durch den hohen Blutverlust benommen. Eure Chance, hier heil rauszukommen, ist selbst mit der erbeuteten Fernbedienung minimal, aber wenn ihr jetzt nicht losmarschiert, habt ihr nicht mal diese! Vielleicht ist Isotta schon unterwegs und Radikes sieht uns zu.
Ein seltsamer Tod! Jeder andere sah sein Leben an sich vorüberziehen, und er machte sich Gedanken um das Schicksal der Gefährten. Anstatt Netti und von ihm aus Burkhart Suck noch einmal zu sehen, sah er ... Polizisten und Rettungskräfte nahen. Jetzt war es also soweit: Agonie! Im letzten Aufflammen erzeugte sein Geist unerfüllbare Wunschbilder ...
Farolt wurde schwarz vor Augen, das Wasser schlug über seinem Kopf zusammen. Bevor er noch ertrinken konnte, versagte sein Kreislauf.
»Achtung, er kommt zu sich. Und nur eine Viertelstunde! Sind Sie dann noch im Zimmer, werde ich un – ge – müt – lich!«
»Ich weiß, ich weiß, Oberschwester.«
Schritte entfernten sich.
Mit Mühe schlug Farolt die Augen auf ... und erblickte die schwergewichtige Amazone aus dem Kerker der Frauen.
»Hallo Rapunzel«, sprach er sie schmunzelnd an, »bist du auch tot?«
»Nein, aber du warst es: klinisch tot – bis man dich notdürftig flickte, mit Blutkonserven voll pumpte und reanimierte. Eine Minute später, und ...«
»Und wieso habe ich wieder eine Zunge?«
»Nun, der Ansatz war noch vorhanden, und die Ärzte ließen sie einfach nachwachsen. Wie bei allen anderen. He, lass das, du kannst nicht aufstehen, dazu bist du viel zu schwach.«
»Ich muss aber!«
»Wieso?«
»Um dir den Hintern zu versohlen!«
»Da hast du dir aber ein ordentliches Stück Arbeit vorgenommen. Bei mir im Zimmer liegt eine Magersüchtige, wie wärs erst mal damit? – Wieso überhaupt?«
»Na – wer entwendete mir denn die bitter nötige Fernbedienung und ...«
»Mit Hilfe dieser Fernbedienung entkamen zehn dir flüchtig bekannte Damen bei passender Gelegenheit und holten Hilfe!«, unterbrach sie ihn trocken. »Dies war der einzige Fehler, den die Rothaupt-Drillinge in all den Jahren begangen – sie vergaßen diese eine Fernbedienung, und das war ihr Untergang.
Wir konnten damals nicht mit dir gehen! Für jeden Gefangenen hatten die Rothaupts der Reihe nach eine Fluchtmöglichkeit inszeniert. Jedem hatte sich irgendwann unerwartet ein Durchgang geöffnet, jeder gelangte mit dem Lift an die Oberfläche, und jeder wurde von Doktor Radikes und seinem Gehilfen mehr oder minder sanft ins Reich der Tatsachen zurückgeholt. Wir wussten, dass du keine Chance hattest, dass jeder deiner Schritte von Isalda und Isolda Rothaupt sowie von Doktor Radikes überwacht wurde. Wir konnten nicht mit dir gehen! Es wäre sinnlos gewesen, und wir wären auf bestialische Weise dafür bestraft worden.
Wir haben einige Zeit gewartet, dass jemand das Ding abholte, was nicht der Fall war, sind losgezogen und ...