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„Best of Jürgen Müller“ – das sind die laut Lesermeinung besten SF-Storys und -Erzählungen des Autors aus folgenden Büchern:
„Gedanken sind frei“
„Das Bbk-P“
„Das erste Mal“
„Drei Augen im Hyperraum“
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„Best of Jürgen Müller“ – das sind die laut Lesermeinung besten SF-Storys und -Erzählungen des Autors aus folgenden Büchern:
„Gedanken sind frei“
„Das Bbk-P“
„Das erste Mal“
„Drei Augen im Hyperraum“
Korrektur gelesen und in neuer deutscher Rechtschreibung.
Er war überall, hier wie da, und alles zur gleichen Zeit. Und überall, hier wie da, zwickte es ihn, flogen gelbe Klumpen und blaue Kugeln an ihm vorbei oder mitten durch ihn hindurch. Zum Glück nur, dass er sie nicht hörte! Ein ständiges Zischen und Brausen, Summen und Brummen, das hätte ihm noch gefehlt!
Er hatte es satt. So etwas hatte es zur Zeit der Alten nicht gegeben! Nicht einmal in Ruhe schlafen konnte man mehr, von nachdenken gar nicht zu reden.
Mer Lybal richtete sich auf und schaute zornig nach vorn und hinten, links und rechts. Und da waren sie: Seltsame Schemen und Funken, diffuse Farbkleckse und Lichtschweife nahten von allen Seiten, unwirklich, wie nicht von dieser Welt, und änderten ständig Form und Farbe.
Es schienen immer mehr zu werden. Manche glitten mitten durch ihn hindurch, ohne dass er Schmerz verspürte oder auch nur den kleinsten Ruck. Sehr selten nur war ihm, als streifte ihn ein Hauch. Aber das war nur Einbildung. Und dennoch störten sie, konnte man wahnsinnig werden.
Das muss anders werden, sagte er sich. Wir müssen etwas dagegen unternehmen.
Über Gedanken verständigte er sich mit allen, die er kannte. Ihnen ging es ähnlich, alle waren sie am Ende ihrer Geduld. Jeder befragte jeden, und bald wussten sie, woher die Störenfriede kamen: Von draußen.
Nun – draußen war von ihnen noch niemand gewesen. Dieses Draußen brauchte keiner. Man konnte gut und gerne darauf verzichten, wenn es Schuld an der Misere war. Man konnte es abdichten.
Sie dichteten den Übergang nach draußen ab.
***
Buntgewürfelt waren die Insassen des Hyperraumbusses. Vom Rigel kamen sie und von der Wega, menschenähnlich oder völlig anders geartet, hatten sich wie er in Capellas Disco-Stadt amüsiert und wollten nun ins irdische Sonnensystem zur Mondausstellung. Auf ihn jedoch wartete morgen früh das Gymnasium. Aber wenigstens hatte er zuvor richtig abgetanzt.
Noch fünf Minuten bis zum Start. Utz Biernacki freute sich auf die Rückreise. Vom Hyperraum war er schon als Kind fasziniert gewesen. Seine Mutter hatte ihn oft mitgenommen, wenn sie Freunde oder Verwandte in anderen Sternsystemen besuchte. Schon mit vier hatte er sämtliche Typen von Hyperraumfahrzeugen anhand ihrer Erscheinungsformen in der fünften Dimension zu unterscheiden gelernt. Ohne sich je zu täuschen erkannte er in den gelblichen Klumpen, den blauen Kugeln und sonstige Formen den Typ bereits von fern, und wenn sie näher herankamen sogar den Hersteller und selbst das Baujahr. Nicht einmal diffuseste Farbkleckse und Lichtschweife vermochten ihn zu beirren, da konnten sie Form und Farbe wechseln, so oft sie nur wollten – er kannte sie alle. Kein Gefährt, dass die Abkürzung durch die höheren Dimensionen benutzte, war ihm unbekannt, nicht einmal die erst geplanten.
Noch zwei Minuten. Utz schnallte sich an. Von der hintersten Sitzbank aus betrachtete er versonnen all die verschiedenen Aliens vor ihm. Manche hätte man eher für einen Strauch gehalten oder einen Fels.
Noch drei Sekunden. Zwei. Null. Der Andruck presste ihn in die Lehne.
Ein Warnschrei des Piloten ertönte. Doch kam er zu spät. Im nächsten Augenblick wurden die Insassen in die Gurte geschleudert, als sei der Hyperraumbus gegen eine Mauer gerast. Alles fluchte, peitschte mit den Tentakeln, glomm feurig auf oder stöhnte.
Als Utz wieder Atem bekam, fuhr er mit den Händen unter den Sicherheitsgurt und massierte die schmerzende Brust. Ein Fehler des Piloten konnte es nicht gewesen sein – zu viele Systeme des Gefährts waren automatisiert. Also eine Panne. Und zwar eine gehörige: Sie waren noch draußen, im Einsteinschen Raum, der vierdimensionalen Raumzeit. Das war noch nie passiert. Utz glaubte kaum, dass der Pilot sie beheben konnte.
Und richtig: Schon strebte der Bus mit Unterlichtgeschwindigkeit zum nächsten Dock.
Nicht ein Platz war frei. Wie aufgefädelt schwebten vor ihnen Dutzende und Aberdutzende Raumbusse und -taxis. Und noch mehr nahten. Mit Unter-, Licht- und Überlichtgeschwindigkeit, so zuckelten sie heran. Utz sah alle Typen, die er kannte, und sogar noch ein paar neue, derzeit noch in Erprobung. Der Werkstattbesitzer schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
Bald wusste man: Allen war das Gleiche passiert, keiner war in den Hyperraum gelangt, nicht mit dem stärksten Antrieb und nicht mit der unübertrefflichsten Form. Jeder wollte der Erste sein, bestand auf Dringlichkeit oder versuchte den Werkstattbesitzer zu bestechen. Es herrschte Chaos.
„Sicher ein Herstellerfehler“, sagte der Pilot. „Er wird gleich gefunden sein. Entschuldigen Sie die kurze Verzögerung, verehrte Passagiere. Ein Modulaustausch, wahrscheinlich der String-Kupplung, und schon geht es los. Sie kommen rechtzeitig ins Sol-System.“
Ein Herstellerfehler? Utz schüttelte ungläubig den Kopf. Aber doch nicht überall zur gleichen Zeit, und schon gar nicht bei verschiedenen Herstellerfirmen – bei allen Herstellerfirmen, so weit er sehen konnte. Nein, der Pilot versuchte nur, sie zu beruhigen, glaubte selber nicht an das, was er sagte – so war das!
Vor Morgen kam er hier nicht weg, selbst wenn es nur an der String-Kupplung liegen sollte.
Utz legte die Hände in den Nacken und versuchte zu schlafen. Was weder er noch der Pilot noch der Werkstattleiter zu dieser Zeit wussten – überall in der Galaxis herrschte das gleiche Bild, war jedes Weltraumdock belagert, der Weg in den Hyperraum versperrt ... und blieb es auch.
***
Nichts zwickte ihn noch, flog an ihm vorbei oder mitten durch ihn hindurch. Einige Zeit spürte Mer Lybal Erschütterungen, als wollte jemand von draußen herein, dann wurde es ruhiger und ruhiger. Schließlich hörten sie ganz auf. Befriedigt versank er in Sinnen und Dösen. Endlich war die Welt wieder, wie von alters her gewohnt: ruhig und still
Vor 750 Millionen Jahren bricht der Superkontinent Rodinia auseinander.
Nach 150 Millionen Jahren Drift über die Weltmeere treffen die Landmassen wieder aufeinander, formen Pannotia.
Vor 500 Millionen Jahren bricht dessen Nordteil ab und versinkt. Aus dem Rest, Gondwana genannt, bilden sich die ersten Kontinente: Laurentia (Nordamerika), Baltica (Nordeuropa) und Avalonia (Großbritannien).
Vor 300 Millionen Jahren vereinen sich diese drei Kontinente zum Superkontinent Pangäa.
Vor 100 Millionen Jahren bricht auch dieser auseinander und spaltet sich in Eurasien, das bald in Asien und Europa zerbricht, in Nordamerika und Afrika, in Südamerika und Antarktika, in Australien und Indien.
Vor 50 Millionen Jahren rammt Afrika Europa, und Indien prallt auf Asien, die heutige Welt entsteht, in der sich die Kontinente aufeinander zu bewegen.
Das heißt: In 200 Millionen Jahren wird der nächste Superkontinent entstanden sein; alles Land findet wieder zusammen.
Und so wird es bleiben – Zusammenprall und Zerbrechen – bis ans Ende der Welt, denn die Erde ist rund. Auf ihr gibt es kein Entkommen einzelner Teile.
***
Peter Paul Prym verharrte mitten im Schritt, schnüffelte, zog die Nase kraus. Er schnäuzte sich, hustete, hielt den Atem an. Nichts half – es roch weiterhin durchdringend nach Parfüm. Fremdem Parfüm.
Komisch, dachte er, den Duft kenne ich. Doch woher?
Von Sandra stammte der ,Wohlgeruch‘ nicht, das war ihm klar – seine Frau setzte auf Dezenteres.
Dann kam ihm die Erleuchtung. Carmen, seine Jugendliebe! Sie hatte immer diesen Duft aufgelegt, wenn sie ins Kino gingen oder zum Tanz. War sie etwa hier gewesen, kürzlich und ohne dass er etwas davon wusste?
Wenn sie erneut vorbeischaute!
Der Gedanke durchfuhr Prym wie ein Blitz. Was würde, was musste Sandra unausweichlich denken; wie sollte er ihr erklären ...
Hastig öffnete er ein Fenster und die Tür, schaffte Durchzug, griff nach einer Zeitung, wedelte den Duft hinaus.
Die Luft wurde wieder besser. Prym schloss die Tür, ließ aber das Fenster gekippt, spähte aus nach Carmen. Man wusste nie; vielleicht kam sie zurück? Ihr war alles zuzutrauen, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Vielleicht wollte sie ihn nur besuchen, von alten Zeiten quatschen; vielleicht wollte sie seine Ehe zerstören, wollte ihn zurück. Sollte er Sandra von ihr erzählen oder abwarten, ob sich alles als harmlos herausstellte? Er konnte sich nicht entscheiden. Und harmlos war es schon jetzt nicht mehr: Wie nur war Carmen in seine Wohnung gelangt?
Was war das? Trotz der frischen Luft fühlte er sich auf einmal beengt; es war, als hielte ihn ein Catcher fest im Schwitzkasten, presste ihm die Kehle zu.
Sichtlich erschrocken rang Prym nach Atem. Was war nur los? War er krank, litt er gar an Platzangst?
Noch nie hatte ihn ein derartiges Gefühl übermannt, stets hatte er nur über die Leute gespottet, die es betraf, und jetzt war ihm, als sei das ganze Wohnzimmer prall gefüllt, drängten sich unsichtbare Geister um ihn, schoben und drückten.
Es wurde immer schlimmer – jetzt sah er die Geister bereits, durchscheinend und doch so schrecklich real! Und was das Allerschlimmste war – sie waren er!
Dutzendfach, hundertfach, so stand und lief und saß und lag und schwebte er, Peter Paul Prym, im Raum! Und alle starrten ihn ebenso geschockt an wie er sie, so als seien sie normal und er wäre der Geist!
Nun hörte er sie auch noch! So sehr er sich auch die Ohren rieb, mit den Fingern in den Gehörgängen bohrte – das vielfache gespenstige Murmeln um ihn blieb und ließ sich nicht verscheuchen. Oh – wie gern hätte er jetzt einen Hörsturz erfahren. Tinnitus konnte nicht schlimmer sein. Hatte ihm jemand Stoff ins Essen gemischt, oder was war los?
Als ginge es um sein Leben, schaltete Prym die Kompaktanlage ein, nur um diese Geräusche in seinem Hirn zu übertönen. Sein Lieblingssender vermeldete soeben:
„Sie haben noch nichts von Paralleluniversen gehört, lieber Zuhörer? Nun: Mit jeder Entscheidung, zu jeder Sekunde, spalten sich unzählige Parallelwelten von unserer Welt ab. Welten, in denen Sie einen anderen Beruf ergriffen haben, eine andere Frau geheiratet, im Lotto gewonnen, sich kürzlich nicht nur eine Schramme geholt, sondern das Bein gebrochen haben und so weiter. Wenn Sie jetzt zum Beispiel ein Buch zuschlagen, erschaffen Sie damit eine Welt mit einer Kopie von Ihnen, die es weiterliest, eine Parallelwelt. Und das geht so:
Das Universum, unser Universum, besteht aus zahllosen schwingenden Strings, die eine kosmische Symphonie spielen. Die Strings jedes Paralleluniversums aber spielen eine Variation dieser Symphonie; jedes Paralleluniversum kommt einem Instrument im kosmischen Orchester des Multiversums gleich.
Sekündlich trifften Millionen und Abermillionen dieser Parallelwelten durch den Hyperraum davon, den Raum, in dem unser Universum samt allen Paralleluniversen, Multiversum genannt, existiert –“
„So ein Scheiß“, knurrte Prym gereizt, „was geht das mich an, und wer zum Teufel glaubt so was? Wissenschaftler ... Und dafür bekommen die auch noch Geld, ein Schweinegeld. Es ist zum –“
Bis ins Innerste erschrocken brach er ab. Lag da drüben nicht seine Jugendliebe Carmen auf der Couch, als durchscheinender Geist zwar, aber doch nicht zu übersehen? Und wurde sie nicht von Sekunde zu Sekunde realer, so real und entsprechend gealtert, dass er jetzt tatsächlich glaubte, mit ihr verheiratet zu sein statt mit Sandra? Auch ihr durchdringendes Parfüm schwebte wieder im Raum. Allerdings mischte es sich mit einem anderen Duft. Und auch diesen kannte Prym nur allzu gut – so roch seine Kollegin Antonia, mit der er einmal ein Verhältnis gehabt hatte. Und saß Antonia nicht plötzlich als durchscheinender Geist in seinem Fernsehsessel, starrte verdutzt auf ihn und Carmen?
Halluzinationen, dachte er, ich muss sie bekämpfen, sie nicht ernst nehmen, mich ablenken.
Mit zittrigen Händen stellte er einen anderen Sender ein, einen mit Musik. Erleichtert atmete er auf, als der neuste Hit ertönte, und summte leise mit.
Es klang alles andere als fröhlich oder beschwingt. Doch zwei Lieder später waren fast alle Geister samt Antonia verschwunden, nur noch Carmen ruhte auf der Couch, und die sah völlig ungewohnt aus, irgendwie verformt. Aber wenigstens war das Engegefühl weg. Dafür aber war sein Körper unsagbar schwer geworden und noch schwerer zu handhaben. Er schaffte es kaum, einen Arm zu heben, so starr und fühllos war dieser. Auch die Beine schienen wie eingeschlafen. Es war, als gehörten die Gliedmaßen nicht zu ihm.
Als wäre er ein Golem, so stelzte Prym die paar Schritte zur Kompaktanlage und drehte mit Mühe das Multi-Jog-Rad die zwei Teilstriche zurück auf seinen Lieblingssender.
„Der Physiker Dr. Gutzeit nun“, sagte der Sprecher eben, „behauptet allen Ernstes, der Hyperraum sei endlich und wahrscheinlich rund und, obwohl Hort unseres Universums und unzähliger Paralleluniversen, seinerseits nur ein Teil eines übergeordneten Ganzen ...“
Hört das Gefasel denn niemals auf!, dachte Prym und suchte im nächsten Moment verzweifelt nach einem Halt.
Denn sein Körper vollführte nunmehr in einer Tour Bewegungen, die er sich so nicht vorgenommen hatte, unkoordiniert und abrupt.
Konnte man von einem Moment zum andern Spastiker werden?
Und erst die Bilder in seinem Kopf, die Bilder ...!
Es war nicht zum Aushalten: Frauenantlitze huschten durch seinen Geist, Hunderte, Tausende, sehr gut oder nur flüchtig bekannte, und doch wusste er von allen die Namen – Sandra Prym, Carmen Prym, Antonia Prym, Richarda Prym, Wibke Prym – ausnahmslos alle waren sie in dieser seiner Vorstellung seine Ehefrau.
Nun – bei Sandra stimmte das. Oder etwa bei wirklich allen? Es kam ihm jedenfalls so vor.
Und wie viele Kinder hatte er? Zwei? Oder Vier? Zweihundert mal vier? Oder vierhundert mal zwei? Er wusste es nicht. Es wurden nur immer mehr, an die er sich erinnerte; an ihre Geburt, ihren ersten Zahn, das erste Wort, als wäre er erst gestern dabei gewesen.
Verdammt noch mal: War er denn Vater von allen Kindern auf der Welt?
Er verlor den Verstand!
Nein! Nein! Nein! So leicht gab ein Peter Paul Prym nicht auf! Er rekapitulierte noch einmal in Gedanken das Wichtigste, das er über sich und die Frauen und über seine Kinder wusste:
Sandra war seine Frau! Nur sie! Und ihre Kinder hießen Maximilian und Marie und waren jetzt in der Schule. Carmen aber war seine Jugendliebe (und ihr Abbild auf der Couch nicht real). Und Antonia war eine Kollegin, mit der er vor Jahren ein flüchtiges Verhältnis gehabt hatte. Sie wohnte in Bonn – wie sollte sie hierher zu ihm in den Sessel kommen?
Weiter: Weder mit Carmen noch mit Antonia hatte er irgendwelche Kinder, auch wenn ihm dieser Wahnsinnsanfall jetzt etwas anderes vorgaukelte.
Den Tausenden anderen Frauen aber war er niemals näher gekommen, mehr als ein Gruß im Vorbeigehen war da nicht gewesen – im realen Leben.
In seiner Erinnerung jedoch hatte er sie alle geehelicht, war er noch mit ihnen verheiratet, gleichzeitig, jetzt, hatte mit jeder Kinder, eine unüberschaubare Anzahl Kinder – Laura und Leon mit Carmen, die eineiigen Zwillinge Jonas und Lukas mit Antonia, das verwöhnte Einzelkind Tobias mit Richarda ...
Er drehte durch, musste dringend zu einem Arzt, am besten zu einem Psychiater!
Zu welchem? Allein in seinem Viertel lebten 74 Stück!
Und 69 Bäcker, 47 Zahnärzte, 138 Lehrer ... Und alle kannte er mit Namen und von Angesicht zu Angesicht! Er war bei allen 47 Zahnärzten in Behandlung, und allein 56 der Lehrer waren seine Klassenlehrer gewesen!
Verrückt. So viele Häuser gab es hier doch gar nicht!
Dennoch musste er jetzt zu einem der Ärzte, es nutzte alles nichts. Er wusste nicht mehr, was gestern war, wusste nicht, ob er sich von Helen getrennt hatte oder sie sich von ihm, und wer zum Teufel Helen überhaupt war! Waren sie geschieden oder glücklich vereint und würden übernächstes Jahr Silberhochzeit feiern? Sollte er Caroline von der Kur abholen oder Eileen frische Blumen auf das Grab stellen? War er Witwer, Junggeselle oder doch verheiratet, und wenn ja, mit wem? In seinen Erinnerungen war er alles gleichzeitig, und das konnte beim besten Willen nicht stimmen, und doch schien ihm jede einzelne dieser falschen Erinnerungen so schrecklich echt! War er gestern mit seinen Söhnen im Kino gewesen oder mit seinen Töchtern im Eiscafé, und wenn, mit welchen Töchtern, mit welchen Söhnen? Er wusste nicht mehr, was es heute zu Mittag gegeben hatte, ob Kalbsbraten oder Wiener Schnitzel oder Spinat. Er wusste, dass er heute alle möglichen Gerichte gegessen hatte, und gleichzeitig war ihm klar, dass er heute nur einmal zu Mittag gespeist hat! Aber was? Welches Gericht nur von all den unzähligen, die er in Erinnerung hatte! Jetzt klingelte auch noch das Telefon. Sein Chef rief an, fragte, wo er bliebe, ob der Bericht fertig sei.
Welcher Bericht? Und wieso hatte sich sein Chef mit Künzel gemeldet und nicht mit Meiner? Oder Schubert. Oder Henßen? Wie viele Chefs hatte er denn? Fünfhundert? Fünfhunderttausend? Und welcher war der richtige? Und hatte er heute nicht eigentlich Urlaub?
Prym wusste gar nichts mehr.
Verrückt! Er war mit Sicherheit verrückt. Wo hatte er gleich hingewollt? Ach ja, zu einem Psychiater. Sein linkes Bein aber wollte da hin und sein rechtes dorthin ... Es war kein Vorwärtskommen, war so, als hätten mehrere Leute in seinem Hirn das Sagen!
Aufhören! Hörte das denn niemals auf?
Nichts Alkoholisches hatte er heute getrunken, und dennoch sah er sich nicht nur doppelt, nicht dreifach oder vierfach, sondern dreihundertfach, vierhundertfach ...
Und nicht nur bei ihm war das der Fall. Sämtliche Konturen verschwammen. Die Tapeten an den Wänden wechselten mit zwanzig Hertz Farbe und Muster; es schien nichts Beständiges mehr zu geben auf dieser Welt, die ihm mit einem Schlag so unfassbar geworden war.
Dem Fernsehsessel wuchsen halbmeterbreite Lehnen, der Kugelschreiber glich einem Brett, so viele identische Schreibgeräte schienen aneinander gereiht.
Auch Prym wurde immer breiter. Es schien schier unmöglich, dass er noch durch eine Tür passte, dennoch war die Passage kein Problem. Mit Mühe stellte er sich auf die Waage, und wog kein Kilo mehr als sonst. Wer sollte das begreifen?
Er kniff die Augen zusammen, er riss sie wieder auf, wischte sie verzweifelt aus, als hoffte er, dadurch endlich klar zu sehen.
Und endlich hatte er Erfolg, gab es ihn nur noch einmal!
Dafür lag drüben auf der Couch wirklich eine Frau, und es war nicht seine Frau, auch wenn sie ihre Nase hatte und den altbekannten Ehering am Finger trug. Im Übrigen hatte sie von vielen der ,Ehefrauen‘, an die er sich eben ,erinnert‘ hatte, etwas: von dieser die Ohrläppchen, von jener den Blick ...
Es war doch seine Frau; plötzlich wusste er es! Und sie hatte schon immer so ausgesehen, so und nicht anders! Wie hatte er sie nur nicht sofort erkennen können ...?
Was machte er hier? Worüber dachte er nach, verwunderte er sich? Weshalb nur hatte er zu Dr. Metz, dem einzigen Psychiater der Stadt, gewollt; er wusste den Grund nicht mehr. Und es war auch nicht wichtig – sein Verstand war sonnenklar: Sie hieß Sara, und sie hatten zusammen drei Kinder: Maximilian und Lukas und das Nesthäkchen Jonas.
Das Engegefühl war verschwunden, die wispernden Stimmen und das Mehrfachsehen; der Raum gehörte wieder ihm allein. Nichts bedrückte ihn noch, kein eingebildeter Geist und keine widersprüchlichen Erinnerungen. Alles in der Wohnung war ihm wohlbekannt. So hatte er sie einst eingerichtet, diese Tapete ausgewählt, diese Möbel gekauft.
Kurz stutzte er, als er in einen Spiegel sah – seine Gesichtszüge kamen ihm für einen Moment viel zu kantig vor, und war er nicht einen halben Kopf kleiner und nicht so muskulös? –, dann tat er es als Einbildung ab. Natürlich war das Spiegelbild, das ihm entgegenblickte, er. Wer denn sonst!
„Peer“, rief Sara aus. „Oh Gott, hatte ich eben einen scheußlichen Traum!“
Peer? Seit wann hieß er Peer? Ach ja, seit immer.
„Ist ja gut, mein Schatz“, sagte er. „Ich bin ja bei dir.“
Zärtlich nahm er sie in die Arme, tupfte ihr den kalten Angstschweiß ab und wusste nichts mehr von Antonia und Richarda und Wibke. Sandra allerdings war einmal seine Jugendliebe gewesen. Wieso dachte er an sie?
„Was ist passiert?“, fragte Sara.
„Ein Albtraum, wie du schon sagtest. Vergiss ihn; es ist vorbei. Warte, ich stelle dir deinen Lieblingssender ein; gleich geht es dir besser.“
Erneut drehte er am Multi-Jog-Rad. Ein kurzes Rauschen, und sanfte, beruhigende Laute erfüllten den Raum, wie sie seine Frau so sehr liebte. Seine Welt war es nicht, aber nun gut: Wenn sie auf Entspannungsmusik stand ... Hin und wieder tat er ihr den Gefallen, und stellte so einen Sender ein.
Welchen Sender Peer Prym in Zukunft aber auch hörte: Ein gewisser Dr. Gutzeit war nie wieder zu hören; es schien ihn nie gegeben zu haben. Falls er doch noch existierte, so hatte er gewiss einen anderen Beruf ergriffen, und falls er wider Erwarten doch Physiker geworden war, arbeitete er jetzt mit Sicherheit an einem anderen Thema. Und dennoch hatte er Recht gehabt, denn all die Myriaden Parallelwelten hatten im endlichen, runden Hyperraum, den er vorausgesagt hatte, ,eine Runde gedreht‘, waren aufeinander getroffen und hatten sich miteinander verbunden, vermischt, waren ineinander aufgegangen zu einem einzigen großen Ganzen: Milliarden Jahre hatten die Strings der Parallelwelten für sich musiziert, nun aber spielten alle ,Instrumente‘ des kosmischen Orchesters eine Melodie, waren all die unzähligen Variationen verstummt. Zur Zeit gab es nur eine Welt, ein einziges Universum.
Wieder einmal.
Der Vorführsaal des Computerherstellers ROTHAUPT besaß die Ausmaße einer Kathedrale, die Inneneinrichtung eines Raumkreuzers aus einem Science-Fiction-Film, der frühestens in fünf Jahren gedreht würde, und an Stelle der blattgoldumrahmten Orgelpfeifen einen kolossalen Flachmonitor der Marke BRILLANT. Einige Meter vor diesem stand statt eines Spieltisches mit Manualen, Registerzügen und Pedalen ein Rednerpult und darauf eine Computertastatur aus Marmor.
Trotz der Größe des Raums herrschte Gedränge: Aufgeregte Firmenangehörige, hektische TV-Teams und wuselige Journalisten kollidierten untereinander oder mit den Teleobjektiven der aufdringlichen Fotografenschar. Ein Teil der Schaulustigen, die sich den Zutritt zum Medienspektakel der diesjährigen Nominierungen der Anwärter für den Nobelpreis für Literatur leisten konnten, hatte die Absperrung rings ums opulente Kalte Büfett überwunden und schaffte zusätzliches Chaos. Seit die Computer-Riesen am Zuge waren, hatte dieser Literaturwettstreit auf höchster Ebene Kultstatus erlangt.
Das Stimmengewirr brach ab, als Dolf Rothaupt, agiler Seniorchef seiner marktdominierenden Firma, mit gewohnt forschem Schritt ans Rednerpult trat, dabei die Liste mit den Nominierungen schwenkend, die ihm als vorjährigem Gewinner eben vom Sprecher der achtzehn Juroren überreicht worden war. Seine Töchter Isolda, Isalda und Isotta – unzertrennliche Drillinge, wie es hieß, die bereits vor Jahren das Management des Familienunternehmens übernommen hatten – blieben wie immer unsichtbar im Hintergrund; wahrscheinlich waren sie abstoßend hässlich und scheuten aus diesem Grund das Licht der Öffentlichkeit.
„Nominiert wurden“, hob er mit rauer, energischer Stimme an, während zeitgleich die Namen mannshoch auf dem aufgehängten Flachmonitor erschienen, „erstens: TJOST – ein historischer Roman aus meiner Wunderschmiede. Zweitens: SIEBEN MASKEN UND KEIN GESICHT – ein Spionage-Thriller, erstellt von SEVENTEEN-CLICK-STORIES, dem nicht üblen Schreibcomputer meines ärgsten Kontrahenten EASYWRITER. Glückwunsch, Roy, auch wenn er nicht von Herzen kommt!“ Gelächter brandete auf und wieder ab. „Drittens: MUSKARIN UND WOHL BEKOMMS – ein Kriminalroman von FAROLT... – Pardauz, wer kennt einen Schreibcomputer FAROLT EHRENSING? Oder ist das die Herstellerfirma?“
„Hier ist jemand umgekippt!“, schallte es aus den Reihen der Zuschauer.
Ein Arzt öffnete dem schmächtigen, bleichen Burschen, der mit ungläubiger Miene dalag, den Hemdkragen und verabreichte ihm einige leichte Ohrfeigen. „Aufgewacht, junger Mann!“
„Was ...?“
„Und da sind wir wieder! Hm, auf den Hinterkopf gefallen, ja? Wo befinden Sie sich, wie heißen Sie?“
„Rothaupt-Anwesen ... Farolt Ehrensing. Warum fragen Sie?“
„Glück gehabt. Stehen Sie au...“ Der Arzt erstarrte. „Sie heißen wie ...?“ Dann wurde er beiseite gerissen und der junge Mann von der Journalistenmeute umzingelt. Die Fotografenschar bereitete in punkto Helligkeit minutenlang einem ausgewachsenen Tropengewitter Konkurrenz. Dolf Rothaupt indes musste von seinen Leibwächtern gestützt werden. Es schien, als hätte die Sensation, dass ein Mensch die Phalanx der Schreibcomputer in den TOP-TEN-BOOKS sprengte, dem Seniorchef einen Herzanfall beschert.
Farolt aber wurde gefeiert wie Georg Friedrich Händel bei der Aufführung der Feuerwerksmusik im Londoner Green Park.
Zwei Stunden später befand er sich in einem Park, mit zerschlagenem Gesicht im Gras, und zwei maskierte Frauen in Lederkluft traten ihm, bevor sie zwischen angrenzenden Büschen verschwanden, zum Abschied kräftig in den ungeschützten Leib.
„Sind Sie okay?“ Eine junge Frau, die in der Nähe am Rand eines Springbrunnens gesessen und Vanilleeis geschleckt hatte, war zu ihm geeilt und versuchte ihm aufzuhelfen.
Eine Frau? Ein Traum von Frau! Vamp, männermordende Sirene und unschuldiges Gör zugleich. Aphrodite, Kleopatra und Helena samt Loreley waren Dreck dagegen! Die Tritte in seinen Solarplexus waren nicht nötig gewesen, damit er atemlos vor ihr auf die Knie fiel!
„Danke, es geht schon wieder.“ Er fühlte sich ihr gegenüber schon nichtig genug; sie musste ihm nicht noch hoch helfen.
„Soll ich Sie nicht lieber zur Polizei fahren?“
„Ach wo, das war sicherlich nur eine Verwechslung, ein Einschüchterungsversuch an die falsche Adresse; ich habe weder Schulden noch Feinde.“
„Nun, besonders ernst scheinen die beiden es auch nicht gemeint haben, sonst wären Sie jetzt reif für die Intensivstation“, erwiderte sie so trocken, wie er nass war ... vom Blut, das noch immer von den aufgeplatzten Brauen über die Wangen lief.
Sie lief davon, und er hätte sie so gerne bis ans Ende seiner Tage an seiner Seite gehabt!
An seinen Seiten hatte er jetzt zwei bullige Türstehertypen, die ihn für eine Art „sehr unerwünschter Gast“ zu halten schienen. Weit und breit war keine Tür zu sehen, durch die sie ihn schmeißen konnten, trotzdem schmissen sie ihn wiederholt durch die Gegend und zwar konsequent einem schwarzen Lieferwagen mit dunklen Scheiben entgegen.
Die beiden Maskierten sprangen aus den Büschen hervor und schlugen die beiden Männer mit Pistolenknäufen nieder.
Eine seltsam anmutende Nobelkarosse hielt mit kreischenden Bremsen neben ihm. „Rein mit dir! Schnell, Mann!“ Eine schmalgliedrige Hand zog ihn auf den Beifahrersitz. „Scheint doch ernst zu sein. Nichts wie weg!“ Der Vamp, die Traumfrau, das unschuldige Gör – sein Schutzengel! – ließ den fremdartig wirkenden Luxuswagen davon preschen. Vereinzelte Schüsse knallten wirkungslos hinter ihnen her.
Farolt, der glaubte, in einen schlechten Film geraten zu sein, brauchte eine Weile, um wieder klar denken zu können – wenn solch rationales Tun neben dieser göttlichen Person überhaupt möglich war.
„Das ist Ihr Schlitten?“, brachte er endlich hervor, als er erkannte, worin er saß.
Hätte sie ihn in eine Rikscha gesetzt und diese selbst gezogen, wäre er nicht verblüffter gewesen als in dem Moment, da er bemerkte, dass sie einen robusten Porsche 911 Turbo fuhr, der sicherlich seine 80.000 gekostet hatte, aber vor vier Jahrzehnten, als er hergestellt wurde, und den sie eigenhändig steuerte! Ihrem Erscheinungsbild angemessen hatte er eine gepanzerte tauch- und kurzflugfähige Mercedes- oder BMW-Limousine mit dem neuesten elektronischen Schnickschnack erwartet. Ebenso standen ihr seiner Meinung nach zumindest drei Chauffeure zu, die sich im Dienst ablösten und dafür bezahlten, diese Engelsgleiche fahren zu dürfen. Bewegungslos saß er neben ihr. Ewig hätte er so mit ihr fahren können. Nie hätte er sich getraut, sie anzusprechen oder gar zu berühren. Diese Frau war dreitausend Nummern zu groß für ihn, konnte jeden haben. Jeden Adligen, jeden Prinzen dieser Welt. Wäre er ein Scheich – bedenkenlos würde er seine restlichen sechshundert Haupt- und Nebenfrauen köpfen lassen, sollte sie das leiseste Anzeichen eines diesbezüglichen Wunsches äußern.
„Warum sind die hinter dir her?“
„Keine Ahnung. Hab nichts ausgefressen ... aber vielleicht ein Doppelgänger von mir? Mhm ...“
„Und was machst du so? Erzähl mal!“
Und er erzählte.
„Du schreibst ...? Warum denn nur? Dafür gibts doch Programme!“
„Jetzt reden Sie wie Netti! Such dir eine anständige Arbeit ...“
„Netti? Deine Frau?“
„Nee, große Schwester. Bin solo. – Davon kann man nicht leben! Ein Glück, dass das unsere Eltern nicht erleben mussten – wir sind Waisen, müssen Sie wissen. Und erst mein Schwager, Burkhart Suck, den müssten Sie mal hören: Ibotensäure! Das Hauptgift des Fliegenpilzes ist die I – bo – ten – säu – re, nicht das Muskarin, wie früher fälschlicherweise angenommen! IBOTENSÄURE UND WOHL BEKOMMS muss es heißen! Schon zu dumm zum Recherchieren, aber will es mit Schreibcomputern aufnehmen. So ein Pragmatiker! Wäre nicht meine Schwester dazwischengegangen, er hätte mich aus dem Haus geworfen, meine Sachen zum Fenster raus und mich gleich hinterher, als er erfuhr, dass ich die Eintrittskarte zu den Rothaupts auf dem Schwarzmarkt erstanden habe. Kann sich keine eigene Bleibe leisten, aber achthundert Kröten für ein Scheiß-Billett ausgeben! Nichtsnutziger Schmarotzer! Ich! Tut so, als wäre die ausgebaute Bodenkammer, in der ich hausen darf, ein Appartement. Und ohne Karte oder Einladung kommt man ins streng bewachte Rothaupt-Anwesen nun mal nicht rein. Aber jetzt bin ich wer, hab ich ausgesorgt ... Augen wird der machen, wenn er mich morgen in den Schlagzeilen sieht oder heute schon im Fernsehen ... Und meine Schwester erst!“
„Dich? Im Fernsehen? Besonders telegen schaust du nicht aus.“
„Das nicht, aber ...“ Und er erzählte weiter, während sie durch die Stadt fuhren.
„Autsch, das klingt ernst. Ich glaube nicht, dass die Computer-Riesen besonders erfreut sind, dass du in ihre Domäne eingedrungen bist!“
„Sie meinen ...?“
„Genau. Beim nächsten Mal knallen die dich ab. Bis jetzt haben sie nur mit dir gespielt.“
Kalte Schauer überrieselten ihn, und er schaute in kurzen Abständen unauffällig in den Rückspiegel.
Irgendwann hielten sie vor dem Eingang einer Höhle. „So, hier bist du in Sicherheit, bis ich bei vertrauenswürdigen Leuten ein Versteck für dich aufgetrieben habe. Bis gleich.“
Nach ihrer Wiederkehr fuhren sie Meile um Meile und hielten endlich vor einem von hohen Steinmauern umsäumten verschlossenen Tor.
Während sie davor warteten, schaute sie ihn kopfschüttelnd an. „Und du schreibst wirklich selbst? Eigenhändig? Das, was du dir ausgedacht hast? Warum nur? Schon meine Schulaufsätze erledigte ein Schreibcomputer! Mein Vater war so bescheuert und hat mit zum zehnten Geburtstag anstelle des gewünschten 3-D-Heimkinos so ein billiges Schreibdings – POETRY ALPHA VERSION hieß es wohl – geschenkt. Ich hätte es ihm am liebsten an den Kopf geworfen.“
„Dieses ,Schreibding‘ war ein AUTO-AUTOR von ROTHAUPT. Man gibt ein Exposé ein und wartet ab. Bei SEVENTEEN-CLICK-STORIES von EASYWRITER hingegen bestimmt man mit einem Klick das Genre, mit dem zweiten die Länge des Werkes, mit dem dritten die Höhe der Spannung ... mit dem sechzehnten nur neu, und mit dem siebzehnten bestätigt man alles mit okay. Heraus kommen bei beiden Herstellern zum Beispiel Krimis von der bestechenden Güte einer Agatha Christie oder eines Georges Simenon, zwar erst nach einer Dreimonatsfrist, aber eben kein abgekupfertes Zeug, sondern noch nie da gewesene Zeilen voller Spannung, auf Wunsch ebenso stimmungsvolle Lyrik oder Kunstmärchen, und der Verlag bezahlt nur das bisschen Strom. Aber was hilft einem das, wenn man den Kopf voller Geschichten hat, die filmartig vor einem ablaufen, herauswollen und aufgeschrieben ... Was sagten Sie eben: Billig? Ein billiges Schreibding?“ Farolt verschluckte sich fast. „Menschenskind, das war der erste gängige AUTO-AUTOR überhaupt. Für das gleiche Geld hätte Ihr Vater eine Luxusjacht erwerben können! Oder etwas Schnittigeres als diesen klapprigen Schlitten aus der Jahrtausendwende.“
„Für das bisschen Plaste? Das Ding sah aus wie eine handelsübliche Tastatur mit Netzstecker, bloß einige Zentimeter höher gebaut. Was soll daran teuer gewesen sein?“
„Daran nichts. Aber darin! Nanotechnik en masse. Und sämtliche bis dato digitalisierte Bücher der Menschheit. Ein Großrechner vor achtzig Jahren hätte für die gleiche Leistung Hochhausformat besitzen müssen ... und wäre langsamer gewesen. Aber der Hauptgrund ist: Es war ein Testmodell. Einzelanfertigung, keine Serienware.“
„Was du alles weißt!“ Sie sah ihn schelmisch an. „Das konnte ich nicht wissen. Das Ding war kompakt; man konnte nirgends reingucken. Dann muss ich mich bei Paps wohl nachträglich bedanken. Apropos ,klappriger Schlitten‘: Wenn du glaubst, dieser guterhaltene Oldtimer sei billig ... Du nimmst die Schreibcomputer ja ganz schön in Schutz! Eigentlich müsstest du sie hassen.“
„Nun ja, alles hat seine Vor- und Nachteile. Nehmen Sie nur den Titel der heutigen ROTHAUPT-Nominierung: TJOST.“
„Wieso? Was ist damit?“
„Wissen Sie, was es bedeutet?“
„Was denn?“
„Ich musste selber erst nachfragen. Steht in jedem Wörterbuch, ist aber so veraltet, dass es kaum jemand kennt. Tjost – französisch: mittelalterlicher Reiterzweikampf mit scharfen Waffen. TJOST! Nach solch einem Titel sucht jeder Autor. Kurz und prägnant. Das ist schon die halbe Miete für den Erfolg. Ich meine, stellen Sie sich ein Buch Mittelalterlicher Reiterzweikampf mit scharfen Waffen vor; wer kauft das Ding? Und wenn ich mir nun bewusst mache, dass so ein AUTO-AUTOR diesen kurzen prägnanten Titel, nach dem ich garantiert eine halbe Stunde suchen muss, nach einigen Millisekunden findet und noch in der selben Sekunde weiß, ob es in der Menschheitsgeschichte jemals ein gleichlautendes Buch gab, werde ich schon etwas neidisch.“
Er verstummte, als sich hinter dem Tor Schritte näherten. Ein langgezogenes Knarren, und sie sahen eine vermummte Gestalt, die sie ziemlich nervös in eine halbverfallene Baracke am gegenüberliegenden Ende eines schutthaldenähnlichen Innenhofs geleitete. Innen rollte sie einen Teppich beiseite, klappte die darunter verborgene Falltür auf.
Seine bezaubernde Retterin trat hinzu und stieg ohne zu zaudern eine steile Stiege hinab in die Dunkelheit.
Licht flammte auf. „Komm runter, Bangbüxe! Man hat mich eingewiesen; ich weiß, wo es langgeht.“
Unten sah er sich überrascht um.
„Mach hin! Deine ,Freundinnen‘ können jeden Augenblick hier sein. Oder hältst du sie wirklich für so unbedarft, dass sie deine Spur verlieren – auf Dauer!“
„Du meinst, sie sind noch hinter mir her?“ Verängstigt trippelte er ihr nach.
Zirka alle fünfzig Meter trafen sie auf eine druck- und gassichere Stahltür; eine jede wurde von seiner Führerin nach dem Passieren sorgfältig geschlossen, während der Gang inzwischen aus Stahlbeton bestand. Alles hier wirkte irreal, die Stille, die Umgebung, die verursachten Geräusche ... Andere Lebewesen, die Zivilisation – das war Erinnerung ... ach was, hatte es nie gegeben! Es gab nur sie und ihn: Adam und Eva – wozu bedurfte es anderer Leute ...
Hinter dem fünften Schott drückte sie einen Knopf, und sofort bebte der Boden unter ihren Füßen. Farolt stieß einen unterdrückten Schrei aus.
„Keine Panik, ich habe nur die Baracke gesprengt. Auch der Gang bis zum ersten Schott dürfte eingestürzt sein. Jetzt sollen sie uns mal finden!“
Sie zog ihn in eine Kabine und befahl: „Ganz runter!“
Der sprachgesteuerte Hochleistungslift stürzte mit ihnen in die Tiefe. Haltsuchend drängte sie sich an ihn und er hätte sie am liebsten umfasst. Unten traten sie nicht etwa in den nächsten Gang hinaus, sondern in eine nicht mehr aktive Schleuse hinein. Als sich hinter ihnen hydraulisch ein Hauptschott schloss, begriff er endlich, dass sie sich Dutzende Geschosse tief in einem Atombunker aus dem vorigen Jahrhundert befanden.
Wenn seine Verfolger ihn nicht über einen Satelliten beobachtet oder einen Peilsender am Wagen seiner Retterin angebracht hatten, fand ihn hier höchstens der Teufel persönlich! Und mit dem Wagen war gewiss die vermummte Gestalt von vorhin verschwunden.
Das ideale Versteck. Todesstille herrschte hier, hinter den sicherlich mehrere Meter dicken Außenwänden. Kein Mensch schien diesen Ort während der letzten Jahrzehnte betreten zu haben. Niemand würde ihn hier aufspüren ...
„Hören Sie mal – wie sollen wir hier wieder rauskommen, wenn Sie den Eingang gesprengt ...“
Ihr Lachen brach sich geisterhaft im Gang. „Glaubst du wirklich, es gibt nur einen Zugang?“
„Ach so ...“
„Keine Sorge, die andern sind gut getarnt. Kein Mensch kommt hier herein oder heraus, ohne dass wir es wollen.“
Sie öffnete das nächste Schott, er trat in einen Raum von der Größe eines Trucks und prallte entsetzt zurück vor den zehn Männern darin.
Erst glaubte er, seine Häscher, durch einen anderen Eingang gekommen, erwarteten ihn hier, dann sah er, dass sie sich nicht um ihn kümmerten, sah, was sie taten: schreiben, an Computern, mit fiebrig-glänzenden Augen, ohne auch nur einmal aufzusehen. Erleichtert stieß er die angehaltene Luft aus.
„Deine Leidensgenossen. Wie ich von den Verbindungsleuten erfuhr, haben die Computer-Riesen jedem Autoren, der es auch nur auf den letzten Platz der TOP HUNDRED BOOKS schaffte, die gleiche ,Aufmerksamkeit‘ geschenkt. Die das überlebten wollen sich von hier aus rächen und die Computer in Grund und Boden schreiben. Halbirre, schlimmer als du ... schlafen kaum, tippen den ganzen Tag ...“
„Drud!“, schrie er auf. „Jendrich Drud! Er hat es vorletztes Jahr auf Rang 37 im Genre Kriminalroman gebracht – mein großes Vorbild ...“
„Und jetzt hast du ihn übertrumpft!“ Sie blickte spöttisch auf Drud, der die Tastatur bearbeitete, dass Pianistenhände dagegen selbst bei prestissimo wie in Slowmotion gewirkt hätten. „Hör mal, mein schüchterner Schreiberling – ich muss los. Tschüß.“ Sie gab ihm die Hand, trat zu einem kleinen Bassin am Ende des Raums, kaum drei mal vier Meter und bestimmt drei Meter tief, schöpfte etwas Wasser in die hohle Hand, blickte zur mit – ja was? – zur mit verbeulten Deckeln von Mülltonnen (nicht den heutigen Tonnen, die sich bei Nichtgebrauch automatisch im Gehsteig versenken, sondern den hässlichen runden Blechdingern, in welche die Leute in alten Filmen immer die Asche füllten) verzierten Decke hoch (einen Geschmack besaßen diese Bunkererbauer damals!) und trällerte: „Der Letzte bleibt oben, zehn müssen rein, einer wird schrein ...“
Ein Abzählreim hier unten, also wirklich, ziemlich deplaziert! Kein Wunder, dass einer der Männer zusammenzuckte.
„He, du ...“ – er wagte tatsächlich, sie zu duzen –, „wie heißt du?“
„Das wirst du früh genug erfahren ... bei unserem nächsten Treffen!“
Er würde sie wiedersehen! Farolt war der glücklichste Mensch auf und unter Erden.
***
Lustlos klickte Farolt auf START – ZUBEHÖR – SEITENMONITORE. Nun ein Druck auf die Cursor-Links-Taste: der zwei Zentimeter dicke, 40 Zentimeter hohe und 25 Zentimeter breite linke Seitenmonitor klappte im 135°-Winkel vom 50 Zentimeter breiten Hauptmonitor zur Seite weg. Eine umständliche Angelegenheit – Platz genug für zwei Zusatztasten für die direkte Steuerung der Seitenmonitore war auf der Tastatur allemal; aber allzu oft änderte man die Einstellung auch nicht. Für gewöhnlich blieben beide Hilfsmonitore in der 135°-Stellung – wie bei einem dreiteiligen Schlafzimmerspiegel des vorigen Jahrhunderts, in dem man sich gleichzeitig von vorn und von den Seiten betrachten konnte. Ein weiterer Druck, und der Seitenmonitor bildete eine Linie mit dem Hauptmonitor; dann widmete Farolt sich der Cursor-Rechts-Taste. Anschließend bearbeitete er beide Tasten gleichzeitig, in immer kürzer werdenden Abständen. Der Monitor wirkte nun wie eine gut gemästete und flügelgestutzte Gans beim verzweifelten Versuch, sich in die Luft zu erheben.
Schreiben tat er nichts mehr, seit über einem halben Jahr nicht mehr, als er stolz und glücklich ENDE unter der letzten Zeile seines neuesten Romans LEICHENSCHMAUS, GEPÖKELT tippte und im selben Moment die Arbeit von fünfeinhalb Monaten auf Nimmerwiedersehen vom Bildschirm verschwand – und von der Festplatte! Alles für die Katz. Erst hatte er es nicht wahrhaben wollen, dann hatte er sich in seiner Wohnzelle verbarrikadiert und geheult wie ein Neugeborenes nach dem ersten Klaps, bloß viel länger.
Nein! Schreiben tat er auf dieser Kiste nie wieder etwas ... Dafür schrieben die anderen wie üblich, wenn auch nicht mehr so stoisch wie sonst. Wieder und wieder starrten sie auf die Betonwand links neben dem Bassin. Seit Tagen! Irgendetwas lag in der Luft. Etwas Schreckliches. Längst hatten sie ihn mit ihrer unverhohlenen Furcht angesteckt. Der kleine Fahrige hinter ihm setzte sogar hin und wieder beim Schreiben aus, wirkte direkt panisch.
„Was ist hinter der Wand?“, schrie Farolt sein ehemaliges Idol an. „Ein neunköpfiger Drache, der just erwacht? Wieso habt ihr vor dem Angst; seid ihr Jungfrauen? Der Ausgang, ja? Ist dort ein Ausgang? Wo ist der Ausgang? In einer Toilette? In einer unserer Wohnzellen? Mach den Mund auf, Mann! Ein Jahr bin ich hier unten und hab noch kein Wort von euch gehört. Nicht mal untereinander sprecht ihr: acht Stunden schreiben, vier schlafen, wieder acht schreiben, wieder vier schlafen, ununterbrochen, seit ich hier bin und seit wer weiß wie vielen Jahren davor ... Ich hab euch so satt, ihr Zombies, ihr Maschinen, ihr ... Schreib-Maschinen! Aber wenn es nicht anders geht – vielleicht löst ja ein bisschen Wasser dein verklebtes Maul!“
Alle zehn waren krankhaft wasserscheu, hatten während des vergangenen Jahres nicht ein einziges Mal im Bassin gebadet, während er sich fast jeden Tag darin erfrischte. Nur einmal waren sie ins Wasser gesprungen. Er hatte damals im Becken knapp unterhalb der Wasserlinie einen halbquadratmetergroßen dunkelblauen Schieber entdeckt und einen möglichen Fluchtweg vermutet. Als er ihn beiseite wuchten wollte, waren alle zehn Mann zu ihm gesprungen, hatten ihn vom Schieber weggezerrt und anschließend grün und blau geschlagen.
Und richtig: Kaum hatte er Drud in den Schwitzkasten genommen, um ihn zum Bassin zu zerren, gebärdete dieser sich, als befände sich Schwefelsäure im Becken, und die anderen befreiten ihn aus der Umklammerung.
„Das hab ich gerne! Grüßen sich nicht mal, aber wenn sich die Gelegenheit ergibt, geht es gemeinsam auf einen Einzelnen. Feige Bande!“ Farolt zog sich aufgebracht in seine Wohnzelle zurück.
Drei mal zwei Meter maß sein Reich. Ein Lattenrost auf einem Stahlgerüst nahm den meisten Platz ein; gegenüber diesem „Bett“ standen ein Stuhl und ein Holztischchen; in einer Wandnische klaffte ein Speisenaufzug von einem so geringen Durchmesser auf, dass sich nicht mal ein Kind hineinzwängen könnte.
Er nahm sein Mittagessen heraus, wie immer reichlich, aber längst kalt geworden, da vernahm er plötzlich gedämpft eine weibliche Stimme.
Jubilierend stürzte er in den Arbeitsraum und rief: „Endlich kommst du! Und nun sag: Wie heißt du? Und dann bring mich hier raus – diese Schlägerinnen suchen mich längst nicht mehr!“ – was stimmte: Sie hatten ihn gefunden!
200.000-Volt-Elektroschocker in Hirschkäferform auf den rechten Handrücken geschnallt, in der Linken eine handliche Fernbedienung, trieben die Schlägerinnen aus dem Park die Schreibwütigen zum Bassinrand. Beide waren so wie letztes Jahr gekleidet. Die eine trug dunkelbraune Lederkluft und eine gleichfarbige Vollmaske aus weichem Nappaleder, wie sie in jedem SM-Shop erhältlich war, die andere das Gleiche in tiefstem Schwarz.
Farolt riskierte einen Angriff. Beim Versuch, der näherstehenden Dunkelbraunen den Schocker zu entreißen, berührte er aber dessen Kontaktlamellen und glitt paralysiert und mit entsetzlichen Schmerzen zu Boden.
Die Tiefschwarze hatte inzwischen auf ihre Fernbedienung gedrückt, und die Mülltonnendeckel an der Decke überm Wasserbecken senkten sich, mittig an langen Kletterstangen angeschweißt, langsam bis auf die Wasseroberfläche herab.
Jeder der zehn Bedrängten wurde auf einen Mülltonnendeckel getrieben. Mancher zitterte mehr als die mehrere Zentimeter langen und angsterregend knatternden Funkenentladungen zwischen den „Geweihenden“ der „Selbstschutzgeräte“.
Die Dunkelbraune hielt alle in Schach, während die andere die Männer der Reihe nach mit den Rücken an die Stangen zerrte und ihre Hände hinter diesen in Handschellen steckte. Danach zerrten sie Farolt zum Bassin und verfuhren mit ihm ebenso.
Ein erneuter Druck auf eine Fernbedienung, und alle Stangen außer der seinen senkten sich weiter; die Mülltonnendeckel stellten sich leicht schräg und versanken schließlich. Bald standen die zehn Männer bis zum Hals im Wasser.
„Aufhören! Ihr könnt sie doch nicht einfach ersäufen!“, brüllte Farolt aus Leibeskräften.
Als hätte er ihnen etwas vorzuschreiben, folgte der nächste Tastendruck, und die Stangen verharrten auf der Stelle. Die Männer aber mussten bereits den Kopf in den Nacken legen, um wenigstens durch die Nase atmen zu können.
Die Dunkelbraune zog ein Schriftstück unter ihrer Kleidung hervor. „Achtung!“, drang schneidend scharf ihre Stimme hinter der geschlossenen Mundklappe hervor. „Die Platzierungen des letzten Jahres sind: Drud, Jendrich: Platz elf, vierundzwanzig, vierzig und dreiundsiebzig der TOP HUNDRED BOOKS des Genres Krimanalroman. Durchschnitt: runde vierunddreißig. Platz eins. Hoch mit dir!“
Drud stieg wieder über die Wasseroberfläche auf.
Farolt staunte und glaubte zu begreifen: Drud war mit vier Texten in den TOP HUNDRED vertreten und wurde von angeheuerten Killern eines Computer-Riesen dafür bestraft. Mit Sicherheit befand sich seine Nase beim nächsten Abtauchen nicht über der Wasseroberfläche.
Mit den nächsten acht wurde ebenso verfahren. Alle hatten sie es mindestens dreimal in eine Genre-Liste der Top Hundred geschafft, bloß er, Farolt, wurde verschont, weil er nichts fertig geschrieben hatte. Nur – der kleine Fahrige, Florin Tandecki, Schlechtplatziertester hinsichtlich der Durchschnittswerte, wurde bis zur Nase im Bassin belassen! Seltsam wimmernde Töne ausstoßend zog er die Knie an und stemmte sich rücklings an der Kletterstange hoch. Ein weiterer Tastendruck der Tiefschwarzen: unter Wasser glitt der dunkelblaue Schieber beiseite – unzählige etwa einen Viertelmeter lange silbriggoldene und gelbfarbene Fische mit rötlichen Flossen schossen auf Tandecki zu, der sich an der Stange bis etwa einen Meter über dem Wasserspiegel emporgearbeitet hatte.
Seine Hände waren nass, die Handschellen störten beim Festklammern an der Kletterstange, die Muskeln erlahmten. Immer wieder rutschte er tiefer, stemmte sich erneut empor. Dann geriet er bis zu den Knöcheln ins Bassin. Als er mit einem Wehlaut die Beine anzog, fehlten ihm zwei Zehen; das Wasser färbte sich rot. Beim nächsten Abgleiten tauchte er bis zu den Knien ein, und ganze Fleischstücke wurden ihm aus den Waden gerissen. Kraftlos, mit irrem Blick, versuchte er sich erneut mit den verletzten Füßen hochzustemmen, dann ließ er los.
Als das Wasser aufhörte zu brodeln, hatte jeder Rote Piranha im Gegensatz zu Farolt einen wohlgefüllten Magen, und das, was an der wieder hochgleitenden Stange von Florin Tandecki übrig war, wäre, noch etwas ab- und ausgeschabt und anschließend aufrecht auf einem kippsicheren, 5-strahligen Rollenstativ in verstärkter Ausführung befestigt, in keinem Biologiekabinett sonderlich aufgefallen.
Ihre Peiniger befreiten sie nacheinander von den Handschellen, und mit steifen Gliedern traten die Männer der Reihe nach vom Mülltonnendeckel auf sicheren Boden.
Gespannt beobachtete Farolt die Gefährten. Je fünf wehrlose Männer gegen eine Bewaffnete, das konnte gelingen. Kampfbereit spannte er die Muskeln. Und erstarrte, als Ignaz Olivares, ein selbstgefälliger Endfünfziger, an seinen Platz zurücktrottete und ... weitertippte. Als hätten sie soeben eine zehnminütige Pausengymnastik absolviert, taten es ihm die anderen gleich.
Kurz entschlossen entriss Farolt der Tiefschwarzen die Fernbedienung, schleuderte die Überraschte gegen die Dunkelbraune, sodass beide zu Boden gingen, und zertrat die Fernbedienung der Letzteren. Hastig drückte er der Reihe nach die Tasten. Die Mülltonnendeckel schwebten gen Decke, das Wasser im Bassin wurde erneuert, die Tiefschwarze rappelte sich auf, die Piranhas wurden von einem engmaschigen Stahlnetz in ein Rohr getrieben, vor das anschließend der Schieber glitt, die Dunkelbraune kam auf die Beine, die Beleuchtung erlosch und flammte wieder auf, eine Geheimtür schwang auf. Er hechtete durch sie hindurch, drückte geistesgegenwärtig noch einmal die letzte Taste, und die Geheimtür glitt, wie erhofft, lediglich durch feinste Fugen im Stahlbetongang erkennbar, zu.
Der Gang führte nach beiden Seiten. Links, einen Steinwurf entfernt, ein Schott, rechts ebenso. Keine Zeit zum Knobeln – nach rechts gerannt, das Schott geöffnet. Weitere Schotte. Ein Hochleistungslift. Fußspuren! Der Hochleistungslift. Hier hatte er mit ihr gestanden. Wie sehnte er sich nach ihr!
„Ganz hoch!“, rief er. Der Andruck stauchte ihn fast zusammen.
Noch während des Aufstiegs griff er sich an die Stirn – der Ausgang war ja verschüttet – und widerrief. „Eine Etage tiefer!“
Der Lift bremste jäh ab und sauste nach unten. Hielt. Farolt sprang hinaus ... und stand im wohlbekannten Stahlbetongang auf der untersten Ebene.
„Scheißding!“
Er hetzte am Gemeinschaftskerker vorbei zum anderen Ende des Gangs. Keine Tür, kein Schott, keine Treppe, kein Lift. Nicht mal ein Schild mit der Aufschrift: SACKGASSE!
Sein Puls raste, sein Atem pfiff. Er rannte wieder nach rechts, zurück zum Hochleistungslift, dabei ängstlich kontrollierend, ob die Geheimtür noch fest verschlossen war, und bemerkte erstaunt, dass immer in der Mitte zwischen zwei Schotten diese feinen Fugen erkennbar waren. Weitere Kerker? Er zwang sich, vorm letzten Schott stehen zu bleiben, kehrte zögernd zur liftnahesten Geheimtür zurück und streckte ihr mit flatternden Händen die Fernbedienung entgegen.
Und wenn die Kerker untereinander verbunden waren und die Killerinnen da drin auf ihn warteten?
Egal, er musste einen Weg an die Oberfläche finden.
Bang drückte Farolt auf die betreffende Taste. Auch diese Geheimtür schwang auf und gab den Blick frei auf ... zehn Frauen, die mit fiebrig-glänzenden Augen und ohne aufzublicken Computertastaturen bearbeiteten, als hinge ihr Leben davon ab.
„He, alles zu mir“, rief Farolt, hocherfreut, Bundesgenossinnen anstatt der Tiefschwarzen und der Dunkelbraunen vorzufinden, „ich bringe euch raus hier! Irgendwie werden wir mit dem Lift schon klarkommen. Kinderspiel!“
Vielleicht. Nur dass niemand reagierte.
Er trat in den Raum und tippte die Nächstsitzende an. „Hör mal –“
Zwei der Frauen standen auf. Die eine, ein Mannweib von bestimmt zweihundertvierzig Pfund, mit Oberschenkeln wie sein Brustumfang, schritt stumm auf ihn zu und hob ihn einarmig glatte zehn Zentimeter vom Fußboden empor. Wehrlos baumelten ihm die Arme schlaff am Körper. Sie schien über die Vierzig hinaus zu sein, das breite Gesicht war verhärmt und die Figur – nun ja. Und dennoch: Stünde in diesem Augenblick seine göttliche Retterin neben ihr, er könnte sich nur schwer entscheiden. Allein ihr Dutt war einzigartig; gelöst musste ihr blauschwarzes Haar fast bis zum Boden reichen.
Ohne sich seines Tuns bewusst zu werden, löste er den Haarknoten und sah die augenblicklich bis zu den Knien Umwallte fassungslos an.
Der Anflug eines Lächelns verschönte ihre herben Züge, dann trug sie ihn sacht zur Geheimtür zurück.
Die zweite Frau entwendete ihm blitzschnell die Fernbedienung und drückte, nachdem ihn seine Trägerin im gleichen Moment zurück in den Gang gestoßen hatte, die betreffende Taste. Von innen!
Eine Schrecksekunde, danach blieb ihm nichts mehr, als verzweifelt gegen die Tür zu hämmern, bis ihm die Fäuste bluteten.
Er schlurfte in den Lift und hauchte tonlos: „Raus ...“
„Sprechen Sie bitte laut und deutlich!“
„Ich will raus, ganz nach oben, an die Luft, in die Freiheit!“, schrie er. „Laut genug jetzt?“
Scheinbar doch. Der Lift sauste aufwärts. Hielt. Die Kabinentür glitt auf. Farolt, der fest damit gerechnet hatte, im verschütteten Gang zu stehen, glaubte zu träumen. Einen wundervollen Traum, den besten, den er je hatte. Mit einem sonnenhellen großen Zimmer, großen Fenstern, einem grünen Park. Bäumen. Wolken. So sahen die also aus; er hatte es fast vergessen. Der Garten Eden – nach der erlebten einjährigen Hölle da unten.
Der verschüttete Gang war nicht die oberste Plattform, sondern befand sich eine Etage unter der Erde. Das musste einem doch gesagt werden!
Er presste die Nase an eine Fensterscheibe und schaute selig hinaus. Zuckte zurück. Diese Skulptur? Ja, war das nicht ...? Ungläubig schaute er in die Runde. Tatsächlich! Er befand sich in einem Gebäude inmitten des gutbewachten Rothaupt-Anwesens! Wie sollte er hier je lebend hinausgelangen?
Pa – ra – dox! Da ließ gewiss auch dieser Computer-Riese auf der ganzen Welt nach ihm suchen, dabei befand er sich die ganze Zeit ein paar hundert Meter unterm Firmensitz!
Der Geheimverband der „Computer-in-Grund-und-Boden-Schreiber“ war bei der Versteckwahl genial vorgegangen. Doch wie gelangte er ungesehen ins Freie?
Immer schön eins nach dem andern! Erst aus diesem Raum, dann aus diesem Gebäude, dann vom Gelände, anschließend zur Polizei. Und danach heim. Netti! Wie freute er sich auf das Wiedersehen. Selbst diesen Burkhart Suck würde er freudeschluchzend umarmen.
Farolt öffnete die nächste Tür ... und stürzte mit dem Oberkörper auf die Platte eines mobilen Operationstisches, den ein untersetzter Pfleger im gleichen Moment ins Zimmer schieben wollte.
„Und da ist ja unser Patient! Nicht so stürmisch, wir wollen uns doch nicht die Beine brechen – die bevorstehende Entfernung der Lingua reicht vorerst“, rief fröhlich der nachfolgende Arzt. „Nehmen Sie bitte auf der Operationstischplatte die Rückenlage ein und legen Sie den Kopf in die U-förmige Kalotte. Das weitere machen wir.“
Eine Verwechslung! Wenn er aber mitspielte, den Kopf zur Seite legte, gelangte er vielleicht unerkannt an den Wachen und Pförtnern vorbei. Im Krankenhaus konnte er dann mit Leichtigkeit entweichen. „Entfernung der Lingua“ – das klang so harmlos wie „Blinddarmentfernung“. Spitze! Endlich klappte mal was. Aufatmend tat Farolt, wie ihm geheißen.
Der Pfleger schob ihm Beinrollen unter die Kniekehlen, fixierte ihm Hände und Füße mit gepolsterten Handfesseln und sagte, zum Arzt gewandt: „Fertig. Künstliches Koma?“
„Ja. Für drei, vier Tage.“
„He!“, fuhr Farolt auf. „Sie können mich doch nicht ... Und dann noch hier!“
„Aber, aber“, frotzelte der Arzt, „haben wir schon vergessen, dass wir nicht transportfähig sind? Die nächsten vierzehn Tage verbringen wir in diesem Zimmer.“
„Hören Sie ...“ Heilfroh, dass ein Chirurg und kein Psychiater vor ihm stand, beschloss Farolt, alles auf eine Karte zu setzen. „Ich muss bei Bewusstsein bleiben, und ich muss von hier weg, Hilfe holen, Kripo, Feuerwehr ... Da unten, wenn Sie mit diesem Lift dort –“
„Dass die, sobald sie unters Messer sollen, immer so das Flattern kriegen“, stöhnte der Pfleger.
Farolt bäumte sich in seinen Fesseln auf.
„Warten Sie“, bestimmte der Arzt. „Das klingt ernst. Was ist da unten?“
„Neunzehn Gefangene, mindestens. Zwei von mir eingesperrte Killer. Ein kürzlich Ermordeter.“
„Zugekifft schaut der eigentlich nicht aus“, kommentierte der Pfleger nach einem Blick in Farolts Pupillen. „Vielleicht zu viel Krimis oder überschäumende Fantasie ...“
„Nachschauen kostet ja nichts.“
„Sie glauben mir, Doktor ...?“
„Radikes. Doktor Radikes. Aber sicher, sicher ...“
„Aber wir dürfen keine Zeit verlieren. Es ist eine Notoperation!“
„Die Viertelstunde wird er schon überleben.“
Mit widerstrebender Miene schob der Pfleger den mobilen OP-Tisch zum Lift.
„Aber Sie können mich doch nicht noch einmal in diese Gruft ...“
„Überzeugen muss ich mich schon“, meinte Doktor Radikes unnachgiebig, „oder denken Sie, ich will mich bei der Polizei blamieren? Warten Sie, ich mache es Ihnen etwas bequemer.“ Während schon der Lift abwärts sauste, zückte er eine Infrarot-Fernbedienung und senkte die Beinplatten der achtfach unterteilten Liegefläche ab und ließ Kopf- und Rückenplatte empor surren, sodass Farolt sich eher wie in einem bequemen Sessel vorkam.
Unten strebte der Doktor unbeirrt von Schott zu Schott.
„Stopp! Da sind die Fugen. Hinter dieser Geheimtür ist der Kerker.“
„Nun, dann wollen wir mal Ihre Angaben überprüfen“ Gelassen richtete Doktor Radikes die Fernbedienung des OP-Tisches auf das Hindernis.
Farolt setzte das Herz aus. „He, Sie können doch nicht mit Ihrer –“
„Womit sonst?“, parierte der Arzt. „Die Fernbedienung, die Sie erbeuteten, wurde Ihnen ja wenig später in einem Nebenkerker entwendet!“
„Jaaah ... He, woher wissen Sie das?“
Da schwang die Geheimtür auf! Mit schreckgeweiteten Augen starrte Farolt auf die Killerinnen, die seelenruhig vor seinem Computer saßen und sich auf dem vollständig zu einem 40 mal 100 Zentimeter Breitbild aufgeklappten Monitor eine Zeitlupenaufnahme seines Hinauswurfes aus dem Kerker der Frauen ansahen. Feine Lachfältchen hinter den Augenaussparungen der Vollmasken ließen vermuten, dass sie sich köstlich amüsierten.
„Und da ist ja unser Patient“, sprach die Tiefschwarze. „Entfernung der Lingua. Beginnen Sie, Doktor Radikes!“
Willenlos, nichts begreifend, ließ Farolt die Betäubung geschehen und reagierte kaum, als Doktor Radikes minutenlang mit einem Laser in seinem Rachen herumfuhrwerkte.
„Geschafft“, konstatierte der Arzt.
Erst als etwas Längliches, Rötliches, Blutiges aus seinem Mund in ein Gefäß klatschte, explodierten die Worte „Linguistik“ und „Linguallaut“ in Farolts Hirn. Dieser verschlagene Teufel hatte ihm die Zunge herausgetrennt, schmerz- und fast blutlos, einfach so!
„Wir danken, Doktor“, sagte die Dunkelbraune und deutete auf die Reste von Florin Tandecki. „Und befreien Sie uns bitte von diesem Anblick.“
„Wird gemacht, und wie immer rückstandsfrei. – Ach“, Radikes griff in die Innentasche seines Kittels, „hier sind die angeforderten Ersatzfernbedienungen. Meine Damen, ich habe die Ehre!“
Inzwischen hatte der Pfleger Farolt von den Fesseln befreit und auf einen Stuhl gesetzt, sich Gummihandschuhe übergestreift und mit gerümpfter Nase Tandeckis Überreste auf den mobilen OP-Tisch gehievt. Nun schob er ihn auf die geöffnete Geheimtür zu.
Im gleichen Moment kam draußen im Gang eine lang herbeigesehnte Göttin herangeeilt – sein Schutzengel! ABER DOCH NICHT JETZT! Hilflos machte Farolt kleine, scheuchende Gesten mit der Hand: Verschwinde! Bring dich in Sicherheit! Wenn sie einen Sprint einlegte, konnte sie vielleicht noch entkommen.
Davon unbeirrt stürmte sie am Pfleger vorbei in den Kerker. „Isolda! Isalda! Ihr seid spät dran: Justin Tacke verlässt gleich den Vorführsaal!“
„Der Spinner wollte fliehen, Isotta“, erklärte ihr Isalda, die Tiefschwarze.
„Ts-ts-ts! Was soll der Unfug“, höhnte Isotta Rothaupt. „Ich sagte dir doch, niemand kommt hier rein oder raus, ohne dass wir es wollen!“
Ja, war er denn von Alzheimer befallen? Sofort als er sah, was die beiden Maskierten mit ihnen anstellten, hätte er an den geträllerten „Abzählreim“ seines „Schutzengels“ denken und sie mit dem Geschehen in Verbindung bringen müssen. Und diesem Scheusal hatte er vertraut! ,Echt? Das konnte ich nicht wissen. Das Ding war kompakt; man konnte nirgends reingucken ...‘ Von wegen! Wer wusste denn besser über Schreibcomputer Bescheid als sie. Oh Mann, hatte sie ihn zum Narren gehalten! Lautstark ließ Farolt seiner Entrüstung freien Lauf – was ohne Zunge ziemlich schwierig und kaum verständlich war.
„SCHWEIG!“, herrschte ihn Isotta an. „In diesem Raum und auch anderswo kommt kein Laut mehr über deine Lippen! Verstanden!“