Der Fluch des Gnomen - Jürgen Müller - E-Book

Der Fluch des Gnomen E-Book

Jürgen Müller

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Beschreibung

Fantasyroman


Das Coverbild malte Nicole Fabert.

„In seinem mittlerweile zweiten Roman schildert Jürgen Müller die Geschichte der beiden Zwillinge Naruleh und Jorele - im Stile eines Märchen, gespickt mit humorvollen Wendungen und Charakteren, mit im Laufe der Erzählung härter werdenden Umständen und ständiger Aufrechterhaltung der Hoffnung, das alles gut ausgeht. Der Fluch des Gnomen ist zwar meiner Meinung nach nicht unbedingt als Einschlaflektüre für Kinder gedacht, dafür sind einerseits manche Szenen zu hart und andere zu komplex, jedoch haben sicher ältere Kinder ihre Freude dran. Erwachsene, die sich ihr Kindsein im Herzen behalten haben, werden neben vergnüglichen, für sie gedachten Einfällen, durch den Roman Jahrzehnte zurück versetzt. Auch für Nicht-Fantasy-Geübte ein begeisterungsfähiger Roman.“

(aus einer Rezension von Jürgen Eglseer)

Der Fluch des Gnomen ist ein interessanter Fantasyroman mit teilweise wunderbaren Ideen und verrückten Wendungen. Und damit der Humor nicht zu kurz kommt sorgt der Drache mit seinen drei Köpfen Links, Mitte und Rechts oder der Dämon Vielmaul.“

(aus einer Rezension von Rupert Schwarz)

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Jürgen Müller

Der Fluch des Gnomen

Fantasy-Roman

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Zum Buch

Fantasyroman in drei Teilen: Invasion im Feenreich – Dämon Vielmauls maritime Phase – Mundlos.

 

Das Coverbild malte Nicole Fabert.

1. INVASION IM FEENREICH

Als wollten sie das drohende Unheil der kommenden Wochen ankündigen, trieben zwischen dem Drachengebirge und dem Düsteren Reich dunkle Wolkenberge dahin.

Fernab auf der Sonnenlichtung blickten die Elfenschwestern Sillronn und Krisand, kleingewachsen und zierlich, kaum größer als Sillronns Töchter Naruleh und Jorele, mit schrägstehenden blauen Katzenaugen ein letztes Mal zu einem hellen, freundlichen Himmel empor. Mit einem bedauernden Achselzucken betrat Sillronn wie jeden Tag die Bockwindmühle.

»Komm! Wir helfen Mutti.« Naruleh zog Jorele ins Innere des Bauwerks, während Krisand gespannt davor wartete.

Rauschend nahmen die Flügel Fahrt auf.

»Faszinierend!« Mit aufgerissenem Mund beobachtete Krisand, wie der Seilzug einen Sack Zauberkorn empor hievte. »Menschenwerk! Wer soll es begreifen?«

Sie schnalzte mit der Zunge. Magisch knisternd hob der nächste Sack von alleine ab und überholte den Vorgänger.

Einige Zeit später koppelte Sillronn im zweiten Obergeschoss den Aufzug von der Königswelle ab und schüttete die letzten Körner in den Mahltrichter. Sie rutschten hinab zum Steinboden, wo der Rüttelschuh sie mit mühlentypischem Klappern in das Mahlsteingehäuse beförderte.

Leichtfüßig sprang Sillronn hinunter zum Mehlboden und half Krisand beim Abfüllen des gemahlenen Feenstaubs.

Auch ihre Töchter waren dort am Werken. Die Wangen der Zwillinge glühten vor Eifer. Geschickt tupften sie sämtliche neben dem Holzbottich herabgesunkenen Staubkörnchen vom Fußboden auf.

»Das wären sieben Scheffel«, meinte Sillronn, als über ihnen ein Glöckchenläuten verkündete, das gesamte Korn sei gemahlen. »Die Gäste nahen. Lassen wir das vom Sichter aussortierte Schrot durchlaufen, das ergibt noch drei Scheffel, und machen Feierabend. Dann ist für die Festwoche Mahlpause angesagt. Zehn Scheffel: Damit kommst du doch ein Jahr hin, Krisand?«

»Zehn Scheffel? So viel kann ich nie verzaubern!«

Erneut klapperte der Rüttelschuh, stäubte der Feenstaub auf den Mehlboden, läutete das Glöckchen.

Eine beiläufige Handbewegung Sillronns: Magie reffte die Segel der vier Windmühlenflügel; eisenbeschlagene Bremsbacken glitten zwischen die halbmeterlangen Eichenholzzähne des Kammrades. Ein letztes Ächzen; die Mühle stand still.

Sillronn trat an ein Fensterchen. Schweiß rann an ihren hohen Wangen herab, als sie sich erschöpft gegen das Mauerwerk lehnte. Mit einer Verbeugung dankte sie dem Gott des Windes.

»Menschen haben eine seltsame Vorstellung von uns. Angeblich tanzen, singen und musizieren wir den ganzen Tag, verführen ihre Männer und treiben Schabernack. Schön wärs.«

»Und ›Tarnkappen‹ wären es, die uns die Unsichtbarkeit verleihen.« Kopfschüttelnd befühlte Krisand den Feenstaub im letzten, noch unverschnürten Sack. »Gute Qualität!«, lobte sie. Eine Vielzahl Stäubchen blieb an ihren schlanken Fingern haften; sie blies sie fort und – PLOPP! – war verschwunden. Lediglich die Luft flirrte an der Stelle, wo sie stand.

Ein unsichtbarer Finger strich erneut durch den Feenstaub. Etwas pustete und – PLOPP! – Krisand war wieder da. »Ausgezeichnete Qualität!«, lobte sie. »Du hast es drauf, Schwester.«

Die Zwillinge hatten nicht einmal aufgeschaut – so etwas Alltägliches!

»Ich sagte, es ist Feierabend«, mahnte Sillronn. »Tupft morgen weiter.«

»Hier, liebste Muhme«, sagte Naruleh und hielt Krisand stolz die halbgefüllte Schale entgegen, »so viel Feenstaub habe ich für dich aufgelesen.«

»Oh, du warst aber fleißig!« Zärtlich strich Krisand der strahlenden Kleinen übers lange gelockte blonde Haar und schüttete den Inhalt der Schale in den Sack. »Hab vielmals Dank!«

»Ich auch«, rief Jorele hastig, »ich hab genauso viel!« Erwartungsvoll hielt sie der Muhme die Schale entgegen. »Willst du sie nicht ausschütten?«

»Nein, mein Schatz. Diesen Feenstaub dürft ihr behalten!«

»Oh! Das sind doch bestimmt sieben Lot!« Jorele staunte, als wäre Weihnachten und Doppelgeburtstag zugleich.

»Für uns?«, fragte Naruleh fassungslos. »So viel?«

»Verwöhn sie nicht«, mahnte Sillronn, »sonst wollen sie noch bei dir wohnen.«

Schmunzelnd beobachtete sie, wie die Zwillinge miteinander mauschelten.

»Helft uns die Säcke ins Lager zu bringen«, schlug sie vor, »und tobt euch dann draußen aus; da habt ihr freie Bahn.«

»Danke, Mama!« Sie fixierten jede einen Sack. Naruleh schnalzte, Jorele zuckte mit der Hand: Der eine Sack fiel um, der andere stellte sich auf den Kopf.

»Wir lernen das nie«, klagte Jorele. »Wie schafft ihr das?«

»Ein Elfenzauber ohne fokussierende Flügelwölbung gleicht dem Flug eines unbefiederten Pfeils«, dozierte Krisand, »die Magie geht daneben.«

»Aber euch gelingt es sogar mit anliegenden Flügeln!«

»Nur bei kleinen Zaubern und dank steter Übung. In euerm Alter erging es uns nicht anders. Aber lernen müsst ihr es; für billige Tricks darf man keinen Feenstaub vergeuden! Auch müsst ihr gegen mögliche Übergriffe der Schwarzelfen gewappnet sein.«

»Krisand! Erzähle keine Schauergeschichten; dazu sind sie viel zu jung.«

»Dazu ist es nie zu früh! Seht her, Kinder. Solltet ihr einmal von ihnen umzingelt werden – Schwarzelfen sind feiges Pack, das sich nur als Bande an eine ehrbare Weißelfe heranwagt –, so konzentriert eure Kraft auf eine der schwächlichen Kreaturen und fegt sie mit dem Breschen-Zauber beiseite. Etwa so!« – neben ihr schrie Sillronn auf und wirbelte, Salti schlagend, davon. »Anschließend durchschreitet ihr würdevoll die Lücke. Niemand wird sich mehr an euch heranwagen.«

»Noch mal!«, bat Naruleh.

Weit hinten zog Sillronn den Kopf ein.

»Klasse! Als stündest du in einer aufgerichteten Muschelschale, Muhme«, lobte Naruleh.

»Nein, als wäre sie ein Pfau mit weißen Federn!«, widersprach Jorele.

»Nun, man kann auch sagen: Ein Elfenzauber ohne muschelschalenförmig gekrümmtes Flügelpaar entspricht dem Balzerfolg eines Pfaus ohne geschlagenes Rad«, nahm Krisand die Vergleiche auf. »Schaut her; so ist es richtig. Versucht es!«

Voller Stolz sah Sillronn aus sicherem Abstand auf die blütenweißen Schwingen der Zwillinge, dem Kennzeichen Guter Feen, schüttelte aber nachsichtig den Kopf über die bucklig gewölbten Flügel, die vielen Dellen ...

Naruleh und Joreles Hände zuckten vor: Zwei Säcke taumelten die Stiege hinunter; Sillronn bangte um das Treppengeländer.

»Folgen wir ihnen«, schlug Krisand vor. »Ich bin diese Enge nicht gewöhnt.«

Sie schnippte mit den Fingern. Die restlichen Säcke bildeten eine akkurate Reihe und schwebten den Kindern hinterher.

Der Lagerraum war gefüllt bis unters Dach.

»Dreihundert Wispel! Die versprochenen fünf Lot Feenstaub gratis pro Gast sind gesichert.«

Entsetzt schaute Krisand die Schwester an. »Sag mal: Wann hast du in den letzten Wochen geschlafen?« Sie schüttelte den Kopf. »Dieser Haufen und dazu die üblichen Aufträge ...«

»Schlafen? Heute Nacht bestimmt nicht. Diese Nacht werde ich durchtanzen. Und die andern auch!«

Krisand lachte. »Ich schließe mich an!« Schwungvoll lief sie zur Mühle voraus. Gespielt aufseufzend, lehnte sie sich gegen den langen, geschwungenen Sterz, der dazu diente, die Mühle in den Wind zu drehen.

»Menschenwerk! Anstatt Äolus einfach anzuweisen, von welcher Seite und wie stark er zu wehen hat, konstruieren sie eine komplizierte Drehvorrichtung. Technik! Wer soll das begreifen?«

Selbstvergessen betrachtete Krisand die Umgebung. »Idyllisch ist es hier. Habs fast vergessen.«

Sie begutachtete das schmucke Haus, Heimstätte einer unbeschwerten, glücklichen Kindheit, die blumenbestandene Lichtung, den sanft plätschernden Bach. Wie oft hatten sie und Sillronn darin geplanscht, sich schreiend nassgespritzt? In einer Dickung hatten sie Verstecken gespielt und sich nicht um zerkratzte Arme und Füße gekümmert; jetzt schwebten Naruleh und Jorele an gleicher Stelle über Stangenholz.

Versonnen umrundete sie die Mühle.

Verwunderung schwang in ihrer Stimme. »Hat die Stellung der Windmühlenflügel nicht eine Bedeutung?«

»Ja, hast du denn alles vergessen!«, entfuhr es Sillronn. »Jede Ausrichtung des Flügelkreuzes signalisiert nahenden Mahlgästen, was Sache ist; das wissen bereits die Kleinen. Man unterscheidet zwischen der ... Jorele, erkläre es der Muhme!«

»Man unterscheidet«, sprudelte das Kind los, »zwischen der ›Freudenschere‹, der ›Trauerschere‹, der ›Kurzen Arbeitspause‹, die übrigens auch bei aufziehenden Gewittern gewählt wird, weil der obenstehende Flügel beim ›Kreuz‹ zwei Meter höher in den Himmel ragen würde ... dass heißt, die von den Menschen bei Gewittern gewählt wird – den Blitz möchte ich sehen, der es wagt, in unserem Grund und Boden einzuschlagen!«

»Ah, ich glaube, ich erinnere mich. Das Kreuz – so nennt sich die augenblickliche Flügelstellung, nicht wahr, Sillronn?«

»Korrekt! Du machst dich.«

»Was bedeutet es?«

»Nun: ›Lange Arbeitspause‹ oder auch: ›Die Tagesarbeit ist beendet; die Arbeit beginnt am nächsten Morgen‹.«

»Morgen? Seltsam ... Sagtest du nicht, für die Festwoche sei Mahlpause angesagt!«

»Musst du mich immer so auf den Arm nehmen, Krisand! Daran ist nur der Alltagstrott schuld, stets die gleichen Handgriffe ... Es ist nun einmal das erste Sommerreigenfest, das auf der Sonnenlichtung stattfindet.«

Sillronns Hand zuckte zu einer magischen Bewegung vor – und wurde von Jorele umklammert.

»Darf ich? – Bitte, Mama!«

»Gut, versuch dein Glück.«

»Ich denke, es hat nichts mit Glück zu tun, sondern mit Zielgenauigkeit?«, entgegnete naseweis die Kleine und stellte sich in Positur. Ihre rechte Hand zuckte vor. Am Horizont zerbarst ein Schäfchenwölkchen.

»Sehr effektvoll«, sagte Naruleh trocken. »Nur haben sich die Flügel keinen Millimeter bewegt. Lass mich mal!«

Auch ihre Rechte zuckte vor. Einmal, zweimal, dreimal ...

»Die Wirkung schlecht gezielter Magie gleicht dem Klangbild einer Gitarre ohne Schallkörper«, erklärte Krisand unter Kichern, »die Magie verpufft im Raum.«

»Was ist das: eine Gitarre?«

»Menschenwerk, Naruleh. Seltsame Musikinstrumente. Die Harmon haben einige importiert.« (Gemopst – Elfen besitzen viele Dinge, die man bei diesem Naturvolk kaum vermuten würde, stellen aber das wenigste davon selbst her.)

»Aha. Dürfen wir jetzt los?«

»Ja. Aber schaut beim Fliegen immer schön nach vorn! Nicht dass ihr euch Beulen um Beulen stoßt und wegen Kopfweh klagt.«

»Keine Sorge, Mama; wir passen auf. Beim Fliegen immer nach vorn schauen – das haben wir nun wirklich gelernt; du hast es uns oft genug gepredigt. Außerdem bilden die Beulen sich ja sofort zurück.«

Vorsichtig, als handele es sich um einen Bienenschwarm, schüttete Jorele die Hälfte des Schaleninhalts in die hohle Hand der Schwester. Ein synchrones Pusten und – PLOPP!-PLOPP! – schon schwirrten sie inmitten einer flirrenden Wolke aufgewirbelten Feenstaubs einträchtig zum Waldrand. Das Letzte, was die Frauen von ihnen sahen, waren die kurzen im Luftstrom flatterten Seidenröckchen.

Sillronns rechte Hand zuckte leicht. Kurzzeitig glitten die Bremsbacken aus den Zähnen des Kammrades, die Flügelwelle drehte sich ein Stück.

Unzufrieden betrachtete Sillronn ihr Werk.

»Nun bewundern wir die so genannte Freudenschere«, erklärte Krisand schmunzelnd. »Sie signalisiert dem Nahenden eine Feier in der Familie des Müllers: Hochzeit, Geburt oder ähnliches. – Wie viele Gäste erscheinen durchschnittlich beim jährlichen Sommerreigenfest, sagt man? Vierzehntausend? Oho! Haben wir eine große Familie!«

»Verschone mich mit deiner Ironie.«

Noch einmal gab Sillronns Hand magische Energie frei; die Flügel ruckten ein Stückchen weiter und bildeten ein exakt ausgerichtetes x.

»Schon besser. Aber fehlt nicht etwas?«

Sillronn langte bereits in den Brustbeutel und blies die Backen auf. Nach dem PLOPP prangten Blumensträuße in den Segelgattern der Windmühlenflügel, und von Flügelspitze zu Flügelspitze schillerten Girlanden.

»Besser?«

»Nun ja ... Wenn du nicht gerade den Anti-Verwelk-Zauber vergessen hast, ist das Fest gerettet!«

»Jorele! Naruleh! Kommt her und schaut euch das an! Hallo ...? Wo sind die Kinder?«

»Über dem Lärchenwipfel dort drüben«, beruhigte Krisand. »Lass sie.«

»Schau!«, rief Naruleh und deutete nach unten, wo ein Fuchs zwischen Birkenstämmen entlangschnürte. »Das ist Spitzschnauze.«

»Rotpelz«, widersprach Jorele. »Spitzschnauze säugt bestimmt die Jungen.«

Sie setzten zur Landung an. Durch dichtes Buschwerk konnten sie den Fuchsbau sehen. Rotpelz, eine Maus in der Schnauze, äugte aus senkrechten Pupillen zu ihnen herüber.

»Er hat uns entdeckt«, seufzte Jorele.

»Schon lange. Kein Wunder, so wie das Laub unter den Füßen raschelt. Zum Glück haben sie sich schon an uns gewöhnt; wir sind ja jeden Tag hier. Da, ihr Wurf!«

»Sind die süß!«

Erschrocken verschwanden die vier Welpen im verlassenen Dachsbau.

»Psst, Naruleh! Jetzt hast du sie verschreckt.«

Schon schaute wieder eines heraus, tapste sogar unbeholfen ins Freie.

»Muss ein Mädchen sein«, sagte Naruleh altklug, »die sind immer so vorwitzig.«

Etwas Glitzerndes huschte knapp über den Baumkronen hinweg. Der Rüde stieß ein helles, langgezogenes Warnbellen aus, während die Fähe den Welpen vorsichtig am Genick packte und in den Bau trug.

Die Zwillinge strahlten. »Die ersten Festgäste kommen!«

Vor Joreles Augen verwoben sich rosa Schlieren zu einem eindringlichen Bild.

Naruleh stieß die Schwester an. »Ich hatte eben eine VISION!«

»Ja«, nuschelte Jorele mit verschleiertem Blick, »wir sollen zu Mama kommen.«

»Du hast es auch gesehen?« Naruleh war enttäuscht. »Vorwarnzeit?«

»In einer halben Stunde müssen wir daheim sein, sonst gibt es Schelte! Und kein Feenstaub mehr; wir müssen laufen. Oh, warum können wir ohne Magie nur unbeholfen flattern; unsere Flügel sind doch so viel größer als die der Vögel! Erwachsene brauchen auch keinen Feenstaub und sind schwerer; das ist ungerecht. Wenn sie sich enorm konzentrieren, können sie sich sogar ohne Feenstaub unsichtbar machen, an andere Orte versetzen und in andere Gestalten verwandeln. Bei uns hingegen klappt nichts, nicht mal mit Feenstaub. – Tschüß, Rotpelz! Tschüß, du süße Spitzschnauze! Wachst schön, ihr Kleinen!«

Empört über die neuerliche Störung keckerte Rotpelz hinter ihnen her.

Schnurgerade führte eine Schneise vom Fuchsbau in Richtung Mühle. Die Mädchen sprangen über Wurzeln und Stubben, duckten sich vor tiefhängenden Ästen. Nach zehn Minuten erreichten sie die Sonnenlichtung.

»Sieh nur, Naruleh!«

Eine Vielzahl buntgewandete Elfen kühlte im ruhigströmenden Bach die zierlichen Füße. Seiner sprudelnden Quelle im Hochwald entstiegen mit saumnassen Gewändern drei Wasserfrauen. Hangabwärts an der Mündung des Baches in den Teich rekelten sich drei goldhaarige Nixen auf dem angeschwemmten, sonnengewärmten Schluff. Die Sonnenlichtung, größtenteils blumenbestandene Gebirgswiese, füllte sich allmählich. Wohin schauen?

Zuerst schien es, als hätte die große Familie der Nymphen die Überzahl – überall sahen sie Wasser-, Berg- und Waldnymphen –, dann erst bemerkten die Zwillinge die unzähligen Schmetterlingsgroßen, die vergnügt auf den rosa Scheinähren des Wiesenknöterichs wippten oder, einander haschend, um die Blütenglocken der Soldanellen schwirrten. Einige standen gar in den trichterförmigen dunkelblauen Blüten des Stengellosen Enzians; nur ihre freudestrahlenden Köpfchen schauten heraus. Mühle und Wohnhaus aber waren umringt von staunenden Blumen- und Baumelfen, die ansonsten ganzjährig in Blütenkelchen, Wurzeln, auf Zweigen und Blättern lebten.

»Wir werden aufpassen müssen, wohin wir treten.« Bezeichnend deutete Jorele auf die Sippe der Spannenlangen, die auf Wiesenchampignons saßen und zufrieden mit den Füßen baumelten.

An einem weiß marmorierten Birkenstamm lehnte eine Waldfee. Eine Groll (kein druckfehlerbehafteter Troll, sondern ein Mitglied eines cholerischen Elfen-Stammes) stritt auf sie ein.

»Ich finde es unerhört, diesen Winzlingen genauso viel Feenstaub zu schenken wie unsereins«, schrie sie mit hochrotem Kopf. »Fünf Lot sind für die eine kaum tragbare Last; für uns ist es so gut wie nichts! Ich verlange meine Willkommensgabe ebenfalls in Höhe des Körpergewichts!«

Zornig schaute sie auf zwei Schmetterlingsgroße, die den Feenstaub Lot für Lot in Säckchen gefüllt und zu zweit wegschleppen mussten.

Naruleh drängte sich vor. »Niemand ist mehr wert als der andere«, rief sie, »und jedem steht das Gleiche zu. Keiner kann dafür, wie groß oder klein er gewachsen ist.«

»Gut gesprochen!«, lobte die Waldfee.

»So sagt es unsere Mama«, bekräftigte Jorele. »Fünf Lot ergibt bei jedem maximal zwei PLOPPs, und die armen Kleinen müssen sich dabei beinahe die Lungen aus dem Leibe pusten!«

»Steigt auf« – Naruleh hielt den beiden eine Handflache hin –, »ich bringe euch zur Muhme. Sie soll euch den Schwebe-Zauber beibringen; dann braucht ihr euch nicht so abzuplagen.«

»Zustände sind das ...« Die Groll betrachtete das Häuflein Feenstaub. »Ich hätte es verweigern sollen.« Maulend zog sie ab.

»Schau mal: die Nordlandcombo der Harmon!«, rief Naruleh, als sie vom Haus zurückkehrte. »Vielleicht haben sie diese Gitarren dabei. Das muss ich mir ansehen!«

»Warte auf mich!« Jorele lief hinterher – und prallte gegen etwas Unsichtbares, Glitschiges.

»Hoppla! Muhme Krisand ...? Warst du baden?«

»Entschuldige«, sprach die Durchscheinende mit schmerzverzerrter Stimme, »ich wollte dich nicht erschrecken; vertrage nur kein Tageslicht. Hallo: Wie einladend euer Teich ausschaut. Tschüß, kleine Fee. Man sieht sich!«

»Ja ... wie denn?«, meinte Jorele und kratzte sich hinterm Ohr.

Engelsgleiche Harmonien schwangen in der Luft. »Oh, die Generalprobe des gemischten Berg- und Wassernymphen-Chores!«, rief Naruleh. Harmon und Gitarren waren vergessen. »Nichts wie hin!«

Obwohl helllichter Tag war, schwebten erste Elfen, in weiße, durchscheinende Gewänder gehüllt, mit wehenden Schleiern, Blumenkronen und vielerlei flatternden Bändern angetan, in einem ausgelassenen Reigen dahin.

Glückselig inmitten der Zuhörer sitzend, beim Flechten von Blumenkränzen, beim Zuschauen der Tänze, riss die Zwillinge ein erboster Ausruf in die Wirklichkeit.

»Hab ich euch endlich!«

»Auwei!» Naruleh hielt sich erschrocken den Mund. »Das ist Mama! Jetzt gibts Schelte!«

»Und nicht zu knapp. Wenn ihr in einer halben Stunde daheim sein sollt, dann seid ihr nach einer halben Stunde daheim! Haben wir uns verstanden? – Kommt mit!«

Sillronn knallte die Tür zu. »Erstmalig ist unsere Familie Ausrichter des Sommerreigenfestes. Solch eine Ehre wird uns in zehntausend Jahren nicht wieder zuteil! Meine Töchter aber laufen in verschmutztem Alltagszeug umher. Muhme Krisand und ich möchten uns nicht die ganze Zeit wegen euch schämen müssen. Zieht das an!«

»Buh – langer Kleider! Immer diese Trippelschritte, man kommt nicht von der Stelle.«

»Vielleicht, wenn du an der Seite einen langen Schlitz hineinzauberst ...«

»Ich werde euch gleich was zaubern! Und so möchte ich euch gehen sehen: gemessenen Schrittes wie eine ... Fee.«

Sillronn ließ die Kinder hinaus und unterstützte Krisand beim Verteilen des Feenstaubs.

Die Zwillinge zog es sogleich wieder zu den Tänzerinnen.

Ein Raunen ging durch die Menge. Vom Waldrand näherte sich auf gichtigen Füßen ein ... Schreckgespenst. Ein Kreis von misstrauischen Elfen bildete sich um eine Alte mit dem Teint von Dachpappe.

»Wer von euch ist Naruleh? Du?« Ein dürrer langer Finger stach nach Jorele, die erschrocken zurückwich. Dann sah sie die gütigen Augen, vernahm die warme Stimme.

»Nein, ich!«, sprach Naruleh mutig ... und versteckte sich hinter dem Rücken der Schwester.

»Gut, gut«, murmelte die Alte, »hör gut zu, was ich dir zu berichten habe ...«

 

Aufgebracht erzählte währenddessen Sillronn der Schwester von »aufmüpfigen Verlangen« der Kinder.

»Sieh mal: deine Töchter, wie sie ›gemessenen‹ Schrittes daherschreiten ... ganz Grazie!« Krisand brach in Gelächter aus.

»Sie haben doch nicht wieder den alten Plunder übergestreift?« Auf alles gefasst, wandte Sillronn den Kopf. Fast wäre es ihr lieber gewesen, sie hätten es gewagt. Die Kleider bis zur Hüfte gerafft, mit blankem Hintern, so schritten die Zwillinge »elegant« dahin. Die Mienen der Umstehenden wagte sie sich nicht vorzustellen.

Mit ganz und gar nicht gemessenen Schritten drängte sie sich vor.

»Naruleh wurde von der Vorsehung als künftige Feenkönigin erwählt«, erklärte Jorele ehrfurchtsvoll. »Jungfer Xanthippe hat es in der Kristallkugel gesehen!«

Erst jetzt bemerkte Sillronn die bucklige Alte.

»Ihr habt Euch sicher verlaufen. Hier ist kein Platz für Euch, Hexe. Verschwindet, und setzt unschuldigen Kindern keine Flausen in den Kopf!«

Wie nur konnte jemand von solchem Aussehen es wagen, sich unter ihr Volk zu mischen. Allein der Riechkolben war eine Zumutung für das anspruchsloseste ästhetische Empfinden: Auf ihm prangte nicht die obligatorische Warze – nein! ein grobporiges Stück Nasenspitze ragte aus einem übel beharrten Warzenklumpen heraus.

Angewidert versetzte Sillronn dem wabbligen Buckel der Alten einen Schubs.

»Habt Dank für die Unterstützung, Gute Fee!«, knurrte diese. »Aber noch kann ich selbst gehen!«

Brabbelnd humpelte sie zum Wald zurück. »Über unvorstellbare magische Kräfte wirst du verfügen, Naruleh«, rief sie über die Schulter. »Mögest du damit alle Welt glücklich machen!«

»Das werde ich!«, sagte Naruleh leise, aber bestimmt. »Versprochen.« Ihre Augen glänzten. »Wartet, ich stütze Euch!«

Naruleh rannte los und bot der Alten ihre schwache Schulter.

»Das war nicht schön von dir, Mama«, sagte Jorele mit blassem Gesicht, »wie du Jungfer Xanthippe behandelt hast. Sie ist so nett.« Böse musterte sie umstehende Elfen, die Jungfer Xanthippes Abgang mit Schmähworten kommentierten.

»Um das zu beurteilen, fehlt es euch an Lebenserfahrung«, erwiderte Sillronn.

Sie ging der zurückkehrenden Naruleh entgegen und sah sie eindringlich an. »Am besten, du vergisst jedes ihrer Worte. Hörst du!«

»Hast du das gesehen?«, fragte sie wenig später Krisand. »Diese alte Vettel ... hier bei uns! Nächstens tauchen noch Trolle und Orks auf.«

»Die letzten fünfhundert Säckchen kann ich allein verteilen. Reagiere dich besser ab«, riet ihr Krisand, »sonst verwechselt man dich noch mit einem Ork. Die Mimik stimmt bereits!«

Lächelnd schaute sie Sillronn nach, die zur Schneise zum Fuchsbau stürmte.

Sillronn nahm weder Bergahorn noch fruchttragende Gemeine Birken wahr. Selbst die geliebten Eiben würdigte sie keines Blickes. Einmal hin und zurück, dachte sie, und bin ich wieder die Ruhe in Person. Na ja, vielleicht auch zweimal ...

Es hätte ihr nichts genützt, wenn sie das Augenmerk wenigstens auf den Boden zu ihren Füßen gerichtet hätte – der ausgelegte Stolper-Zauber war unsichtbar. Auf dem Bauch liegend, spürte sie kleine Fäuste schmerzhaft auf Hinterkopf und Rücken eintrommeln.

»Kobolde!«, rief sie. »Wer sonst wagt es, einer Fee triumphierend auf dem Rücken herumzuspringen.«

»Mupuk, Trupuk und Wupuk, die drei Puks, man uns nennt. Und noch viel mehr wir wagen. Wirst noch denken an uns, an vielen vielen Tagen ...«

»Ihr seid das! Hat man euch endlich vom Holdagipfel vertrieben.«

»Niemand uns vertreibt! Wir wandern nur zum Zeitvertreib.«

»Schluss jetzt«, rief Sillronn. »Redet vernünftig – und kommt ja nicht in meine Reichweite, sage ich euch!«

Die drei verschwanden in die Unsichtbarkeit und bedachten Sillronn mit Schmähworten.

»Ph! Ich lasse mich nicht provozieren. Nicht von euch!« Achselzuckend kehrte sie um.

Von knotigen Spinnenfingern herausgerissene Grasbüschel samt erdbehafteten Wurzelballen flogen auf sie zu. Auf Ähnliches gefasst, hatte sie vorsorglich die Flügel ausgebreitet und einen leichten Abprall-Zauber aufgebaut. Die Wurfgeschosse trafen auf die unsichtbare Barriere und fielen wirkungslos zu Boden.

Die Kobolde schrieen Zetermordio. Laubrascheln und das Knacken dürrer Zweige ließen erkennen, dass Sillronn beiderseits der Schneise eine unsichtbare Eskorte folgte.

Sillronn kniete nieder und befreite die Hände im Bachlauf vom Matsch zerdrückter Pilze. Die Grasflecken allerdings waren hartnäckiger.

Vom Waldrand drang vielstimmiges Gekicher. »Vergiss uns nicht, Elfe.« Gehässig wispernd wurden die Kobolde sichtbar und verzogen die schwärzlichen Gesichter zu diabolischen Fratzen: eine reife Leistung bei einer Haut, die besser als Borke an Bäume gehörte; aber es hatte wohl keiner großen Wandlung bedurft. »Und denk dran: Man sieht sich!« Zum Abschied drehten sie ihr lange Nasen.

»Ich hoffe es nicht ... für euch«, murmelte Sillronn.

Die folgenden Stunden tanzte sie sich die Wut aus dem Bauch, obwohl immer noch helllichter Tag war ...

 

Erwartungsvoll lagen die Kinder im Doppelbettchen. Sillronn nahte zur geliebten Märchenstunde.

»Setz dich zu uns auf die Bettkante, Mama.« Gespannt richteten sie sich auf.

Sanft wurden sie in die Kissen zurückgedrückt. »Augen zu! Die heutige Gute-Nacht-Geschichte heißt: ›In der Bäckerei‹ und geht so:

Frühmorgens, wenn alle Menschen noch schlafen, betritt der fleißige Bäcker bereits die Backstube. Er bereitet aus am Vortage angerührten Sauerteig durch Beigabe von Gewürzen, Meersalz und weiteren Zutaten den Hauptteig zu. Nach einstündigem Kneten und einer längeren Quellpause in der Knetmaschine formt er die einzelnen Laibe und legt sie in die Gärkörbchen, bis sie Ofenreife haben. Dank unbegreiflicher Zauberkünste schiebt er jeden Laib im einzig richtigen Moment in den vorgeheizten Steinbackofen. Ein leckeres Brot nach dem anderen fördert er mit dem Schieber zu Tage ...«

»Was ist das: ein Brot?«

»Ein seltsames Naschwerk der Menschen.«

»Mama?«

»Ja, Jorele?«

»Was sind Schwarzelfen?«

»Furchtbar böse Tanten.« Sillronn seufzte. »Hat euch die Muhme Angst eingejagt? Ihr könnt beruhigt schlafen: Nie werdet ihr einer Schwarzelfe begegnen. Sie leben im Düsteren Reich unter der Erde. Bei Tageslicht sind sie so gut wie blind. Sonnenstrahlen bereiten ihnen so unerträgliche Qualen, dass man sie nur nachts oder inmitten des fernen Dunkelwaldes antrifft.«

»Aber wenn sie Feenstaub benutzen und sich nachts zu uns ins Zimmer zaubern?«

»Keine Angst, mein Fratz: Schwarzelfen besitzen keinen Feenstaub.«

»Aber wenn sie sich welchen besorgen ...«

»Das ist völlig ausgeschlossen! Noch nie in der Geschichte der Elfenrasse gelangte auch nur ein Lot davon in ihre schmutzigen Hände! Das wäre der Anfang vom Ende!«

»Wieso sind sie so böse?«

»Das ist eine traurige Geschichte. Einst gab es nur uns Weiß- oder Lichtelfen. Dann kam ein kleines Elfchen zur Welt, das ... nun ... anders (das Wort »mutiert« ist den Elfen unbekannt) war. Yamiras Flügel waren zerfleddert, nicht fähig, sie zu tragen, konnten nicht einmal vollständig entfaltet werden; die einzelnen Federn hingen schlapp herunter oder standen sperrig ab. Jeder Magie schlug im Ansatz fehl. Sie wurde ausgelacht, verspottet und mehr und mehr gemieden. Verbittert zog Yamira sich fern aller Lebenden in eine Erdhöhle zurück. Von Menschensöhnen, zwielichtigen Gestalten, bekam sie im Laufe der Jahrhunderte Dutzende Töchter mit ebensolch nutzlosen Flügelresten. Sie und ihre Nachkommen, von wärmenden Sonnenstrahlen, Freude und Ausgelassenheit isoliert, können das Glück anderer nicht ertragen, und haben sich geschworen, alle Wesen ebenso unglücklich zu machen wie sie es sind.«

»Sie tun mir leid!«

»Mir auch, Jorele. Dennoch möchte ich keiner begegnen.«

»Mama ...«

»Ja, Naruleh?«

»Was muss eine Feenkönigin können?«

Sillronn seufzte auf. »Es gibt keine Feenkönigin! Lichtelfen respektieren einander, niemand besitzt ein Vorrecht. Reicht das? Es hat nie eine gegeben, und es wird hoffentlich nie eine geben. Das wäre furchtbar schlimm.«

»Wieso wäre Naruleh als Feenkönigin schlimm? Sie ist genauso lieb wie ich!«

»Jede Feenkönigin wäre schlimm, Jorele«, seufzte Sillronn. »Egal, wer sie ist. Es hat nichts mit der Person zu tun. Um Königin zu werden, bedarf es Macht. Mehr Macht, als jede Fee besitzt. Naruleh müsste mit einer Elfe kämpfen und deren Zauberkraft rauben. Dabei würde sie die Flügel der Gegnerin zerstören, und die arme Elfe hätte nicht nur die Magie verloren, sondern auch die Unsterblichkeit. Wollt ihr das?«

»Aber Jungfer Xanthippe hat –«

»– eine uralte Legende erzählt. Sie ist eine böse alte Hexe. Böse alte Hexen juckt es nicht, dass ein unschuldiges Elfenleben verwirkt werden muss, damit eine Königin entsteht. Schon vor zwölfhundert Jahren, als ich so alt war wie ihr, erzählte Großmama davon – und sie hat es im gleichen Alter von Urgroßmama erfahren. Und du, Naruleh, wirst davon dereinst deinen Töchtern und Enkeltöchtern berichten. Hoffentlich bist du dann so klug und verschweigst, dass du als kleines Mädchen der Märe einer Hexe glaubtest und dich für die künftige Feenkönigin gehalten hast!«

»Erzähle uns die Legende. Bitte, bitte.«

»Oh ja. Bitte!«

»Ihr Quälgeister. Ich sage gleich der Unersättlichen Bestie Bescheid, dass sie euch holen und fressen soll, wenn ihr nicht gleich schlaft, ja! Gut ... Aber dann herrscht Ruhe! Versprochen?«

»Versprochen«, erklang es zweimal.

»Augen zu! Hört nun die Legende der künftigen Feenkönigin:

Reift die zukünftige Feenkönigin zur Frau, werden ihre Schwingen einen leichten Goldton annehmen, das Zeichen kommender großer Macht. Nach einem erbarmungslosen Zweikampf mit einer nahestehenden Person, der sie Flügel, Macht und Unsterblichkeit raubt, wird sie ... Na endlich!«

Sillronn hatte keinesfalls vorgehabt, Naruleh mit aufregenden Einzelheiten der alten Sage aufzuregen, und hatte einen Einschlaf-Zauber über die Zwillinge gelegt. Bereits nach dem zweiten Satz schlummerten sie friedlich.

Sillronn schloss die Augen. Es galt, Kraft für die nächtlichen Reigen zu gewinnen ...

 

Stunden später wachte Jorele auf und stieß die Schwester an. »Du, Mama liegt bei uns im Bett. Ich denke, sie wollte mit den andern durchtanzen? Ob wir sie lieber wecken?«

Naruleh gähnte. »Lass sie. Sie wird sich gestern Nachmittag müde getanzt haben. Hast ja gesehen, wie sie stundenlang herumwirbelte.«

»Wenn du meinst ...« Zweifelnd legte Jorele das Köpfchen in den Schoß der Mutter und schlief ein.

 

Missmutig betrat Sillronn am Morgen die Sonnenlichtung. Überall lagen sie schlafend im Sonnenschein, all die Feen und die Kleinen Verwandten, welche die Nacht zum Tag gemacht hatten. Nur sie hatte alles verpasst.

Wenn sie die selig lächelnden Gesichter mancher Elfe betrachtete, kam ihr leicht der Verdacht, dieser oder jener schöne Menschenjüngling müsse letzte Nacht hierher gelockt worden sein. Schöne Menschenjünglinge waren ein guter Grund, sich ganze Nächte voller monotoner Reigen um die Ohren zu schlagen. Wenn sie es sich recht überlegte, der einzige Grund. Sie begann zu ahnen, wie einer Nixe mit Fischunterleib zumute sein musste. Jedenfalls kannte sie keine Elfe, die Kinder von einem Elf bekommen hätte. Wann hatte sie überhaupt zuletzt einen Elfen gesehen? Es war bestimmt Jahrzehnte her. Männerangelegenheiten debattierend, standen sie bestimmt wieder reglos im Walde herum und verwandelten sich je nach Größe unaufhaltsam in Bäume oder Bonsais. Nicht einmal zum Sommerreigenfest waren sie gekommen. Und eine neue Generation gab es nicht. Seit Jahrtausenden war kein Elf mehr geboren worden; von schönen Menschenjünglingen bekamen Elfen ausschließlich Töchter.

Verdrossen wandte sie sich ab ...

 

»Bezaubernde Zwillinge habt Ihr, Gastgeberin!«

Dies versicherte Sillronn am frühen Abend mit etwas Neid in der Stimme eine Flötenspielerin der Harmon.

»Ja, wer meine Mädchen erblickt, für den geht die Sonne auf. Wenn es Not tut, ziehen einige Regenwolken auf, gewiss. Aber Bodennebel? Gewitterwolken? Ach was! Die Sonne pustet alles beiseite, um einen Blick auf den Liebreiz meiner Kleinen zu erhaschen. Sich ärgern? Streiten? Unmöglich, wenn sie dabei sind.«

»Ihr müsst rundum glücklich sein. Wenn ich da an meine Rangen denke. Wenn sie mir nicht so ähnlich sähen, also wirklich ... manchmal würde ich mich fragen, ob nun wir den Menschen Wechselbälge in die Wiege legen oder sie uns!«

»Seid getrost; hier auf der Sonnenlichtung vergesst Ihr Eure Sorgen. Nicht ein einziges Mal während der letzten fünf Jahre war der Himmel düster.«

»Deshalb nahmen wir den weiten Weg aus dem Norden auf uns«, antwortete die Harmon, »um Tag um Tag im Sonnenschein zu ruhen und in mondhellen Nächten zu tanzen. Hüpft und springt mit uns, Elfe! Ihr da oben auch! Nur keine Scheu: Mitmachen heißt die Devise.«

Zögernd flatterten einige Kleindrachen, gutmütige Vertreter ihrer Art, von den Bäumen herab und mischten sich mit rhythmisch wiegendem Leib in den Elfenreigen.

Wind kam auf. Sturm! Düsternis verbreitend, glitt eine schwarze Wolkenwand heran, Blitze zuckten, Sturzbäche brachen aus den Wolken. Die Tänzerinnen prallten gegen Bäume, klammerten sich an Stämme und Äste. Die Laubdächer, unter welche die Zuschauer geflüchtet waren, hielten der Sintflut nur kurz stand. Die Temperatur sank rapide. Wassernymphen und Flussfrauen hechteten in den Bach und schwammen sich warm.

Der Sturm erreichte Orkanstärke, wurde zum Zyklon und bahnte sich, ehe Sillronn sich aus der Erstarrung reißen und eine magische Schutzhaube um die Mühle errichten konnte, eine Schneise der Vernichtung durch den Mischwald, riss selbst Baumriesen um.

»Befindet sich unter uns eine Wetterfee?«, rief sie gegen das Brausen an, nachdem sie den ersten Schreck überwunden hatte. »Hallo?«

Gut. Also nicht. Der Feenstaub im Brustbeutel war klamm geworden, ploppte aber noch. In der selben Sekunde stand sie auf einem frischen Kahlschlag dicht neben der wirbelnden Säule der Vernichtung und schauten ins Auge des Zyklons.

Eine herrische Handbewegung – die wirbelnden Wolkenmassen verhielten auf der Stelle. Ein aus dem Zyklonauge kommender und immer schriller werdender Pfeifton kündete das Nahen etwas Fallenden an. Ein schwerer Körper plumpste zu Boden. Sillronn half Äolus auf die zitternden Beine.

»Blast das fort!«

»Moment. Lasst mich ... erst zu Atem ... kommen. So wurde ... ich ... noch nie ... angetrieben.«

»Angetrieben? Von wem lässt sich ein Gott antreiben?«

PLOPP! PLOPP! PLOPP!, ging es reihum, während der Windgott die Wolken vertrieb. PLOPP! PLOPP! PLOPP!, ging es weiter, während die Sonne wieder hell am Himmel strahlte.

PLOPP!, erklang es zum letzten Mal. Äolus ergriff die Flucht.

Sillronn sah sich umzingelt.

»Doch nicht von euch Schwarzelfen? Was untersteht ihr euch! Schert Euch in die Grotten zurück, ehe euch die Sonne blendet. Hier oben habt ihr nichts verloren! Wie seht ihr überhaupt aus? Wie – na! – wie denn gleich ...?« (Den einzig passenden Begriff »Mafiosi« konnte sie beim besten Willen nicht kennen.)

Auch Schwarzelfen sind schön. Teuflisch schön. Jetzt allerdings hätte Beelzebub einnehmend neben ihnen gewirkt. Drohend kamen sie näher. Selbst grellste Sonnenstrahlen schienen ihnen nichts auszumachen hinter diesen ... diesen ... kleinen Scheiben.

»Da staunt Ihr, was?«, höhnte ein o-beiniger Gnom mit fahlgrüner Haut, dem allerlei fingerlange und ebenso dicke Stachel aus Kinn und Wangen ragten. »Mithilfe dieses phänomenalen Menschenzaubers wird das Volk der Schwarzelfen unter meiner Führung bald die Welt beherrschen. Nichts kann sie mehr blenden. Die Oberwelt steht ihnen offen. Phototrope Gläser! Die variable Tönung passt sich dem Lichteinfall an. Hundertprozentiger UV-Schutz! Entspiegelt und oberflächenversiegelt! Hochwertiges Etui gratis! Mengenrabatt! Ersatzexemplare zuhauf.«

»Was soll der Unfug? Lasst mich durch! Ich habe zu tun: Der Festplatz ist verwüstet; ich muss die Aufräumarbeiten leiten.«

»Nur etwas müsst Ihr: mir zuhören!«

»Warum sollte ich?«

»Weil es besser ist für Euch und Eure Familie.«

»Macht Euch nicht lächerlich, Zwerg.«

»Hört mir zu, blasiertes Weib! Ein fairer Handel: Ihr zweigt für uns zunächst einhundert Malter Feenstaub ab, und wir verschonen Eure Familie!«

»Packt euch!« Ihre Rechte schoss vor. Der Breschen-Zauber wirbelte drei Schwarzelfen samt Sonnenbrillen davon. Würdevoll durchschritt Sillronn die Lücke. »Ihr solltet Euch kräftigere Partnerinnen suchen, kleiner Mann«, rief sie ihm über die Schulter zu.

»Nicht die körperliche Stärke machts«, entgegnete er satanisch. »Mein Name lautet Fruckus Kurf-Urck. Prägt ihn Euch ein! Denn: Man sieht sich!«

Sillronn hatte ihn bereits vergessen. Ein kurzes Zucken der Hand, am Firmament zerbarst eine letzte Eisnadelschleierwolke. Mit ganz und gar nicht gemessenen Schritten eilte sie zurück.

Ebenso unelegant durchbrach sie wenig später den Rasen. »Oh«, schrie sie, »dieses Puk-Pack schon wieder! Niemand hat euch eingeladen. Verschwindet, Kobolde, und buddelt eure Fallgruben woanders.«

Ein schweres Gitter schrappte über die Grubenöffnung. PLOPP! PLOPP! PLOPP!, so tönte es rundum. Alles wie vorhin, einzig dass hier unten im Düsteren die aus dem Nichts erschienenen Schwarzelfen die Sonnenbrillen in die Stirn geschoben hatten. Weniger teuflisch wirkten sie dadurch kaum.

»Kobolde? Welche Kobolde?« Der hässliche Gnom linste durchs Gitter. »Wir sinds – ich sagte doch, man sieht sich!« Er griente. »Ihr habt es nicht anders gewollt! – Beginnt mit der Verwünschung!«

Ein Bannzauber griff nach Sillronn. Ihre Rechte zuckte vor. Um auch nur eine der Schwarzelfen, die allesamt mit dem Rücken zur Wand standen, samt einigen Tonnen Erdreich beiseite zu schieben, hätte es der konzentrierten Magie Dutzender Lichtelfen bedurft.

»Wie ich schon sagte – nicht die körperliche Stärke machts: Auf die richtige ›Taktik‹ kommts an!«

»Taktik?«

»Ein starker Menschenzauber. Sie sagen auch ›Strategie‹ dazu. Man muss halt auch von seinen Feinden lernen.« Er musterte sie aufmerksam, wandte sich an seine Schar. »Habt ihr sie im Griff?«

»Ja, Großer Meister.«

Noch konnte Sillronn lachen. Schallend sogar.

»Gut.« Er schob das Gitter beiseite und schwang sich hinab. Herablassend tätschelte er ihren Ellbogen. Das missmutige Zucken seiner Mundwinkel dabei entging ihr nicht. »Wie ich schon sagte: Man sieht sich. Und das dreckige Gelächter wird Euch bald vergehen!«

Wehrlos stand sie im Kreis der Schwarzelfen, die Glieder von einem Bannzauber versteift. Aber noch konnte sie reden. »Wenn Ihr wieder nach oben krabbelt, erreicht Ihr meinen Hinterkopf. Ihn wolltet Ihr doch betätscheln, nicht wahr, Zwerg?«

»Mein Name ist Fruckus Kurf-Urck! Wenn Ihr Euch drei Worte nicht merken könnt, dürft Ihr mich mit ›Großer Meister‹ ansprechen; das sind nur zwei. Habt Ihr das verstanden?«

»Gewiss. Ihr wünscht, mit ›Großer Meister‹ angesprochen zu werden. Richtig so, Kleiner Pfuscher?«

Schade, dass es bereits ein Rumpelstilzchen gab – der Gnom förderte gute Voraussetzungen zu Tage, auch wenn er das Mitten-Entzwei­-Reißen noch üben musste.

Verstohlen versuchte Sillronn, mentalen Kontakt zur Schwester oder zu einem Festgast herzustellen, nur hatten die Schwarzelfen vorsorglich ihre kläglichen Abschirmungs-Zauber vereint.

»Schluss mit dem Geschwätz!« Er hatte sich wieder in Gewalt. »Wir forderten einhundert Malter Feenstaub, Ihr schlugt ab. Tragt jetzt die Konsequenzen.

Ihr wisst, was ein magisches Duell ist? Zwei Feen geraten mit aller Magie aufeinander; irgendwann bricht der Abprall-Zauber der schwächeren zusammen, ihre Flügel verbrennen, fortan besitzt sie keine magischen Fähigkeiten mehr – und verliert die Unsterblichkeit. Die Siegerin, die deren Magie besitzt, ist übermächtig!«

Sillronn lächelte. »Wir Lichtelfen necken uns gern, zanken uns mitunter, aber bekämpft haben wir uns nie!«

»Man muss halt nachhelfen.«

»Übernehmt Euch nicht! Soviel Feenstaub, wie Ihr braucht, um uns aufeinander zu hetzen, wird nie gemahlen werden. Ganz zu schweigen, dass Ihr weder an ihn noch an Zauberkorn herankommen werdet. Nicht, solange auch nur eine einzige Lichtelfe existiert!«

»Unterschätzt die immensen magischen Kräfte der Feenkönigin nicht!«

»Der was ...?«

»Eure Tochter Naruleh ist die prophezeite Feenkönigin.«

Sillronn lachte, und nicht einmal gekünstelt. »Also hat Jungfer Xanthippe auch Euch eingewickelt! Und ich dachte, nur kleine Mädchen fallen auf solchen Unfug herein!«

»Welche Jungfer?«, blaffte er. »Von welcher Xanthippe ist die Rede?«

»Ein verhunztes Kräuterweiblein mit ›höheren Ambitionen‹, Großer Meister«, versuchte eine der Schwarzelfen ihn zu beruhigen. »Wir hingegen beziehen Informationen ausschließlich von profilierten Weissagerinnen.«

»Hört Ihr: Sie ist die künftige Feenkönigin, Hort unvorstellbarer magischer Kräfte. In wenigen Jahren wird sie die Macht spüren, erkennbar am beginnenden Goldstich der Flügel.

Sicher, der Idealfall wäre, irgendeine Elfe stürzte sich aus freiem Willen in den Kampf. Sie würde von einem Moment zum andern goldene Flügel samt Macht besitzen, ohne von der Vorhersehung dafür vorgesehen zu sein, aber: ›Man kann nicht alles haben!‹

Vielleicht muss ich Naruleh ja nicht einmal auf eine andere Elfe hetzen, damit sich die Prophezeiung erfüllt. Wenn doch, so wird es mir ein Leichtes sein, denn: ›Macht verdirbt den Charakter!‹ – ebenfalls ein großer Zauberspruch der Menschen. Mit Leichtigkeit werde ich Eure Tochter beeinflussen können. Noch bevor sie die absolute Macht besitzt, erkennbar an völlig goldenen Flügeln – der Farbe von Habgier, Raubmord und versteinerten Herzen –, wird sie über alle Welt herrschen und mirhörig sein. Mit ihrer Hilfe werden wir die Bockwindmühle erobern und danach die Zauberkornanbaugebiete. Dann gehört uns die Welt. Nach Sodom und Gomorrha werdet Ihr euch sehnen, weil sie wohnlicher waren als das Feenreich nach der Invasion!«

Sillronn nagte an der Oberlippe.

»Es muss nicht so kommen. Noch steht das Angebot: einhundert Malter in nächster Zeit, und wir lassen Euch in Ruhe.«

»Wers glaubt!«

»Im Ernst«, erklärte er. »Eine überschaubare Menge Feenstaub sofort ist uns lieber als alles, aber erst in Jahren. Erwähnte ich bereits, man solle auch von seinen Feinden lernen? ›Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach‹ – dies ist ein mächtiger Zauberspruch der Menschen. Sagt uns die geforderte Menge zu, und Ihr seid frei und Eure Tochter wächst unbehelligt heran!«

»Keine hundert Malter, keine zehn Wispel, nicht ein Lot bekommt Ihr, so wahr ich hier stehe!«

»Wie Ihr wollt! Dann bleibt Euch nichts anderes übrig, als Eure Tochter zu besiegen; Euer eigen Fleisch und Blut in die Sterblichkeit zu stoßen – wobei ich hoffe, dass sie siegt! Der Fluch sei über Euch!«

Sie wollte ihm ihre Verachtung ins Gesicht schreien, aber jetzt waren auch die Kiefer gelähmt, Mund und Zunge taub.

»Übrigens: Was Eure wiederholten Beleidigungen betrifft, so lasse ich mir etwas ganz Fieses für Euch einfallen. Man sieht sich!«

Er wandte sich an seine Helferinnen: »Vollendet die Verfluchung!«

Den Oberkörper wiegend wie Wahnsinnige vor dem Angriff mit der Axt, begannen die Schwarzelfen auf der Stelle zu stampfen. Gemurmelter Sprechgesang füllte die Grube mit dem Grauen kommender Schrecken.

Die rosa Schlieren vor den Augen explodierten in grellem Blutrot.

Sillronn verlor das Bewusstsein.

Erst von Mupuk, Trupuk und Wupuk geworfene feuchte Schlammbatzen brachten sie wieder zu Besinnung.

Fast war sie froh über die Gesellschaft der Kobolde.

Fast.

 

Rotpelz war auf Jagd, Spitzschnauze stöberte mit der Nase im feuchten Erdreich und tat sich an einem fetten Regenwurm gütlich. Kaum, dass ihre empfindlichen Schnurbarthaare den nächsten Wurm berührten, schnappte sie erneut zu. Satt und zufrieden balgten sich die drei Jungfüchse des diesjährigen Wurfs vor dem Bau. Es könnte so schön sein, sagte sich Jorele, doch standen Tränen in ihren Augen – Naruleh war wieder nicht mitgekommen!

Der Abend brach herein. Jorele lag hinter dichtem Gebüsch und grämte sich.

Schritte erklangen. Rücksichtslos brach sich Naruleh Bahn durchs Gestrüpp. Die Füchse flüchteten in den Bau. »Du sollst heimkommen!«, rief sie.

»Warte auf mich«, bat Jorele. Naruleh jedoch machte auf der Stelle kehrt und verschwand zwischen den Bäumen.

Jorele erkannte sie nicht wieder, so hatte sich ihr Wesen geändert: Die geliebte Schwester war ein mürrischer Einzelgänger geworden.

»Was habe ich dir getan? Ich kann nicht dafür, dass Mutti dich nicht mehr leiden kann ... Ist ja kein Wunder, so grantig, wie du geworden bist.«

Schluchzend folgte sie Naruleh.

»Schön, dass du da bist!« Sillronn umarmte sie innig. »Geh aufs Zimmer, mein Schatz, ich bin gleich bei dir und erzähl’ dir eine Gute-Nacht-Geschichte.«

Naruleh, eine Mischung aus Schmerz und Neid im Gesicht, stand unbeachtet daneben.

Frisch gewaschen deckte Jorele sich mit dem schneeweißen Gefieder zu. Mit großen Augen um sich blickend, fuhr sie empor. Die Atmosphäre im Zimmer, seit Naruleh auf Sillronns Verlangen hin ausziehen musste, ohnehin trübselig, war ... beklemmend. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie den Atem anhielt.

Eine Woge Bösartigkeit überflutete vom Fenster her das Zimmer. Zaghaft stand sie auf und klappte den linken Fensterladen einen Spalt breit auf.

Mitten in einem Blumenkasten thronte, Wogen purer Gehässigkeit ausstrahlend, eine ... Distel.

Entrüstet schleppte sie ihn ins Zimmer der Schwester.

»Entferne das!«, rief sie aufs Geratewohl ins Pflanzendickicht. »Wenn dir der Platz für weitere Stachelpflanzen fehlt, darfst du keine mehr annehmen. Mich verschone damit.«

Hatte Naruleh vor Beginn der Sammelleidenschaft, damals, als Sillronn sie zu meiden begann, die pieksenden Gewächse liebend gerne mit einer Gerte geköpft, so löcherte sie jetzt jeden Gast der Sonnenlichtung, ihr beim nächsten Besuch seltene Exemplare mitzubringen.

In der Zimmermitte gediehen auf stark eisenhaltigen Sandböden Färber- und Wolldisteln. Weiterhin gab es stengellose Disteln, Speer- und Eselsdisteln. In den Ecken wuchsen gewöhnliche Acker- und Kratzdisteln samt gut bewässerter Bachdisteln.

Aber zugestanden: Die Stacheldinger passten zur Kratzbürstigkeit Narulehs, die soeben mit sorgsam angelegten Flügeln aus dem Dschungel trat.

»Sieh nur: Dies sind bis zu anderthalb Meter hohe Marien- oder Silberdisteln«, sagte Naruleh ehrfurchtsvoll. »Erkennen kann man sie an den großen, grünweiß marmorierten und dornig gezähnten Blättern. Beachte die an den Stängelspitzen sitzenden purpurrot gefärbten Körbchenblüten ... He, du! Gib mir meine Golddistel zurück; ich habe sie erst gestern neben unserem Haus ausgegraben!«

Schnell pflanzte sie das stachlige Gewächs um. Die Gemeinheit, welche die Pflanze ausstrahlte, schien ihr nichts auszumachen.

Jorele war vergessen. Achselzuckend ging sie zurück und hängte den Blumenkasten ein.

Kaum hatte sie sich hingelegt, stockte ihr erneut der Atem.

Ein kurzer Blick genügte.

»Noch mal nicht«, sagte sie bestimmt, »soll sie besser auf die Golddistel aufpassen!«

Sie schloss Fenster samt Laden und legte sich nieder.

»Komisch ist sie geworden ... Ganz komisch. Spielt nicht mit einem, lacht nie und schämt sich der Flügel! Seit Wochen hat sie sie nicht mehr entfaltet, obwohl es jetzt richtigen Spaß macht: Ich kann bald zum Dachfirst fliegen oder einmal um den Schuppen, und sie wagt nicht einmal einen Hüpfer.«

»Jorele, ich komme!«

Sillronn trat ein und stockte. »Ein Fluidum herrscht hier! Du solltest mal kräftig durchlüften!«

Sie machte es sich auf der Bettkante bequem. »Das heutige Märchen heißt: ›Beim Schuhmacher‹ und geht so:

Nach siebenjähriger Lehre fertigt der emsige Schuster einen Fußabdruck an, nimmt an 35 Stellen Maß und stellt den Leisten her. Anhand dessen schneidet er Oberlederschaft und Futterschaft zu. Nun flacht er die Kanten der Nahtstellen ab, damit sie sich gut aneinanderfügen. Er näht die Stücke zusammen und fügt Vorder- und Hinterkappen hinzu. Damit das Leder sich der Form des Leistens anpasst, weicht er es ein. Er zieht das

Oberleder straff über den Leisten, heftet es an und lässt es trocknen. Nach dem Abschleifen der Sohle und der Absatzlauffläche legt er die Innensohle hinein: Fertig ist der Schuh!«

»Was ist das: ein Schuh?«

»Eine seltsame Gehbremse der Menschen.«

»Immer diese Menschen ...«

Sillronn schaute versonnen ins Leere. »Menschen sind phantastische Geschöpfe. Als Urgroßmama sie erstmals besuchte, zerkleinerten sie das Getreide noch wie wir mit so genannten Reibesteinen, beim letzten Besuch benutzten sie Mörser. Muhme Krisand und ich kurbelten als Kinder emsig Handmühlen, die Großmama von den Menschen mitgebracht hatte. Bei der nächsten Stippvisite besaßen sie gar Wassermühlen, bei der übernächsten Windmühlen. Das Original der Bockwindmühle steht bei den Menschen. Wir haben es nur nachbauen lassen. Und als ich neulich nach Verbesserungen forschte, wollten sie mich ›wegen ungehörig abstehender Spitzohren‹ zu einem ›Schönheitschirurgen‹ schicken und faselten etwas von ›vollautomatisierten Großmühlen‹ – keine Ahnung, was das sein soll.« Sie seufzte. »Menschen sind nicht nur ein äußerst kurzlebiges, sondern auch ein ebenso schnelllebiges Volk.«

»Ph, Menschen! Ich bin keine vier mehr! Eher glaube ich wieder an Klapperstorch und Weihnachtsmann!«

»Es gibt Milliarden von ihnen!«

»Ha! Wie alt bin ich? Zehn! Wie viele Menschen habe ich gesehen? Null!«

»Jorele! Du weißt doch: Das Feenreich besitzt einen vierdimensionalen Abschirmungs-Zauber. Auch Menschen dürfen nicht an Feenstaub gelangen; nicht weil sie alle so böse wie die Schwarzelfen wären, sondern weil sie mitunter schrecklich unbesonnen sind. Alle Menschen, sofern nicht von uns zu nächtlichen Reigen eingeladen, schlagen einen Halbkreis um das Feenreich und schwören dabei, geradeaus zu gehen!«

»Milliarden! Wo sollen die wohnen?«

»Die Welt ist eine große Kugel. Auf ihr ist viel Platz.«

»Eine Kugel! Wenn die Welt rund wäre, wären wir längst runtergefallen.«

Sillronn gab nach. »Sicher, Prinzessin.«

»Mutti?«

»Ja?«

»Was bedeutet es, wenn man immer wieder die gleiche Distel sieht?«

Sillronn sah sie besorgt an. »Nun ... Träume von einem Distelfeld symbolisieren kommende Hindernisse oder ... Feindschaft. Eine einzelne Distel deutet auf geringe Schwierigkeiten hin, einer Enttäuschung, einem Misserfolg, Problemen. Warum fragst du?«

»Ach nichts. – Du, Mutti?«

»Ja, mein Engelchen?«

»Warum darf Naruleh nicht mehr bei mir schlafen?«

»Naruleh? Weil ... nun ... ihr zu alt dazu seid.«

»Wieso? Muhme Krisand und du habt ein gemeinsames Zimmer gehabt, bis ihr erwachsen wart!«

»Das verstehst du nicht. Ich erkläre es dir, wenn du alt genug bist. Schlaf jetzt!«

»Ich will es aber jetzt wissen!« Aufgebracht breitete Jorele ihre Flügel aus.

Fassungslos sah Sillronn das Goldmuster.

»Was ist, Mutti? Du bist ganz blass!«

Dieser heimtückische Wicht! Fast hätte er es geschafft. Anstatt dem magischen Duell aus dem Wege zu gehen, habe ich die Nähe meiner Kontrahentin förmlich gesucht. Hoffentlich verzeiht mir Naruleh.

»Mutti! Was hast du?«

»Nichts. Schlaf jetzt ... Liebling.« Hastig verließ Sillronn den Raum.

»Mutti ...!« Enttäuscht richtete Jorele sich auf und flatterte aufgeregt zur Tür. Gespannt presste sie das linke Ohr ans Holz. Da! Gegenüber knarrte die Tür. Naruleh erzählt sie die Märchen, nicht mir. Es ist schön, dass sie wieder mit ihr redet, aber ich will sie auch hören!

Leise schlich sie sich außer Haus und unter die Fensterbrüstung der Schwester ...

 

»Mein kleiner Liebling. Weißt du, es ist ... Ich erzähle dir ein Märchen, ja? Willst du? Du hast sie doch immer gemocht.«

Naruleh schaute kühl auf ihre Mutter.

»Ach was: zwei. Nein, drei. Fünf Stück erzähle ich dir! Soviel du willst, ja? Jeden Abend, versprochen! Und wenn du sie alle kennst, denke ich mir neue aus.«

»Es ist besser, wenn du gehst.«

»Bitte?« Sillronn schluckte.

»Ich bin die zukünftige Feenkönigin. Wenn du in der Nähe bleibst, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass du es bist, der ich bei einem erbarmungslosen Zweikampf Flügel und Macht samt Unsterblichkeit raube. Also bringe dich lieber in Sicherheit. Sollte dir nicht schwer fallen; hast mich doch die ganze Zeit gemieden wie eine Schwarzelfe!«

»Du erinnerst dich an die Legende der künftigen Feenkönigin?« Sillronn erblasste. »Was bin ich nur für eine Mutter; kriege nicht mal einen banalen Einschlaf-Zauber hin ...«

Sie biss sich auf die Lippen. »Hör zu, ich erzähle dir jetzt alles, aber ... kein Wort an deine Schwester! Versprochen?«

»Versprochen. Wir haben uns ohnehin kaum etwas zu sagen. Im Übrigen besitzt Jorele das Niveau einer Achtjährigen und dürfte kaum etwas verstehen.«

»Gut, hör zu ...«

Naruleh und Jorele draußen vorm Fenster hörten mit offenen Mündern von der »Begegnung« mit dem Gnom Fruckus Kurf-Urck und der ausgesprochenen Verwünschung.

»Kannst du dir mein Erschrecken vorstellen, als ich auf ihren Schwingen das Goldmuster entdeckte! Etwas wahrhaft Fieses ließ er sich einfallen, als er mich belog und dich als künftige Feenkönigin ausgab. Kein Wunder, dass du aus Angst über die Macht in ihr die Flügel einrollst. Leider habe ich das falsch aufgefasst. Vor Jorele müssen wir uns hüten, du und ich! Sie ist die künftige Feenkönigin. Ich hätte es bereits merken müssen, als ich vorhin in ihrem Zimmer diese Atmosphäre purer Schlechtigkeit wahrnahm.«

Tränenüberströmt rannte Jorele zum Lagerschuppen, füllte erst das Brustbeutelchen mit Feenstaub, dann beide Hände und pustete. PLOPP. Zeternd flatterte ein Kohlmeisenpaar auf, als sie, schnell wie der Wind, über dem Wald hinweg nach Westen flog ...

 

Die Golddistel wuchs um das Vielfache und kippte über den Rand des Blumenkastens. Der Wurzelballen, immens angeschwollen, spaltete sich. Aus den Teilstücken entstanden ... Fruckus Kurf-Urcks O-Beine. Während die meisten Stachel zu Körperhärchen schrumpften, wuchsen einige, bis sie ihm fingerlang und ebenso dick aus Kinn und Wangen ragten.

Mit höhnischem Gesicht rappelte er sich auf. »Große Zauberkünste kann man von mir ›kleinem Pfuscher‹ natürlich nicht erwarten«, zischte er, »aber um kurzfristig Goldstreifen auf weiße Federn zu zaubern, reicht es noch. Und um ein anderes kleines dummes Elfenmädchen mit Gedanken an Disteln zu verwirren auch!«

Zufrieden sah er Jorele nach und noch zufriedener auf die zwei Köpfe hinter dem Fensterglas. »Glückwunsch! Ihr seid jetzt allein, Sillronn ... allein mit der künftigen Feenkönigin! Jorele kann Euch im Kampf nicht mehr beistehen. Und ich werde dafür Sorge tragen, dass sie ausgesperrt bleibt! Gar kein Problem – die drei Puks lieben neckische Spiele!«

Hässlich auflachend stapfte er davon.

 

Ein neuer Morgen graute. Jorele flog noch immer windgeschwind über dem gegenüberliegenden Uferbereich der Monster-Bucht dahin. Auch wenn sie auf einer Hochgebirgswiese aufgewachsen war, so fröstelte sie dennoch in ihrem leichten Seidenkleidchen. Verstoßen und tief unglücklich die ganze Nacht in großer Höhe dahinschwebend, trug dazu sicherlich ihre seelische Verfassung ein Gutteil Schuld. Sie fühlte sich schrecklich allein, vermisste ihre Schwester, von der sie bisher nie länger als fünf Minuten getrennt gewesen war.

Schnell glitt sie auf ein Gebirgsmassiv zu. Erschreckend groß wurden die gletscherbedeckten Gipfel. In letzter Sekunde fand Jorele eine Lücke. Schon wollte sie erleichtert aufatmen, da bemerkte sie, dass sie auf die Baumgrenze eines dahinter lauernden Bergs zuschoss. Heftig mit den Flügeln schlagend, landete sie auf einer Hochalm. Wäre nicht vor wenigen Minuten die Sonne aufgegangen, der unvermeidliche Aufprall hätte weh getan. Durstig flatterte sie zum angrenzenden Heideland, schleckte Tautropfen von verblühtem Enzian, stieg über die Baumgrenze hinaus und sah sich um. Die Gegend war ihr gänzlich unbekannt. Einer einsamen Edelweisblüte in einer Felsspalte schüttete sie das kummervolle Herz aus.

Gebrüll ließ den Fels erzittern. Erschrocken erkundete sie die Umgebung.

Tief unten kroch käfergroß eine Kette seltsamer Geschöpfe den Berghang hoch, einige schienen beritten zu sein ...

 

»Hört ihr, Krud steckt im Bau«, rief Ritter von Burg Schatztruhe dem Gefolge zu. »Wie die Späher berichten, hat er nach der Verwüstung der Klamm die Höhlenöffnung in der Steilwand nicht passiert – es gibt einen Zweitzugang, ich wusste es!«

»Den wir seit zwei Wochen suchen«, maulte ein Knappe.

»Ach was, Diethelm! Irgendwo müssen Schleifspuren sein, dann haben wir ihn. Heute noch erlege ich das Monster!«

»Ich glaube an keinen Nebeneingang«, brummte ein zweiter Knappe. »Dutzende Drachentöter suchen seit Jahrhunderten vergebens, ihn zu erlegen. Da oben brüllt ein zweiter Drache, der von Anfang an mit in der Höhle war.«

»Giselher, Er Kindskopf!«, fuhr der Ritter auf. »Wer hörte je von zwei Drachen, die sich vertragen ...!«

 

Jorele atmete auf. Wenn die da unten so gebrüllt hatten, bestand keine Gefahr. Bis sie sich durch den Nadelwaldring gekämpft hatten, war Mittag und sie längst über alle Berge.

Mittag! Die ganze Nacht war sie windschnell geradeaus geflogen. Aber wie weit und in welche Richtung? Völlig die Orientierung verloren hatte sie. Und das Gebrüll machte sie noch ganz konfus!

Wo bin ich nur?, dachte sie verwirrt. Und dann: Ich will heim! Vielleicht erlaubt mir Mutti, sie aus der Ferne zu sehen ...?