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Bbk-P ist die Abkürzung von Biobaukasten-Prinzip, sprich in der gleichnamigen Titelgeschichte können Menschen sich aufgrund fortgeschrittener Gen-Technik bei Gefahr in einzelne Zellen teilen, die gegen Weltraumkälte, Vakuum, Sonnenglut etc. resistent sind, und danach wieder zusammenfließen...
Coverbild: Serg-DAV/Shutterstock.com
„In diesem Buch hat sich Jürgen Müller mehr oder weniger der Apokalypse gewidmet - sei es im wahrsten Sinne des Wortes oder als persönliche Katastrophe der Hauptperson. … Unglaublich, welchen Ideenreichtum Jürgen Müller in diesem Band wieder bewiesen hat, der ausgewählte Werke der letzten beiden Jahre enthält. Ein Muss für den Freund unterhaltsamer und gepflegter Science Fiction mit einem Schuss Ironie, einem Quäntchen Nachdenklichkeit und einer Prise Selbsterkenntnis! Meine Bewertung: 10 von 10 Punkten.“
(aus einer Rezension von Jürgen Eglseer)
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Zum Buch
Jürgen Müller
Das Bbk-P
Science-fiction-Storys
Bbk-P ist die Abkürzung von Biobaukasten-Prinzip, sprich in der gleichnamigen Titelgeschichte können Menschen sich aufgrund fortgeschrittener Gen-Technik bei Gefahr in einzelne Zellen teilen, die gegen Weltraumkälte, Vakuum, Sonnenglut etc. resistent sind, und danach wieder zusammenfließen...
Coverbild: Serg-DAV/Shutterstock.com
Umgeleitet
Regenwald bedeckte alles Land, das nicht Wüste oder Steppe war. Die Luft war schwül und rein, das Wasser klar, dennoch schrieb man das Jahr 2053. Die alte Frau und der Junge durchwateten Furten, gingen stoisch nach Süden, Tag für Tag, Woche für Woche.
»Ist das Meer endlich in Sicht?«, fragte sie zur Mittagsglut. »Oder wenigstens irgendeine Behausung?«
»Moment.« Während sie rastete, erklomm der Junge mühsam den Wipfel eines Baumriesen. Schlafende Faultiere und Fledermäuse hingen kopfüber im Geäst, Affen kreischten, Schlangen glitten Fröschen nach, Schmetterlinge umtanzten ihn. »Ruinen«, rief er. »Eine halbe Meile der Sonne entgegen und schrecklich hoch.«
»Wolkenkratzer«, sagte die alte Frau. »Irgendeine verlassene Stadt. Da ist niemand mehr. Komm weiter.«
Betrübt warf der Junge einen letzten Blick hinüber, dann rutschte und hangelte er sich zu ihr hinab.
»Weiter gehts«, sagte sie, nachdem sie ihm seinen Anteil an den gesammelten Früchten und einer Kokosnuss übergeben hatte.
Die Front der vor Schmutz starrenden blinden oder scheibenlosen Fenster und die von Schlingpflanzen und Orchideen überwucherten Fassaden blieb hinter ihnen zurück, ebenso die zerbröckelten Straßenzüge, auf denen längst Bäume Wurzeln gefasst hatten, und die zu Rost zerfallenden zurückgelassenen Fahrzeuge.
»Schade«, sagte er. Eine Großstadt hatte er noch niemals von Nahem gesehen.
»Komm weiter«, mahnte sie, »bleib nicht zurück!«
Gegen Abend erreichten sie ein Dorf. Hundegekläff empfing sie und Affenmenschengeschrei.
Die Einwohner, allesamt in den Sechzigern und Siebzigern, kamen heran.
»Ihr sucht?«, fragte der Wortführer, ein starkknochiger Mann mit schulterlangem verfilztem Haar.
»Eine Gefährtin für meinen Enkelsohn«, sagte die alte Frau. Der Junge blickte verlegen zur Seite.
»Sucht euch eine unter unseren Enkeln und Urenkeln aus.« Der Anführer deutete auf die Meute der Affenmenschen. »Es sind genügend Weibchen dabei.«
Die Alte sah kurz hinüber, obwohl sie wusste, was sie sehen würde. Im Staub des Dorfplatzes balgten sich struppige Jungen und Mädchen, andere saßen da und lausten sich gegenseitig. Eine Vielzahl neugieriger Augen schaute sie an – aus keinem schimmerte auch nur der Hauch von Verstand: Affenmenschen – jeder sprachbegabte Papagei vermochte sich besser auszudrücken; jedes Schwein, jeder Hund sprach besser auf eine Dressur an.
»Keine Seele«, sagte sie. »Nicht einer eurer Nachfahren besitzt eine menschliche Seele. Es sind allesamt Schimpansen in Menschengestalt.«
»Sagen wir Kapuzineräffchen.« Der Mann schaute trotz der Bitternis mit einer Spur Belustigung auf das Treiben. »So ist es seit dreißig Jahren, hier wie überall. Ihr sucht vergebens, gute Frau. Es wird keinen neuen Adam, keine neue Eva geben. Geht zum Meer und schließt euch den Gaianern an. Dort findet ihr auch unsere Söhne und Töchter. Grüßt sie von uns.«
»Meiner Tochter wurde noch vor kaum zehn Jahren ein Junge von Verstand geboren«, sagte sie, als hätte sie nicht zugehört, »irgendwo auf der weiten Welt muss es ein dazugehöriges gleichaltriges Mädchen geben.«
»Geht zum Meer«, wiederholte er, »und helft den Gaianern; das bringt eher Nutzen.«
»Zum Meer wollten wir ohnehin, wenn auch aus anderem Grund«, sagte sie. »Gebt uns ein Nachtlager, morgen ziehen wir weiter.«
Ohne Abschied verließen sie tags darauf den Ort.
Die Woche darauf fanden sie die ersten Fischerhütten, das weite offene Meer und einige abgehärmte Frauen, allesamt in den Dreißigern bis Fünfzigern, sowie schreiende und tobende oder sich lausende Affenmenschen.
»Keine neue Eva darunter«, sagte die alte Frau zum Jungen, »langsam verliere ich jede Hoffnung. Seid ihr Gaianer?«
»Unsere Männer«, sagten die Frauen. »Sie sind mit den Booten draußen.«
»Was heißt das – Gaianer?«, fragte der Junge.
Tumult brach aus. »Ein Menschenjunges, das sprechen kann!«, riefen die Frauen.
»Das letzte«, antwortete die alte Frau. »Meine Tochter brachte ihn zur Welt, bevor sie im Kindbett starb. Wir suchen eine Gefährtin für ihn; ein Mädchen mit Herz, Hirn und Verstand.« Verächtlich blickte sie zum tobenden Nachwuchs des Fischerdorfs hinüber. »Keine leere Hüllen.« Niemand nahm ihr die Blicke und Worte übel.
»Ein Mädchen mit Herz, Hirn und Verstand?«, sagten die Frauen. »Eins, das denken kann? Das gibt es hier und selbst an der ganzen Küste entlang nicht.«
»Wir werden weiterziehen«, sagte die alte Frau. »Morgen.«
»Was ist das: Gaianer?«, fragte der Junge nochmals.
»Eine Art Sekte«, sagten die Frauen. »Unsere Männer gehören dazu. Du wirst sie kennen lernen. Frag sie danach. Sie werden dir alles erklären.«
Am frühen Morgen kehrten die Männer vom Fischfang zurück. Doch ihre Boote waren fast leer. Fisch zum Zwecke des Verzehrs interessierte sie kaum.
»In allen Weltmeeren treiben sie sich herum, diese Delfine, aber wir werden sie dennoch ausrotten«, riefen sie stolz. »Und Neuigkeiten haben wir mitgebracht! Selbst im einst hoch technisierten Europa ist die Zivilisation zusammengebrochen, werden Städte und Dörfer von einem dichten, finstren Urwald überwuchert, wie es ihn zur Zeitenwende gab. Alle Elektrizität ist erloschen. Zwar leben noch immer erfahrene Ingenieure, aber niemand hat mehr Interesse am Hochfahren der Generatoren und der Reparatur des Stromnetzes; die eine Hälfte der Menschheit ist in Apathie verfallen und die andere agiert in Sekten ähnlich der unseren. Sie machen wie wir Jagd auf jedes halbwegs intelligente Tier, kämpfen an vielen Fronten, erschlagen jeden Delfin und jeden Hund, der klug aufschaut und auf ein ›Apport‹ reagiert, jeden ›listigen‹ Fuchs. Selbst Frauen machen mit! Weltweit drehen sie derzeit jedem Papagei, jedem Beo, jedem Ara, jedem Kakadu, jedem Kanarienvogel, jedem männlichen Wellen- und Nymphensittich, jedem Kolkraben, der kaum verständlich ein Wort krächzen kann, jedem Star, jedem Buchfink, jedem Eichelhäher, jedem Kranich, jeder Elster, jeder Krähe und jeder Dohle den Hals um. Hört zu, Frauen! Zieht von nun an, während wir auf See sind, in die Wälder und ebnet jeden Ameisenhaufen, jeden Termitenhügel ein, räuchert die Bienenstöcke aus, misstraut jeder Schwarmintelligenz und jedem sprachbegabten Vogel, tut euren Anteil am Überlebenskampf. Findet Gaia keine Ausweichkörper mehr, wird sie die Seelen wieder in die Herzen unserer Kinder schicken müssen.
Ja – daran glauben wir«, so wandten sie sich dem Jungen zu. »Wir glauben an James Lovelocks Hypothese, dass die Erde ein Lebewesen sei, ihre Biosphäre eine Einheit bilde. Wir glauben daran, dass die Erde – Gaia – sich in regelmäßigen Zeitabständen von zwölftausendfünfhundert bis dreizehntausend Jahren durch Kippen der Erdachse, dem so genannten ›Polsprung‹, einer Selbstreinigung unterzieht. Wir glauben daran, dass der letzte dieser Selbstheilungsversuche etwa um zehntausendfünfhundert vor Christus stattfand und die Sintflut zur Folge hatte. Und wir sind überzeugt davon, dass Gaia diesmal einen anderen Weg wählte, um all die unschuldigen Tier- und Pflanzenarten zu bewahren, denn was können sie für die Verbrechen des chronisch kranken Menschengeschlechts. Weiterhin glauben wir daran, dass Gaia eine ›Erdseele‹ besitzt und Teilstücke davon an die Individuen der höchstentwickelten Tierart ›verleiht‹, nach deren Tod zurücknimmt, reinigt und erneut vergibt und dass sie diese ›Seelenstückchen‹ oder -funken seit nunmehr dreißig Jahren irgendeiner anderen hoch entwickelten Tierart ›vermacht‹. Diese Tierart gilt es auszurotten, damit unsere Nachkommen wieder menschlich werden! Manche von uns Gaianern dringen sogar in die Wüsten und Trockensavannen Südafrikas vor und räuchern die Erdmännchen aus, denn viel zu menschenähnlich wirken sie, wenn die Wächtertiere sich bei drohenden Gefahren vor den Eingängen ihrer Erdhöhlen aufrichten, als dass man sie nicht ernst nehmen könnte, nicht auf den Verdacht käme, sie besäßen die Seelen und den Verstand unserer verlorenen Kinder. Wenn wir alle potenziellen Wirtskörper vernichtet haben, wird Gaia die Seelen wieder in unsere Nachkommen stecken müssen, weil ihr keine andere Möglichkeit bleibt.«
»Aber der Junge? Wieso besitzt er Verstand?«
»Ein Versehen. Ein Einzelfall, der nichts zu bedeuten hat.«
»Ich muss nachdenken«, sagte die alte Frau. »Vielleicht helfen wir euch beim Kampf. Viel zu müde sind meine Glieder für den weiten Weg der Suche nach einer Gefährtin für ihn. Vielleicht zieht er allein weiter, sobald er erwachsen ist, vielleicht nicht. Ich glaube, ich werde mich hier zur Ruhe setzen.«
»Ihr seid uns willkommen. Bleibt, solange ihr wollt.«
Es wurde Nacht. Hoch droben, unter dem Kronendach, erwachte das erste der unzähligen durch Algenbewuchs des Pelzes grünstichigen Faultiere. Es labte sich an Knospen, jungen Trieben und Früchten, die ihm fast ins Maul wuchsen. Es war sich bewusst, einmal anderes, mit Feuer Zubereitetes, gegessen und eine andere Gestalt besessen zu haben, eine so genannte menschliche. Es war sich bewusst, in Form vieler Menschengestalten gelebt zu haben. Es wusste, dass es noch immer viele dieser Menschen gab, Alte und Uralte, die in wenigen Jahrzehnten aussterben würden. Aber dieses Wissen kümmerte es nicht; mit der Menschheit hatte es abgeschlossen. Es wusste von unzähligen weiteren denkenden Faultieren im weiten Erdenrund, Ais und Unaus. Und es wusste von der Schönheit des Weltalls, von den Sonnen und Planeten, Galaxien und den Rätseln des Universums. Träge und glücklich schaute es in die Runde, sann über dies und das nach und dankte Gott für diese wunderbare Schöpfung, die es zu erhalten galt.
Gegen Morgen verspürte es Druck. Gemächlich kletterte es unter Benutzung der langen, gefährlichen Krallen den Stamm hinab, schleckte genießerisch eine Anzahl Tautropfen und erleichterte sich. Nach der Kotabgabe kletterte es wieder empor. Die Bäume würde es nie verlassen, diesen Fehler würde es nicht begehen. Glücklich verschlief das Faultier auch diesen Tag.
Heulen und Donnern riss ihn aus dem Schlaf. Es klang, als bräche in nächster Nähe die Welt entzwei. Auf seinen Armen bildete sich Gänsehaut, trotz der Lufttemperatur von dreiundzwanzig Grad Celsius, wie sie im Norden und Süden, im Osten und Westen ›sommers‹ und ›winters‹ herrschte – es gab keine Klimazonen auf diesem Planeten, keinen Hagel, keinen Schnee; er hatte im Freien geschlafen. Im fahlen Mondschein sah er die Vernichtung nahen. In nächster Nähe brach die Welt entzwei: Auf weiter Front zerbröckelte hinter ihm das Land. Eine neugebildete Schlucht, kilometertief, breiter und erst recht länger als die beste Sicht, drohte ihn und jedes Wesen in der Nähe zu verschlingen. Tief unten lag nun der ›feste Boden‹, doch wie lebend hinuntergelangen? Alles wich vor dem gemächlich, doch stetig näher rückenden Abgrund zurück, flüchtete auf Pfoten, Füßen oder Hufen. Jonathan schloss sich ihnen im Laufschritt an, überholte die Langsamen, Verstörten und Zögerlichen, schloss sich den Dauertrabern an, brachte einen gehörigen Abstand zwischen sich und dem Heulen und Donnern, zwischen sich und der Vernichtung.
Niemand war bisher zu Schaden gekommen, alles und jeder war rechtzeitig geflüchtet. Dann stoppte sie das erste Ufer des ›Siebenläufigen Flusses‹. Aus sieben Quellen kommend, mit sieben Mündungen ins Meer strömend, vereinigten sich alle paar Kilometer zwei der Teilarme und teilten sich kurz darauf wieder wie durch Weichen verbundene parallele Schienenstränge; ein treibender Baumstamm schwamm mal links außen, dann in der Mitte und auch einmal im rechts gelegenen Arm. Hier besaß der Fluss nur vier getrennte Flussbetten, keins war schmäler als fünfzig Meter, eins breiter als eine Viertelmeile; keine Meile voraus waren es bereits wieder sechs, nicht ganz so breite. Jonathan musste hinüber, bevor der alles verschlingende entstehende Grabenbruch heran war und sich auch den Siebenläufigen Fluss einverleiben würde.
All die Pfoten, Füße und Hufe sprangen hinein, strebten, Wasser tretend, zum anderen Ufer. Jonathan verschnaufte kurz und warf sich in die Fluten, kroch ans erste Ufer, glitt in den zweiten Flussarm, den dritten, den vierten und letzten, während er hinter sich bereits das Wasser in die Tiefe stürzen hörte.
Erschöpft kroch er an Land, richtete sich keuchend auf und schloss sich taumelnd den Tieren an, die es bis hier herüber geschafft hatten.
Endlich, als er fast zusammenbrach, als Lunge und Beinmuskeln zu versagen drohten, hatte der Grabenbruch die größte Ausdehnung erreicht. Jonathan ließ sich ins Gras fallen und atmete tief durch: Er hatte auch den zweiten Vormittag auf dieser Welt überlebt.
Innere Ruhe fand er nicht; bald würde die nächste Katastrophe nahen, ein Berg einstürzen, der Meeresspiegel steigen, irgendetwas in der Art. Er wusste, was alles geschehen konnte, aber nicht wann und wo. Dieses Nicht-Wissen machte ihn beklommen. Ängstlich schaute er sich um. Wo würde sich als Nächstes etwas tun? Lange konnte es nicht mehr dauern. Dies war keine Welt der Beständigkeit.
Und richtig! Schon bebte der Boden, wuchs am Horizont ein Hunderte Meter hohes Plateau gen Himmel, dessen Rand bedrohlich auf ihn zurückte.
Bevor er reagieren konnte, riss ihn eine gewaltige Kraft empor, heraus aus der Welt ... aus dieser Welt.
Noch nass und stellenweise schmutzverkrustet, landete er in einem Besuchersessel in Kyrill Spiskes Büro. Obwohl hier nichts schwankte, hielt er sich verbissen an den Armlehnen fest.
Ein zweiter, ihm fremder und äußerst elegant gekleideter Besucher erhob sich überrascht aus dem Nebensessel.
»Keine Aufregung, Herr Oberbürgermeister«, sagte Spiske, »dies ist lediglich der Bewerber, der sich auf unsere letzte Stellenausschreibung meldete. Vorgestern, wenn ich mich recht erinnere ...«
Jonathan wusste nicht, was er antworten sollte, und Spiske redete weiter, als sei er nicht anwesend. »Mich ehrt Ihr Vertrauen in unsere Firma, doch können wir Ihrem Wunsch nicht entsprechen, jedenfalls nicht termingerecht. Die Übertragung neuer Weltentwürfe in die Realität erfolgt mit dem Geist, nichts anderes schafft dies, kein Supercomputer oder sonst etwas ist dazu in der Lage, nur der menschliche Geist ... ein genialer Geist, wie es ihn unter hunderttausend Personen einmal gibt. Nur diese Genies sind imstande, die Vorstellungen, Pläne und Modelle der Planer in funktionierende Matrizen umzuwandeln, ohne dass die Hälfte fehlt, die Meere kein Wasser bergen, die Atmosphäre keinen Sauerstoff, die Wälder keine Pilze et cetera. Bis ins kleinste Detail müssen sie den Plan im Gedächtnis behalten und in ein stimmiges Gesamtbild umwandeln, das kristallisiert und wahr wird. Oder möchten Sie Ihre Stadt ohne Gebäude und Parks? Sehen Sie hinter diese Scheiben, Oberbürgermeister! Ganze achtzehn Leute habe ich derzeit. Sie arbeiten an Projekten, die vor Monaten in Auftrag gegeben wurden. Auch Ihren Auftrag, sosehr die Vergütung lockt, kann ich nur in die Warteliste geben, eine prompte Erledigung ist mir nicht möglich, will ich nicht als bestechlich gelten. In spätestens sieben, acht Jahren werden diese Leute ausgelaugt sein, wird die ungeheure Konzentration sie nutzlos für mein Unternehmen gemacht haben, werden sie neuen Leuten weichen müssen ... die ich verzweifelt suche.«
Vor seinen Füßen bildete sich eine Pfütze. Jonathan starrte verlegen auf den teuren Anzug des Oberbürgermeisters und kam sich völlig fehl am Platze vor. Dennoch fühlte er sich angesprochen und räusperte sich.
»Entschuldigen Sie, Herr Spiske«, sagte er, »ich weiß nicht weshalb, aber ich muss wohl versehentlich in mein Modell gefallen sein.«
»Soso«, sagte Spiske, dann lächelte er. »Das sind Sie nicht. Ich habe Sie hineingestoßen.«
»Hinein–?«
»–gestoßen«, sagte Spiske. »Ein kleiner Schubs, in voller Absicht und mit Vergnügen. Ich wollte, dass Sie sich aus eigner Anschauung des Unterschieds zwischen einem privaten Abenteuerurlaub und des allgemein herrschenden Wunsches nach einer überlebensfördernden Umwelt bewusst werden. Ich denke, die vergangenen vierundzwanzig Stunden waren ausreichend, um Ihnen das Unsinnige Ihres Projekts vor Augen zu halten?«
Jonathan schaute ihn verständnislos an.
»Herrgott«, polterte Spiske los, »jedes Völkchen, das kaum mehr Einwohner zählt als eine Sippe dunnemals, wünscht sich heutzutage eine eigne Welt. Eine Welt, auf der es in Frieden leben und sich grenzenlos ausbreiten kann. Niemand aber begehrt ein Dauer-Inferno, eine weltweite Überlebens-Arena, eine Apokalypse auf Raten! Multikulturelle aus den Nähten platzende Großstädte, die nicht mehr wissen, wohin sie sich noch ausdehnen sollen, beauftragen uns ebenso wie diverse, von feindlichen Staaten umschlossene Länder. Alle wollen sie sich planetenweit ausdehnen auf einer eigenen Welt. Vor hundertfünfzig Jahren noch träumte Philip José Farmer vom Bau so genannter Taschen-Universen, heutzutage sind einige wenige Begnadete – darunter auch Sie, Bründel! – in der Lage, sie mittels ihrer geistigen Kräfte zu erschaffen. Weshalb verschwenden Sie Ihre Begabung und erzeugen Welten, die keiner haben will?«
Jonathan war bis eben fest davon überzeugt gewesen, dass die Leute sich um seine Welt reißen würden. Er saß starr, mit offenem Mund, brachte keinen Ton hervor.
»Sehen Sie ihn sich an, Herr Oberbürgermeister. Wir brauchen dringend Nachwuchs. Und wer meldet sich bei uns ...« – Spiske raufte sich theatralisch die Haare –, »wer sind diese Genies, die bei uns anklopfen? Immer und immer und immer wieder sind es Burschen, die meinen, die Schöpfung neu erfinden, uns mit Hohl- und Scheibenwelten, irgendwelchem Schnickschnack oder nie da gewesenen Naturgesetzen beeindrucken zu müssen! Jeder versucht jeden mit Innovationen zu übertrumpfen, immer und immer wieder, obwohl wir doch weltweit in jeder Annonce nach Erschaffern solider, beständiger Welten fahnden. Wie satt ich das habe! Wie nannten Sie gleich Ihr Modell, Bründel?«
»Panta rhei«, stammelte Jonathan.
»Panta rhei«, stieß Spiske hervor. »›Alles fließt‹, alles verändert sich! – Wie finden Sie eine Welt, auf der geologische Prozesse wie zum Beispiel die Gebirgsbildung in Minutenschnelle ablaufen und die Umformung der Kontinente durch Kontinentaldrift innerhalb von Wochen?«, wandte er sich an seinen Besucher. »Möchten Sie sie erwerben?«
»Sehen Sie, Bründel«, sagte Spiske, als der Oberbürgermeister erschrocken den Kopf schüttelte, »unsere Kunden wünschen keine Welten, auf denen sie alle Nase lang umkommen können, wo an jedem Ort und zu jeder Zeit immer neue, unbekannte Lebensgefahren warten. Sie haben kein Interesse an variierten Naturgesetzen, an Neutrinos, die plötzlich Masse besitzen, Monde und Planeten durchlöchern, oder ähnlichem Unsinn. Gehen Sie heim, konstruieren Sie eine Welt, in der jede Materieform Bestand hat, in der man sich orientieren und zurechtfinden kann, eine gewöhnliche Welt. Kaschieren Sie die Anwesenheit der realen Welt und alle Hinweise auf alle anderen Taschen-Universen und kommen Sie anschließend mit diesem Modell zu mir. Taugt es etwas, können Sie sich als eingestellt betrachten und während Ihrer Freizeit so viele außergewöhnliche Welten schaffen, wie sie nur wollen; Hauptsache, Sie befördern niemanden hinein. Noch lieber wäre es mir allerdings, Sie beschäftigten sich ausschließlich mit verkaufbaren Projekten und verzichteten auf solchen Unfug. Wir produzieren das Modell ›Erde‹ seit vielen Jahren, in verschiedenen Variationen, mit leicht abgeänderten Parametern, aber immer mit einer garantierten Beständigkeit der Schöpfung. Der Schutz vor Weltraumstrahlung, Kometeneinschlägen, Supernovä und Schwarzen Löchern et cetera gehört zur Grundausstattung unserer Taschen-Universen. Dies zu gestalten, dürfte Ihnen ein Leichtes sein. Möchten Sie bei uns anfangen, Bründel?«
Jonathan schüttelte leicht den Kopf. Welch dumme Frage; weshalb war er sonst hergekommen?
»Nicht?«
»Doch, doch. Selbstverständlich möchte ich«, sagte er eilfertig und nickte heftig.
»Gut. Hier ist Ihr Arbeitsvertrag, erst mal auf ein halbes Jahr Probezeit. Lesen Sie ihn durch und unterschreiben Sie, ehe Sie mir noch zur Konkurrenz gehen. Und noch eins: Alle meine Konstrukteure erproben ihre Welten persönlich. Gelangen sie nicht zurück beziehungsweise nicht lebend oder invalide, war es eine Fehlkonstruktion. Also geben Sie sich Mühe.«
Kyrill Spiske, Chef der Firma YOUR NEW WORLD, schenkte seinem Besucher ein strahlendes Lächeln. »Sehen Sie, Oberbürgermeister, vielleicht erhalten Sie Ihre eigne Welt viel eher, als sie eben noch glaubten!«
»Melissa! Kommst du?«
Nach drei weiteren Rufen und einigem Fluchen endlich stöckelte sie aus dem Haus. Sie sah aus, als wollte sie in die Oper. Und dabei ...
Wütend schlug Jähningen die Autotür hinter ihr zu. Noch hatte sie sich nicht angeschnallt, da rollte der Wagen schon vom Grundstück. Jähningen seufzte glückselig auf und gab Gas. Auf diesen Tag hatte er fast zwanzig Jahre gewartet.
Stunden später, nach einer eilig verschlungenen Mahlzeit in einem Rasthaus und dreimaligem Verfahren, parkte er aufatmend neben Dr. Peitz’ Privatklinik ein, mitten im Grünen, abseits der Stadt, abseits allen Trubels. Und neugieriger Gaffer.
Dr. Peitz empfing sie, als wären sie ein Diplomatenehepaar, und geleitete sie höchstpersönlich in ihre Unterkunft. Nur der rote Teppich fehlte. Und anstatt des Diplomatenköfferchens hatte Melissa sage und schreibe vier prall gefüllte Reisetaschen im Kofferraum verstaut. Für anderthalb Tage! Und fast alles für sich. Wenn Jähningen beim Packen nicht mit Hand angelegt hätte, wären wahrscheinlich nicht einmal ein paar frische Socken darunter gewesen und ein neues Hemd. Und das alles würde er morgen brauchen, schweißüberströmt und blutbespritzt nach der glücklichsten Stunde seines Lebens. Thrill pur. Nur dafür verlohnte es sich zu leben!
»Stehen sie bereit?«, fragte er Peitz als Erstes, kaum dass sie unter sich waren.
»Aber ja. Fünf Klone, wie vertraglich zugesichert.«
Jähningen seufzte abermals auf, diesmal aber eine Spur verdrossen. Zehn wären ihm lieber gewesen oder zwanzig, aber schon diese fünf hatten ihn Hunderttausende gekostet für zwei Jahrzehnte Aufenthalt, Ernährung und Erziehung in Peitz’ unterirdisch gelegenen illegalen Klonbunkern.
»Sie sind mein Fleisch, sie gehören mir. So wie Gott das Recht besitzt, das ganze verdorbene Menschengeschlecht zu ersäufen, kann ich mit ihnen anstellen, was ich will: sie quälen, sie zerstückeln oder sie langsam an ihren Wunden verfaulen lassen. Ohne mich gäbe es sie ja nicht einmal.«
»Tun Sie sich keinen Zwang an«, sagte Peitz. »Es sind Klone ohne Bürgerrechte.«
»Gut«, sagte Jähningen lahm und wusste nicht weiter. Er wollte handeln, endlich handeln, in Blutrausch geraten und ihn ausleben, aber keine Reden halten. »Ich werde ihnen jedes Glied einzeln abhacken und bei lebendigem Leibe die Bäuche aufschlitzen, Nasen und Ohren abschneiden, die Zungen herausreißen, ihnen die Köpfe abhacken ...« Er verstummte.
»Sie brauchen sich dessen nicht zu schämen«, sagte Peitz. »Alle andern Menschen verspüren den selben Drang in sich.« Jedenfalls diejenigen, die nicht wortgewandt genug sind, um sich der Attacken, die das tägliche Leben bereithält, auf sprachlichem Wege zu erwehren. »Dies ist uns in die Wiege gelegt. Weshalb sonst würden wir als Kinder mit Holz- und Plastikschwertern aufeinander los gehen und Indianerfilme lieben? Sie sind nichts Besonderes oder geistig krank. Nichts ist in Ihnen, dessen Sie sich schämen müssten. Diese Regungen sind nur allzu menschlich. Unterdrückt man sie jedoch zu lange Zeit, gibt es keine Kriege, keine Schlachten, keine Hahnenkämpfe, Duelle, Ritterspiele, Gladiatorenkämpfe oder wenigstens die Möglichkeit zu straffreien Schlägereien, so wie es heutzutage auf der Welt ›leider‹ der Fall ist, dann werden sie übermächtig, wollen mit aller Macht befriedigt, ausgelebt werden. Was können Sie dafür, dass Sie zu spät geboren wurden? Aber Ihre Qual hat ein Ende. Ich gebe Ihrem Verlangen Raum und Gelegenheit. Morgen früh von neun bis zehn.«
In siebzehn Stunden endlich, nach über zwanzigjährigem Harren, würde er am Ziel seiner Wünsche sein! Wie würde Melissa ihn bewundern, ihn, den fünffachen Sieger! In ihrer Verehrung sonnen würde er sich bis ans Ende seiner Tage.
Nach langer schlafloser durchwachter Nacht betrat er anderentags die unterirdische Kampfarena, ein scharfschneidiges Schwert in der Hand. Unmittelbar hinter dem Panzerglas saß Dr. Peitz. Melissa aber thronte hoch droben in einer Loge, ein Fernglas in der Hand.
Drüben, an der gegenüberliegenden Seite, erschienen die fünf Klone. Heute erfuhren sie den Sinn ihres Lebens. Es gab sie nur, um von ihm getötet werden zu können; das war ihr einziger Zweck.
Jähningen zückte das Schwert und stieß einen Kampfschrei aus.
Sie erwiderten sein Gebrüll und kamen näher. Zu fünft. Er sah sie, wie er sich vor zwei Jahrzehnten im Spiegel gesehen hatte: jung, stark und selbstbewusst.
»So war es nicht abgemacht!«, rief Jähningen. »Einzeln, schön einer nach dem andern, sollten sie sich mir stellen.« Aufgeregt wich er zurück und klopfte gegen das Panzerglas. Peitz reagierte nicht.
Jähningen wandte sich um. »Einer«, schrie er, »nur immer einer, nicht alle auf einmal!«
Sie schienen ihn nicht zu hören. Hatte man ihnen das Sprechen nicht beigebracht? Da sah er ... ihre Schwerter.
»Verrat«, schrie er, »Verrat! Lasst mich raus.« Mit bloßen Händen hämmerte er gegen das Panzerglas. »Doktor! Doktor, öffnen Sie! Melitta, Hilfe!«
Doktor Peitz griff nach einem Mikrofon. »Wehren Sie sich«, hörte Jähningen seine Stimme in der Arena schallen. »Ihre Frau möchte dem Stärksten ihre Liebe schenken, nur dem Stärksten. Keinem Versager.«
»Bitte?«
»Jähningen, kämpfen Sie! Alle fünf wissen von ihrer Chance, hinauszugelangen ins pralle Leben, Ihr Leben zu leben und von Ihrer Frau geliebt zu werden, sie, die verachteten Klone, die noch niemals eine Frau von Nahem gesehen haben oder ein Stückchen Welt auf der Erdoberfläche! Seit sie denken können, haben sie von nichts anderem geträumt als von diesem Tag, von der Gelegenheit, in die Freiheit zu gelangen, an Ihre Stelle zu treten, wie es ihnen Ihre Frau versprach, sollten sie Sie besiegen.«
Jähningen schüttelte den Kopf, ungläubig und dennoch wissend, dass alles der Wahrheit entsprach. Er sah Melissas Blicke, mit denen sie die fünf Gestalten musterte, als wären es die California Dreamboys, und wusste Bescheid: So hatte sie ihn einst, damals vor über zwanzig Jahren, als er noch ansehnlich und nicht halb verfettet war, mit den Blicken verschlungen. Und er sah in den Augen der Klone, dass sie wie er waren, ebenso zielbewusst und erbarmungslos. Nachdem sie ihn beseitigt hatten, würden sie sich gegenseitig abschlachten, bis nur noch einer übrig war.
Heißer Atem traf ihn im Nacken. Eine Schwertspitze stach ihn auffordernd in die Seite. Jähningen wich zurück, wandte sich um und stand mit dem Rücken zur Wand. Das war aber auch der einzige Vorteil, den er hatte. Er hob das Schwert, schwenkte es von links nach rechts. Da schlug der erste zu. Metall klirrte auf Metall, Funken stoben, und nicht einmal einen Schild in der Linken, nicht den geringsten Schutz hatte er. Und schon wieder blitzte die glänzend scharfe Schneide auf. Ein anderer stieß nach ihm, ein dritter ...
Melissa beugte sich vor und ließ die Augen nicht vom Fernglas, sog jede Szene, jede Bewegung in sich auf, bis alles vorüber war. Dann winkte sie dem Sieger.
Gemessenen Schritts, alles in sich aufsaugend, als hätte er diesen Anblick noch nie gesehen, so ging Alessio Wabnitz die Einkaufsmeile entlang. Links lockte eine Schaufensterfront, rechts ebenso. Leuchtreklamen stachen ihm in die Augen, Straßencafés luden zur Einkehr, eine Vielzahl Werbespruchbänder und schreiend bunte Plakate der Litfasssäulen lockten, dennoch schlenderte er achtlos an allem vorüber. Beutelbehangene und kartonschleppende Leute strömten aus Geschäften und Warenhäusern, gaben in einer Stunde mehr Geld aus, als ihm für einen Monat zur Verfügung stand. Er aber ließ sich im Strom der Passanten treiben, wurde zu einem Nichts inmitten des Trubels, ein Nichts ohne Einkaufsbeutel und Geschenkkartons, aber dennoch schwer bepackt – mit all seinen Träumen, Enttäuschungen, Ängsten und Hoffnungen. Heute würde er ein neues Leben beginnen.
Die Läden wurden rarer, die Fußgänger zerstreuten sich, auf den Straßen herrschten wieder die Automobile, drängten ihn und ein Dutzend andere Leute vor einer Ampel zu einem Häufchen Wartender zusammen. Noch stand sie auf Rot, da nutzte eine vielleicht Sechsjährige eine vermeintliche Lücke im Verkehr, zwängte sich von hinten nach vorne und dicht an ihm vorbei und lief auf die Fahrbahn. Bremsen kreischten, ein kleiner Körper flog durch die Luft, schlug auf, Blut spritzte, eine Frau schrie. Alles drängte nach vorn, riss Alessio mit sich. Und inmitten dieses Pulks schrie die Frau, anscheinend die Mutter der Kleinen, noch mehr Leute zusammen, wies anklagend auf ihn, hörte nicht auf zu schreien und zu zetern. Schon nahte ein Streifenwagen.
Für Alessio jedoch hatte sich die Welt aufgespaltet, gab es ihn und alle andern zweimal. Hier stand er umringt von schreienden Menschen vor dem schwerverletzten bewusstlosen Unfallopfer, und dort, am Fahrbahnrand, stand er, das schreckensbleiche, aber unverletzte Mädchen an der Hand. Er hatte sie im letzten Moment zurückgerissen. Dieser ›er‹. Oh, warum war er nicht schneller gewesen, hatte er nicht reagiert?
»Er ist schuld«, schrie die Frau. »Er hätte meine Tochter zurückhalten können! Sehen Sie?« – sie wies mit zornbebenden Fingern auf das mehr und mehr verblassende Mädchen am Straßenrand, das von einer ebenso durchscheinenden Doppelgängerin ihrer selbst in die Arme gerissen wurde.
»Tut mir leid, Frau Rohlfs«, sagte der vorderste Polizist, nachdem er seinen Blick kurz zum Straßenrand gerichtet hatte. »Aber eine Fehlreaktion ist nicht strafbar.«
Von ferne erklang das Heulen eines Rettungswagens. Die Polizisten machten die Straße frei, befragten Alessio und andere Umstehende als Zeugen, nahmen ihre Personalien auf und ließen ihn laufen.
Und Alessio lief, lief die Straßen entlang und schloss hin und wieder die Augen und überzeugte sich vom Vorhandensein seiner zahllosen ›Brüder‹.
Wie ein Signal-Photon, das über ›geheime Quantenbotschaften‹ bei einem ›Quanten-Auslöscher‹ genannten wissenschaftlichen Experiment alles über den Zustand des abgespaltenen, weit entfernten Kontroll-Photons weiß, kannte Alessio jedes Detail aus den Leben seiner Kopien, vor allem aber jedes positive Detail. Irgendwo und irgendwann im Multiversum tritt jede nur denkbare Möglichkeit ein, ständig spaltet das Universum sich in eine ungeheure Zahl von Verzweigungen auf, ebenso auch der Körper und das Bewusstsein eines jeden Menschen. Unzählige Replikate, die annähernd gleiche oder völlig verschiedene Wege beschritten wie er. Warum aber traf alles Schlimme, Böse, Verächtliche immer nur ihn?
Nebenan, inzwischen schon von der Konsistenz dichten Nebels, lud Frau Rohlfs Nummer Zwo seinen Doppelgänger in ein Cafe ein, wo er ihr von seinen Nöten erzählte. Sie verwies ihn an eine Bekannte, deren Mann ein Fabrikbesitzer war. Ein Anruf, und auch diese Alternativ-Kopie besaß einen festen Job. Hätte er doch rechtzeitig zugegriffen! Alessio verspürte einen unsäglichen Schmerz der Verzweiflung in seinen Eingeweiden wühlen.
Er wusste nur zu gut, wie glücklich und zufrieden sein bisheriges Leben verlaufen wäre, hätte er seine Jugendfreundin nicht verlassen, Valerie: dieses verspielte, zärtliche, zutrauliche liebenswürdige Wesen, das er gegen die ein Jahr ältere, geheimnisvoll und unnahbar wirkende Rahel eingetauscht hatte – eine leere, fade, emotionslose Hülle, wie ihm jetzt klar war. Von diesem Punkt an war alles daneben gegangen. Nur um Rahel zu beeindrucken, hatte er sich als etwas Besonderes aufgespielt und sich um alle Chancen und alles Glück gebracht. Nur deshalb hatte er später eine Frau heiraten müssen, die er noch weniger liebte als Rahel. Zahllose Kopien seiner selbst aber waren noch glücklich mit ›ihrer‹ Valerie, besaßen zwei, drei oder vier gut geratene Kinder mit ihr. Und er wusste von diesem Glück, das ihm nicht vergönnt war.
Ja – zu jedem beliebigen Moment, selbst jetzt beim Dahinlaufen, konnte er alles über eine jede seiner Alternativ-Kopien erfahren, so als stünde, säße, läge oder liefe er unmittelbar neben ihnen, als wären sie seine Geschwister, die er kannte wie sich selbst. Sogar wenn er sich um das Leben eines dieser Replikate seit Jahren nicht mehr gekümmert hatte, wusste er im gleichen Augenblick, als er es wiedersah, von jeder Erfahrung, die der andere inzwischen gemacht hatte, von jeder durchlebten Stimmung, jeder Freude und jedem Verdruss, von jeder Niederlage, jedem Sieg. Und zumeist waren es Triumphe, die auf ihn einströmten, und Vorfreude auf das Kommende, wie er sie nicht einmal zu Weihnachten erlebte. Er wusste es seit langem: Welt um Welt spaltete sich von der seinen ab, und immer verblieb er auf der falschen, der Verlierer-Seite. Warum landete er nicht einmal dort, wo er den Hochzeitstag nicht vergaß, einen Job erhielt, geliebt und anerkannt wurde – warum nicht? Laut Wahrscheinlichkeit musste es in irgendeiner Alternativ-Welt einen Alessio Wabnitz geben, dem es noch schlechter erging als ihm. Gefunden hatte er ihn unter all den Tausenden noch nicht. Er konnte doch nicht alles falsch machen, oder? Irgendwann musste er einmal Glück haben, er der Sieger sein, der von allen andern Kopien beneidet wurde. Er war sechsunddreißig Jahre alt und wartete noch immer auf diesen Augenblick. Denn immer wieder erlebte er Fehlschläge, Enttäuschungen, Katastrophen ...
Als er publik machte, dass er die unzähligen Kopie-Welten von Hugh Everetts ›Viele-Welten-Theorie‹ nicht nur wahrnehmen könne, sondern auch Verbindungen zu allen seinen Doppelgängern habe, spaltete sich die Welt elffach auf. Um seine zehn Kopien rissen sich die wissenschaftlichen Institute der neu entstandenen Welten. Alle zehn wurden sie zu bedeutenden Persönlichkeiten. Er aber ... landete in der Psychiatrie; eine wie auch immer geartete Kommunikation zwischen den Alternativ-Welten (falls es solche überhaupt gäbe) sei unmöglich, er sei ein Lügner, Scharlatan oder nicht richtig im Kopf. Seither behielt er sein Wissen für sich, verleugnete sein Schauen und galt als ›geheilt‹.
War er etwas Besonderes? War nur ihm dieser ›Blick nach nebenan‹ vergönnt und niemandem sonst? Er konnte es sich nicht vorstellen, hatte keine irgendwie gearteten Talente, war nur Durchschnitt, wenn nicht weniger als das. Oder war er ein Vorreiter? Würden nach und nach alle Menschen diese Fähigkeit besitzen? Alternativ-Welten musste es schon immer gegeben haben, nur hatte sie niemand sehen können. War dies ein ›Quanten-Sprung‹ der Evolution? Und vor allem: War es erblich, war er Träger eines mutierten Gens? Würden seine Kinder diese Fähigkeit besitzen und niemand sonst? Würde er Stammvater einer neuen Menschenlinie werden? Sollte es an dem sein, wäre es besser, er würde nie Vater werden, auch wenn er sich noch so sehr Kinder wünschte. Für ihn war diese Befähigung zur Tortur geworden, das wollte er ihnen nicht antun. Wenn es doch nur Leidensgefährten gäbe, mit denen er sich austauschen könnte, ohne als verrückt zu gelten!
Fast wäre er gegen ein Verkehrsschild gerannt. Natürlich gab es sie! Hatte Frau Rohlfs vorhin nicht direkt auf ihre gerettete Alternativ-Tochter und auf seine neueste Kopie gedeutet? Sie hatte es!
Und all die andern Umstehenden und die Polizisten? Hatte nicht der Vorderste einen Blick zum Straßenrand geworfen, direkt auf Alternativ-Tochter und -Mutter? Gab es weitere Sehende? Oder – der Gedanke war fast zu fantastisch – waren inzwischen alle Menschen dazu in der Lage, und keiner traute sich es zuzugeben, um nicht ausgelacht und verspottet zu werden, hielten sich alle bedeckt, um nicht als Verrückte zu gelten? Wenn es unendlich viele Alternativ-Welten gab, so dass alles nur Denkbare und alles Undenkbare auf mindestens einer Welt auftrat, so musste es auch eine Welt geben, auf der das Offensichtliche nicht geglaubt, aus dem Bewusstsein verdrängt, verleugnet wurde. Lebte er auf dieser Welt? War es so?
Nun, dem konnte abgeholfen werden!
Alessio machte kehrt, rannte zu einem vor kurzem passierten Taxistand zurück und ließ sich von Krankenhaus zu Krankenhaus fahren, bis er Frau Rohlfs und ihre Tochter gefunden hatte, und stürmte empor in ihr Zimmer.
Nichts gab sie zu, sie verleugnete ihr Wissen, ihr Schauen. Und er ließ nicht ab von ihr, flehte sie an und bedrängte sie, doch endlich die Wahrheit zu sagen, bis sie um Hilfe rief.
Es kam zur einer Anklage wegen Belästigung und zu einer Verhandlung. Die beiden Polizisten traten als Zeugen auf und bestritten vehement, etwas derart Absurdes wie das Entstehen und Abdriften einer Alternativ-Welt gesehen zu haben, Frau Rohlfs ebenso.
Eine halbe Stunde später war Alessio wieder da, wo er erst am Tag vor dem Unfall entlassen worden war – im Trakt B der städtischen Irrenanstalt.
Das Auditorium füllte die gewaltige Halle bis in den letzten Winkel. Estéban Liedl, Leiter der Sektion ›Zählorgan‹ der Vereinigung ›Statistik Terra‹ trat ans Pult.
»Betrogen hat man uns«, rief er, »zu spät informiert oder gar nicht. Unbekannt ist die Anzahl der Menschen. Allzu viele Kolonien gab es, die Eigenständigkeit wünschten und den Kontakt zur Erde und untereinander abbrachen. Viel zu oft ist unklar, ob die Nachkommen der Ursiedler noch leben, ob sie sich weltweit vermehrt oder sogar auf Nachbarplaneten ausgebreitet haben. Doch nun ist Schluss mit diesen unzumutbaren Zuständen. Tausende Hyperraumtaxis stehen bereit, Tausende Boten wurden angelernt, monatelang waren die Großdruckereien im Dreischichtsystem beschäftigt, Trilliarden Erhebungsformulare wurden gedruckt und für die Reise verstaut. Wir wünschen keinen Mikrozensus, wie in all den vergangenen Fällen, wo wir aus Bequemlichkeit auf Fernflüge verzichteten und nur die nähere Umgebung absuchten, keine Million Lichtjahre im Umkreis. Nur so weit wissen wir Bescheid, fußen die Prognosen der Bevölkerungsentwicklung auf Fakten. Nein, meine Damen und Herren: Jetzt – endlich! – wünschen wir die Gesamtzahl der Menschen im ganzen Universum zu kennen. Und nun lassen Sie uns handeln! Das Projekt ›Totalzensus‹ startet – jetzt!«
Jubel brandete auf. Alles strömte hinaus zu den Startplätzen.
Groß wie Kaufhäuser waren die Anhänger der Hyperraumtaxis und vollgestopft mit Papier, das verteilt und ausgefüllt werden sollte, weit draußen im All, und zurückgebracht in die Archive und Büroräume der Sektion ›Zählorgan‹ von ›Statistik Terra‹.
Ein gewaltiges Rauschen erklang. Stolz sah Estéban Liedl den entschwindenden Vehikeln nach.
Nicht ganz so stolz schaute er drein, als Monate später die ersten Hyperraumtaxis wieder auf Terra landeten, die Millionen Erhebungsformulare größtenteils ebenso unausgefüllt wie beim Abflug.
»Entschuldigen Sie, Chef«, sagte einer nach dem andern der mitgeschickten Boten, »aber kaum einmal, wenn wir aus den Hyperraum auftauchten, trafen wir auf Sonnen, geschweige denn auf Planeten, und wenn, dann so gut wie nie auf einen von Menschen besiedelten. Der Zickzackkurs der Suche hat allen Treibstoff verbraucht; wir mussten umkehren. Es wäre schon Zufall, von der Erde aus eine extrem ferne Galaxie anzusteuern, behaupten die Fahrer. Und wohin jetzt mit den sperrigen Anhängern, wollen sie wissen. Erst zum Altpapier oder gleich auf den Schutt? Tut uns leid, Chef. Es ist nicht unsere Schuld.«
Estéban Liedl schimpfte, tobte und sprach mit allen Fahrern, die sich nicht eingeschüchtert vor ihm in Sicherheit gebracht hatten, und musste sich wieder und wieder anhören: Die Chance, in Milliarden Lichtjahre Erdferne beim Eintauchen in den Einsteinschen Raum einen von Menschen besiedelten Planeten zu treffen sei fast Null; die herkömmlichen Zieloptiken seien dafür bei Weitem nicht präzise genug. Und wäre man erst einmal Milliarden Parsec weit draußen, sähe alles ganz anders aus, und man wisse überhaupt nicht mehr, wo was sei. Sie seien schon froh, überhaupt wieder zurück gefunden zu haben. Vielleicht beim nächsten Versuch. Versprechen könnten sie ihm nichts, aber ...
»Das ist das Ende!« Estéban Liedl wirkte verzweifelt. »Noch einmal zwölftausend Quadrillionen Liter Hypersprit sinnlos in den Raum zu pusten, wird uns niemand erlauben. Einen zweiten Versuch wird es nicht geben.«
Er wankte ins Hauptbüro.
Und wieder landete ein Hyperraumtaxi samt Anhänger. Der aussteigende Bote jedoch forderte Nachschub an Erhebungsformularen an. Estéban Liedl glaubte nicht recht gehört zu haben, doch alle Formulare waren ausgefüllt und von den Behörden der Kolonien abgestempelt und beglaubigt. Vierhundertneunzig Millionen und achtundsiebzigtausenddreihundertelf Stück.
Estéban Liedl half eigenhändig beim Ankuppeln eines zurückgekehrten Anhängers mit überwiegend unausgefüllten Formularen und quetschte sich anschließend zwischen Lauro Gädecke, den Fahrer dieses Hyperraumtaxis, und den Boten. »Ich komme mit«, sagte er. »Ich werde Ihre Fahrweise und Ihre Orientierung im Raum studieren und sie den anderen beibringen. Wäre doch gelacht, wenn nur Sie das könnten!«
Aufmerksam sah er sich um. Nichts war ungewöhnlich: Gädecke schmauchte gemütlich ein Pfeifchen. Der Lufterneuerer lief auf vollen Touren. Der Hypermotor lief warm. Doch dann ...!
Estéban Liedl traute seinen Augen kaum: Gädecke richtete die Zieloptik auf absolute Schwärze aus, auf einen materielosen Abgrund zwischen den Galaxien. Nicht das geringste Flimmern oder Glimmen erschien im Visier.
»Was tun Sie?«, sagte der Leiter der Sektion ›Zählorgan‹. »Dort ist nichts als freier Raum.«
»Sehen Sie, es ist doch so«, sagte der Fahrer, »so weit draußen ist das Weltall noch immer nicht ausreichend kartografiert. Im Nahbereich gibt es wirklichkeitsnahe 3-D-Galaxien-Modelle mit exakten Planeten- und Sonnenbahnen, und hier sind die Zivilisationen wie auch die Anzahl ihrer Mitglieder bekannte Größen. Alles aber, was über eine Million Lichtjahre hinausreicht, beruht auf Annäherungswerte. Einige meiner Kollegen, die sich ein solch teures, leistungsstarkes Gerät leisten können, richten die Zieloptik wohl auf eine Riesensonne im Zielgebiet aus, doch wenn sie dort angelangt sind, ist sie explodiert, in ein Schwarzes Loch gestürzt, bereits vor Millionen von Jahren erloschen oder aufgrund unvorhersehbarer gravitätischer Verhältnisse ganz woanders vorzufinden, denn das, was sie von hier aus sahen, war ein Bild aus fernster Vergangenheit. Andere wiederum mit veralteten, leistungsschwächeren Geräten sind gezwungen, ganze Galaxien anzuvisieren. Milliarden Lichtjahre entfernte Galaxien, von denen wir die genauen Bewegungsverläufe nicht kennen, nicht wissen, von welchem Supergalaxienhaufen sie angezogen werden und welche unbekannte Dunkel-Materie-Anhäufungen sie dabei ablenkt. Ich mache es umgekehrt und richte die Zieloptik nach völliger Leere aus. Wenn ich dann dort bin, in ihrem ›Jetzt‹, hat zumeist irgendetwas diese Leere gefüllt. Verstehen Sie – es widerspricht einfach der Wahrscheinlichkeit, dass in einem fernen Raumsektor, in dem vor zehn Milliarden Jahren nichts war, auch jetzt nichts ist!«
»Verstehe«, sagte Estéban Liedl. »Lassen Sie mich aussteigen; ich muss die andern Fahrer instruieren.«
»Aber gerne«, sagte Gädecke und betätigte die Luke. »Und vergessen Sie nicht, den einzelnen Fahrern unterschiedliche Raumsektoren zuzuweisen, damit sie nicht die gleichen Gebiete mehrfach abgrasen und andere vergessen.«
»Das werde ich tun«, sagte Estéban Liedl und stieg aus. »Wenn Sie zurückkehren, wartet auf Sie eine Prämie, wie sie noch kein Mitarbeiter von ›Statistik Terra‹ erhielt, das verspreche ich Ihnen.«
Estéban Liedl fuhr Tag und Nacht von Startplatz zu Startplatz, informierte die Fahrer und schickte jedes eintreffende Hyperraumtaxi sogleich zurück zu den Sternen.
Und nun wurde das Projekt ›Totalzensus‹ doch noch ein großer Erfolg.