Das Erste, was ich sah - Karl-Markus Gauß - E-Book

Das Erste, was ich sah E-Book

Karl-Markus Gauß

0,0

Beschreibung

Hören, sehen, riechen, spüren. Karl-Markus Gauß erzählt von den ersten sinnlichen Eindrücken eines kleinen Jungen in der Mitte des 20. Jahrhunderts und entwirft zugleich das Bildnis des Autors als verwöhntes Kind. Die Aufmerksamkeit des namenlosen Erzählers folgt der Stimme aus dem Radio, den Worten der Eltern, Geschwister und Gesprächen in anderen Sprachen. Er erkundet das Zimmer, die Wohnung, das Haus. In dieser kleinen Welt wetterleuchtet die große: Der gerade vergangene und der neue, der Kalte Krieg bleiben in dieser Kindheit immer präsent. Hier zeigt sich ein Kind, das früh die Macht der Wörter erahnt und sich in den Geschichten, die es hört, die Welt auf eigene Weise erklärt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 115

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zsolnay E-Book

Karl-Markus Gauß

Das Erste, was ich sah

Paul Zsolnay Verlag

ISBN 978-3-552-05656-5

Alle Rechte vorbehalten

© Paul Zsolnay Verlag Wien 2013

Schutzumschlaggestaltung: David Hauptmann, Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von © Archiv Karl-Markus Gauß

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/ZsolnayDeuticke

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

DIE STIMME, wie lange spricht sie schon? Sie kommt aus dem dunklen, mit gerippten Plastikknöpfen bestückten Kasten, der zwischen den zwei hohen Buchregalen steht und ein quer laufendes, grünlich leuchtendes Band hat. Wenn die Mutter die Tuchenten ausklopft, setzt sie mich im Wohnzimmer auf den Boden. Ich hämmere auf Holzstücke, die ich aus der Matador-Kiste geleert habe, und während ich versuche, Bauklötze mit Stäbchen so zusammenzustecken, dass sie einer Figur oder einem Gebäude gleichen, höre ich diese körperlose Stimme. Gesucht wird der Gefreite Matthäus Ploderer, Angehöriger der 44. Infanteriedivision, zum letzten Mal gesehen im Jänner 1943 in Pitomnik.

Ich werfe die Klötze in die Ecke und gehe zum Fenster, vor dem die Schneeflocken wirbeln. Über die Wiesen ist eine weiße Decke gebreitet, erst im Frühling nimmt die Siedlung wieder Farbe an, im Sommer fahren wir mit dem Bus ins Volksgartenbad, bis wir müde sind von der Sonne und vom Lärm der anderen. Im Herbst verschwinden die beiden Schwestern in der Schule und der Bruder im Kindergarten, ich spiele jetzt mit bunten Lego-Steinen aus Plastik, die mir so wenig Freude bereiten wie das Spielzeug aus Holz. Verdrossen schaue ich zum Fenster hinaus und bemerke, dass es wieder zu schneien begonnen hat, und noch immer ist die Litanei unbekannter Namen, fremder Orte, zerschlagener Divisionen nicht verstummt. Allein mit der volltönenden Stimme, werde ich mir meiner Anwesenheit im Raum bewusst, und der empörenden Tatsache, dass ich allein bin. Der Raum ist unser Wohnzimmer, aber er ist unendlich groß, er reicht bis zur Narva, das Schlachtfeld von Charkow hat Platz darin, die Sümpfe des Donezk. Dies ist eine meiner frühesten Erinnerungen, die Stimme, die heute nur in mir noch existiert, weil der Mann aus dem Radio längst tot und im Äther verrauscht ist, was er sagte, diese Stimme, die keinem Anwesenden gehörte und nach zahllosen Abwesenden fragte: sie war es, die in mir das Bewusstsein meiner selbst geweckt hat.

DAS ERSTE, WAS ICH SAH, als ich aus dem Schlaf gerissen wurde, war der Vater, wie er die Bücher aus dem Fenster warf. Er trug die Kleidung, die wir von ihm zuhause gewohnt waren, ein ärmelloses weißes Unterhemd und die akkurat gebügelte dunkelblaue Hose, die zu dem Sakko gehörte, das er sogleich, wenn er die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte, achtlos über einen Haken der Garderobe hängte. Ich schreckte auf, es war Nacht, im scharfen Licht stand der Vater beim Fenster und nahm ein Buch nach dem anderen vom Stapel, prüfte es kurz und warf es dann mit lässiger Armbewegung die vier Stockwerke in den Garten hinunter. Dann beugte er sich hinaus und schickte den Büchern ein paar höhnische Worte hinterher, die den zwei Männern galten, die unten in der Finsternis warteten und an ihren begütigenden Rufen, die sie bei jedem Wurf hören ließen, leicht zu unterscheiden waren.

Hinter ihm im Zimmer stand die Mutter, redete auf ihn ein und nannte ihn beständig »Kortschi«. Das war die ungarische Koseform seines Vornamens Karl, die sie nicht oft verwendete, denn auf Ungarisch sprachen sie nur, wenn sie sich in einträchtiger Stimmung befanden, ganz anders, als wenn sie unversehens ins Serbokroatische wechselten; dann zischten sie sich Worte zu, die wir nicht verstehen sollten, von denen wir aber verstanden, dass es böse Worte waren, sodass das Serbokroatische für uns immer Unfrieden bedeutete und dieses tagelange dumpfe Brüten ankündigte, das auf ihren Streit zu folgen pflegte. Jetzt aber war sie begeistert von ihm, als hätte sie gerade wiederentdeckt, wie leidenschaftlich er sein konnte, und ich weiß nicht, ob ich sie je wieder so hingerissen von ihm gesehen habe wie damals, als sie ihn halbherzig vom Fenster zog und doch zu hoffen schien, dass er sich nicht so rasch werde besänftigen lassen.

Aufgewacht in diesem Tumult, beginne ich zu weinen. Bücher sind etwas Wertvolleres als Vasen und Gläser und Tassen, sie sind das Edelste, das Menschen besitzen können. Die beiden Regale im Wohnzimmer, zwischen denen der dunkle Kasten mit Radio und Plattenspieler steht, sind bis oben mit ihnen bestückt, die der Vater in hohem Bogen in den Garten befördert, als handle es sich um wertloses Zeug. Und doch ist er gutgelaunt in seinem Grimm, in dem ihn die Mutter tadelnd anfeuert, sodass ich mitten im Weinen lachen muss wie damals, als die Schwestern ein großes Glas Wasser aus dem Fenster leerten und unten zufällig die böse Frau Eder vorbeiging, die alle Kinder im Haus fürchteten. Wir waren ärmer als unsere Nachbarn, aber die Eltern hatten verboten, dass wir uns von der Frau Eder schurigeln lassen. Und unsere Familie war auch ärmer als die Familien aller Mitarbeiter meines Vaters, weil er in der Beratungsstelle der Vertriebenen ihr Chef war und sich deswegen mehr Sorgen um die Menschheit als um die eigene Familie machen musste.

Der Vater wurde nie laut, aber ein großer Zorn schlief in ihm, und ausgerechnet um zehn Uhr in dieser Nacht, als die anderen schlafen gingen, war er erwacht. Es war ein schrecklicher und ausgelassener Zorn, und indem er die Bücher aus dem Fenster segeln ließ, zeigte der Vater denen, die sie unten aufzufangen versuchten, wie sehr er sie verachtete. Die Mutter sagte es den beiden Schwestern, die im Nachthemd herbeigeeilt waren und erst verschreckt, dann belustigt in der Ecke standen, die sagten es dem Bruder, der es mir erklärte: Die zwei greinenden Männer im Garten waren Krämerseelen, die vom Vater die Bücher, die er persönlich zugeschickt bekommen, studiert und in seiner Zeitung beurteilt hatte, für das Archiv verlangten, das er selbst gegründet hatte; mit solchen Krämerseelen bekamen wir es oft zu tun, das waren dumme Leute, die von nichts eine Ahnung hatten außer vom Erbsenzählen.

DUNKEL KLANG die Stimme der Mutter, belegt, von Abertausenden Zigaretten gedämpft die des Vaters, aber beide sprachen sie einen Dialekt, von dem ich erst später, als ich in die Schule kam, bemerkte, dass er sich fremd gegen die Sprache der Stadt ausnahm. Die Eltern sagten Guchen und Gäggsä, wenn sie Kuchen und Kekse meinten, sie sagten Dirol und Dürgei, Babsd und Bedersblads, das O und das A setzten sie tief hinten in der Kehle an, dafür ließen sie das R bis vorne an die Zähne rollen. In der Siedlung, in der wir wohnten, war mir das nicht aufgefallen, denn hier lebten mehr Leute, die aus Südtirol, Schlesien oder dem Sudetenland stammten, als solche, deren Familien schon zwei, drei Generationen in Österreich oder gar in Salzburg ansässig waren. Und zuhause gingen ohnedies Menschen aus vielen Ländern ein und aus, auf dem Türschild stand jahrelang nicht nur unser Name, sondern auch Beratungsstelle für Volksdeutsche. Darum kannte ich die rauhen, brüchigen, unsicheren, dröhnenden, erbosten, bettelnden Stimmen von Leuten, die sich als Dobrudscha-, Karpaten- oder Bessarabiadeutsche, als Siebenbürger Sachsen oder Banater Schwaben bezeichneten und alle ihre eigene Sprache hatten. Manche bevorzugten Zwielaute wie das lang gedehnte Ä, was einen Misston erzeugte, der nicht unsympathisch war, bei anderen waren es die Zischlaute, die ihre Rede flüssig machten und dieser etwas Vertrauliches gaben.

Ich sitze unter dem Tisch und höre, wie sie sprechen, die namen- und gesichtslosen Männer, von denen ich nur die dunklen Hosen, ihr verbogenes, fest geschnürtes Schuhwerk, die kratzigen Socken und manchmal ein Stück ihrer knochigen weißen Beine sehe. Oder ich liege in meinem Zimmer auf dem Bett und der Singsang ihrer Reden geleitet mich in den Schlaf, ich schaukle in ihren Sätzen, in denen es fast immer um einen Ort geht, den sie verloren haben, oder einen Ort, den sie für sich zu gewinnen versuchen, um die sagenhaften Städte, die sie verlassen mussten, oder die sagenhaften Städte, in die sie übersiedeln wollen, um Werschetz, Eger, Freudenthal oder um Toronto, Philadelphia, Buenos Aires.

Der Einzige, dessen Schuhe nicht hart, verbogen und fest geschnürt waren, sondern schmal und weich, war ein älterer Mann, dessen Gesicht ich kannte, weil wir ihn manchmal trafen, wenn wir Kinder mit den Eltern in die Stadt gingen. Er war zierlich, tänzelte mehr, als dass er schritt, hatte weißes seidiges Haar, trug einen hellen Anzug mit dünnen, fast schon durchsichtigen Stellen und küsste, wenn sie dabei war, der Mutter die Hand. Er sprach Deutsch, aber mit einer possierlichen Färbung. Dort, wo er herkam, war er Musikprofessor an der Akademie gewesen, sagte der Vater, was für ein feiner Mann, sagte die Mutter, er hieß Béla Miller und war der erste Ungar meines Lebens.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!