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**Stell dir vor, du lebst in einer magischen Bibliothek…** Selibra Winterkind träumt von der großen weiten Welt und nutzt jede Gelegenheit, um sie anhand von Büchern zu erkunden. Als Hüterin des Wissens lebt sie in der sagenumwobenen Bibliothek der neun Königreiche und wacht über die Geschichten aller Menschen. Nur ihre eigene Lebensgeschichte erscheint ihr so leer und lieblos wie ein unbeschriebenes Blatt Papier. Doch das ändert sich schlagartig mit dem herannahenden Frühlingsfest und dem Fluch, der über das Land zieht. Plötzlich hängt alles von ihrem Wissen ab und Selibra muss zusammen mit ihrem Leibwächter Dominik und dem jungen Kommandanten Wolf eine weite Reise durch die Königreiche antreten, um das Einzige zu finden, was ihrer aller Geschichten zu retten vermag… »Das Fabelmädchen« von Cosima Lang schenkt allen Liebhabern von Geschichten einen nach Pergament duftenden Ort, in dem man sich für immer verlieren möchte, und eine Liebe, wie sie im Buche steht. //»Das Fabelmädchen« ist ein in sich abgeschlossener Einzelband.//
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Cosima Lang
Das Fabelmädchen
**Stell dir vor, du lebst in einer magischen Bibliothek …** Selibra Winterkind träumt von der großen weiten Welt und nutzt jede Gelegenheit, um sie anhand von Büchern zu erkunden. Als Hüterin des Wissens lebt sie in der sagenumwobenen Bibliothek der neun Königreiche und wacht über die Geschichten aller Menschen. Nur ihre eigene Lebensgeschichte erscheint ihr so leer und lieblos wie ein unbeschriebenes Blatt Papier. Doch das ändert sich schlagartig mit dem herannahenden Frühlingsfest und dem Fluch, der über das Land zieht. Plötzlich hängt alles von ihrem Wissen ab und Selibra muss zusammen mit ihrem Leibwächter Dominik und dem jungen Kommandanten Wolf eine weite Reise durch die Königreiche antreten, um das Einzige zu finden, was ihrer aller Geschichten zu retten vermag …
Buch lesen
Vita
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© Helmut Kirch
Cosima Lang entdeckte früh ihre Leidenschaft für Bücher, insbesondere für Fantasy- und Liebesromane. Nach ihrem Abitur begann sie selbst zu schreiben. Fremde Welten und Magie bieten ihr die Möglichkeit, aufregende Abenteuer und Mysterien zu erleben und starke Heldinnen und Helden zu erschaffen. Cosima Lang studiert Germanistik und Anglistik in Düsseldorf.
Selibra Winterkind
geboren am siebten Tag des Winters 628
Die heiße Sonne brannte auf die staubige Straße herab. Die Hufe der Pferde wirbelten den Staub auf, die großen Wappenflaggen boten nur wenig Schatten.
Aufgeregt rannten die Dorfbewohner auf die Straßen, der König und sein Gefolge ritten durch ihr Dorf. Kinder lachten und winkten, mit großen Augen bewunderten sie die bunte Kleidung der Reiter und das Gold der Kutsche.
Von der ganzen Aufregung merkte Selibra nichts. Das elfjährige Mädchen lief mit nackten Füßen über die Wiese, das warme Gras kitzelte ihre Zehen.
Ihr Bauch war noch voll von ihrem Mittagessen, ein Teller mit Suppe und Brot, bis zum Abend hatte sie noch einen Apfel und etwas Milch.
Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn, die viele Sonne ließ ihr braunes Haar immer rötlich schimmern. Mit der Hand über den Augen suchte sie den Horizont ab, weit entfernt auf anderen Feldern sah sie einige Bauern, sonst war sie allein.
Sie setzte sich unter einen Baum und betrachtete die Gänse auf der Wiese. Wie jeden Tag bestand ihre Aufgabe darin, die Gänse zu hüten. Eine einfach und manchmal langweilige Aufgabe, doch Selibra mochte sie.
Die Gänse watschelten quakend über die Blumenwiese und fraßen sich an den Schnecken und Würmern satt. Eine Gänsemutter und ihre Küken saßen in der Sonne und wärmten sich das Gefieder.
Selibra lehnte sich zurück und blickte in den blauen Himmel, keine Wolke war zu sehen. Ein leises Lüftchen strich durch die Blätter über ihr, langsam schloss sie die Augen.
In der Nacht davor hatte sie einen Traum gehabt. Sie war auf einem großen Pferd durch die neun Königreiche geritten und hatte die Welt kennengelernt. Fremde Städte, fremde Wälder, fremde und interessante Menschen.
Eine der Gänse schrie laut und Selibra setzte sich auf. Am Gatter konnte sie eine Gestalt auf sich zu rennen sehen.
»Libri! Libri!«, erklang die Stimme ihrer älteren Schwester Mitza auf der Wiese. Sie rannte schwer atmend den kleinen Hügel zu Selibras Baum hinauf.
»Was ist denn?«, fragte Selibra.
Mitza musste einige Sekunden durchatmen, bevor sie antworten konnte: »Der König ist auf unserem Hof und er will dich sprechen. Sofort!«
Selibra runzelte die Stirn, was wollte denn der König von ihr?
»Aber was ist mit den Gänsen? Ich kann sie doch hier nicht alleine lassen.«
»Ich passe auf die Gänse auf, jetzt lauf, Libri! Wir können den König nicht warten lassen!«
Selibra nickte und wollte losrennen, doch Mitza hielt sie am Arm zurück, feste drückte sie ihre kleine Schwester. »Ich hab dich ganz doll lieb, Libri! Vergiss das bitte nicht!«, flüsterte sie ihr ins Ohr.
Verwirrt machte Selibra sich auf den Weg zu ihrem Hof, die Straßen lagen völlig leer vor ihr.
Vor dem Gatter zu ihrem Hof tummelten sich die Menschen, als sie Selibra bemerkten, wichen sie sofort zur Seite. Aufgeregt tuschelten sie und zeigten verstohlen auf sie. Ängstlich drückte sich das Mädchen durch die Menschenmasse.
Als Erstes bemerkte sie ihre Eltern, ihrer Mutter Sendea liefen große Tränen über die Wangen, ihr hübsches Gesicht war ganz rot. Im Gegensatz zu ihren traurigen Augen hatte sie ein zittriges Lächeln auf den Lippen.
Ihr Vater hatte den Arm um ihre Mutter gelegt und blickte mit strengem Blick auf den Mann vor sich.
Selibra war sich sicher, dass das König Gerald von Milwald war. Der König war eine hochgewachsene Gestalt, gekleidet in feinster Kleidung. Sein langer blauer Mantel strich durch den Staub auf dem Boden und die dicken Ketten um seinen Hals glitzerten in der Sonne.
Vorsichtig ging Selibra um ihn herum und stellte sich zu ihren Eltern, die kalten blauen Augen des Königs taxierten sie. »Ist sie das?«, fragte er mit hoheitsvoller Stimme.
»Ja, eure Hoheit, das ist Selibra«, murmelte ihre Mutter und kämpfte gegen die Tränen an, sie legte die Arme um Selibra und drückte sie an sich.
»Selibra, ich bin hier, um dich in die Bibliothek zu bringen, du bist das neue Fabelmädchen«, wandte der König sich direkt an sie.
Mit gerunzelter Stirn drehte sie sich zu ihren Eltern um: »Was meint er?«
Sendea beugte sich zu ihrer Tochter herunter: »Du musst uns heute verlassen, mein Schatz. Du musst mit dem König gehen und das neue Fabelmädchen werden.« Sie strich Selibra eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Ich will aber nicht mit ihm gehen!« Selibra drückte sich eng an ihre Mutter. Sie konnten sie doch nicht einfach wegschicken.
»Ich weiß, mein Liebling. Aber du musst. Du wurdest für etwas Großes und Wunderbares auserwählt. Dein Leben wird von jetzt an viel besser sein!« Wieder rannen die Tränen über Sendeas Wangen.
»Ich will kein besseres Leben! Ich will bei euch bleiben!« Panisch klammerte sie sich an ihre Mutter und weinte laut.
»Wir müssen uns jetzt auf den Weg machen, sonst sind wir vor Sonnenuntergang nicht bei der Bibliothek«, erklärte der König ohne Emotionen in der Stimme. Ihn schienen Selibras Tränen nicht zu berühren.
»Sei stark, meine Kleine, sobald wir können, besuchen wir dich.« Der Vater legte ihr die Hand auf den Kopf und blickte ihr in die Augen.
Zittrig nickte Selibra und drehte sich zu Gerald um. Der König führte sie zu einer roten Kutsche, die mit Gold beschlagen war. Selibra hatte diese Kutsche schon einmal gesehen, sie gehörte dem Fabelmädchen.
Einer der Männer des Königs öffnete ihr die Kutschentür, sie brauchte die Hilfe des Mannes, um in die Kutsche zu steigen. Das Innere war mit rotem Samt ausgekleidet, es gab zwei Bänke mit weichen Kissen und einen kleinen Tisch.
Alles war wunderschön und glänzend. Selibra blickte auf ihre schmutzigen Hände herab, sie hatte Erde unter den Fingernägeln und ihr Kleid war voller Staub. So konnte sie sich doch nicht auf die Sitzbank setzen!
Sie strich den dünnen Vorhang am Kutschenfenster zur Seite und blickte zurück auf den Hof. Ihre Eltern standen Arm in Arm immer noch an derselben Stelle und blickten ihr nach.
Einer der Männer rief ein Kommando und die Kutsche setzte sich in Bewegung. Sendea hob die Hand und winkte ihrer Tochter hinterher.
Der Ruck der Kutsche schleuderte Selibra auf die Bank, umständlich setzte sie sich und blickte weiter aus dem Fenster.
An der Kutsche zogen die Felder und Gärten ihres Heimatdorfes vorbei. Die Menschen schauten aus ihren Häusern und rannten auf die Straße, um der Kutsche zuzuwinken.
Wieder bahnten sich die Tränen ihren Weg über Selibras Wangen, sie wurde einfach aus ihrer Heimat weggebracht.
Sie rollte sich auf der Bank zu einer Kugel zusammen und weinte leise. Das Schaukeln der Kutsche und das Weinen machten sie schläfrig und ihr fielen die Augen zu.
Als die Kutsche Stunden später wieder hielt, waren die beiden Sonnen schon fast untergegangen. Mehrere große Laternen beleuchteten den Vorhof der Bibliothek, ihr warmes Licht schien auf die groben Pflastersteine und die Beete mit Blumen.
Ein Ritter öffnete die Kutschentür und reichte Selibra die Hand, vorsichtig kletterte das Mädchen die Stufen hinunter.
Vor ihr erhob sich die Bibliothek, es war ein zweistöckiges Gebäude mit einer Glaskuppel in der Mitte. Der Eingang war eine große Eichentür, beschlagen mit Silber, das Muster und Symbole bildete.
Es gab mehrere große Fenster, hinter denen Selibra dunkelgrüne Vorhänge und das Licht von Kerzen sehen konnte. Trotz des Lichts wirkte das Gebäude fremd und kalt.
König Gerald saß immer noch hoch auf seinem Pferd und blickte auf Selibra hinab: »Ich wünsche dir viel Glück in deinem neuen Leben, du wirst den neun Königreichen gut dienen!« Mit diesen Worten wandte er sich ab und ritt davon.
Mit großen Augen blickte Selibra ihm nach, der Ritter nahm sie an der Hand und führte sie auf das Gebäude zu. Die große Tür öffnete sich von alleine und Selibra starrte in einen leeren Raum.
Der Ritter versuchte sich von ihr zu lösen, doch Selibra klammerte sich an seinem Arm fest. »Bitte lass mich hier nicht alleine!«, weinte sie.
Der Ritter antwortete nicht, mit Gewalt löste er ihre kleinen Hände von seinem Arm und drückte sie durch die Tür. Danach drehte er sich ohne einen weiteren Blick um und ging zu seinem Pferd.
Langsam schaute Selibra sich um und blickte in den menschenleeren Saal vor ihr, dort standen viele lange Tische und Stühle, mehrere Blumenkästen und große Pflanzen.
Mit zittrigen Schritten durchquerte sie den Saal, es gab nur eine andere Tür, an der gegenüberliegenden Wand. Auch diese Tür öffnete sich von alleine.
Sie schlang ihre Arme um die Schultern und betrat die Bibliothek. In diesem Raum hinter der Tür standen meterhohe Bücherregale, die bis zum Bersten mit Büchern gefüllt waren.
Die Buchrücken sahen alle unterschiedlich aus, manche waren dick, andere ganz dünn. Jedes war in einer anderen Farbe gehalten, von einfachem Weiß bis zum wilden Pink. Fasziniert trat Selibra näher an die Regale heran.
Mit ihren elf Jahren war sie nur einmal in der Bibliothek gewesen, ihre Eltern hatten sie und Mitza an einem warmen Herbsttag hierher gebracht. Aufgeregt hatten die beiden Mädchen ihre Taschen gepackt und sich für die lange Reise fertig gemacht. Zu Fuß dauerte es fast zwei Tage von ihrem Hof zur Bibliothek, doch Selibra hatte jede Stunde geliebt.
Das vorherige Fabelmädchen Liza hatte ihnen die Geschichte eines Ritters und seiner Geliebten vorgelesen. Zusammen mit vielen anderen aufgeregten Zuhörern hatten sie in einem kleinen Saal gesessen und Lizas Stimme gelauscht.
Bei dieser glücklichen Erinnerung sammelten sich wieder Tränen in Selibras Augen, sie zog die Nase hoch und versuchte sich zu beruhigen.
Sie wanderte durch die weiteren Räume, bis sie in einem kleineren, ohne Bücher, stand. Die Wände waren mit grüner Seide bezogen, filigrane Stickereien schmückten die Seide.
Hier gab es einen großen Kamin, in dem ein kleines Feuer brannte, daneben standen zwei große Sessel. Auf der anderen Seite führte eine schmale Wendeltreppe in den zweiten Stock.
Verwirrt blickte Selibra sich um, auf einem kleinen Tisch zwischen den Sesseln standen ein Teller mit belegten Broten und ein Glas mit warmer Milch. Es sah aus, als hätte gerade noch jemand auf einem der Sessel gesessen.
Beim Anblick der Brote knurrte Selibras Magen laut, seit dem Mittag hatte sie keinen Bissen mehr zu sich genommen. Sie blickte sich um und suchte nach einer anderen Person: »Hallo! Ist da jemand?«
Sie erhielt keine Antwort.
Selibra zögerte kurz. Bestimmt würde man nicht wütend auf sie werden, wenn sie eines der Brote aß! Mit beiden Händen nahm sie das dick belegte Brot und biss hinein.
Sie schmeckte Wurst und frische, weiche Butter, der Salat war immer noch knackig und frisch. Mit großen Bissen verschlang sie das Brot, dann legte sie es nur zur Seite, um einen Schluck von der warmen Milch zu nehmen.
Nach dem ersten Brot war ihr Hunger immer noch nicht gestillt, mit großen Gewissensbissen griff sie sich das zweite.
Nachdem sie auch dieses Brot komplett aufgegessen und die Tasse Milch ausgetrunken hatte, setzte sie sich auf einen der großen Sessel.
So nah an dem Kamin war es angenehm warm, im Raum war nichts weiter zu hören als das Knacken des Feuers. Die Hände im Schoß gefaltet blickte sie sich um.
Ein Rascheln im Hintergrund ließ sie herumfahren, der Teller mit den Broten war verschwunden, stattdessen standen dort nun ein Teller mit großen Keksen und eine neue Tasse Milch.
Selibra rutschte wieder vom Sessel und trat an den Tisch. Wo kam das neue Essen plötzlich her? Im Raum war niemand anderes als sie.
Kurzentschlossen schaute Selibra unter den Tisch, dort hockten zwei kleine Mäuse neben dem Teller und der Tasse. Als sie Selibra bemerkten, blieben sie ruhig sitzen, nur ihre Schnurrhaare zitterten.
»Wer seid ihr denn?«, fragte Selibra leise.
Die Mäuse kletterten unter dem Tisch hervor und setzten sich vor ihr auf die kleinen Hinterbeine.
In ihrem Leben hatte Selibra noch nie solche Mäuse gesehen, ihr Fell hatte die Farbe von altem Papier. Kleine, feine, schwarze Buchstaben waren darauf zu sehen. Fasziniert und mit vorsichtigen Fingern strich sie darüber, es war so weich wie das einer normalen Maus.
Nachdem Selibra beide Mäuse gestreichelt hatte, verschwanden sie wieder unter dem Tisch, sie zogen den Teller und die Tasse hinter sich her und huschten in eine dunkle Ecke.
Verwundert erhob sich Selibra, sie hatte nicht gewusst, dass solche Wesen existierten.
Sie setzte sich wieder in den großen Sessel und biss vorsichtig in einen Keks, er zerbröselte in ihrem Mund und schmeckte süß und salzig zugleich. Noch nie hatte sie etwas so Leckeres gegessen.
Nachdem sie auch den ganzen Teller Kekse gegessen hatte, war ihr Bauch prall gefüllt und sie sehr müde. Selibra wusste nicht, wo sie schlafen sollte, also versuchte sie, es sich in dem Sessel so bequem wie möglich zu machen.
Ein Poltern erklang im Stockwerk über ihr, sie schreckte wieder auf und blickte zu der Wendeltreppe. Sollte sie es wagen, dort hochzugehen?
Nach einigen Augenblicken rappelte sie sich vom Sessel auf und ging auf die Treppe zu, ihre Neugier war doch größer. Die Wendeltreppe war aus altem Holz und altem Stahl, der sich kalt unter ihrer Hand anfühlte.
Am Ende der Treppe war eine Tür, vorsichtig drückte Selibra sie auf. Dahinter befand sich ein weiterer Raum, ein Schlafzimmer. Ein großes Himmelbett stand in der Mitte direkt unter der Glaskuppel. An der Wand stand ein riesiger Holzschrank, eine der Türen war halb offen und sie konnte bunte Kleider sehen.
Sie rieb sich die Augen und tappte auf das Bett zu, sie hatte keine andere Schlafmöglichkeit gesehen, das musste ihr Bett sein.
Vorsichtig strich sie über die Bettdecke, sie war weicher als jeder Stoff, den sie je berührt hatte. Wieder blickte Selibra an sich herab, alles an ihr erschien ihr dreckig.
Eine kleinere Tür schwang neben dem Bett auf, dahinter befand sich ein großes, helles Bad. Selibra wusste, dass Paläste eigene Räume nur fürs Baden hatten, doch sie hatte noch nie einen betreten.
In dem kleinen Bad gab es einen versteckten Abtritt, einen Tisch mit einer großen Schale Wasser und eine Badewanne. Ihre Augen weiteten sich, noch nie hatte sie eine so große Badewanne gesehen. Nur ihre Müdigkeit hielt sie davon ab, sich jetzt noch dort hineinzulegen.
Selibra wusch sich den Staub und Dreck von den Händen und vom Gesicht, ihre schmutzigen Kleider ließ sie auf dem Boden liegen. Danach ging sie zurück ins Schlafzimmer und schlüpfte unter die Decke.
Sie staunte über ein so großes Bett, zuhause teilte sie sich das Zimmer und Bett mit ihrer Schwester, sie lagen auf einer dünnen Matratze aus Stroh unter einem dünnen Lacken. Die Matratze in der Bibliothek war weich und Selibra versank fast in ihr.
Trotz des bequemen Bettes und ihrer Müdigkeit konnte sie einfach keinen Schlaf finden, sie drehte sich immer wieder um, doch es nützte nichts.
Sie fragte sich, was ihre Familie jetzt wohl tat. An einem normalen Tag hätten sie zu Abend gegessen und danach noch zusammen im kleinen Wohnzimmer gesessen. Ihr Vater hätte etwas geschnitzt, Sendea Kleidung gestopft oder genäht und die Schwestern hätten zusammen gespielt. So sehr sehnte sie sich nach ihrer Familie.
Ein Rascheln ertönte neben ihrem Kopf, sie wandte sich um, auf dem Kopfkissen neben ihr lag ein in helles Leder gebundenes Buch. Sie hob es hoch und schlug die erste Seite auf.
Dort war der Name ihrer Mutter zu lesen.
Aufgeregt blätterte sie bis zur letzten Seite, in eleganter Schrift standen dort die Ereignisse des Tages. Wie Selibra es erwartet hatte, war dieser Abend wie jeder andere abgelaufen. Nur eine Sache war anders, ihre Familie trauerte, um sie.
Nachdem sie diese Seiten gelesen hatte, fand Selibra endlich Schlaf, das Buch neben sich auf dem Kopfkissen liegend, eine Hand auf seinem Einband.
Der nächste Morgen war seltsam für das Mädchen. Kein Hahn, der schrie, keine Mitza, die sie stupste, keine Eltern, die im Erdgeschoss herum polterten.
Nur die Stille empfing sie, langsam setzte Selibra sich auf und blickte sich im Raum um. Über Nacht hatte sich nichts in diesem Zimmer verändert, nur eine Tasse mit warmer Milch wartete neben ihrem Bett schon auf sie.
Sie schlug die Decke zurück und ging ins Bad, in der Schale war frisches, warmes Wasser und ihre dreckige Kleidung war vom Boden verschwunden.
Aufgeregt öffnete sie den großen Kleiderschrank, noch nie hatte sie so viele Blusen, Röcke und sogar Hosen in so vielen bunten Farben gesehen. Sie zog Kleider und Blusen hervor, probierte Röcke an und trug zum ersten Mal in ihrem Leben eine Hose.
Nachdem der halbe Kleiderschrank auf dem Boden um sie herum verstreut lag, hatte sie sich für eine grüne Bluse und einen braunen Rock entscheiden.
Die Tasse Milch in der Hand stieg sie die Treppe herab und blickte sich im Kaminraum um. Was sollte sie jetzt tun?
Kurzentschlossen wandte Selibra sich nach rechts und fing an ihr neues Zuhause zu erkunden. Die Räume sahen auf den ersten Blick gleich aus, fast deckenhohe Regale voller Bücher, an jedem Regal lehnte eine hölzerne Leiter.
Auf den zweiten Blick nahm sie feine Schnitzereien auf den Regalen wahr, Zeichnungen von Tieren, Menschen und Dörfern. Nach einigen Rundgängen konnte sie die vielen Regale den Ländern zuordnen, die sie verkörperten.
Jeder Flügel der Bibliothek stand für eines der neun Königreiche, jede Regalreihe für ein Dorf oder eine Stadt und jedes Regal für eine Familie.
In der Mitte der neun Flügel lag ein großer, hoher Saal, der Chronikraum. In dessen Mitte stand ein einzelnes Lesepult. Es war aus Ebenholz und seine Füße waren aus reinem Gold.
Andächtig strich Selibra mit den Fingerspitzen darüber. An dieser Stelle war das Bündnis zwischen den neun Königreichen geschlossen und die Bibliothek aktiviert worden. An dieser Stelle hatte die Geschichte ihrer Länder begonnen.
Selibra atmete tief durch und trat von dem Lesepult zurück. Ihr Blick wanderte zu den Regalen an den Wänden des Raumes. Auf den Buchrücken standen die Namen der größten Helden und Legenden der neun Königreiche.
Sie trat durch einen Durchgang in einen anderen Raum, dieser war viel kleiner als der Chronikraum. In der Mitte standen lediglich ein Altar und daneben ein Weidenkorb.
Auf dem Altar lagen mehrere Stapel Bücher, sie alle waren noch in einfaches Leinen gefasst und hatten nicht mehr als eine Seite. Selibra hob eines an und schlug es auf. Der Junge, dem das Buch gehörte, war erst vor wenigen Stunden geboren worden.
Zu den Aufgaben des Fabelmädchens gehörte auch die Verwaltung der Bibliothek, das wusste Selibra. Sie musste diese Bücher in ihr richtiges Regal einsortieren.
Sie packte die Bücher in den Weidenkorb und machte sich auf den Weg zurück in die Säle. Sie griff nach dem ersten Buch und stand direkt vor dem richtigen Regal. Sie schob es zwischen die Bücher der Eltern und ging weiter.
Jedes Mal, wenn sie nach einem neuen Buch griff, führte ihr Weg direkt zu dem richtigen Regal. Jedes Mal, wenn sie durch eine Tür trat, stand sie direkt im richtigen Raum.
So als würde die Bibliothek sie leiten.
Nicht zum ersten Mal bemerkte sie eine Präsenz um sich. Zuerst dachte Selibra, sie hätte es sich nur eingebildet, doch diese Präsenz war echt.
Selibra schloss die Augen und ließ sich von dieser leiten, sie führte sie direkt zum richtigen Regal.
»Bist du die Bibliothek?«, fragte sie zögerlich in die Stille hinein.
Sie erhielt keine wörtliche Antwort, doch durch die Präsenz fühlte sie Zustimmung. Selibra hatte noch viel an diesem Ort zu lernen.
Ein einzelner Lichtstrahl kitzelte mich an der Nase. Mit einem lauten Niesen setzte ich mich im Sessel auf.
Der Vorhang vor dem kleinen Fenster mir gegenüber war nur ein kleines Stück zurückgezogen, der Lichtstrahl fiel direkt auf mein Gesicht.
Nachdem ich mich aufgerichtete hatte, schloss der Vorhang sich wieder wie von selbst.
»Du hättest mich auch ruhig netter wecken können!«, rief ich der Bibliothek zu.
Ich sollte mich nicht beschweren, an manchen Tagen weckte sie mich mit einem dicken Buch direkt auf dem Kopf. So ein Sonnenstrahl war damit verglichen wirklich nett.
Ich setzte mich ganz auf und streckte mich, mein Rücken knackte laut. Ich musste aufhören in diesen Sesseln einzuschlafen!
Das Buch, in dem ich gestern Abend gelesen hatte, war auf den Boden neben mir gerutscht. Schnell hob ich es auf und strich die Seiten glatt.
Seit einigen Tagen las ich die Geschichte einer jungen Frau aus einem kleinen Dorf im Süden von Nicca. Sie lebte in einem Fischerdorf in einer einsamen Bucht zusammen mit ihrer Familie.
Vor einigen Wochen kam ein fremder junger Mann in ihr Dorf und das Mädchen hatte sich über beide Ohren in ihn verliebt. Fasziniert las ich jeden Abend, wie der Tanz zwischen den beiden verlief. Ich hoffte, dass die beiden sich am Ende bekamen.
Hier drin hatte ich wenig Kontakt zu anderen Menschen und erst recht nicht zu einem gut aussehenden Fremden. Die Geschichten anderer Menschen ersetzten mir vieles im Leben.
Mit einem Seufzen nahm ich das Buch auf den Arm und machte mich auf den Weg in mein Zimmer. Kurz schaute ich an dem Bücherregal des Mädchens vorbei, heute Abend würde ich weiterlesen.
Während ich die Treppe hoch eilte, löste ich meinen Zopf. Mit den Fingern versuchte ich die gröbsten Knoten aus meinen Haaren zu lösen, leider vergeblich.
In meinem Zimmer wartete wie jeden Morgen eine Tasse mit Milch, morgens konnte ich nie etwas Festes herunterbekommen.
Ich schälte mich aus Bluse und Rock und rannte nur im Unterkleid ins Badezimmer. Schnell wusch ich mir das Gesicht und ging mit einem Kamm durch meine Haare. Nachdem ich sie wieder zu einem Zopf geflochten hatte, ging ich zurück in mein Zimmer.
Aus dem Kleiderschrank holte ich ein frisches Kleid in einem hellen Rot und schlüpfte hinein. Nachdem ich meine Tasse geleert hatte, stieg ich die Treppe wieder hinunter.
Eine der Büchermäuse saß neben dem Kamin, ihre kleinen Schnurrhaare vibrierten und sie blickte mich mit ihren großen, runden Knopfaugen an.
»Guten Morgen, meine Liebe! Die Milch war wie immer vorzüglich«, begrüßte ich sie. Ich stellte meine Tasse auf den Tisch neben dem Kamin und machte mich an die Arbeit.
Wie jeden Morgen führte mein erster Gang mich in den Chronikraum. Ich wusste nicht genau warum, doch jedes Mal, wenn ich hier durchkam, musste ich stehen bleiben. Einige Augenblicke schaute ich auf das Lesepult, dann senkte ich den Kopf und ging weiter.
Im Bücherraum wartete bereits auf Haufen neuer Geschichten und neuer Leben auf mich. Mit sanften Fingern sammelte ich die Bücher ein und legte sie in den Korb.
Dieser allmorgendliche Rundgang war eine meiner liebsten Aktivitäten. Zu sehen, wie sich die Bücher über Nacht verändert hatten, wie sie größer oder bunter oder schöner geworden waren, fand ich wundervoll.
Mit geübten Griffen räumte ich die Bücher an ihren richtigen Ort ein, wie jedes Mal war eine Stelle im Regal frei geworden. Nun standen Töchter und Söhne bei ihren Eltern.
Nachdem mein Korb leer war, führte mein Weg mich zu den Büchern meiner Familie. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, schaute ich auf das Regalbrett.
In den letzten zwölf Jahren waren die Bücher meiner Familie dicker und bunter geworden. Mitza hatte vor einigen Jahren geheiratet, seitdem war der Umschlag ihres Buches zart lila.
Zwei Jahre, nachdem ich in die Bibliothek gekommen war, hatten meine Eltern eine dritte Tochter bekommen. Meine neue kleine Schwester hatte ich nur bei den beiden Besuchen meiner Familie gesehen, sehr zu meinem Bedauern.
Ich nahm das Buch meiner kleinen Schwester heraus und öffnete es, am gestrigen Abend hatte sie ein Kartenspiel gegen meine Mutter gewonnen, mit einem Lächeln war sie eingeschlafen. Gerade saß sie beim Frühstück mit meinen Eltern und redete über das kommende Frühlingsfest.
Ich stellte das Buch wieder weg und strich kurz über die Bücher meiner Eltern. Mein eigenes Buch stand nicht neben dem meiner Eltern, ich hatte es noch nie gesehen.
Die Bücher der früheren Fabelmädchen befanden sich in ihren richtigen Regalen, doch meines war nirgends zu finden. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, warum die Bibliothek es vor mir versteckte.
Ein leises Klingeln erklang, der Lesesaal war geöffnet worden. Ich musste mich jetzt um meine Aufgabe kümmern.
Die Tür zum Lesesaal war bereits offen, als ich den Raum betrat. Zwei der Wachen standen an der Tür und winkten die Menschen durch.
Mit verschränkten Händen stand ich neben der Tür zur Bibliothek und betrachtete die heutigen Bittsteller. Sie verteilen sich an den länglichen Lesetischen und setzten sich, manche von ihnen schwiegen, andere unterhielten sich leise.
Ich zählte dreiundzwanzig Bittsteller, weitaus weniger als an anderen Tagen. So kurz vor dem Frühlingsfest nahmen nur wenige Menschen die lange Reise zur Bibliothek auf sich.
Mein Blick fiel auf einen jungen Mann. Will kam seit mehreren Monaten fast täglich in die Bibliothek, um nach dem Buch seiner kranken Frau zu fragen. Er hoffte dort ein Heilmittel für sie zu finden.
»Guten Morgen, Will! Wie geht es dir heute?« Ich stellte mich zu ihm an den Tisch.
»Guten Morgen, Fräulein Selibra. Mir geht es wie jeden Tag.« Will war ein freundlicher Mann mit sympathischen braunen Augen. Will war der Inbegriff des liebenden Ehemanns, er würde alles tun, um seine Frau zu retten.
Ich zog einen Block und einen Stift aus meiner Rocktasche und schrieb mir den Namen von Wills Frau auf: »Vielleicht hast du ja heute Glück.«
Ich klopfte ihm auf die Schulter und ging zum nächsten Bittsteller.
Ein Mann fiel mir besonders auf, er saß abseits von den anderen alleine an einem Tisch. Die Hände hatte er darauf gelegt, den Kopf gesenkt. Als ich zu ihm trat, zuckte er hoch.
»Guten Morgen«, begrüßte ich ihn zögerlich.
Seine Augen waren blutunterlaufen und auf der Wange hatte er eine große Schnittwunde. Als er mich sah, lächelte er schief, ich konnte sehen, dass ihm mehrere Zähne fehlten.
»Ich würde gerne mein eigenes Buch sehen. Wäre das möglich?«, fragte er mit kratziger Stimme. Ich lächelte etwas zittrig und fragte nach seinem Namen.
»Ich werde schauen, bleiben Sie einfach hier«, antwortete ich ihm und ging zum nächsten Bittsteller.
Eine junge Frau mit einem kleinen Kind auf dem Schoß wartete bereits aufgeregt auf mich. Neben ihr auf der Bank stand ein abgedeckter Korb.
»Guten Tag, Fabelmädchen. Ich bin so aufgeregt hier zu sein«, begrüßte sie mich, ohne dass ich etwas sagen konnte.
»Das freut mich sehr. Was kann ich für Sie tun?«
»Das Buch meines verstorbenen Mannes, deshalb bin ich hier. Ich möchte meiner Tochter von ihrem Vater erzählen!«
Die Kleine auf ihrem Schoß grinste mich mit ihrem zahnlosen Mund an. So ein süßes Kind.
»Oh, ich habe Ihnen etwas mitgebracht.« Die Frau griff nach dem Korb und reichte ihn mir.
»Ich weiß nicht, wie es hier mit dem Essen aussieht, aber das wird Ihnen bestimmt schmecken. Ich bin so froh, dass Sie uns helfen«
Dankend nahm ich den Korb an und hing ihn mir über den Arm. Ich notierte mir den Namen und ging zurück in die Bibliothek.
Ich wartete damit, den Korb aufzudecken, bis sich die Tür wieder hinter mir geschlossen hatte. Unter dem Tuch verbarg sich ein riesiger Haufen Beerenbrötchen.
Kleine, süße Brötchen gefüllt mit einer Creme aus Sahne und Beeren. Bei dem Anblick lief mir das Wasser im Mund zusammen. Ich hatte schon lange keine frischen Beerenbrötchen mehr gehabt.
Ich unterdrückte den Wunsch, mir sofort eines zu nehmen, und stellte den Korb neben die Tür. Die kleinen Leckereien würde ich erst zu Mittag essen.
Nacheinander ging ich die Namen auf meiner Liste durch. Ohne auf meinen Weg zu achten, wanderte ich durch die einzelnen Räume, die Bibliothek führte mich immer in den richtigen Raum.
Neben dem ersten Regal blieb ich stehen und blickte auf, ich ließ den Blick über die Buchrücken schweifen und griff nach dem richtigen Buch.
Ich arbeitete mich durch meine Liste, knapp die Hälfte der Namen darauf konnte ich finden, die anderen Bücher würde die Bibliothek mir nicht zeigen.
Nicht jeder, der als Bittsteller zur Bibliothek kam, würde seinen Wunsch auch erfüllt bekommen. Viel zu oft musste ich die Menschen wieder wegschicken.
Zu meinem großen Bedauern war so auch diesmal das Buch von Wills Frau nicht dabei. Jeden Tag war er hier und wartete, doch er bekam keine Antwort.
»Warum? Hm? Warum darf er keine Antwort auf seine Frage bekommen?«, rief ich in die Tiefen der Bibliothek.
Ich erhielt keine Antwort.
»Manchmal bist du wirklich grausam!«
Als ich einen Schritt nach vorne trat, hob sich plötzlich der Teppich vor meinen Füßen und ich stolperte.
»Sehr erwachsen von dir«, fluchte ich, nachdem ich mich wieder gefangen hatte.
Ein sehr leises Klingen ging durch den Raum, fast so als würde jemand kichern. Nach einem Augenblick war es wieder verschwunden.
Ich packte meinen Korb fester und machte mich auf den Weg in den Lesesaal. Als ich wieder durch die Tür trat, wurde es schlagartig still im Raum.
Mit gesenktem Kopf ging ich als erstes zu Will.
»Es tut mir leid sehr leid, Will«, flüsterte ich.
Will setzte ein trauriges Lächeln auf und stand wortlos auf, schweigend und mit den Händen in den Hosentaschen vergraben verließ er die Bibliothek.
Ich wünschte mir für ihn, er würde es endlich aufgeben und zurück zu seiner Frau gehen. Hier verschwendete er nur wertvolle Zeit.
Ich schüttelte die düsteren Gedanken ab und suchte das nächste Buch heraus, oben auf meinem Stapel lag das des seltsamen Mannes.
Ich verstand nicht, warum er sein Buch bekam, aber Will nicht. Dieser Mann war ein Raufbold, wenn nicht Schlimmeres und doch wurde seine Bitte erhört.
Mit einem Nicken reichte ich es ihm, schnell weitereilend. Ich verteilte die restlichen Bücher und ging zurück in die Bibliothek, ich ließ die Bittsteller immer mit ihren Büchern allein. Ihre Geschichten waren privat.
Aus reiner Routine warf ich einen Blick in den Raum mit den neuen Büchern, doch nichts Neues war zu sehen.
Die Bücher tauchten eben nur nachts auf.
Zwei der Büchermäuse liefen über eines der Bücherregale, der ganze Staub blieb an ihren kleinen Körpern heften. Als sie mich bemerkten, blieben sie kurz stehen und blickten mich an.
Ich nickte ihnen zu und sie gingen weiter ihrer Aufgabe nach. Ich hatte in der ganzen Zeit hier noch nicht herausgefunden, wo die Büchermäuse lebten, sie verschwanden immer in den Wänden.
Ich streunte etwas durch die Flügel und Regalreihen, unsicher was ich mit mir anfangen sollte.
Normalerweise verbrachte ich diese wenige freie Zeit mit dem Lesen, doch heute war mir nicht danach. Ich war unruhig und ich wusste nicht mal wieso.
Ich konnte schon anfangen für die Reise nach Andra, der Hauptstadt von Milwald, zu packen. Doch so wie ich die Büchermäuse kannte, waren meine Kleider noch nicht fertig.
Gerne hätte ich auf der Reise in die Hauptstadt kurz einen Stopp in meinem Heimatdorf gemacht, doch dafür blieb keine Zeit.
Ich hatte jedes Jahr nur wenige Tage, in denen ich die Bibliothek verlassen durfte, einen Tag für die Hinreise, zwei Tage in Andra und einen für die Rückreise. Zwei Mal im Jahr.
Ein einsames Leben war das hier schon manchmal, aber ich hatte ja meine Bücher und die Geschichten der Menschen.
Ich schlenderte zurück zum Lesesaal, die meisten Bittsteller würden schon fertig sein. Ich öffnete die Tür ein Stück und schlüpfte in den Raum.
Einige der Tische waren schon frei, die Bücher lagen in der Mitte darauf verstreut, in anderen wurde noch immer aufgeregt gelesen.
Die Sonne war inzwischen höher gewandert und schien durch die Oberlichter. Die Luft im Lesesaal heizte sich im Sommer immer so sehr auf, doch jetzt, ohne die zweite Sonne, war es noch auszuhalten.
Ich setzte mich schweigend auf eine kleine Bank und schloss die Augen, vielleicht konnte ich noch einen Moment dösen.
Ich rannte durch die Gänge der Bibliothek, immer weiter, ohne zu wissen, wohin oder vor wem ich wegrannte. Doch ich wollte unter gar keinen Umständen stehen bleiben. Was auch immer es war, es kam näher! Ich suchte verzweifelt nach einem Versteck, doch die Regale schlossen sich um mich. Es gab kein Entkommen und plötzlich fiel ich in ein tiefes Loch.
Ein lautes Rumpeln ließ mich aufschrecken, verwirrt rieb ich mir die Augen und blickte mich um. Ich saß immer noch im Lesesaal, einer der Bittsteller war mit dem Stuhl über den Boden gerutscht.
Ich rappelte mich von meinem Stuhl auf und streckte mich. In letzter Zeit hatte ich immer so seltsame Träume, völlig unzusammenhängend und schrecklich.
Ich konnte nicht länger als eine halbe Stunde geschlafen haben, die Sonne schien immer noch durchs Fenster. Die Bittsteller saßen immer noch an ihren Tischen und waren in ihre Bücher vertieft.
Ich strich mir die Haare aus dem Gesicht und versuchte wieder richtig wach zu werden. Ich konnte doch nicht den ganzen Tag schlafen.
Die schwere Haupttür schwang auf und ein großgewachsener Mann in Uniform betrat den Lesesaal: »Die Bibliothek schließt jetzt für die Mittagszeit, bitte kommen Sie später wieder!«
Unter Gemurmel und Murren packten die Bittsteller ihre Sachen zusammen und verließen den Lesesaal. Dominik beobachtete jeden von ihnen genau, versuchte eine Gefahr zu erkennen.
Ich holte schnell den Korb mit den Beerenbrötchen aus der Bibliothek und stellte sie neben mich.
»Hallo, Libri. Alles gut?« Dominik drückte mir einen Kuss auf die Wange.
Ich legte meinen Kopf auf Doms Schulter ab: »Bin nur etwas erschöpft. Was sagen die anderen Wachen?«
Dominik war seit acht Jahren mein Leibwächter und schon fast so lange mein bester Freund.
Er lehnte sich neben mich an die Wand und nahm meine Hand: »Den anderen Wachen geht es wie immer um diese Zeit, sie alle freuen sich schon auf die paar Tage frei.«
Ich seufzte: »Tut mir leid, dass du mich begleiten musst und nicht zu deiner Familie fahren kannst.«
»Das macht doch nichts, Libri. Wir werden auch so ein schönes Frühjahrsfest haben. Du und ich zusammen, genau wie jedes Jahr. Und sie hätten sowieso nicht genug Essen, um auch mich durchzufüttern. Was ist los mit dir?«
Ich zuckte mit den Schultern: »In den letzten Tagen kann ich nicht so gut schlafen, ich habe immer wieder Albträume.«
»Woher kommen die?«, fragte Dominik besorgt.
»Von den Büchern, die ich lese. Es sind Geschichten von Monstern und Rittern, die sich ihnen stellen, von grausamen Kämpfen und Unschuldigen, die sterben. Es bricht mir jedes Mal das Herz. Die Geschichten sind nicht schön und verfolgen mich noch in der Nacht.«
Von meinem Traum eben wollte ich Dominik nicht erzählen.
»Warum liest du sie denn?«, fragte Dominik weiter.
»Weil die Bibliothek sie mir gibt!«
»Manchmal mache ich mir wirklich Sorgen um dich!«
Ich drehte mich zu Dominik. Er lächelte zwar, doch es erreichte nicht seine Augen.
Dom hatte wunderschöne Augen, sie hatten die Farbe von flüssigem Bernstein und waren von langen Wimpern umgeben.
Seine Nase war etwas zu groß und hatte einen Knick, fast genau in der Mitte. Er hatte mir erzählt, dass er sich als kleiner Junge viel geprügelt hatte.
Dominik kam vor acht Jahren in die Bibliothek. Er war siebzehn und ich fünfzehn. Damals war er noch ein schmaler, schlaksiger Junge, dessen Gesicht von jahrelangem Hungern ganz eingefallen war.
Dominiks Eltern lebten auf einem einsamen Hof in Amnu, sie hatten kaum genug Geld, um sich selber durchzubringen, ganz zu schweigen von mehreren Kindern.
Er war der älteste Sohn und trat der Armee der neun Königreiche bei. Nach einigen Wochen wurde er zu den Wächtern an die Bibliothek versetzt.
Eigentlich hatte jedes Fabelmädchen einen etwa gleichaltrigen Leibwächter, doch die ersten vier Jahre hatte ich keinen. Als ich hörte, dass ein Junge etwa in meinem Alter zu uns kommen würde, war ich so aufgeregt.
Doch Dom war nicht das, was ich erwartet hatte. Er war ziemlich arrogant und schaute mich kaum an. Als Gepäck hatte er nur einen einzelnen kleinen Beutel dabei, misstrauisch beobachtete er die anderen Wachen.
Jedes der neun Königreiche schickte einen Ritter zur Bibliothek, um sie zu beschützen, diese Männer blieben immer nur für drei Monate. Doch Dom sollte für immer bleiben.
An seinem ersten Abend saß er alleine an einem Tisch im Speisezimmer der Wachen. Schweigend schlang der den Eintopf in großen Bissen herunter. Das Essen der Wachen war nicht wirklich besonders, an den meisten Tagen gab es Eintopf, Suppe oder Fleisch. Es war gut, aber nicht außergewöhnlich. Doch Dominik verschlang ganze vier Schalen davon.
Es dauerte noch eine ganze Woche, bevor Dominik und ich das erste Wort wechselten und wir fingen sofort an zu streiten.
So verlief es die ersten Wochen jeden Tag zwischen uns, wir sahen uns am Morgen, schrien uns an, gingen uns den Rest des Tages aus dem Weg und stritten am Abend zu Ende.
Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, wann wir Freunde wurden. Es muss irgendwann nach den ersten Monaten gewesen sein.
»Lass uns Mittagessen gehen. So wie ich dich kenne, hast du heute mal wieder nichts gegessen!« Dom stupste mich an.
»Da fällt mir was ein!« Ich sprang auf und holte den Korb hinter der Tür hervor: »Die habe ich eben bekommen!«
Doms Augen weiteten sich, als er die Beerenbrötchen sah. Er leckte sich die Lippen und streckte die Finger nach einem Brötchen aus.
»Finger weg!« Ich schlug ihm auf die Hand.
Schmollend rieb Dom sich die Finger: »Warum zeigst du sie mir dann?«
»Die sind für später. Und jetzt komm, sonst ist gleich nicht mehr genug da, um deinen Hunger zu stillen.«
Mit dem Korb in der Hand schlenderten wir über den kleinen Vorhof zu den Unterkünften der Wachen.
Die Türen der Bibliothek schlossen sich hinter mir von alleine. Ich musste sie nicht abschließen oder mir Sorgen machen, jemand könnte eindringen. Nur das Fabelmädchen konnte die Tiefen der Bibliothek betreten.
Eine kleine Gruppe Blaufalken saß auf dem Dach des Stalls, ihr leises Gurren war das einzige Geräusch, was zu hören war. Ein Schatten huschte vorüber und ich zuckte zusammen. Es war nur ein wegfliegender Vogel! Diese Bücher machten mich ängstlich.
Die Bittsteller hatten den Vorhof bereits verlassen, einige Minuten Fußweg entfernt gab es ein kleines Gasthaus mit einem Schankraum, dort konnten auch sie etwas essen.
Dominik hielt mir die Tür auf und wir betraten den nicht sehr geräumigen Speisesaal der Wachen. Da insgesamt nur zwölf Menschen in dem Haus wohnten, war es relativ klein.
Die Männer hatten ihre Zimmer im Stockwerk über uns, enge Kammern mit einem Fenster, einem Bett und einem Schrank.
Unter dem Dach wohnten Many und Rose, ein altes Ehepaar, das sich um die Männer und die Pferde kümmerte. Die beiden waren schon so lange hier, dass sie fast zur Bibliothek gehörten.
Rose war eine sehr nette, dickere Frau. Ihr Gesicht war voller Falten und braungebrannt, von der Arbeit im Gemüsegarten hinter dem Haus.
Sie kochte für die Männer, wusch und flickte ihre Wäsche, hielt das Haus und die Gärten in Ordnung. Sie hatte immer ein Lächeln auf den Lippen und einen verträumten Blick.
Many, ihr Mann, war genauso freundlich. Für sein Alter war er noch sehr gut in Form, er betreute die Pferde und die Kutsche, besserte die Dinge im Haus aus und reparierte alles, was nötig war.
Ich freute mich immer, wenn ich die beiden sah, und sie freuten sich auch. Ihnen war leider kein Kind vergönnt gewesen und so kümmerten sie sich um das Fabelmädchen.
Die anderen Wachen saßen bereits an den langen Tischen, dampfende Schüsseln mit Eintopf vor sich. Schnell setzten wir uns dazu.
Rose wackelte mit zwei Schalen heran: »Ist das schön dich zu sehen, Selibra. Heute war noch sehr viel los!«
Sie stellte unser Essen vor uns ab. Der Eintopf war eher eine dicke Suppe, mit einigen Stücken Fleisch und Kartoffeln. Der Frühling musste dringend kommen, wir brauchten neues Gemüse!
»Dafür wird hier morgen alles leer sein. Werdet ihr hier bleiben?«, fragte ich Rose.
»Nein, wir werden morgen aufbrechen, wenn ihr alle weg seid. Meine Schwester hat uns zu sich eingeladen.«
»Das freut mich für euch!« Rose strich mir über die Wange und ging zurück in ihre Küche.
Dominik ließ einen Löffel Eintopf zurück in die Schale fallen: »Ich würde mich nie über Roses Kochkünste beschweren, aber ich freue mich schon sehr auf morgen.«
»Jetzt stell dich mal nicht so an!« Ich verdrehte die Augen: »Du isst doch so gut wie alles. Dein Bauch ist ein Fass ohne Boden.«
Kurz schaute Dom mich mit zusammengekniffenen Augen an, dann zuckte er mit den Schultern und nahm einen Löffel vom Eintopf.
Der Hunger lag schwer in meinem Magen, doch ich konnte nur die halbe Schale essen. Ich brauchte noch viel Platz für die Beerenbrötchen.
Dominik machte sich darum keine Sorgen. Nachdem er seine Schale zweimal geleert hatte, schnappte er sich meine.