Hunting the Beast 1: Nachtgefährten - Cosima Lang - E-Book
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Hunting the Beast 1: Nachtgefährten E-Book

Cosima Lang

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Beschreibung

NIEDRIGER AKTIONSPREIS NUR FÜR KURZE ZEIT! **Rache oder Liebe – welche Wahl triffst du?** Seit Dot vor Jahren bei einem Wolfsangriff ihre Eltern verloren hat, lebt sie für die Rache. Sie gehört der Gilde der »Reds« an, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Nachtwesen aller Art zu jagen. Dass sie sich dabei bisweilen am Rande der Legalität bewegt, nimmt Dot in Kauf. Doch die Zeiten ändern sich. Von einem Tag auf den anderen wird den Reds die Jagd untersagt – und Dot versteht die Welt nicht mehr. Anstatt zu kämpfen, soll sie nun ausgerechnet mit einem Werwolf zusammenarbeiten. Und wenn sie ganz ehrlich zu sich ist, dann ist dieser Ben der coolste Nerd, den sie je getroffen hat… //Dies ist ein in Roman aus dem Carlsen-Imprint Dark Diamonds. Jeder Roman ein Juwel.// //Alle Bände der märchenhaften Urban-Fantasy-Reihe bei Dark Diamonds: -- Hunting the Beast 1: Nachtgefährten -- Hunting the Beast 2: Dunkelwesen -- Hunting the Beast 3: Finsterherzen (erscheint im Januar 2020) -- Sammelband zur Fantasy-Reihe »Hunting the Beast« (erscheint im Februar 2020)//

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Dark Diamonds

Jeder Roman ein Juwel.

Das digitale Imprint »Dark Diamonds« ist ein E-Book-Label des Carlsen Verlags und publiziert New Adult Fantasy.

Wer nach einer hochwertig geschliffenen Geschichte voller dunkler Romantik sucht, ist bei uns genau richtig. Im Mittelpunkt unserer Romane stehen starke weibliche Heldinnen, die ihre Teenagerjahre bereits hinter sich gelassen haben, aber noch nicht ganz in ihrer Zukunft angekommen sind. Mit viel Gefühl, einer Prise Gefahr und einem Hauch von Sinnlichkeit entführen sie uns in die grenzenlosen Weiten fantastischer Welten – genau dorthin, wo man die Realität vollkommen vergisst und sich selbst wiederfindet.

Das Dark-Diamonds-Programm wurde vom Lektorat des erfolgreichen Carlsen-Labels Impress handverlesen und enthält nur wahre Juwelen der romantischen Fantasyliteratur für junge Erwachsene.

Cosima Lang

Hunting the Beast. Nachtgefährten

**Rache oder Liebe – welche Wahl triffst du?** Seit Dot vor Jahren bei einem Wolfsangriff ihre Eltern verloren hat, lebt sie für die Rache. Sie gehört der Gilde der »Reds« an, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Nachtwesen aller Art zu jagen. Dass sie sich dabei bisweilen am Rande der Legalität bewegt, nimmt Dot in Kauf. Doch die Zeiten ändern sich. Von einem Tag auf den anderen wird den Reds die Jagd untersagt – und Dot versteht die Welt nicht mehr. Anstatt zu kämpfen, soll sie nun ausgerechnet mit einem Werwolf zusammenarbeiten. Und wenn sie ganz ehrlich zu sich ist, dann ist dieser Ben der coolste Nerd, den sie je getroffen hat …

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Vita

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© Helmut Kirch

Cosima Lang entdeckte früh ihre Leidenschaft für Bücher, insbesondere für Fantasy- und Liebesromane. Nach ihrem Abitur begann sie selbst zu schreiben. Fremde Welten und Magie bieten ihr die Möglichkeit, aufregende Abenteuer und Mysterien zu erleben und starke Heldinnen und Helden zu erschaffen. Cosima Lang studiert Germanistik und Anglistik in Düsseldorf.

Für den Hipsterbuchmesseclub. Weil es ohne euch nicht dasselbe wäre.

Prolog

Zwölf Jahre zuvor, in einem Wald in Bayern

Die Vögel zwitscherten in den Bäumen, sanft fiel das Sonnenlicht zwischen den Blättern auf den Weg. Leise pfeifend hüpfte Dorothy über den Waldweg, ihren kleinen blauen Rucksack auf dem Rücken.

»Dotty! Lauf bitte nicht so weit vor«, rief ihre Mutter ein gutes Stück hinter ihr.

Sofort blieb das Mädchen stehen und drehte sich um. Ihre Eltern spazierten Hand in Hand über den Weg, während ihr Vater eine Karte studierte. Beide trugen Wanderkleidung und dicke Schuhe, auf dem Rücken hatten sie Rucksäcke. Sie waren schon seit frühmorgens unterwegs und inzwischen waren sie alle sehr müde.

Hinter ihren Eltern schlenderte Alice den Weg entlang, den Blick auf den Boden gerichtet, die Schultern hochgezogen. Sie hatte von allen am wenigsten Lust auf diesen Ausflug. Während der Fahrt hatte sie Kopfhörer in den Ohren gehabt und laut eine CD von einer Indie-Popband gehört. Wann immer ihre Mutter ihr eine Frage gestellt hatte, hatte sie die Augen verdreht und einsilbig geantwortet.

Dotty interessierte das nicht besonders. Die Zehnjährige war viel zu sehr damit beschäftigt, sich umzusehen. Vor einigen Stunden, als sie zum Mittagessen Rast gemacht hatten, hatte sie ein Häschen im Gebüsch gesehen. Leider war es davon gehüpft, bevor sie es erwischen konnte. Jetzt suchte sie jeden Busch danach ab. Sie wollte nichts lieber, als ein Häschen zu knuddeln.

»Kinder, kommt bitte mal her«, rief ihr Vater. Er winkte sie zu einer alten Bank, halb versteckt zwischen einigen Bäumen.

Dotty ließ ihren Rucksack achtlos zu Boden fallen und kletterte auf die Bank. Sie war klein für ihr Alter, doch das machte ihr nichts aus. Seufzend, als wäre es eine schrecklich nervtötende Aufgabe, half Ali ihr beim Hochklettern.

Mama und Papa breiteten die Karte aus und studierten sie genauer.

»Ich bin mir ganz sicher, dass wir hier rechts abgebogen sind«, sagte Mama nachdrücklich.

Papa schürzte die Lippen. »Nein, wir sind links abgebogen.« Er fuhr mit einem Finger einen Weg auf der Karte nach. »Deshalb sind wir jetzt auch hier!«

Dotty beugte sich vor und betrachtete die Karte. Für sie ergaben die Farben, Striche und Beschriftungen überhaupt keinen Sinn.

»Haben wir uns etwa verlaufen?«, fragte Ali mit der typischen genervten Stimme einer Fünfzehnjährigen, die mitten in der Pubertät steckt.

»Nein, Schatz, das haben wir natürlich nicht«, sagte Papa mit ruhiger Stimme.

Mama hob die Augenbrauen. »Haben wir nicht? Wie willst du das bitte nennen?«

Papa seufzte und rieb sich den Nasenrücken. »So weit können wir nicht vom Weg abgekommen sein.«

Ali verdrehte theatralisch die Augen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Na super!«

»Ich werde mal schauen, ob ich hier irgendwo Empfang habe.« Papa holte sein Handy hervor und ging einige Meter weiter.

»Ich hab Hunger«, sagte Dotty und blickte ihre Mutter an. Diese hatte sich immer noch über die Karte gebeugt und hörte sie nicht.

»Warte, Dotty.« Ali nahm ihren Rucksack ab und suchte darin herum. »Willst du einen Apfel oder lieber Schoki?«

»Schoki, bitte!«, rief Dotty aus.

Mit einem kleinen Lächeln reichte Ali ihr eine ganze Tafel Schokolade. »Aber iss bitte nicht alles auf einmal, du bekommst Bauchweh.«

Dotty nickte, ohne wirklich zuzuhören. Zufrieden steckte sie sich ein Stück Schokolade in den Mund und reichte auch Ali eines. Deren mit dunklem Kajal umrandeten Augen betrachteten immer noch genervt die Karte. Sie seufzte noch einmal laut und verschränkte die Hände vor der Brust.

»Warum hast du so schlechte Laune?«, fragte Dotty. Sie brach ein weiteres Stück Schokolade ab und reichte es Ali.

»Ich bin kein Fan vom Wandern«, antwortete sie und nahm das Stück Schokolade.

»Aber warum nicht? Früher bist du so gerne mit uns gewandert.« Dotty blickte sie mit zur Seite gelegtem Kopf an.

»Früher war vieles anders.«

Das Mädchen zog die Augenbrauen zusammen und dachte über Alis Worte nach. Aber sie verstand sie nicht. Was war denn jetzt anders als vor zwei Jahren bei ihrem letzten Urlaub?

»Langweilst du dich denn nicht?«, fragte Ali leicht gelangweilt.

»Nein, ich suche nach einem Kaninchen«, erklärte Dotty nickend.

»Willst du ihm dann in sein Kaninchenloch folgen?«, kicherte Ali und knuffte ihre Schwester in die Seite.

»Nein! Das ist doch deine Aufgabe! Ich will es nur streicheln«, erklärte Dotty ernst.

»Das kannst du doch auch im Streichelzoo. Und da musst du sie nicht erst jagen«, sagte Ali altklug.

»Aber ich will hier ein Häschen streicheln«, betonte das Mädchen.

Bevor die beiden weiter über Häschen und Zoos streiten konnten, kam Papa wieder zurück zur Bank. »Ich habe hier oben einfach keinen Empfang.«

Mama warf die Hände in die Luft. »Na wunderbar! Und jetzt?«

Beide beugten sich wieder über die Karte und fuhren einige Wege mit den Fingern nach.

»Es wird bald dunkel«, nörgelte Ali.

»Danke, Alice. Deine Aussage ist wie immer sehr hilfreich«, sagte Papa voller Sarkasmus. Er warf ihr einen bösen Blick zu.

»Aber sie hat recht«, seufzte Mama. Sie sah auf ihre Armbanduhr mit dem schönen türkisfarbenen Band. »In etwa einer Stunde wird es dunkel sein.«

»Dann sollten wir uns wieder auf den Weg machen. Ab jetzt keine Pausen mehr«, erklärte Papa.

Sie packten ihre Sachen zusammen und machten sich auf den Weg. Dotty hüpfte wieder vor ihren Eltern her und suchte weiter nach ihrem Häschen. Langsam wurde es dunkler um sie herum, die Sonne sank hinter einen Berg. Dem Mädchen machte die Dunkelheit nichts aus, es mochte die Nacht. Und im Wald war sie besonders aufregend.

Auf ihrer Klassenfahrt im letzten Herbst hatten sie eine Nachtwanderung in einem alten Moor gemacht. Während die anderen Mädchen sich zusammen gedrängt hatten und ängstlich bei jedem Geräusch zusammengezuckt waren, war sie ganz vorne mitgerannt und hatte jeden Moment genossen.

Ali ging mit verschränkten Armen neben ihr und verdrehte immer mal wieder die Augen. Trotzdem machte sie Dotty auf ein Rascheln im Gebüsch aufmerksam. »Vielleicht ist dein Häschen ja dort!«

Sofort rannte Dotty auf den Busch zu.

»Dorothy! Wir haben keine Zeit herumzualbern! Kommt bitte!«, rief Mama beinahe schon böse.

Einen Moment überlegte Dotty, einfach in den Busch zu schlüpfen, aber Mama klang so ernst, dass sie sich lieber benahm.

Sie wanderten weiter durch den immer düsteren Wald, ab und an diskutierten ihre Eltern, welchen Weg sie nehmen sollten. Dotty versteckte ein Gähnen hinter der Hand und rieb sich die Augen.

»Ich bin auch ganz müde!«

Ali reichte ihr die Hand und Dotty nahm sie. Hand in Hand folgten die beiden ihren Eltern. Mittlerweile war es zwischen den dichten Bäumen so dunkel, dass sie ihre Taschenlampen rausholen mussten.

In der Ferne hörte Dotty plötzlich ein langes, tiefes und gruseliges Heulen. Sie blieb stehen und drehte sich langsam um. »Habt ihr das gehört?«, fragte sie ihre Eltern.

»Was denn?«, wollte Papa abwesend wissen.

»Da hat ein Wolf geheult.« Sie drückte sich näher an ihre Schwester.

»Es gibt hier keine Wölfe, Dotty«, versuchte Mama sie zu beruhigen.

»Aber ich habe doch gerade einen heulen gehört!«, rief Dotty aus. Doch Mama und Papa hatten sich schon wieder umgewandt.

»Ich habe es auch gehört«, sagte Ali ernst. Ihr Blick huschte zwischen den Bäumen hin und her. »Aber Mama hat recht, hier gibt es keine Wölfe.«

»Und was war das dann?«, fragte Dotty trotzig.

Ali zuckte nur mit den Schultern.

Schweigend gingen sie weiter, bis das Mädchen das Heulen noch einmal hörte. Diesmal näher. Ihre Eltern schienen es wieder nicht zu hören oder zu ignorieren, und so biss sie sich auf die Zunge und schwieg.

»Wenn wir diesem Weg folgen, kommen wir wieder auf den großen Hauptweg und von dort auch zum Parkplatz.« Papa leuchtete mit seiner Taschenlampe auf den Weg.

Dotty gähnte laut und folgte ihnen. Sie hatte schon wieder großen Hunger und wollte nur noch ins Bett.

Ein eiskalter Schauer rann ihren Rücken hinab und vertrieb die Müdigkeit auf einen Schlag, als sie das Heulen zum dritten Mal hörte. Diesmal direkt hinter ihr.

Langsam drehte sie sich um und leuchtete mit ihrer Taschenlampe in das Gebüsch. Goldene Augen reflektierten das Licht. Eine riesige Schnauze mit langen, triefenden Zähnen schob sich zwischen den Blättern hervor.

Ali stieß einen panischen Schrei aus und ließ ihre Taschenlampe fallen. Schnell wirbelten ihre Eltern herum, sie entdeckten den Wolf ebenfalls. Mama schrie auf. Papa holte laut Luft.

Ali packte Dottys Hand fester und zog ihre kleine Schwester hinter sich her. Diese umklammerte ihre Taschenlampe und tat alles, um nicht über ihre eigenen Füße zu stolpern. Sie konnte den heißen Atem des Wolfes in ihrem Nacken fühlen.

Ihre Mutter schrie. Das Geräusch zerriss die Stille und ließ Dottys Blut gefrieren. Dann hörte der Schrei auf einmal auf.

Die Stille war noch schlimmer.

Sie rannten zwischen den Bäumen entlang, Dornen blieben in ihren Kleidern hängen und Zweige schlugen in ihre Gesichter. Aber sie blieben nicht stehen. Ali zerrte sie weiter, einfach immer weiter. Tiefer in den Wald hinein und weg von ihren Eltern.

Vor einem großen Baum blieb Ali so plötzlich stehen, dass Dotty in sie hineinrannte. »Du musst jetzt klettern, Dotty.« Ali nahm erst ihren, dann den Rucksack ihrer Schwester ab und warf beide ins Gebüsch. Ihre Finger zitterten wie verrückt und sie blickte sich immer wieder um.

»Warum?«, fragte Dotty ängstlich. Dicke Tränen liefen über ihr Gesicht.

»Komm, hoch mit dir.« Ali hob sie zum ersten Ast und half ihr weiter zu klettern.

»Was ist mit dir?«, rief Dotty.

»Scht! Nicht so laut! Klettere bitte einfach weiter, Dotty.« Jetzt liefen auch Ali Tränen über die Wangen. »Klettere so weit du kommst, dann such dir einen dicken Ast, auf dem du sitzen kannst. Und komm nicht runter, bevor ich dich rufe!«

Das Mädchen folgte ihren Anweisungen. Immer wieder blickte sie hinunter und wartete, dass Ali ebenfalls anfing zu klettern. Doch ihre Schwester stand einfach nur unter dem Baum und wartete.

Nach einigen Metern fand Dotty eine Astgabel, in die sie sich setzen konnte. So gut sie konnte, machte sie es sich bequem. »Ich bin oben«, rief sie so leise sie konnte nach unten.

Ali nickte. Sie griff nach dem untersten Ast, als plötzlich drei Wölfe aus dem Gebüsch schossen. Ali warf einen kurzen Blick zu Dotty hoch, mit den Lippen formte sie die Worte Ich hab dich lieb!, dann stürmte sie weiter durch das Gebüsch.

Die Wölfe folgten ihr sofort.

Dotty stand unter Schock, trotzdem fiel ihr auf, dass die Wölfe zu groß waren. Sie waren beinahe doppelt so groß wie ein normaler Wolf.

Sie klammerte sich am Stamm des Baumes fest, die Stille hatte sich wieder über den dunklen Wald gelegt. Nur Dottys Atem war noch zu hören. Er hallte in ihren Ohren und sie hatte Angst, dass die Wölfe sie hören könnten.

Stunde um Stunde wartete sie, dass ihre Schwester oder ihre Eltern wieder kamen. Ihre Finger konnte sie schon längst nicht mehr fühlen, sei es aufgrund der Kälte oder weil sie sich an den Baum klammerte. Ihre Zähne klapperten, ihre Augen fielen ihr immer wieder zu.

Doch Dotty konnte nicht schlafen.

Ihre Angst und Panik hielten sie wach.

Ihr Magen knurrte und ihre Blase drückte. Ab und an weinte sie leise, doch das Geräusch war so schrecklich laut in der Stille, dass sie sich schnell wieder zusammen riss.

Die ersten Sonnenstrahlen fielen durch die Blätter. Vögel fingen an zu zwitschern. Alles wirkte friedlich und ruhig.

Langsam löste Dotty ihre schmerzenden Finger aus der Rinde des Baumes und streckte ihre schmerzenden, steifen Beine. Unbeholfen kletterte sie den Baum hinunter, immer wieder rutschte sie ab und riss sich die Haut an Armen und Beinen auf. Auf dem Boden angekommen, gaben ihre Beine nach. Für einen Moment saß sie auf dem kalten, feuchten Waldboden.

Dotty rieb sich das Gesicht und nahm ihre letzten Kräfte zusammen. Mit zitternden Knien stand sie wieder auf und blickte sich um.

Ihre Flucht hatte eine deutliche Spur im Gebüsch hinterlassen. Dort hatte sie ihre Eltern das letzte Mal gesehen. Vielleicht konnte Dotty sie dort auch wiederfinden?

Langsam folgte sie der Spur. Ihr Blick huschte über die Büsche, sie erwartete immer wieder, diese schrecklichen gelben Augen zu sehen. An einigen umgeknickten Zweigen war Blut.

Sie stolperte auf den Weg und blieb wie erstarrt stehen. Der sandige Boden hatte sich mit Blut vollgesogen. Er leuchtete rot im Morgenlicht. Weiter entfernt lagen ihre Eltern, über und über mit Blut bedeckt.

Dotty stolperte zurück, stolperte und rutschte aus. Ihre Hände landeten in dem blutigen Sand. In einiger Entfernung leuchtete etwas türkis zwischen dem Rot. Die Armbanduhr ihrer Mutter, immer noch an ihrem abgetrennten Arm.

Dottys Fluchtinstinkt setzte ein. Sie wirbelte herum und rannte den Weg entlang. Doch schon nach wenigen Hundert Metern verließen sie die Kräfte und sie sackte auf dem Boden zusammen.

Ihre Eltern waren tot. So viel hatte ihr kindlicher Verstand begriffen. Die beiden waren zerstückelt und ausgeweidet worden. Diese schrecklichen Wölfe hatten sie einfach umgebracht. Doch Alis Leiche hatte sie nicht entdeckt.

»Ali!«, brüllte Dotty in den Wald. »Ali! Ali!«

Die Vögel stoben aus den umliegenden Bäumen und flogen davon.

Sie drehte sich um sich selbst und rief solange weiter bis sie keine Stimme mehr hatte. Tränen fingen wieder an über ihr Gesicht zu laufen. Sie weinte, schrie und weinte, bis sie vor Erschöpfung ohnmächtig wurde.

Kapitel 1

Dot

Mit langsamen und geübten Bewegungen fuhr Dot mit dem Schleifstein über ihren Dolch. Sie konzentrierte sich ganz und gar auf diese einfache und doch wichtige Aufgabe und blendete alles andere um sich herum aus.

In dem Gemeinschaftswohnzimmer saßen außer ihr sechs andere Rotkäppchen, sie unterhielten sich leise oder schauten eine Realityshow im Fernsehen. Sie alle trugen normale Straßenkleidung oder Trainingsklamotten.

»Jo, Dot!« Leslie schmiss sich neben ihr aufs Sofa und legte die Füße auf den Tisch. Er trug nichts weiter als eine tiefsitzende Jogginghose, die Muskeln seiner nackten Brust tanzten, als er den Arm um Dot legte. »Immer noch so schlechte Laune?«

Für einen kurzen Moment überlegte sie, ob sie einfach schweigen und ihren Kollegen ignorieren sollte. Dann legte Dot den Schleifstein zur Seite und steckte den Dolch in seine Scheide in ihrem Stiefel. »Ich habe keine schlechte Laune, Leslie. Ich bin lediglich etwas angespannt.«

»Ja, das merkt man!«, sagte Ruby in ihrem typischen herablassenden Ton. Sie setzte sich auf den Tisch vor Dot und schlug die Beine übereinander. Sie strich sich die langen blonden Haare über die Schulter und taxierte Dot lauernd.

Diese Freindschaft existierte schon seit Jahren zwischen ihnen beiden. Zwar verhielten sie sich in der Öffentlichkeit wie Freundinnen und standen füreinander ein, doch Ruby hielt den Konkurrenzkampf zwischen ihnen am Leben.

Wenn Dot eine gute Note geschrieben hatte oder von den Lehrern gelobt wurde, hatte Ruby alles getan, um sie zu übertreffen.

Wenn Dot einen dieser stinkenden Wölfe fand und erledigte, meldete Ruby sich sofort für die nächste Jagd.

Wenn Dot den neuen Rekruten beim Lernen half, machte Ruby dies ebenfalls. Nicht, um den neuen zu helfen – Ruby war niemand, der anderen einfach half – sondern um selbst besser dazustehen.

»Wir sind alle etwas angespannt. Heute werden sie uns endlich reinen Wein einschenken.« Sie schenkte Dot ein gewinnendes Lächeln, das ihre perfekten weißen Zähne zeigte.

Was mal wieder Dots Erkenntnis bestätigte: Man musste nicht klug sein, um effizient töten zu können.

»Ich bin sicher, dass sie die richtige Entscheidung treffen werden«, sagte Leslie langsam, während er mit seinen Fingerspitzen über Dots nackten Arm fuhr.

Sie wandte ihre Aufmerksamkeit ganz ihm zu.

Leslie war gutaussehend, mit kantigem Kinn, ausdrucksstarken braunen Augen und einem sinnlichen Mund, den er auch einzusetzen wusste. Sein Körper war genauso muskulös wie die der anderen männlichen Rotkäppchen. Alles in allem war Leslie äußerlich ein absoluter Traummann.

Doch leider hatte er eine beschissene Persönlichkeit, die er nicht zu verstecken versuchte. Leslie war grundlegend ein Arschloch. Er blickte auf alle herab und behandelte jeden, als wäre er weniger wert als er selbst.

Meistens blendete Dot das, was Leslie sagte, einfach aus. Er war ein großartiger Kämpfer, auf den sich seine Teamkollegen immer verlassen konnten.

Teamkollegen, das waren diese beiden Rotkäppchen für Dot. Seit drei Jahren gingen sie zusammen auf die Jagd und würden sie nicht so gut zusammenarbeiten, würde Dot gar nicht erst mit ihnen reden.

»Es ist völlig egal, welche Entscheidung sie treffen werden. Wir werden uns daran halten«, sagte Dot leicht genervt. Sie hatte überhaupt keine Lust, sich noch weiter mit den beiden abzugeben.

»Was bleibt uns auch anderes übrig? Diese alten Säcke haben ja leider das Sagen«, erwiderte Leslie abwertend. »Ich meine, jetzt mal ehrlich. In ein paar Jahren sind die doch alle zu alt, um selbst noch auf die Jagd zu gehen. Warum entscheiden sie also, wie es mit der Gilde weitergeht?«

»Weil sie die Ältesten sind und es besser wissen als wir!« Dot erhob sich abrupt. Leslies Arm fiel von ihrer Schulter und er grunzte unzufrieden. Ohne ein weiteres Wort verließ sie den Gemeinschaftsraum und suchte sich einen ruhigen Ort abseits von den anderen.

Das Hauptquartier der Rotkäppchengilde war ein altes riesiges Herrenhaus, einige Kilometer von München entfernt. Rundherum gab es nichts als Felder und Wald – eine Tatsache, die Dot viele Jahre lang Angst eingejagt hatte. Seit der Ermordung ihrer Eltern konnte sie nicht mehr alleine in einem Wald sein, selbst wenn es nur ein winziger war.

Sie stieg die Steintreppe in den dritten Stock hoch und schlüpfte durch eine Tür auf den Balkon. Die angenehm warme Abendluft umfing sie, Dot nahm einen tiefen Atemzug. Ihre innere Anspannung hielt sie schon seit einigen Tagen fest im Griff.

Sie stützte sich mit den Armen auf dem Geländer ab und schaute in den Hof. Einige der Rotkäppchen trainierten trotz der einsetzenden Dunkelheit. Dot konnte das Klirren ihrer Waffen bis zu sich nach oben hören.

Sie strich mit den Fingern über das auf ihrem Oberteil eingestickte Wappen der Gilde, zwei blutrote Dolche gekreuzt auf einem silbernen Vollmond. Sie trug dieses Wappen schon seit fast zehn Jahren und seit vier Jahren durfte sie sich aktives Mitglied der Gilde nennen.

Doch vor einigen Wochen hatte sich etwas verändert.

Etwas Grundlegendes und sehr Wichtiges.

Die Ältesten der Gilde dachten tatsächlich darüber nach, die Jagd auf die Werwölfe einzugrenzen. Da diese Monsterviecher wohl ganz plötzlich mehr waren als nur Tiere.

Dot war da ganz anderer Meinung. Diese menschenfressenden Monster verdienten kein glückliches, sorgloses Leben in Frieden. Nicht, wenn sie ihre Freizeit damit verbrachten, Menschen zu jagen und zu töten.

Die Gilde kümmerte sich schon seit Jahrhunderten um die Werwölfe. Seitdem das erste Rotkäppchen vor so langer Zeit den ersten getötet hatte. Sie hatte andere Krieger und Kriegerinnen zusammengetrommelt, um die Gilde zu gründen. Ein wichtiger Beitrag für die Sicherheit der Menschen, die auch heute noch genauso wichtig war. Denn Werwölfe konnten ihr inneres Tier nicht im Zaum halten. Sie töteten, ohne darüber nachzudenken.

Die Gilde hatte Dot aufgefangen und großgezogen, nachdem ihre Eltern auf so grausame Art umgebracht worden waren und Ali verschwunden war. Man hatte ihre Schwester nie gefunden, nicht einmal einen winzigen Teil von ihr, tot oder lebendig. Dot war alleine auf der Welt gewesen, von einem Tag auf den anderen. Und plötzlich war sie kein Kind mehr gewesen.

Wenn man die abgetrennten Körperteile seiner Eltern fand, verlor man seine kindliche Unschuld für immer. Und für eine gewisse Zeit auch seinen Verstand.

Dot war in einem Krankenhaus aufgewacht. Völlig orientierungslos hatte sie die weiße Decke angestarrt und verzweifelt versucht, ihren Albtraum zu verstehen.

Ein Albtraum.

Sie hatte sich selbst eingeredet, dass alles nur ein Albtraum gewesen war. Ihren Eltern ging es gut, das musste es einfach! Ihr Verstand war mit dem Gedanken einfach nicht klargekommen. Sie hatte die Wahrheit so lange verbogen, bis es für sie wieder gepasst hatte. Und für eine viel zu lange Zeit hatte sie den Kontakt zur Wirklichkeit verloren.

Erst als Nicole zu ihr gekommen war, hatte Dot zurück in die Realität gefunden. Und einen neuen Grund zu leben. Nicole hatte sie aus der Pflegefamilie geholt, die nichts mit ihr anfangen konnte, und zu den Rotkäppchen gebracht. Zu ihrer neuen Familie.

Und jetzt stand die Gilde vor einer riesigen Veränderung, die Dot in Angst und Schrecken versetzte. Sie wusste nicht, wie sie auch nur mit der Möglichkeit umgehen sollte, die Werwölfe nicht länger zu jagen.

Zumindest nicht mehr alle von ihnen.

Denn scheinbar hatten diese Monster ebenfalls ein Recht auf ein ruhiges und friedliches Leben mit ihren Familien. In Vorstadthäusern, mit Familienkutsche und perfekt gepflegtem Vorgarten. So als wären sie ganz normale Menschen.

Dot ballte die Fäuste. Ihre Fingernägel gruben sich in ihr Fleisch. Bevor wieder einmal Blut fließen konnte, löste sie den Griff und atmete tief durch. Sie musste ruhig bleiben. Die Ältesten würden das niemals zulassen.

Ein lauter Gong erklang auf dem ganzen Gelände. Die Rotkäppchen legten ihre Waffen ab und eilten in die Versammlungshalle. Dot atmete noch einmal tief durch und folgte ihnen dann.

Die große Versammlungshalle lag im Haupthaus und ging über zwei Stockwerke. In der Mitte gab es eine Bühne, auf der eine lange Tafel mit sieben hohen Lehnstühlen stand. Jetzt waren sie leer, doch bald würden dort die Ältesten Platz nehmen.

Dot schlenderte in aller Ruhe zwischen den Reihen entlang und suchte nach einem guten Platz. Sie versuchte Ruhe und Entspannung auszustrahlen. Sich bloß nichts anmerken lassen.

Die Sitzbänke knarrten unter dem Gewicht der Rotkäppchen, leise hallten ihre Stimmen von den hohen Wänden zurück.

Dot setzte sich an den Rand der zweiten Reihe, weit weg von Leslie und seinem Gefolge. Er saß zusammen mit Ruby und einigen anderen Rotkäppchen, die ihn bewunderten, ganz hinten in der Mitte. Sein Blick verfolgte jeden genau, der die Halle betrat. Ab und an sagte er etwas und sein Gefolge lachte.

»Hast du dich endlich von deinen nervigen Freunden losgelöst?«

Dot zuckte zusammen und wandte sich dem Rotkäppchen zu, das sich neben sie gesetzt hatte.

Anna warf Leslie einen angeekelten Blick zu. »Er ist so ein blasierter Lackaffe!«

»Wir wissen beide, dass Leslie nicht mein Freund ist. Genauso wenig wie die anderen«, sagte Dot leicht gelangweilt.

Einen Moment schwiegen beide, dann kicherte Anna. »Na, da bin ich aber froh.« Sie griff nach Dots Hand. »Wie geht es dir?«

Dot erwiderte den leichten Händedruck ihrer Freundin. »Ganz ehrlich? Keine Ahnung.«

Dot hatte Anna vor vier Jahren kennengelernt, als sie aus einem anderen Quartier der Gilde nach München gekommen war. Anna war anders als Dots Teammitglieder. Sie war ruhiger, weniger konkurrierend. Dot genoss es manchmal einfach nur mit ihr zusammen zu sitzen und zu schweigen.

Anna strich sich eine blonde Strähne hinters Ohr und seufzte. »Alle sind so unruhig. Als würde es eine Rolle spielen, was sie von der Entscheidung halten.«

»Spielt es denn keine Rolle?«, fragte Dot nach.

»Nicht wirklich. Wir haben hier keine Entscheidungsmacht. Und wenn es einem nicht passt, kann er immer noch aus der Gilde ausscheiden.« Anna zuckte mit den Schultern.

»Ja, das ist auch eine Möglichkeit«, flüsterte Dot. Nur für sie nicht.

Endlich betraten die Ältesten den Saal. Sie trugen normale Straßenkleidung und darüber lange dunkelrote Roben. Sie wirkten müde und genervt. Immerhin hatten sie fast achtundvierzig Stunden beraten, um endlich zu einer Einigung zu kommen.

Sofort heftete Dot ihren Blick an Nicole. Die Älteste betrat als Letzte den Raum, ihr hübsches Gesicht war blass, die dunklen Augenringe zeichneten sich deutlich ab. Sie rieb sich den Nacken und folgte Igor zu den Stühlen. Die Ältesten ließen sich Zeit beim Platznehmen, so als wollten sie die Spannung hinauszögern.

Dot krallte sich in ihre Hose und versuchte verzweifelt Nicoles Aufmerksamkeit zu erregen, ohne etwas zu sagen. Vielleicht würde sie ihr einen Hinweis geben. Doch die Älteste blickte strikt in eine andere Richtung.

Dot schluckte.

Das war schlecht.

Igor erhob sich wieder und blickte sich im Raum um. Es waren beinahe hundert Rotkäppchen in allen Altersklassen anwesend. Manche von ihnen waren noch im aktiven Dienst, andere Ausbilder oder Angestellte. Aber sie alle waren ein wichtiger Teil der Gilde.

»Danke, dass ihr alle gekommen seid und so lange auf unsere Entscheidung gewartete habt«, begann Igor, nachdem er sich geräuspert hatte. »Wie ihr alle sicher wisst, haben die Rudelführer der Werwölfe vor einigen Wochen Kontakt mit uns aufgenommen und einen Friedensvertrag vorgeschlagen. Ein Vorschlag, mit dem wir nie gerechnet haben, aber für den wir sehr dankbar sind.«

Also war es beschlossen. Dot biss sich auf die Zunge, um ruhig zu bleiben. Blut rann über ihre Finger, als sich ihre Nägel in ihren Handballen bohrten. Sie war nicht die Einzige, die mit der Entscheidung nicht zufrieden war. Einige andere schrien durcheinander, standen auf und schüttelten die Fäuste.

»Schweigt!«, schallte Nicoles kräftige Stimme durch den Raum. Beinahe sofort schwiegen alle und setzten sich. Sie nickte Igor zu, dieser nahm Platz und übergab das Wort an Nicole. Ernst ließ sie ihren Blick durch die Reihen wandern. Herzschlag um Herzschlag verging, während Nicole die Kontrolle über den Raum erlangte.

»Die Rotkäppchengilde beschützt die Menschen schon seit Jahrhunderten. Wir setzen unser Leben aufs Spiel und verlieren es auch manchmal, um Unschuldige vor einem schrecklichen Tod zu bewahren. Wir kämpfen gegen die Wesen der Nacht. Werwölfe, Hexen, Vampire, Dämonen und so viele andere. Aber in den letzten Jahren hat sich viel verändert, in der Welt um uns herum und auch in der Gilde.«

Sie erhob sich und trat hinter dem Tisch hervor. Sie fuhr sich durch die schulterlangen braunen Haare. Eine dicke graue Strähne fiel ihr wie immer vor die braunen Augen.

Sie strich über den roten Stoff der Robe. »Unsere größte Waffe sind die Mäntel, die uns vor ihnen verbergen, uns einen Vorteil gegenüber ihren Instinkten bringen. Ihre Magie ist älter als unsere Gilde und vielleicht auch älter als die Menschheit. Sie ist der einzige Grund, weshalb wir gegen die Nachtwesen bestehen können. Das dürfen wir niemals vergessen. Aber wir sind auch nur Menschen. Egal wie sehr wir trainieren, wie gut unsere Waffen sind oder wie schlau wir vorgehen, wir sind ihnen körperlich unterlegen. Und wir haben schon so viele Freunde und Mitglieder verloren.«

Einige im Saal senkten traurig die Köpfe. Dots Schultern hatten sich so versteift, dass sie sich kaum bewegen konnte. Sie hing an Nicoles Lippen und wartete auf die Begründung für die Entscheidung.

»Aber wir sind nicht die Einzigen, die Verluste verzeichnen. Wir sind sehr gut in unserer Arbeit und haben schon viele Nachtwesen getötet. Manche zu Unrecht. Denn wir können nicht sehen, ob einer von ihnen wirklich böse ist. Wir töten auf den Verdacht hin, dass sie jemanden getötet haben oder es noch tun werden. Ich bin mir sicher, wir haben schon einige Unschuldige getötet.«

Ein unterdrückter Schrei verließ Dots Lippen. Unter den lauten Protesten der anderen Rotkäppchen ging er jedoch unter. Trotzdem huschte Nicoles Blick sofort zu Dot.

»Ich kann euch verstehen, sehr gut sogar. Aber wir alle haben zu viele Verluste zu verkraften, um weiter gegeneinander zu kämpfen. Also kommen wir zu den neuen Regeln, an die ihr euch von nun an alle halten müsst. Immer. Ganz egal ob ihr einem Werwolf, einer Hexe, einem Dämon oder einem anderen Nachtwesen gegenüber steht. Wir töten nicht mehr, sobald wir einen von ihnen sehen. Sollte es einen Vorfall geben, werden wir genau ermitteln, wer es war. Und wir werden nur dieses eine schuldige Wesen töten, niemanden sonst. Außerdem werden wir von nun an mit den Nachtwesen zusammenarbeiten. Wenn sie wissen, dass einer der ihren Menschen tötet, werden sie es uns mitteilen und wir werden uns darum kümmern.«

Diesmal ließ Nicole die Rotkäppchen laut diskutieren. Völlig entspannt ging sie über die Bühne, den Blick gesenkt und die Hände vor dem Bauch verschränkt. Nach und nach verstummten die Stimmen wieder, sie alle warteten, was Nicole weiter sagen würde.

»Wer mit dieser Entscheidung nicht zufrieden ist, dem steht es selbstverständlich frei, uns zu verlassen. Wir werden niemandem einen Vorwurf machen. Aber eines muss euch klar sein: Diese Entscheidung ist endgültig. Und nichts wird sie mehr ändern.«

Bei dem letzten Satz blickte sie direkt zu Dot.

Diese hatte verstanden.

Und alles in ihr sträubte sich dagegen.

Kapitel 2

Ben

Seufzend nahm Benjamin seine Brille ab und rieb sich über die Augen. Er klopfte mit den Fingern auf den Tisch und betrachtete den Bildschirm. Seit mehreren Stunden versuchte er nun schon, den Fehler in dem Code zu finden, doch es funktionierte einfach nicht. Mit einem wütenden Knurren schaltete er den Computer aus und stand auf.

Während er sich streckte, ging er zum Fenster und öffnete es. Ein frischer Abendwind wehte ihm entgegen und er fuhr sich durchs blonde Haar. Die Sonne versank hinter den Häusern auf der anderen Straßenseite, es war also schon Abend.

Als Ben das letzte Mal mit seinem Bruder gesprochen hatte, hatte Noah noch nichts von den Ältesten der Rotkäppchen gehört. Diese arroganten Jäger berieten immer noch, ob sie aufhören sollten, Unschuldige abzuschlachten.

Über die Arbeit hatte Ben mal wieder die Zeit vergessen, was ihn sein Körper wissen ließ. Laut knurrte sein Magen und sein Mund war trocken. Damit er wieder Ruhe hatte, ging Ben in die Küche und öffnete seinen Kühlschrank. Er ließ den Blick über den Inhalt gleiten: Reste von gestern Abend, Pudding, Joghurt, Milch und Aufschnitt. Ben nahm sich die Frikadellen, dazu mehrere Becher Schokopudding und Schinken, den er ganz unten versteckt fand. Doch sein scharfer Geruchssinn warnte ihn sofort, dass der Schinken schlecht war. Er warf ihn weg und ging mit seiner Beute ins Wohnzimmer.

Er zappte durch die Kanäle, bis er eine Nachrichtensendung gefunden hatte. Er aß die Frikadellen kalt und verputzte auch den Pudding restlos. Mit dem Bier wollte er noch warten, bis er in der Bar war. Wie jeden Abend wollte er sich mit seinen Freunden in der Howling Bar treffen. Allerdings war es jetzt noch zu früh, um dort hinzufahren.

Ben rieb sich den Nacken. In den letzten Tagen hatte er eindeutig zu viel drinnen herum gesessen und gearbeitet. Aber er musste diesen blöden Fehler im Code finden, ansonsten konnten sie mit ihrem Projekt nicht weiter machen.

Ben arbeitete an einer App, die aktuell noch nicht funktionierte. Und in ein paar Tagen sollte er sich wieder seiner echten Arbeit widmen, immerhin brachte die Geld ein.

Im Allgemeinen saß Ben in letzter Zeit viel zu viel in seiner Wohnung herum. Er vergrub sich in Arbeit, um nicht über die Entscheidung der Rudelführer nachzudenken. Wenn er zu viel darüber nachdachte, wurde er wütend, und einen Tisch hatte er bereits zerschlagen. Von dem schicken neuen Loch in seiner Schlafzimmerwand ganz abgesehen.

Er könnte auch seinen Schlüssel nehmen, in den Wald fahren und die ganze Nacht laufen. Für einige Stunden sein menschliches Leben hinter sich lassen und einfach nur Wolf sein. Dieser Gedanke war ihm immer wieder gekommen, aber er hatte ihn unterdrückt und sich weiter auf seine Aufgaben konzentriert. Gerade war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich vor seinen Pflichten zu verstecken.

Als hätte er es heraufbeschworen, summte Bens Handy. Genervt fummelte er es aus der hinteren Tasche seiner Jogginghose.

Sie haben sich entschieden. Treffen in der Bar in einer halben Stunde.

Mehr hatte Noah nicht geschrieben. Mehr musste er auch nicht schreiben. Ben wusste genau, was los war. Noah hatte niemandem aus dem Rudel von den Gesprächen mit den Ältesten erzählt. Dass er sie nun alle zusammengerufen hatte, bedeutete, dass sie seinem Vorschlag zugestimmt hatten.

Einige Minuten blieb er auf dem Sofa sitzen und klopfte mit dem Handy auf seine Hand. Er wollte nicht hingehen und sich diesen ganzen Schwachsinn anhören, aber er konnte auch nicht wegbleiben. Sie mussten jetzt eine Einheit bilden. Also rappelte er sich auf, sprang unter die Dusche und zog sich dann an. Er schloss seine Lederjacke, schnappte sich seinen Schlüssel und Helm und verließ die Wohnung. Seine Maschine heulte laut auf, mit Vollgas fuhr er durch die Straßen von München.

Die Howling Bar lag einige Fahrminuten außerhalb der Stadt in einem kleinen privaten Waldstück. Nur selten verirrte sich ein Mensch in die Bar, meistens waren die Werwölfe unter sich. Als Ben ankam, standen auf dem kleinen Parkplatz Autos und Motorräder nebeneinander. Er schüttelte den Kopf, als er die Handvoll Fahrräder sah, die fein säuberlich nebeneinander angekettet waren.

Die Bar nahm den ganzen unteren Teil des Hauses ein, in den oberen beiden Stockwerken lebte Regina, die Besitzerin. Ein wenig erinnerte das Haus an eine Schenke aus dem Mittelalter, alte Holzbalken waren zu sehen und die Fenster bestanden aus Buntglas. Ben kam schon hierher, seit er ein kleiner Junge war, zusammen mit seiner ganzen Familie.

Als er die Tür öffnete, schlugen ihm die bekannten Gerüche und Geräusche entgegen. Frisch gekochtes Essen, Bier und der leichte Gestank von Rauch, der einfach nie wegging, auch wenn die Bar schon seit Jahren Nichtraucherzone war. Die Gäste lachten, redeten, einige sangen sogar. Aus dem hinteren Raum konnte er die Geräusche eines Billardspiels hören. Die Ersten entdeckten Ben, begrüßten ihn, schlugen ihm auf die Schulter oder nickten ihm zu.

Ben ließ seinen Blick durch den Raum gleiten und betrachtete die Gäste genau. An diesem Abend waren ausschließlich Rudelmitglieder anwesend, alte und junge, Erwachsene und Kinder. Langsam schlenderte er durch den Schankraum zu der langen, gut bestückten Theke, die genau in der Mitte stand. Dahinter befanden sich die Küche und die Treppe, die in die oberen Stockwerke führte.

Regina stand mit dem Rücken zu ihm und nahm einige Flaschen von den Glasregalen. Sie trug eine enge schwarze Jeans und ein kurzes dunkelrotes Top, das, so wie er sie kannte, einen beinahe unverschämten Ausschnitt hatte. Ihre kurzen schwarzen Haare standen verwuschelt von ihrem Kopf ab.

»Na?« Sie drehte sich mit einem breiten Grinsen zu Ben um.

»Na?«, fragte er zurück und setzte sich auf einen der Barhocker.

Regina nahm einen Shaker und machte sich daran, einen Cocktail zusammenzumischen. Gleichzeitig zapfte sie Ben ein Bier.

»Wie geht es dir, Kleiner?«

Ihre blauen Augen taxierten ihn genau, nahmen jedes noch so kleine Detail auf. Regina war für Ben wie eine coole Tante, manchmal auch wie eine Mutter.

»Wie soll es schon sein?« Ben rieb sich den Nacken. »Heute Abend ist sehr wichtig!«

»Wem sagst du das?« Sie nahm den Shaker hoch. Während sie den Raum betrachtete, schüttelte sie ihn und goss das inzwischen hellrosa Getränk in ein hohes Glas. Nachdem sie es mit Kirsche und Schirmchen verziert hatte, stellte sie es auf ein Tablett. Danach griff sie nach dem nächsten Shaker, stellte aber vorher das Bier vor Ben ab.

»Ganz schön was los heute.«

Eine von Reginas Kellnerinnen schlüpfte an der Theke vorbei in Richtung Küche, sie trug ein Tablett voll dreckigem Geschirr. Als sie die Schwingtür öffnete, wurden die Geräusche und Gerüche aus der Küche für einen Moment klarer. Bei dem Geruch von frischem Fleisch und Pommes lief Ben das Wasser im Mund zusammen.

»Ja, dein Bruder hätte uns ruhig etwas früher Bescheid geben können. Ich hatte heute nur zwei meiner Mädels da, an einem Dienstag brauche ich sonst nicht mehr. Jetzt habe ich Conny, Sarah und Aylin angerufen. Aber bis die alle hier sind …« Sie schüttelte den Kopf und stellte zwei weitere Cocktailgläser auf das Tablett. »Bin sofort wieder da.« Sie nahm das Tablett und ging zu einem Tisch weiter hinten im Raum, an dem eine Gruppe junger Frauen saß.

»Hallo, mein Hübscher«, erklang eine viel zu süße weibliche Stimme neben ihm.