Hunting the Beast 2: Dunkelwesen - Cosima Lang - E-Book

Hunting the Beast 2: Dunkelwesen E-Book

Cosima Lang

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Beschreibung

**Vertrauen oder Hass – was bestimmt dein Handeln?** Es ist eine Sache, mit einem eigentlich feindlich gesinnten Nachtwesen zusammenzuarbeiten – eine andere ist es, mit einem sexy-nerdigen Werwolf eine Beziehung einzugehen. Doch nach den Vorkommnissen der letzten Wochen hat sich viel für Dot verändert. Eines ist der jungen Jägerin mittlerweile klar geworden: Dank Bens Hilfe könnte sie endlich mit ihrer Vergangenheit abschließen und die Nachtwesen in einem anderen Licht sehen. Aber dann macht Dot eine unfassbare und gefährliche Entdeckung und ihre Welt gerät erneut aus den Fugen… //Dies ist ein Roman aus dem Carlsen-Imprint Dark Diamonds. Jeder Roman ein Juwel.//  //Alle Bände der märchenhaften Urban-Fantasy-Reihe bei Dark Diamonds: -- Hunting the Beast 1: Nachtgefährten -- Hunting the Beast 2: Dunkelwesen -- Hunting the Beast 3: Finsterherzen (erscheint im Januar 2020) -- Sammelband zur Fantasy-Reihe »Hunting the Beast« (erscheint im Februar 2020)//

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Dark Diamonds

Jeder Roman ein Juwel.

Das digitale Imprint »Dark Diamonds« ist ein E-Book-Label des Carlsen Verlags und publiziert New Adult Fantasy.

Wer nach einer hochwertig geschliffenen Geschichte voller dunkler Romantik sucht, ist bei uns genau richtig. Im Mittelpunkt unserer Romane stehen starke weibliche Heldinnen, die ihre Teenagerjahre bereits hinter sich gelassen haben, aber noch nicht ganz in ihrer Zukunft angekommen sind. Mit viel Gefühl, einer Prise Gefahr und einem Hauch von Sinnlichkeit entführen sie uns in die grenzenlosen Weiten fantastischer Welten – genau dorthin, wo man die Realität vollkommen vergisst und sich selbst wiederfindet.

Das Dark-Diamonds-Programm wurde vom Lektorat des erfolgreichen Carlsen-Labels Impress handverlesen und enthält nur wahre Juwelen der romantischen Fantasyliteratur für junge Erwachsene.

Cosima Lang

Hunting the Beast 2: Dunkelwesen

**Vertrauen oder Hass – was bestimmt dein Handeln?**Es ist eine Sache, mit einem eigentlich feindlich gesinnten Nachtwesen zusammenzuarbeiten – eine andere ist es, mit einem sexy-nerdigen Werwolf eine Beziehung einzugehen. Doch nach den Vorkommnissen der letzten Wochen hat sich viel für Dot verändert. Eines ist der jungen Jägerin mittlerweile klar geworden: Dank Bens Hilfe könnte sie endlich mit ihrer Vergangenheit abschließen und die Nachtwesen in einem anderen Licht sehen. Aber dann macht Dot eine unfassbare und gefährliche Entdeckung und ihre Welt gerät erneut aus den Fugen …

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Vita

Danksagung

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© HelmutKirch

Cosima Lang entdeckte früh ihre Leidenschaft für Bücher, insbesondere für Fantasy- und Liebesromane. Nach ihrem Abitur begann sie selbst zu schreiben. Fremde Welten und Magie bieten ihr die Möglichkeit, aufregende Abenteuer und Mysterien zu erleben und starke Heldinnen und Helden zu erschaffen. Cosima Lang studiert Germanistik und Anglistik in Düsseldorf.

Für Anna.

Dieses Buch ist dein Verdienst. Danke für alles.

Kapitel 1

Dot

Das leise Ticken der Uhr an der Wand machte sie nervös. Immer wieder huschte Dots Blick zu der großen Standuhr in der Ecke. Sie wirkte alt und passte so gar nicht in das moderne Wartezimmer.

Angespannt rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her. Warten war noch nie ihre Stärke gewesen. Sie kam sich dabei nutzlos vor. Außerdem hieß Warten, dass sie mit ihren Gedanken und Gefühlen alleine war. Etwas, was sie gerade tunlichst vermeiden wollte.

In ihrem Hinterkopf flüsterte eine leise Stimme, sie solle so schnell wie möglich verschwinden. Die Erinnerungen an das letzte Mal, als sie an einem solchen Ort gewesen war, waren immer noch klar in ihrem Kopf.

Die schmucklosen grauen Wände, der Gestank nach Desinfektionsmittel, der unbequeme Stuhl, auf dem sie sitzen musste. Und dann waren da die leeren Augen der anderen Kinder, die mit ihr im Zimmer saßen.

Sofort versteifte Dot sich. Hektisch huschte ihr Blick durch den Raum. Hier waren die Wände in einem angenehmen mintgrün gestrichen, das gut zu den hellbraunen Möbeln passte. Abstrakte Bilder hingen in weißen Bilderrahmen an den Wänden und helles Licht fiel durch die hohen Fenster.

Niemand zwang Dot hier zu sein. Dieses Mal war sie zum Psychologen gegangen, weil sie es wollte. Weil sie es brauchte. Sie konnte nicht mehr weitermachen wie bisher. Das hatte sie sich inzwischen eingestanden. Sie brauchte die Hilfe, die ihr nur ein Psychologe anbieten konnte.

Die Jägerin schloss die Augen und atmete tief durch.

Dieses Mal würde sie sich ihrer Vergangenheit stellen.

Ihrer Zukunft wegen.

Der Zukunft, die sie möglicherweise mit Ben haben würde.

»Dorothy!«

Eine freundliche Stimme riss sie aus den Gedanken. Die hübsche Sprechstundenhilfe mit den perfekt sitzenden Haaren lächelte sie an.

»Du kannst jetzt rein gehen.«

Mit steifen Gliedern erhob Dot sich. Ihre Knöchel traten weiß hervor, so fest umklammerte sie den Griff ihrer Handtasche.

Doktor Andrea Gluth wirkte auf den ersten Blick sympathisch, wenn auch etwas altbacken. Ihre grauen Haare waren zu einem strengen Dutt hochgesteckt. Hinter der schmalen Brille blitzen freundliche braune Augen.

»Dorothy.« Sie reichte der jungen Jägerin die Hand. »Schön, dass du hier bist. Nimm doch bitte Platz.« Sie deutete auf einen großen weißen Sessel, der ihrem direkt gegenüberstand. Hier gab es keine grauen Plastikstühle im Kreis, nur zwei Sessel und Bücherregale.

Beklommen strich Dot sich eine Strähne hinters Ohr. »Hallo.« Sie wusste nicht genau, was sie sagen sollte.

Doktor Gluth lächelte weiterhin freundlich. »Ich bin froh, dass du endlich hier bist, Dorothy.«

»Dot, bitte.«

»Dot, natürlich. Ich werde ehrlich zu dir sein.« Die Psychologin nahm einen Block in die Hand. »Ich kenne deine Akte sehr gut. Nicole hat sie mir zukommen lassen, als du der Gilde beigetreten bist. Keiner von uns wollte dich drängen hierher zu kommen. Ich kann deine Abneigung gegen Psychologen sehr gut verstehen. Deswegen frage ich mich, was dich jetzt dazu bewogen hat, mich aufzusuchen.«

Das war eine gute Frage. Denn eigentlich hatte Dot sich geschworen, niemals wieder mit einem Seelenklempner zu sprechen. Obwohl ihre Mentorin Nicole ihr mehrmals geraten hatte zu Doktor Gluth zu gehen. Schließlich war sie früher selbst ein Rotkäppchen gewesen, vor vielen Jahren. Sie verstand demnach, was die Jäger und Jägerinnen jeden Tag durchmachten.

»Es ist etwas passiert«, fing Dot zögerlich an.

Wie sollte sie die Ereignisse der letzten Wochen nur zusammenfassen? War es wirklich erst wenige Wochen her, dass der Friedensvertrag geschlossen worden war?

»Wie wäre es mit ganz am Anfang? Mit deiner Kindheit?«, schlug Doktor Gluth vor. Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen und die Hände im Schoß gefaltet. Der Block lag offen auf ihrem Schoß, doch sie schien sich keine Notizen machen zu wollen.

Unter ihrem wachsamen Blick konnte Dot keinen klaren Gedanken fassen. Sie senkte den Kopf und blickte auf ihre verwaschene Jeans und ihre Stiefel, die sich stark gegen den hellen Teppich abhoben. Paradoxerweise fiel es ihr nicht mehr so schwer wie früher, über ihre Kindheit und den Verlust ihrer Eltern zu reden.

Vor ihrem geistigen Auge tauchte das Bild von Ben auf. Erneut erzählte sie ihm ihre Geschichte und erinnerte sich dabei an die Nacht, die sie in seiner Wohnung verbracht hatten.

»Das Trauma, welches du durchleben musstest, ist grausam«, begann Doktor Gluth zögerlich, nachdem Dot geendet hatte. »Den Tod der Eltern und der Verlust deiner Schwester Alice hat sich tief in dir verankert. Und damit auch der Hass auf Werwölfe.«

Das war ihr Grundproblem. Ihr Hass auf Werwölfe. Er war immer noch da, loderte tief in ihr. Sie hatte Angst, dass er wieder ausbrechen würde. Und alles, was sie erreicht hatte, wie ein Waldbrand verbrennen würde.

»Ich will die Werwölfe und die anderen Nachtwesen nicht mehr grundlos hassen«, brachte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Ich würde diesen Hass nicht als grundlos bezeichnen«, gab Doktor Gluth zu bedenken.

»Ich schon. Denn keiner von ihnen hatte etwas mit dem Verschwinden meiner Eltern zu tun. Man hasst ja auch nicht jeden Menschen, bloß weil einer etwas Abscheuliches getan hat.«

»Das ist durchaus wahr. Aber einen so tieflegenden Hass zu bewältigen ist schwer.«

Für einen Moment legte sich Stille über den Raum, während Dot diese Worte verarbeitete. Angst breitete sich in ihr aus. War es vielleicht unmöglich?

»Erzähl mir doch, wieso du dich gerade jetzt dazu entschlossen hast, dir Hilfe zu suchen.«

Jetzt nahm die Psychologin ihren Stift auf. Großes Interesse blitzte Dot aus ihren Augen entgegen.

»Ich denke, dass alles angefangen hat, als wir von dem Friedensvertrag erfahren haben.«

Auf einmal sprudelte die ganze Geschichte aus Dot heraus. Die Nacht des Friedensvertrags, wie Leslie, ihr ehemaliger Kollege, sie überredet hatte die Werwölfe anzugreifen. Ihr erstes Aufeinandertreffen mit Ben in der Bar. Nicoles Strafe, die Zusammenarbeit mit den Werwölfen, allen voran Ben, und der Auftrag, die verschwundene Patricia zu suchen und den Mord an ihrer Familie aufzuklären. Die Zeit, die sie mit Ben und den anderen Werwölfen verbracht hatte. Die Gefühle, die sich langsam für den Werwolf entwickelt hatten. Wie sie Patricia gefunden und befreit hatten. Und dann die größte Überraschung: Sie war Bens Gefährtin. Seine einzig wahre Liebe. Die Frau, die nur für ihn bestimmt war. Als Letztes berichtete sie von der jüngsten Nacht im Krankenhaus. Von ihrer Entscheidung, es mit Ben zu versuchen.

»Nun«, sagte die Psychologin zögerlich. »Das ist allerdings eine außergewöhnliche Geschichte.« Sie tippte auf die Seite des Blocks, der inzwischen voll mit Notizen war.

»Ja«, lachte Dot zustimmend.

»Um mit allem richtig umzugehen, wird es mehr als eine Sitzung brauchen.«

»Damit habe ich gerechnet. Ich werde tun, was ich tun muss, damit es mir besser geht.«

Natürlich war Dot sich bewusst, dass es keine simple Lösung für ihr Problem gab.

»Am besten fangen wir mit einer Sitzung pro Woche an. Du hast einiges aufzuarbeiten und es wird sicher nicht leicht werden.« Doktor Gluth legte den Block zur Seite. »Aber dass du von alleine gekommen bist, ist schon einmal der erste und wichtigste Schritt.«

Mit einem Ruck erhob Dot sich. Sie versuchte nicht zu zeigen, wie erleichtert sie war, dass die Sitzung beendet war. Immer noch misstraute sie Psychologen, auch wenn Doktor Gluth sehr nett war.

»Dann sehen wir uns nächste Woche?«, fragte diese zum Abschied.

»Ja, nächste Woche«, bestätigte Dot es sich noch einmal selbst. Sie würde wiederkommen, nächste Woche und die Woche darauf, so lange, bis es ihr besser ging.

Auf ihrem Weg nach draußen nickte sie der Sprechstundenhilfe zu, die den Termin bereits in den Plan eintrug. Erleichtert atmete Dot mehrmals durch, als sie aus dem Haus auf die belebte Straße trat.

In der Innenstadt von München war wie immer einiges los. Menschen drängten sich auf den Bürgersteigen, Autos hupten im dichten Verkehr. Doch gerade gefiel Dot das Treiben, es lenkte sie von ihren eigenen Gedanken ab.

Unschlüssig blieb sie stehen und blickte nach rechts und links. Zwei Straßen weiter stand ihr Wagen. Eigentlich sollte sie zurück ins Hauptquartier fahren. Immerhin wartete genug Arbeit auf sie. Aber danach stand Dot gerade nicht der Sinn. Sie wollte nicht so schnell zurück in ihr kleines Zimmer und den Bericht über den Fall Patricia für die Ältesten ausarbeiten. Dazu war sie noch nicht bereit.

Kurz entschlossen wandte sie sich in die entgegengesetzte Richtung und ließ sich von den Menschen treiben. Es war seltsam, dass keiner von ihnen eine Ahnung hatte, was Dot wirklich tat.

Wie viele von ihnen wohl Nachtwesen waren? Hexen, Werwölfe oder Dämonen? Vielleicht sogar ein Vampir? Die gab es scheinbar immer noch.

Aber die meisten von ihnen waren einfach Menschen. Menschen, die nichts von der Existenz der Nachtwesen oder der Rotkäppchen wussten und auch niemals davon erfahren würden. Dafür sorgten Dot und die anderen Mitglieder der Gilde.

Sie schlenderte durch die Straßen und blieb vor einem Kaufhaus stehen. Die Gilde zahlte nicht schlecht. Und da Dot im Hauptquartier wohnte, hatte sie kaum eigene Kosten. Trotzdem war sie immer sehr sparsam gewesen und besaß nicht mehr, als sie benötigte. Aber in diesem Moment juckte es ihr in den Fingern, sich etwas zu kaufen. Eine Kleinigkeit. Etwas Neues, als Zeichen für den neuen Lebensabschnitt.

Als sie das Kaufhaus zwei Stunden später wieder verließ, trug sie vier Tüten bei sich. Entspannt schlenderte sie zurück zu ihrem Auto und machte sich auf den Weg zum Hauptquartier. Als sie durch den Wald in der Nähe von München fuhr, atmete sie die frische Luft durch das geöffnete Fenster ein.

Es war früher Nachmittag und die meisten Rotkäppchen befanden sich auf dem Gelände. Dot parkte ihren Wagen in der Garage und eilte über die freie Fläche zum Eingang. Das große, alte Herrenhaus warf lange Schatten auf den Rasen. Für Außenstehende konnte es etwas einschüchternd wirken, doch für sie war es der Inbegriff von Zuhause. Sie kannte jede knarrende Diele, jeden Winkel, den Ausblick aus jedem Fenster. Immerhin lebte sie schon seit dem Tod ihrer Eltern hier. Beinahe zwölf Jahre.

»Hi, Dot«, begrüßte einer der anderen sie und hielt ihr die Tür auf. Flüchtig lächelte sie ihn an und betrat das ruhige Haus.

Eigentlich wollte sie auf direktem Weg zu ihrem Zimmer im zweiten Stock gehen, doch ein ihr bekanntes Lachen hielt sie auf der Treppe auf.

Das konnte doch nicht sein!

Langsam stieg sie die Stufen wieder hinunter und folgte dem Klang bis in die Küche. Zwei junge Frauen standen an die Theke gelehnt und lachten ausgelassen.

»Beth?«, fragte Dot verwirrt.

Die Werwölfin wirbelte herum. Ihre hübschen blauen Augen weiteten sich. »Dot! Du bist wieder da!« Fröhlich rannte sie auf die Jägerin zu.

Etwas überrascht erwiderte Dot die stürmische Umarmung. »Was machst du denn hier?« Ihr Blick wanderte zu Anna, ihrer besten Freundin und Kollegin.

»Beth ist meine neue Praktikantin«, verkündete diese mit einem breiten Grinsen. Anna war die führende Forensikerin der Gilde und hatte immer alle Hände voll zu tun.

Dot zog die Augenbrauen zusammen. »Praktikantin?«, hakte sie nach.

»Ja, meine Arbeit hier ist sehr wichtig, wie du weißt. Und es ist viel zu tun.« Anna verschränkte die Arme vor der Brust und blickte Dot abwartend an.

»Wissen die Ältesten davon?« Die Jägerin war immer noch nicht überzeugt.

Gespielt schockiert schlug Anna die Hände vor den Mund. »O nein, das habe ich ganz vergessen. Jetzt muss ich Beth vor ihnen verstecken.«

Die Werwölfin kicherte.

»Haha. Ihr beide superwitzig.« Dot verdrehte die Augen.

»Nicole weiß, dass Beth hier ist«, fuhr Anna deutlich ernster fort. »Tatsächlich war es sogar ihre Idee, dass wir die Nachtwesen etwas in die Gilde einbinden. Und Beth braucht dieses Praktikum für ihr Studium.«

»Es freut mich auf jeden Fall, dass du hier bist.« Dot drückte die Hand der jungen Frau. »Anna braucht dringend Unterstützung.«

»Tue ich tatsächlich. Wir haben von dem letzten Fall noch einiges nachzuholen«, erklärte Anna.

Bei der Erinnerung an ihren letzten Fall zuckte Dot unmerklich zusammen. Kurz hatte sie die Ereignisse und Verstrickungen der letzten Tage vergessen. »Und warum hängt ihr beiden dann in der Küche rum?«, fragte sie, um sich abzulenken.

»Heute ist Beths erster Tag. Ich wollte ihr erst mal das ganze Hauptquartier zeigen und ihr die Hausregeln erklären.« Schwungvoll schaltete Anna die Kaffeemaschine an. »Eine davon ist: Niemals die Kaffeemaschine ausschalten. Sehr wichtige Regel. Willst du auch einen?«, fragte sie Dot.

»Gerne. Ich denke, den werde ich brauchen.« Sie stellte ihre Einkäufe auf die Arbeitsfläche und steckte ihre Nase in die dampfende Tasse Kaffee, die Anna ihr reichte. »Also, was genau machst du in deinem Praktikum?« Interessiert schaute sie zu Beth.

»Ich denke, ich werde Anna zu den Einsätzen begleiten.« Die Wölfin legte den Kopf schief. »Und hoffentlich viel lernen.«

»Lernen wirst du einiges, aber zu Einsätzen nehme ich dich erst einmal nicht mit.« Anna leckte sich den Milchschaum von den Lippen. »So verrückt bin ich nicht, eine Zivilistin mitzubringen. Du wirst mir hier im Labor zur Hand gehen. Und Berichte schreiben.«

Dot verzog das Gesicht. Sie hasste Formalitäten.

»Papierkram?«, fragte Beth wenig begeistert.

Wissend nickte Anna. »Man müsste meinen, dass eine Organisation, die schon seit Jahrhunderten Nachtwesen jagt, so etwas egal ist. Aber nein. Hier gibt es so viel Papierkram zu erledigen. Für alles gibt es ein Formular, und wehe dir, wenn du auch nur ein falsches Komma setzt. An schlechten Tagen lässt Igor dich alles noch mal neu schreiben.«

Dot erinnerte sich noch gut an den besagten Tag und den Hass, den sie danach auf den Ältesten geschoben hatte. Er mochte sie nicht sonderlich, warum auch immer, und Dot ging ihm auch lieber aus dem Weg.

»Wo warst du eigentlich?«, fragte Beth neugierig und schielte in die Tüten.

Dot überlegte, ob sie ihren Freundinnen die Wahrheit verschweigen sollte. Doch welchen Sinn hatte das?

»Ich war beim Psychologen und danach einkaufen.«

»Du warst bei der Gluth?«, fragte Anna überrascht. »Gute Entscheidung.«

Beth wirkte weniger überzeugt. »Wieso warst du da?«

Langsam atmete Dot durch. Die Werwölfin kannte ihre Geschichte nicht. Sie bemerkte Annas besorgten Blick, als diese dazwischengehen wollte.

»Meine Eltern wurden bei einem Werwolfangriff getötet. Deshalb habe ich einen so tiefsitzenden Hass auf …« Kurz stockte Dot und dachte über den passenden Ausdruck nach. »Auf Werwölfe im Allgemeinen.«

»Oh.« Beth strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und wich ihrem Blick aus. »Mann, Dot. Das wusste ich nicht. Ich … Es …«

»Du musst dich nicht entschuldigen. Es ist schon lange her. Aber bisher habe ich mich nicht damit auseinandergesetzt und das sollte ich langsam ändern.«

Anna nickte zustimmend. »Ich bin stolz auf dich, Dot. Die Zeiten ändern sich.«

»Ganz genau. Die Zeiten ändern sich. Und wir uns mit ihnen.«

Kapitel 2

Ben

Mehrmals überprüfte er, dass er nichts im Krankenhaus vergessen hatte. Angespannt schloss Ben den Reißverschluss seiner Tasche. Wie lange brauchte die Schwester denn noch für den Entlassungsbrief?

»Langsam gehst du mir auf den Geist.« Regina stand mit verschränkten Armen am Fenster und blickte nach draußen. »Deine nervösen Energien verpesten den Raum.«

Kurz stockte er und atmete durch. Ben war einfach kein ruhiger Mensch und gerade hatte er besseres zu tun, als auf so einen unwichtigen Brief zu warten. Aber er wollte seine alte Freundin und Ziehmutter nicht vor den Kopf stoßen. Sie hatte sich schon genug Sorgen um ihn gemacht.

»Ich bin immer noch der Meinung, dass du eine weitere Nacht bleiben solltest.« Jetzt wandte Regina sich zu ihm um. Ihre warmen braunen Augen blickten ihn besorgt an.

»Mir geht es gut. Meine Wunden sind verheilt. Ausruhen kann ich mich auch zu Hause.«

Bei Dot.

Die ältere Werwölfin seufzte. »Dir kann man auch nichts sagen.«

Sie würde verstehen, weshalb er so schnell aus dem Krankenhaus wollte, wenn sie die Wahrheit kennen würde. Aber bisher hatte Ben niemandem von seinem klärenden Gespräch mit Dot erzählt. Sie hatte sich entschieden ihnen beiden eine Chance zu geben. Erst wollte er sichergehen, dass sie ihre Meinung über ihre Beziehung nicht geändert hatte.

»Ich verspreche dir, zu Hause haue ich mich aufs Sofa und stehe nur auf, wenn ich pinkeln und was essen muss«, versuchte er sie zu beruhigen.

Sie warf die Hände in die Luft und schüttelte den Kopf. Regina wusste ganz genau, dass sie nicht gegen Bens Sturkopf ankam. Immerhin hatte er sich das von ihr abgeschaut.

Die Tür ging auf und eine junge Schwester kam herein. Mit einem schüchternen Lächeln reichte sie Ben den Arztbrief. »Noch einmal gute Besserung.«

Ohne sie eines zweiten Blickes zu würdigen, nahm Ben ihr den Brief ab und verstaute ihn in seiner Tasche. Dann blickte er Regina auffordernd an. »Wollen wir?«

Auf dem Weg nach draußen wurden sie aufgehalten. Doktor Silvester, Bens behandelnder Arzt und ebenfalls ein Werwolf, stand zusammen mit einem Mann im Flur. Beide beobachteten, wie ein Bett durch den Gang geschoben wurde, bewacht von sechs Personen in roten Jacken.

»Da wird der Mistkerl abgeholt.« In Reginas Stimme schwang Genugtuung mit. »Hoffentlich bekommen die was aus ihm raus.«

Ben verschränkte die Arme vor der Brust und blickte der Prozession hinterher. Niklas. Der Werwolf, der eine ganze Familie ausgelöscht hatte und von Dot zur Strecke gebracht worden war. Sein Name hatte sich für immer in Bens Verstand eingebrannt.

Genauso wie Patricia, sein Opfer. Das Mädchen befand sich ebenfalls hier im Krankenhaus, nur wenige Zimmer weiter. Schon den ganzen Tag hatte es ihn in den Fingern gejuckt, kurz nach ihr zu sehen. Doch sicher würde sie das nicht gut verkraften. Sie hatte zu viel durchmachen müssen und ihr Geist hatte sich noch nicht wieder erholt.

Der Mann neben Doktor Silvester drehte sich leicht in Bens Richtung. Dieser konnte die scharfe Nase und das spitze Kinn erkennen. Er hatte den Kerl schon einmal gesehen, da war er sich sicher. Es war einer der Ältesten, Igor.

Die anderen Rotkäppchen waren mit dem Bett am Aufzug angekommen. Der Älteste verabschiedete sich von dem Arzt und folgte ihnen. Damit war Niklas aus dem Krankenhaus verschwunden.

»Ben, du verlässt uns auch schon?« Doktor Silvester hatte sie bemerkt.

»Mir geht es super und ich habe Besseres zu tun, als im Krankenhaus herumzuliegen«, erklärte er. »Wo bringen sie ihn hin?«

»Soweit ich das verstanden habe, ins Hauptquartier der Reds. Er ist stabil und wird voraussichtlich in den nächsten Tagen aufwachen.« Der Arzt schüttelte den Kopf. »Ich bin froh, ihn nicht länger in meinem Krankenhaus zu haben.«

Da konnte Ben ihm nur zustimmen. Er hatte kein Problem damit, dass die Reds sich den Werwolf vornahmen. Er hatte verdient, was die Jäger mit ihm tun würden. Außerdem gab es noch eine ganze Menge offener Fragen.

»Was ist mit dem Mädchen?«, wandte Ben sich wieder an den Arzt.

»Sie ist stabil und wach. Aber sie redet nicht. Sobald sich ihr einer nähert, flippt sie aus.« Doktor Silvester wirkte müde, dunkle Schatten lagen unter seinen Augen. »Wir können ihr hier nicht mehr helfen.«

Ben schluckte schwer. Niemals würde er den Anblick des Mädchens, eingesperrt in diesem Schrank, vergessen. Die unendliche Angst und Verzweiflung in ihren Augen, der Gestank, in dem sie hatte leben müssen.

Doktor Silvester reichte ihm die Hand. »Hoffentlich sehe ich dich nicht so schnell wieder.«

»Das hoffe ich auch. Zumindest nicht hier.« Ben zwang seine Mundwinkel sich zu heben. Kurz und kräftig schüttelte er dem anderen Werwolf die Hand.

Bedrückt betraten Ben und Regina den Aufzug. »Mein Wagen steht in der Tiefgarage.« Sie drückte den entsprechenden Knopf. Sie war seltsam blass um die Nase.

»Alles okay bei dir?«, fragte Ben nach. »Ist es wegen Niklas?«

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Der ist mir egal. Er wird seine gerechte Strafe erhalten und dafür bin ich den Reds dankbar. Aber dieses Mädchen und was mit ihr passiert ist …« Ernst blickte sie Ben in die Augen. »Ich habe das Gefühl, dass sie nicht die Einzige war.«

Langsam nickte Ben. Dieses grausame Gefühl hatte er schon, seitdem sie Patricia gefunden hatten. Etwas an Niklas’ Vorgehen war einfach zu routiniert gewesen.

»Aber das ist nicht dein Problem.« Die Aufzugtüren öffneten sich und gaben den Blick auf die Tiefgarage frei. »Du hast getan, worum die Gilde dich gebeten hat, und das Mädchen gerettet. Hoffentlich war das dein letzter Auftrag für die Reds.«

Ben biss sich auf die Lippe. Jetzt war ein guter Zeitpunkt, um von Dot zu erzählen. Immerhin würde er sie auf jede ihrer Jagden begleiten, sollte sie sich ganz für ihn entscheiden.

Doch Regina sprach bereits weiter. »Ich fahre dich jetzt nach Hause und gehe sicher, dass du etwas zu essen bekommst. Und wehe, ich erwische dich heute außerhalb deiner Wohnung. Ich meine es ernst, Benjamin, du bleibst im Bett.«

Dass sie seinen vollen Namen benutzte, war ein klares Zeichen, wie ernst sie es meinte. Brav nickte Ben und stieg in den Wagen.

***

Dot

So gut sie konnte, balancierte Dot die volle Tasse, die Chips und ihre Einkäufe die Treppe nach oben in ihr Zimmer. Nachdem sie die Tasse auf den Tisch gestellt und die Tüten aufs Bett geschmissen hatte, riss sie das Fenster auf und ließ die laue Nachmittagsluft herein. Einen Moment nahm sie sich Zeit und stützte sich mit den Armen auf dem Fensterbrett ab. Unter sich konnte sie den Garten des Hauptquartiers und den Wald, der sich dahinter erstreckte, sehen. Es war ruhig und friedlich, irgendwo sang ein Vogel.

Um dem Papierkram noch einen Moment länger aus dem Weg zu gehen, packte Dot ihre Einkäufe aus. Als Erstes hängte sie das hellblaue Kleid in den Kleiderschrank. Etwas an dem Schnitt und dem weit schwingenden Rock hatte sie angesprochen.

Dot musste über sich selbst lachen, als sie das Stofftier aus der Tasche zog. Sie wusste nicht so genau, weshalb sie es gekauft hatte. Wahrscheinlich hatte der kleine Wolf sie an Ben in seiner Wolfsgestalt erinnert. Sorgsam setzte Dot ihn auf ihr Bett, sodass das Tier sie anschaute. Nachdem sie die beiden Tüten voller Drogerieprodukte ins Badezimmer gebracht hatte, setzte sie sich an ihren Schreibtisch. Schnell räumte sie die Papiere und Bücher aus dem Weg, damit sie etwas Platz zum Arbeiten hatte.

Leider gingen ihr in diesem Moment die Ausreden aus, sich nicht um den Papierkram zu kümmern.

Zuerst überprüfte Dot ihren bisherigen Bericht. Soweit hatte sie an alles gedacht. Eine ausführliche Beschreibung der Vorgänge, eine Aufzählung aller Beweise und die Zeugenaussagen, die leider sehr nichtssagend waren. Das Videomaterial aus dem Hotel umfasste mehrere hundert Stunden und war genauso langweilig, wie Dot es sich gedacht hatte. Im Schnelldurchlauf beobachtete sie die Gäste dabei, wie sie den Flur entlang in ihre Zimmer gingen und wieder herauskamen. Insgesamt zählte Dot sechs Angestellte, die sie auf die Befragungsliste setzte. Hoffentlich konnte sie einen Teil der Aufgaben an andere Rotkäppchen abgeben, ansonsten würde sie noch wochenlang daran sitzen.

Als Niklas das erste Mal auftauchte, verlangsamte sie das Video. Er war alleine. Völlig entspannt schlenderte er den Flur entlang und verschwand in dem Zimmer, in dem sie und Ben die völlig verängstigte Patricia gefunden hatten. Diese Szene beobachtete Dot noch drei Mal, bevor er mit zwei anderen Männern zurückkehrte. Das mussten seine Brüder sein. Sie waren auf jeden Fall in die Entführung und den Mord verwickelt und mussten ebenfalls gefasst werden. Niemand konnte sagen, ob sie sonst nicht erneut morden würden.

So gut sie konnte, zoomte Dot heran und machte ein Bild von den dreien. Die Kamera war allerdings zu schlecht, um viel zu erkennen. Aber vielleicht konnte sie trotzdem etwas damit anfangen.

Das Blut gefror ihr in den Adern, als die Männer am nächsten Abend mit der bewusstlosen Patricia wiederkamen. Leblos hing das Mädchen in ihren Armen. Sie trug sogar immer noch ihren Schlafanzug. Magensäure brannte in Dots Kehle, als sie den Beutel bemerkte, den Niklas bei sich trug. In ihrem Kopf tauchten die Bilder des abgetrennten Kopfes von Patricias Vater auf. Zwanghaft verdrängte Dot sie.

Jemand im Hotel musste bemerkt haben, was Niklas und seine Brüder getan hatten. Aber diese Leute hatten sich entschieden es zu ignorieren. Schmerzhaft bohrten sich Dots Fingernägel in ihre Haut, als sie die Fäuste ballte.

Der Kaffee war inzwischen kalt geworden, als sie das weitere Material durchblickte. Es war ruhig um das Zimmer geworden. Nur noch Niklas tauchte ab und an auf, von den Brüdern fehlte jede Spur.

Die Nacht hatte sich bereits über das Hauptquartier und ihr Zimmer gelegt und nur noch ihr Bildschirm spendete Licht. Der Kaffee war leer, genauso wie die Chipstüte. Dots Augen brannten und sie blinzelte mehrmals.

Eine Frau ging den Gang entlang. Sie war etwa so groß wie Dot und hatte ebenfalls blonde Haare. Etwas an ihr kam der Jägerin viel zu bekannt vor. Sie stoppte das Video gerade in dem Moment, als die Unbekannte leicht hoch in die Kamera schaute. Das Bild war schlecht und Dot war müde, aber sie erkannte die Frau.

»Das kann nicht sein!«, murmelte sie entsetzt.

***

Ben

Er hatte lange genug gewartet! Es war später Abend und Dot hatte sich immer noch nicht gemeldet. Eigentlich hatte Ben sich versprochen sie nicht zu bedrängen. Sie würde zu ihm kommen, wenn sie so weit war. Aber inzwischen saß er auf glühenden Kohlen und sein Versprechen war ihm egal.

Erneut checkte er sein Handy. Die Nachricht war bei ihr angekommen, sie hatte sie noch nicht gelesen.

Ben blickte auf seine eigenen Nachrichten. Sein Bruder Noah war nicht begeistert, dass er schon aus dem Krankenhaus raus war. Regina fragte nach, ob er auch wirklich im Bett lag.

Eine Nachricht regte ihn besonders auf.

Ich habe gehört, du bist im Krankenhaus. Melde dich mal. :* Lotte

Er hatte seit Tagen nicht mehr an Lotte, seine nervtötende Exfreundin, gedacht und wollte es auch gar nicht. Kurz entschlossen blockierte er die Nummer und löschte den Chatverlauf.

Die letzte Nachricht, die ihm entgegen blinkte, war von Beth. Alleine durch den Text konnte er ihre Aufregung spüren. Sie hatte ein Praktikum bei den Reds bekommen und den ganzen Tag mit Anna im Hauptquartier verbracht.

Er wusste nicht, was er von dieser Entwicklung halten sollte. Natürlich freute er sich für Beth, dass sie eine solche Chance erhielt, aber eine enge Zusammenarbeit zwischen den Reds und den Werwölfen war riskant. Immer noch.

Ein Gutes hatte diese Entwicklung: Beth hatte jetzt Zugang zum Hauptquartier. Und zu Dot.

Einige Augenblicke schwebte sein Finger über dem Display, dann drückte er auf anrufen.

»Ben«, meldete Beth sich. »Wie geht es dir?«

Im Hintergrund konnte er die Geräusche der Bar hören. Die Wölfin war also wieder zu Hause. Solange sie in Deutschland lebte, wohnte sie bei ihrer Tante Regina in deren Bar.

»Ganz gut.« Mit dem Handy in der Hand trat Ben ans Fenster und blickte in die Nacht hinaus. »Alles verheilt und ich spüre die Verletzungen kaum noch.«

»Das freut mich«, lachte Beth. Sie war schon immer ein sehr fröhliches Mädchen gewesen. Nichts konnte ihre gute Laune vertreiben.

»Sag mal, Beth«, begann Ben zögerlich. »Hast du Dot heute zufällig im Hauptquartier gesehen?«

Am anderen Ende brach schallendes Gelächter aus. »Wusste ich doch, dass du nicht wegen mir anrufst. Ja, ich habe Dot gesehen. Als ich gegangen bin, war sie immer noch in ihrem Zimmer und hat Berichte geschrieben.«

Natürlich! Warum war er nicht selbst daraufgekommen? Sicher hatte sie viel zu tun.

»Danke, Beth.«

»Fahr doch einfach hin und rede mit ihr«, schlug sie vor.

»Ich denke nicht, dass ihr das gefallen würde.« Ben rieb sich den Nacken.

»Oh, ich denke schon.« Wieder kicherte Beth. »Sie wirkte heute ganz verändert. So offen den Werwölfen gegenüber. Und sie hat mir von ihrer Geschichte erzählt.«

Scharf zog Ben die Luft ein.

»Keine Sorge, ich behalte es für mich. Aber ich denke, du solltest zu ihr gehen, wenn du das möchtest.«

»Danke, Beth. Sehen wir uns morgen?«

»Klaro«, flötete sie und legte auf.

Er ließ seinen Zweifeln keine Chance, sich zu Wort zu melden. Zum Glück war er frisch geduscht und trug saubere Klamotten. So musste er sich nur noch eine Jacke und den Helm schnappen, bevor er sich auf seine Maschine schwang.

Nach einer kurzen Fahrt lag das Hauptquartier hell erleuchtet vor ihm. Als er den Motor abstellte, legte sich Stille über die Nacht. Die Sterne und der abnehmende Mond blickten auf ihn herab. Es war kurz nach neun Uhr. Eigentlich zu spät für einen Besuch. Doch mit jedem Kilometer, den er sich dem Haus genähert hatte, war Ben nervöser geworden. Jetzt war er sich ganz sicher, dass etwas nicht mit Dot stimmte.

Fahrig riss er sich den Helm vom Kopf und eilte die wenigen Stufen zum Eingang hoch. Laut hallte sein Klopfen durch das Haus. Als sich nach wenigen Sekunden nichts tat, hämmerte er auf die Klingel ein.

»Hey!« Eine wütende Anna riss die Tür auf. »Sag mal, geht’s noch?« Als sie Ben erkannte, hob sie überrascht die Augenbrauen. »Hi, Ben.«

Er versuchte sich etwas zu beruhigen. Dot war im Haus, er konnte ihren Geruch ganz klar wahrnehmen. Hier konnte ihr nicht Schlimmes passieren.

»Hey, Anna. Sorry wegen der späten Störung.«

Sie hielt ihm die Tür auf. »Komm rein. Und mach ab jetzt bitte nicht so einen Terror. Das Haus ist riesig und manchmal braucht es ewig, bis einer an die Tür geht.«

Sofort bekam Ben Schuldgefühle. Anna trug eine alte Jogginghose und eine weite Strickjacke über einem dünnen Shirt. Hatte er sie aus dem Schlaf gerissen?

»Es tut mir echt leid.«

Sie winkte ab. »Du willst sicher zu Dot.«

Dem konnte er nicht widersprechen. »Sie hat sich heute nicht gemeldet und ich mache mir etwas Sorgen«, gestand er.

Anna zog die Augenbrauen zusammen. »Hm, sie ist seit heute Nachmittag hier. Allerdings …« Ihr Blick wanderte die Treppe hoch. »Eigentlich sollte ich sie zum Abendessen holen, aber sie war noch ganz in die Arbeit vertieft. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.«

Da war es wieder. Das starke Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Es bewegte sich unter Bens Haut wie ein Haufen Insekten.

»Was ist passiert?«

»Ich habe keine Ahnung. Ursprünglich wollte sie nur Papierkram erledigen. Vielleicht solltest du mal nach ihr sehen.« Anna nickte nach oben.

Ohne weiter auf sie zu achten, nahm er immer zwei Stufen auf einmal und eilte nach oben. Seine Füße fanden den Weg von alleine. Als er vor Dots geschlossener Zimmertür stand, war er sich ganz sicher, dass etwas Schlimmes passiert war.

Kapitel 3

Ben

Zögerlich hob er die Hand und stockte in der Bewegung. Seine Kehle war trocken, das seltsame Gefühl wurde immer stärker. Eine unbekannte Gefahr stellte ihm die Nackenhaare auf.

Endlich konnte er sich durchringen zu klopfen. Natürlich bekam er keine Antwort. Nach einigen Augenblicken drückte er die Klinke nach unten. Die Tür schwang auf und gab den Blick auf ein in Dunkelheit liegendes Zimmer frei. Die einzigen schwachen Lichtquellen waren das Mondlicht, welches durch Fenster fiel, und der matt leuchtende Laptopbildschirm. Ausgedruckte Bilder lagen auf dem Schreibtisch verteilt, zusammen mit zwei Akten.

Leises Atmen war zu hören. Ben konnte eine Gestalt zusammengerollt auf dem Bett entdecken. »Dot?«, fragte er.

Sie reagierte nicht.

Um etwas mehr Licht ins Dunkel zu bringen, schaltete Ben die Nachttischlampe an und kniete sich vor das Bett. Dot hatte sich zu einem kleinen Ball zusammengerollt, die Knie an die Brust gezogen, die Arme um die Beine geschlungen und den Kopf dazwischen versteckt. Ihre langen blonden Haare bildeten einen Vorhang.

»Dot«, sagte Ben noch einmal ruhig.

Langsam hob sie den Kopf. Große, gerötete Augen blickten ihn verwirrt an. Tränenspuren zogen sich über ihre blassen Wangen. »Ben?«

»Hey.« Er griff nach ihren eiskalten Händen. »Was ist passiert?«

Zuerst reagierte sie nicht auf seine Frage, sondern blickte ihn nur weiter schweigend an. Dann fing ihre Unterlippe an zu zittern und Tränen füllten ihre Augen. »Ben.« Ein Schluchzer schüttelte ihren Körper.

Panisch sprang er vom Boden auf und setzte sich neben sie aufs Bett. Er zog sie auf seinen Schoß und schloss ihre schluchzende Gestalt in die Arme. Sein Blick huschte durch den Raum und suchte nach der möglichen Bedrohung.

Doch da war nichts.

Seine Gefährtin lag weinend in seinem Arm und er wusste einfach nicht warum. Die Panik bereitete ihm beinahe körperliche Schmerzen, als er nach einer Lösung suchte.

»Bitte, Dot«, murmelte er an ihrem Ohr. »Du musst mir sagen, was los ist.«

Sie blickte zu ihm auf. Unendliche Schmerzen lagen in ihren blauen Augen. »Du wirst mir doch glauben, oder? Du musst mir glauben!«

»Aber natürlich. Ich glaube dir alles«, versicherte er ihr schnell.

»Ich habe Angst, dass ich verrückt werde, Ben.«

Langsam löste sie sich aus seiner Umarmung und er ließ sie nur widerwillig gehen. Ihre Hand zitterte stark, als sie ein Blatt Papier unter ihrem Kissen hervorholte und es Ben reichte. Was auch immer darauf war, es hatte sie in Angst und Schrecken versetzt.

Langsam und bedächtig drehte er das Blatt um. Darauf gedruckt war das Standbild einer Überwachungskamera. Er erkannte den Flur des verfluchten Hotels.

Eine blonde Frau ging den Gang entlang. Sie trug eine einfache Jeans, eine schwarze Bluse und einen langen Mantel. Auf den ersten Blick wirkte sie nicht anders als jede andere Frau auch.

Konzentriert suchte Ben das ganze Papier ab. Was an diesem Ausdruck konnte Dot so aus der Fassung gebracht haben?

»Ich verstehe es nicht«, gab er nach einigen Minuten auf und senkte das Bild.

»Das ist Alice«, sagte Dot langsam.

»Alice«, wiederholte Ben tonlos. »Deine Schwester?«

Knapp nickte sie.

»Deine Schwester, die vor mehr als zehn Jahren verschwunden ist und für tot erklärt wurde?« Bens Blick wanderte zwischen dem undeutlichen Foto und Dot hin und her.

»Ich weiß, wie verrückt das klingt.« Sie entriss ihm das Bild und starrte es mit einem entrückten Ausdruck in den Augen an. »Aber das ist sie ganz sicher.«

Ben war überfordert. Mehr als nur das. In seinem Inneren kämpfte sein Instinkt mit seinem Verstand. Denn der Wolf in ihm wollte nichts weiter, als Dot in allem zuzustimmen, was sie sagte, solange sie nur aufhörte zu weinen. Doch wie konnte ihre tote Schwester auf einmal auf einem Überwachungsband auftauchen?

»Du glaubst mir nicht.«

Ihre schrillen Worte rissen ihn aus seinen Gedanken. Sie sprang vom Bett auf, die Hände wütend zu Fäusten geballt.

»Dot, beruhige dich.« Abwehrend hob er die Hände. »Ich habe nicht gesagt, dass ich dir nicht glaube. Ich verstehe es nur nicht ganz.«

Schwer atmend krallte sie ihre Finger in ihr offenes Haar. »Ich doch auch nicht.« Sie fuchtelte mit dem Papier vor seinem Gesicht herum. »Aber das hier ist Alice! Ich weiß es einfach!«

Ben biss sich auf die Lippen und starrte sie weiter an. Sie zitterte, ihre Haare waren durcheinander und in ihren sonst so ausdrucksstarken Augen lag ein dumpfer Glanz. Das alles setzte ihr zu.

Langsam erhob er sich vom Bett. Behutsam löste er das Blatt aus ihrem Griff und ließ es achtlos zu Boden fallen. Ihre Haut fühlte sich kalt und vor Tränen feucht an, als er beide Hände an ihre Wangen legte. »Erklär es mir.«

»Das kann ich nicht.« Schon wieder diese verfluchten Tränen. »Ich weiß einfach, dass sie es ist. Würdest du Noah nicht auch immer erkennen? Ganz egal, wie viel Zeit vergangen ist?«

Er würde seinen Bruder unter tausenden erkennen, aber sie beide verband ein anderes Band. Sie waren nicht nur Geschwister, sondern Ben war auch der Beta seines Bruders. Sein engster Vertrauter, seine rechte Hand.

»Du glaubst mir wirklich nicht.« Sie trat einen Schritt zurück und seine Hände fielen kraftlos nach unten.

»Dot«, versuchte er auf sie einzureden.

»Nein«, rief sie wütend. »Sag kein Wort. Geh bitte, Ben. Es ist spät und ich bin durcheinander.« Sie bückte sich und hob das Bild wieder auf.

Er rührte sich nicht.

»Raus!«, rief sie jetzt deutlich lauter.

Er hielt ihrem Blick stand, während er langsam rückwärts auf die Tür zuging. Sein Wolf heulte wütend in seinem Inneren, er wollte nicht gehen. Doch etwas in ihrem Blick machte klar, dass er sie nicht herausfordern sollte.

Mit einem leisen Klicken fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Ohne auf seine Umgebung zu achten, rannte er die Treppe hinunter und aus der Haustür.

»Ben? Was ist passiert?«, konnte er Anna undeutlich hinter sich sagen hören. Doch er konnte ihr nicht antworten.

Seine Maschine ließ er links liegen. Stattdessen rannte er in den dichten Wald, der direkt an das Gelände des Hauptquartieres grenzte. Noch bevor er die Baumgrenze erreicht hatte, ließ er seinem Wolf freie Hand und verwandelte sich. Das gewohnte Gefühl des Bodens unter seinen Pfoten und der Geruch des Waldes beruhigten ihn allerdings nicht.

Weiter, immer weiter rannte er, bis seine Lungen brannten. Doch der tiefe Schmerz blieb.

***

Dot

Das heillose Chaos in ihren Gedanken brachte ihren ganzen Körper zum Schlottern. Während des Gesprächs mit Ben hatte sie das Gefühl gehabt, ihr Kopf sei in Watte gepackt. Jetzt starrte sie auf ihre geschlossene Zimmertür und bereute ihren Ausbruch. Doch anstatt ihm hinterherzurennen, gaben ihre Beine unter ihr nach und sie sackte in sich zusammen. Wie von alleine suchten ihre Hände nach dem Ausdruck. Inzwischen war das Papier ganz zerknüllt. Eine Ecke war abgerissen. Doch Alice war immer noch gut zu erkennen.

War sie verrückt? Diese Frage drängte sich Dot nicht zum ersten Mal auf. Seit einigen Stunden fragte sie sich das immer und immer wieder.

Denn Alice war tot. Sie hatte einen Grabstein, direkt neben dem ihrer Eltern. Es hatte ein Begräbnis gegeben. Ein Pfarrer hatte etwas über Gott erzählt. Sie alle hatten gebetet, dass Alice im Himmel war. Dann war ein leerer Sarg in die Erde gelassen worden. Denn eine Leiche hatte man nie gefunden.

Diesmal konnte Dot die Erinnerungen nicht zurückhalten, als sie sie übermannten. Sie stand erneut in diesem Wald, an diesem Morgen, umgeben von dem Blut ihrer Eltern, und schrie sich die Seele aus dem Leib.

»Ali. Ali.« Immer und immer wieder sprach sie den Namen aus. Spürte ihn auf ihrer Zunge.

Ein stechender Schmerz durchzuckte auf einmal Dots Wange und riss sie aus ihrem Wahn. Einen Moment brauchten ihre Augen, um zu fokussieren, dann erkannte sie Anna, die vor ihr kniete.

»Hast du mich geohrfeigt?«, fragte sie entsetzt.

»Ja«, rief diese ebenso aufgebracht. »Du hast nicht reagiert und nur etwas vor dich hin gemurmelt. Was hätte ich denn tun sollen?«

Langsam kehrte Dot vollständig in die Realität zurück und blickte sich in ihrem Zimmer um. Die letzten Minuten kamen ihr vor wie Stunden und der Rest der Welt schien ihr unendlich weit entfernt.

»Dot!« Anna packte sie an den Schultern und zwang ihre Freundin sie anzusehen. »Was ist los mit dir? Erst verschanzt du dich in deinem Zimmer, dann taucht Ben auf, nur um kurze Zeit später ohne ein Wort aus dem Haus zu rennen.«

Dot konnte die Sorgen und das Unverständnis in Annas Augen sehen. Doch etwas in ihrem Inneren hielt sie davon ab, die Wahrheit auszusprechen. Zu tief saß ihr die Reaktion von Ben in den Knochen.

Anna wich ein Stück nach hinten und taxierte Dot intensiv. »Vergiss es. Du wirst mir sagen, was hier los ist. Ansonsten hole ich Nicole. Die bekommt die Wahrheit schon aus dir raus.«

»Nein«, sagte Dot schnell. »Nicht Nicole.« Sie hatte keine Ahnung, wie die Älteste reagieren würde. »Ich sage dir ja alles.«

Abwartend verschränkte Anna die Arme vor der Brust. »Dann leg mal los.«

Um etwas Zeit herauszuschlagen, sich die richtigen Worte zu überlegen, hielt Dot ihrer Freundin den Ausdruck hin.

Anna wirkte genauso ratlos wie Ben. »Ist das eine mögliche Zeugin?«

»Ich denke, dass das Alice ist«, murmelte Dot langsam.

Sofort senkte Anna das Papier. »Deine Schwester?« Sie schüttelte den Kopf. »Dot, du spinnst doch.«

Die Jägerin schnaubte. »Sehr feinfühlig. Ich weiß doch selbst, wie verrückt das klingt.« Sie sprang vom Boden auf. Ihre Beine kribbelten vom langen Stillsitzen.

»Hast du das Ben erzählt?« Anna starrte weiter auf das Bild.

»Ja, habe ich.«

»Und wie hat er reagiert?«

»Er hat mir nicht geglaubt. Da bin ich ausgerastet und habe ihn weggeschickt.«

Und das bereute sie inzwischen zutiefst.

»Dann kannst du mich auch direkt rausschmeißen. Denn ich glaube dir kein Wort.« Anna fuchtelte mit dem Blatt herum. »Das ist doch völlig verrückt, Dot. Deine Schwester ist tot! Sie taucht nicht auf einmal wieder auf!«

»Ich weiß ganz genau, wie absurd ich klinge«, knurrte Dot. »Aber ich erkenne meine Schwester.«

Anna knüllte das Bild zusammen und warf es mit einer gekonnten Bewegung in den Papierkorb. »Genug von diesem Schwachsinn. Das kannst du nicht ernst meinen. Ich bin eigentlich davon ausgegangen, dass ich dir etwas Verstand eingebläut hätte. Aber du hast Ben sofort wieder von dir gestoßen.«

»Was hat das Ganze mit Ben zu tun?«, fragte Dot kraftlos.

»Du entscheidest dich ihm eine Chance zu geben und gehst sogar zur Therapie, damit es dir besser geht. Und auf einmal meinst du, deine tote Schwester zu erkennen.«

»Das eine hat doch nichts mit dem anderen zu tun!«, verteidigte Dot sich.

»Wenn du mich fragst, schon. Ich kann ja verstehen, dass dich die ganze Situation überfordert, aber solche Ausflüchte bringen dich nicht weiter.«

Dot öffnete den Mund, doch kein Wort verließ ihre Lippen.

Hatte Anna möglicherweise recht? Bildete Dot sich das alles nur ein, weil sie Angst vor ihrer Beziehung mit Ben hatte?

Anna seufzte. »Vergiss es einfach, Dot. Du bist übermüdet und hast den ganzen Tag nichts gegessen. Komm, wir gehen runter und besorgen dir was zu beißen. Und dann schaust du, dass du die Sache mit Ben wieder in den Griff bekommst.«

Dot ließ sich von ihrer Freundin aus dem Zimmer ziehen. Die ganze Zeit drehten sich ihre Gedanken dabei im Kreis. Sie hatte keine Angst vor der Beziehung mit Ben. Immerhin hatte sie sich vor vierundzwanzig Stunden für ihn entschieden.

Aber was, wenn ihr Unterbewusstsein das etwas anders sah? Was, wenn sie wirklich nach einem Ausweg suchte? Nach einem Grund, sich doch nicht auf Ben einzulassen?

Ihre Schwester war tot. Auch ohne Leiche. Kein Polizist hatte je eine Spur zu ihrem Verbleib gefunden. Und Dots eigene Nachforschungen in der Gilde waren erfolglos verlaufen. Es gab keinerlei Anhaltspunkt dafür, dass es sich bei der Frau im Flur des Hotels um Alice handelte. Und trotzdem war da dieses nagende Gefühl in Dots Bauch …

»Hör auf, darüber nachzudenken«, riss Anna sie aus ihren Gedanken. Inzwischen standen sie in der Küche des Hauptquartiers und sie suchte im Kühlschrank nach etwas zu essen.

»Ich denke nicht nach.« Dot konnte die Lüge in ihrer Stimme hören.

»Und wie du das tust. Ich kann sehen, wie sich die Rädchen in deinem Kopf drehen.« Anna schüttelte den Kopf. »Du tust dir damit keinen Gefallen, Dot.«

»Ich weiß.« Sie drängte Anna vom Kühlschrank weg und schaute selbst hinein. Zwar verspürte sie keinen körperlichen Hunger, doch ihre letzte richtige Mahlzeit war das Frühstück gewesen.

»Niemals kann ich nachvollziehen, wie du dich fühlst.« So ernst hatte Dot ihre Freundin noch nie erlebt. »Was du durchgemacht hast, war mehr als nur schrecklich und du hast es nie ganz überwunden. Aber deine Familie ist tot, begraben. Schon seit Jahren. Ben ist am Leben. Genauso wie du. Du solltest dich nicht länger von deiner Vergangenheit von der Zukunft abhalten lassen.«

Mit zittrigen Fingern nahm Dot eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank. »Du hast absolut recht. Ben ist lebendig. Zum Glück. Ich bin übermüdet und überfordert. Wahrscheinlich hast du mit allem recht.«

Wenn sie es sich nur lange genug einredete, würde Dot es vielleicht irgendwann glauben.

Kapitel 4

Ben

Grundsätzlich hatte Ben kein Problem mit Nacktheit. Wenn man als Wolf im Rudel aufwuchs, war es normal, dass die anderen einen früher oder später nackt sahen. Immerhin wandelten sich die Kleider nicht mit.

Nacktheit zu Hause oder in einem tiefen Waldstück war jedoch etwas völlig anderes, als nackt durch die Innenstadt von München zu rennen. Sicher würde ihm das einiges an Ärger einbringen.

Es war bereits spät in der Nacht, als er sich so weit wieder beruhigt hatte, um einen klaren Gedanken zu fassen. Was auch immer gerade passiert war, es war nicht gut gelaufen. Sein Verhalten hatte Dot zutiefst verletzt. Nur leider wusste er nicht, wie er besser hätte reagieren können.

Was sagt man denn jemandem, der glaubt seine tote Schwester zu sehen?

Langsam trottete er durch den Wald, den Blick gesenkt. Sein Wolf fühlte sich in der lauen Nachtluft wohl und wollte noch etwas weiterlaufen. Doch Ben war erschöpft. Nicht nur körperlich.