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"Wer Glück hatte, konnte einen Blick auf sie am Flügel erhaschen. Hinten in der Kirche und beim Westportal, überall tuschelten sie miteinander, Fremde mit Fremden. Ist sie das?, fragten sie. Die soll einen Mann getötet haben?"
Kanada in den Dreißigerjahren: Hélène Giroux ist Französin, eine begnadete Musikerin und stammt aus einer Familie von Klavierbauern. Mehr wissen die Bewohner des Örtchens Saint Homais nicht über die neue Pianistin und Chorleiterin ihrer Gemeinde. Bis die Polizei auftaucht und Hélène wegen Mordverdachts unter Hausarrest stellt. Bald kursieren die wildesten Gerüchte über sie. Doch die abenteuerliche Lebensgeschichte, die schließlich ans Licht kommt, übertrifft jegliche Vorstellung -
"Großartig geschrieben, spannend und reich an historischen Details. Der perfekte Roman, um sich damit einschneien zu lassen." The Star, Kanada
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Seitenzahl: 323
Cover
Über den Autor
Titel
Impressum
Widmung
Die Ankunft
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Der lange Weg
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Zwanzig
Einundzwanzig
Das Töten
Zweiundzwanzig
Dreiundzwanzig
Vierundzwanzig
Fünfundzwanzig
Sechsundzwanzig
Siebenundzwanzig
Achtundzwanzig
Neunundzwanzig
Danksagung
Kurt Palka ist in Österreich geboren und aufgewachsen. In Kenia und Tansania hat er für den African Mirror geschrieben und Naturdokumentationen gedreht. Heute lebt Kurt Palka in der Nähe von Toronto, Kanada. Dort arbeitet er als Journalist für mehrere kanadische und amerikanische Zeitungen sowie als Drehbuch- und Romanautor. DAS GEHEIMNISDER PIANISTIN ist sein erster Roman, der auf Deutsch erscheint.
Kurt Palka
DAS GEHEIMNISDER PIANISTIN
Roman
Aus dem Englischen vonStefanie Karg
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:Copyright © 2015 by Kurt PalkaTitel der kanadischen Originalausgabe: »The Piano Maker«Originalverlag: McClelland & Stewart, a division of Random Houseof Canada Limited, a Penguin Random House Company
Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Antje Steinhäuser, MünchenTitelillustration: © Trevillion Images/Lee Avison;© Arcangel Images/Datha ThompsonUmschlaggestaltung: Mediabureau di Stefano, Berlin
eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-3024-3
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für HeatherUnd für Melanie und Christina und
Auf der letzten Strecke durch den Küstenwald standen die Bäume so dicht, dass kaum Licht hindurchdrang. An einigen Stellen wölbten sie sich tunnelartig über die Straße, hohe Koniferen und auch einige Laubbäume, die zu dieser Jahreszeit kahl waren. Kurz vor der Küste lichteten sich die Bäume und gaben schließlich rechts der Fahrbahn einen großartigen Blick frei, die Gischt des Ozeans wie Sprühnebel voller Regenbögen.
Das erste Dorf, das sie erreichte, hieß Bonne Marie. Als sie schon zur Hälfte durch den Ort gefahren war, entdeckte ein Hund den Wagen, er bellte und lief neben dem fahrenden Auto her. Sie verlangsamte das Tempo und wich ihm aus, und in der Nähe sah ein Mann von dem Bootsrumpf auf, den er gerade bearbeitete. Er rief den Hund, dieser gehorchte sofort und blieb stehen. Im Spiegel konnte sie erkennen, wie er auf der Straße stand und witternd die Nase hob.
Einen Moment lang glaubte sie, der Hund könnte Jack sein, und sie trat auf die Bremse und starrte in den Rückspiegel, aber dann fuhr sie weiter. Wie sollte das Jack sein? Selbst wenn ihm ein halbes Ohr fehlte und er wie ein Schlittenhund aussah.
Sie ließ verwitterte Felsen und riesige Steinplatten hinter sich, die wie die Überreste uralter Dolmen aussahen. Dann folgten die nächsten Ortschaften: Sainte Émilie, Gaillard, La Roche. Es ging an Häusern mit bunten Fensterläden vorbei, an einer Art Mühle oder Presse, die von einem Esel angetrieben wurde. Sie sah eine Schmiede mit einem kräftigen braunen Pferd, ein Hinterbein auf einer Stütze, während der Hufschmied mit einer Feile den Huf bearbeitete. Sie sah Fischerboote auf Gerüsten und Netze an Gestellen. Hier und da winkte jemand, als sie vorüberfuhr.
Sie sah einige Kirchen, alle klein, aus Holz gebaut, und sie hielt weiterhin Ausschau nach dem steinernen Turm von Saint Homais. Madame Cabayé in Montreal hatte ihr die Côte Acadienne auf der Halbinsel Nova Scotia empfohlen, die einst französisches Siedlungsgebiet gewesen war, und insbesondere die Stadt Saint Homais. Sie sagte, dass sie dort aufgewachsen sei und die Stadt möge: die Leute, die schöne Kirche, die Aussicht. Saint Homais sei immer noch französisch geprägt, sagte sie, aber nicht mehr ausschließlich. Eine Stadt, gerade groß und freundlich genug, den Versuch wert, sich ein neues Zuhause zu schaffen.
»Dort hat vielleicht niemand die Zeitungsberichte gelesen«, hatte Madame Cabayé gesagt und sie bei diesen Worten nicht angesehen. Und einen Augenblick später, den Blick immer noch von ihr abgewandt, hatte sie noch hinzugefügt: »Und wenn, dann ist es längst vergessen. Ich kann Ihnen ein paar Namen nennen.«
Die Gischt beschlug die Windschutzscheibe, und an einigen Stellen war die Straße glatt. Doch in dem Wagen fühlte sie sich sicher. Er war bequem und ein gutes Fabrikat, der einzige Luxus, der ihr in diesen mageren Zeiten geblieben war: ein Austin Burnham Saloon mit einem Armaturenbrett aus Rosenholz und roten Ledersitzen. Er hatte gute amerikanische Weißwandreifen und Chromräder mit Speichen. Vor vier Jahren hatte sie ihn bar bezahlt, denn sie war damals voller Zuversicht gewesen, dass weiterhin Geld eingehen würde. All die Geschäftsreisen mit Nathan. Allein das Pferd und der Reiter aus dem persischen Sumpfgebiet hätten für sieben oder acht solcher Wagen gereicht.
Ein kalter, klarer Novembertag; die Sonne stand tief, ein heller Glanz lag über der Bucht von Fundy, nur unterbrochen von der langen, schmalen Landzunge Digby Neck. Es war fast elf Uhr, als sie in der Ferne den ersten Schimmer des hohen Kirchturms ausmachen konnte, das silbrige Schieferdach, von der Sonne beschienen.
Sie hielt auf dem Parkplatz und ging dann in die Stadt, über Kopfsteinpflaster und unbefestigte Straßen mit gefrorenen Hufeisenabdrücken und Wagenspuren. Mehrfach blieb sie stehen und bewunderte die alten Häuser aus behauenem Naturstein und Holz; in einige der Fachwerkgiebel hatte man vor zwei Jahrhunderten die Jahreszahlen geschnitzt. Sie sah das Hotel, das Madame Cabayé erwähnt hatte, ein großes Gebäude am Hauptplatz mit einer himmelblauen Sonnenuhr mit schwarzen römischen Ziffern an der Front über dem gemalten Namen: HOTEL YAMOUSSOUKE.
Als sie zur Kirche kam, blieb sie am westlichen Eingang stehen und betrachtete die Details über dem Portal, die Wasserspeier an den Regenrinnen. Sie trat ein. Durch eine Reihe von Fenstern fiel Sonnenlicht in bunten Streifen auf Kirchenbänke aus Holz, und zwischen den Fenstern hingen Gemälde mit den Stationen des Kreuzwegs. Die Bilder waren dunkel, fast so dunkel wie die Holzleisten, die sie einrahmten.
Geradeaus, etwas abseits der Vierung, stand ein Flügel, und selbst aus dieser Entfernung konnte sie erkennen, dass es ein Molnar war. Sie ging darauf zu und wunderte sich über diese merkwürdigen Zufälle: zuerst Madame Cabayé, die sie nach Saint Homais schickte, dann der Hund, der wie Jack aussah, und jetzt auch noch ein Molnar, der sie an diesem Ort aus Stein erwartete.
Die Tastenklappe war geöffnet, ebenso der Deckel. Sie trat näher und suchte auf der Raste nach dem Meisterstempel. Da war er: grüne Tinte, verblichen, aber noch lesbar. Die Initialen B.R. in einem kleinen Oval.
Morris, der Küster, betrachtete sie aus dem Halbdunkel beim Seitenaltar, und keine Stunde später erzählte er den Leuten, dass ihm irgendetwas an ihr ungewöhnlich vorgekommen war. Er hatte beobachtet, wie sie zu dem Flügel ging, sagte er, sie war keine junge Frau mehr, aber mit ihrem Stadtmantel und ihrem Hut sah sie immer noch gut aus. Sie erforschte den Flügel, dann öffnete sie einige Knöpfe an ihrem Mantel und setzte sich auf die Klavierbank, hielt die Finger über die Tasten, ohne sie zu berühren, und einen langen Moment schien sie wie von einem Fluch heimgesucht. Sie wirkte plötzlich gezeichnet und um Jahre gealtert, und als sie aufstand und die Tastenklappe schloss und dann wegging, bemerkte er, dass sie hinkte.
Er sagte, zuvor sei ihm das nicht aufgefallen, aber nun bestand kein Zweifel. Plötzlich hatte sie eine Düsternis umgeben. Wie eine große Trauer.
Sie erfuhr all das später von Mildred Yamoussouke, denn Mildred hielt sich gerade in der Hotelküche auf, als Morris einem Hausmädchen die Geschichte erzählte. Er wollte das Mittagessen für den Pfarrer abholen, und Mildred streckte schnell die Hand aus und schloss die Tür.
»Sprich leise, Morris«, sagte sie. »Sie ist gerade im Speisesaal.«
»Sie kommt aus Quebec«, flüsterte er. »Das steht auf dem Nummernschild.«
»Pst!«, sagte Mildred. »Sei still und mach dich auf den Weg, sonst wird Father Williams Essen noch kalt.«
Am Nachmittag sah Morris sie wieder in der Kirche. Sie stand vor der Anschlagtafel, und als er zu ihr trat und fragte, ob er ihr irgendwie behilflich sein könne, deutete sie auf den Zettel, mit dem Father William nach einem erfahrenen Pianisten suchte, der bei der Kirchenmusik aushalf, solange die Orgel nicht bespielbar war.
»Ist er der Pfarrer?«, fragte sie.
»Ja, das ist er.«
»Denken Sie, ich könnte mit ihm sprechen?«
»Warum nicht. Er ist gerade in der Sakristei. Ich zeige Ihnen den Weg.«
Morris gefiel es, wie sie lächelte und wie sie sich bedankte. Er führte sie durch das Kirchenschiff, durch den Altarraum und um den Altar herum zu den hinteren Räumlichkeiten, und als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, lauschte er, während sie eine Weile miteinander sprachen, der Priester, der Fragen stellte, und sie, die Antworten gab.
Schließlich ging Morris wieder seiner Arbeit nach, und wenig später sah er, dass Father William ihr den Flügel zeigte. Sie hielt ihren Mantel und ihren Hut in den Händen und legte sie in einer der vorderen Bankreihen ab. Sie trug ihr Haar hochgesteckt. Es war hauptsächlich schwarz, mit einigen grauen Strähnen. Sie drehte einige Male die Kurbel der Klavierbank, um die Höhe anzupassen, und dann nahm sie Platz. Der Pfarrer setzte sich eine Reihe dahinter.
Morris stand auf einer Stehleiter am Nordfenster. Er hatte etwas an der Bleifassung repariert, und als sie zu spielen begann, löschte er die Lötlampe, stellte sie auf dem Sims ab und hörte zu.
Er fand, dass sie sehr gut spielte, und dann konnte Morris aus der Art und Weise, wie Father William sich zurücklehnte und entspannte, schließen, dass sie die Prüfung soeben bestanden hatte.
Danach ging sie ins Hotel zurück und fragte nach einem ruhigen Zimmer. Die Hotelbesitzerin händigte ihr den Schlüssel für die 308 aus und lächelte ihr zu.
»Oberstes Stockwerk, ganz hinten. Nur Koniferen und der Ozean. Ich heiße Mildred. Wenn Sie irgendetwas benötigen, sagen Sie einfach Bescheid.«
»Danke. Madame Cabayé in Montreal hat mir von Ihnen erzählt. Und von diesem Hotel.«
»Unsere Sidonie? Sie kennen sie!«
»Ja. Ich war einige Male in der Pension.«
»Sie haben hier geheiratet, aber dann sind sie weggezogen.«
»Das hat sie mir erzählt. Ihr Mann arbeitet bei der Bank, bei der Filiale in Sherbrooke. Er ist stellvertretender Geschäftsführer, und sie kümmert sich um die Pension.« Sie hielt den Schlüssel hoch. »Wir können später reden.«
Oben auf dem Zimmer klopfte sie prüfend aufs Bett und sah sich um; der Kleiderschrank und der grau-blau bemalte Nachttisch mit Wolken und Sonnenblumen im französischen Landhausstil, das Badezimmer hinter der offenen Tür, der Blick aus dem Fenster. Die Ruhe.
»Es ist wunderschön«, sagte sie auf dem Weg nach unten zu Mildred. »Danke. Ich nehme es. Ich heiße Hélène Giroux. Könnte mir bitte jemand mein Gepäck aus dem Wagen bringen? Für den Truhenkoffer auf dem Rücksitz benötige ich Hilfe.«
»Aber sicher«, sagte Mildred. »Wir holen ihn gleich.«
Abends um sieben saß sie wieder am Flügel, beim Trauergottesdienst für drei Fischer.
Mildred hatte gesagt, dass wirklich jeder Bewohner der Stadt die Männer gekannt hatte und dass sich die Kirche füllen würde. So war es auch. Wenn sie sich nach rechts wandte, konnte sie die voll besetzten Kirchenbänke und Gänge sehen, und alle Leute starrten sie an, dann tuschelten sie miteinander und sahen wieder zu ihr. Offensichtlich fragten sie sich, wer sie war. Mildred hatte auch das prophezeit. Nun saß Mildred in der dritten Reihe in der Mitte, neben ihren vier Hotelangestellten.
Oben auf der Kanzel sprach Father William über die toten Männer und den Verlust für ihre Familien und für die Gemeinde.
Sie saß auf der Klavierbank, wartete, rieb ihre Hände und hielt sie auf ihrem Schoß warm.
Dann kam der Pfarrer die Wendeltreppe herunter, er sah zu ihr und nickte, und dann setzte sie sich aufrecht hin und begann zu spielen.
In der Nacht hatte sie einen dieser Träume. Sie hörte, wie Nathan ihren Namen rief, aber sie konnte ihn nicht sehen. Seine Stimme kam von einem Ort, der nur aus Dunkelheit und Blut im Schnee bestand, und als sie antwortete, gefror ihr Atem in der Luft, und ihre Worte fielen zu Boden und zerbrachen in Stücke. Dies war einer der drei oder vier Träume, die sich seit dem Unfall wiederholten: die Höhle des Schreckens, alles nur schemenhaft, Bewegungen und Gerüche und Bitten, die ihr mit jedem neuerlichen Traum wieder das Herz zerrissen, auch wenn sie das Ende sehr wohl kannte. Egal wie oft sie auch in ihren Träumen versuchte, es zu ändern, es gelang ihr nicht. Es traf sie unbarmherzig, wie Schläge ein verängstigtes Kind, und sie wachte nur selten auf, bevor es geschah. Doch in dieser Nacht war es anders. Mit einem Schrei schrak sie auf und lag da, den Blick an die Decke gerichtet, mit pochendem Herzen, und sie setzte sich aufrecht hin und sah sich um; schon wieder in einem anderen Zimmer, schon wieder in einer anderen Stadt.
Mattes silbriges Licht, Möbel, die sie nicht kannte.
Sie stieß die Bettdecken beiseite und kletterte aus dem Bett, sie taumelte zum Fenster, barfuß auf den Holzbohlen. Sie stemmte das Schiebefenster hoch, sog die kalte Luft ein. Draußen das matteste Licht. Ein Bilderbuchhimmel voller Sterne, die durch den Hochnebel schimmerten. Nach einer Weile beruhigte sich ihr Herz, und sie konnte den Ozean hören und den Wind in den Bäumen, und der Traum ließ langsam von ihr ab.
Sie setzte sich auf den Stuhl, griff nach ihren Stiefeln und zog sie an. Der rechte Stiefel, die stetige, andauernde Erinnerung. Sie band die Schnürsenkel, und dann ging sie mit dem Hut auf dem Kopf und dem Mantel über ihrem Nachthemd zum Treppenabsatz hinaus und die Stufen hinunter. In dem fahlen weißen Licht des Himmels und dem milden gelben Schein der Straßenlaternen ging sie über den Platz zur Kirche, und am Seiteneingang zückte sie den Schlüssel, den ihr der Pfarrer ausgehändigt hatte. Sie trat ein. So ruhig und dunkel war es zu dieser Stunde. Das Ewige Licht am Altar und die Fenster zur Straße, die einzigen kargen Lichtquellen.
Sie ging zu einer der vorderen Kirchenbänke und setzte sich, die Hände in den Manteltaschen. Sie betrachtete den Flügel, seine edle Form, die klassischen Beine und die filigrane Deckelstütze. Vor ihrem geistigen Auge sah sie jedes Einzelteil, die Bestandteile des Korpus’, die noch unbearbeitet aus der Fräserei kamen, die Tastatur und ihre Nervenenden, den edlen Resonanzboden mit dem Steg. Die Gusseisenplatte, die so schwer war, dass zwei Männer nötig waren, um sie anzuheben, und vier, um sie in ihre Verankerungen zu fügen.
Sie stand auf und ging zu der Stelle in der steinernen Vierung, an der ihrer Meinung nach der Flügel stehen sollte. Dann sah sie auf und klatschte in die Hände und lauschte. Sie ging sechs Schritte nach links, etwas näher zur Wand und klatschte noch einmal in die Hände.
Auf dem Rückweg zum Hotel sah sie nach ihrem Auto. Alles war in Ordnung. Auf den Scheiben lag Reif. Sie strich über den Kotflügel und ging weiter. Oben auf dem Zimmer zog sie den Mantel und die Stiefel und den Hut aus und kroch ins Bett zurück.
Wenige Stunden später saß sie im Speisesaal und frühstückte. Mildred kam mit einem Becher Kaffee in der Hand aus der Küche und stellte sich neben ihren Tisch.
»Etwas dagegen, wenn ich Ihnen Gesellschaft leiste?«
»Keineswegs. Bitte.«
»Gestern Abend, das war so gut. Ehrlich. Ich singe im Chor, also verstehe ich ein wenig davon. Wir alle kennen die Navy Hymn, selbstverständlich, aber wir haben sie noch nie so gehört. Nicht als einfache Melodie gespielt, sondern wie eine lange Ballade, die einen mitreißt und anrührt, als würde derjenige, der sie spielt, einen wirklich verstehen. Das empfand ich zumindest. So erging es mir. So schön. Haben Sie einfach nur improvisiert?«
»Ja.«
»Und das andere Stück, was war das?«
»Das war aus dem Requiem von Brahms. Father William hat mir die Auswahl überlassen.«
»Das war auch schön. Aber was Sie aus der Navy Hymn gemacht haben … Ich habe das Bedürfnis, Ihnen zu danken. Wirklich. Danke.«
Mildred sah plötzlich verlegen aus, und sie griff zum Kaffeebecher, um die Situation zu überspielen, und trank einen Schluck.
Es entstand eine Pause, und dann sagte Mildred: »Fast hätte ich es vergessen. Morris, das ist der Küster, er war hier, bevor Sie nach unten gekommen sind. Ich soll Ihnen ausrichten, dass Father William Sie einlädt, bei der Beerdigung dabei zu sein. Wenn Sie möchten, können Sie mich begleiten, und ich erzähle Ihnen ein bisschen über den Ort.«
Die Beerdigung fand um zehn Uhr statt. Als sie über den Platz zur Kirche gingen, fielen ihr Mildreds Schuhe auf, die guten Nähte und das geschmeidige Leder. Sie sprach ihre Gedanken aus, und Mildred berichtete ihr, dass ein Mann aus dem Ort sie angefertigt hatte. Dann standen sie im matten Sonnenlicht, und immer mehr Menschen kamen, alle schwarz gekleidet: Männer, Frauen und Kinder. Die Jungen hatten ihre Haare mit Wasser gekämmt, und ihre Ohren leuchteten rot vor Kälte. Die Mädchen hatten frische Ringellöckchen, und einige von ihnen trugen Kränze im Haar, mit kleinen weißen Blüten aus Papier. Mildred sagte, später würden sie diese im Hafen ins Wasser werfen, damit sie davontrieben und den Seelen der beiden ertrunkenen Männer Trost spendeten. Die Küstenwache hatte die Suche vor ein paar Tagen aufgegeben und sie offiziell für auf See vermisst erklärt.
»Das sind sehr alte Worte«, sagte Mildred. »›Auf See vermisst‹. Alt und viel zu vertraut. Ich sollte es wissen.«
Der gehobelte Kiefernsarg ruhte in der Sonne auf einem Gerüst, und nachdem der Pfarrer ihn gesegnet hatte, schulterten ihn fünf Fischer und ein uniformierter Polizist der Royal Canadian Mounted Police und trugen ihn den Hügel hinauf zum Friedhof. Die Witwen und Mütter gingen hinter den Ministranten, die das Kreuz trugen, während Father William in seinem weißen Chorhemd das Weihrauchgefäß schwenkte. Weihrauch hing in Schwaden in der Luft zwischen der Trauergemeinde. Einige weinten. Im Schatten war das Gras noch gefroren. Raureif umschloss den Drahtzaun und die alten Kreuze aus behauenem Stein. Madame Cabayé hatte ihr von dem historischen Friedhof erzählt. Vor allem Akadier lägen dort, hatte sie gesagt. Leute, die man deportiert oder vertrieben hatte. Viele waren in den Süden nach Louisiana gezogen, als es noch französisch war, und dann, Jahre später, zurückgekommen. Sie hatten den britischen Treueschwur geleistet, sich hier angesiedelt und waren schließlich hier gestorben. Und heute kamen drei weitere Kreuze hinzu: zwei provisorische aus alten Brettern an der Gedenkstätte und eines am offenen Grab.
Als der Sarg auf den beiden Planken über der Grube ruhte, überließ der Pfarrer dem Ministranten die Ketten des Weihrauchgefäßes, faltete die Hände und sah zum Himmel auf. Sie standen eine Weile in vollkommener Stille da, und dann sprach Father William die Worte aus der Navy Hymn, mit einer so lauten Stimme, dass alle vom Sarg zu ihrem jungen Pfarrer aufsahen:
Most Holy Spirit! Who didst broodUpon the chaos dark and rude,And bid its angry tumult cease,And give, for wild confusion, peace;Oh, hear us when we cry to Thee,For those in peril on the sea!
Später sah Father William sie an der offenen Tür der Sakristei vorbeigehen und rief ihr hinterher: »Mrs. Giroux! Auf ein Wort, wenn Sie gestatten!«
Er stand auf und setzte sich erst, als sie hereingekommen war. »Sie haben gestern Abend sehr gut gespielt. Danke. Viele haben mich darauf angesprochen. Die Leute, die früher im Chor gesungen haben.«
»Die Akustik in der Kirche ist gut, Father. Alles aus Stein und gerade ausreichend Holz, um den Klang zu dämpfen. Ich würde gern vorschlagen, den Flügel ein wenig zu verrücken. Etwas näher zu der Wölbung in der Holzwand. Dort wird er noch besser klingen.«
»Wenn Sie das sagen. Morris kann das machen. Der Flügel steht auf Rollen, und an der Stelle ist wirklich ausreichend Platz. Ich weiß nicht, wann die Orgel repariert sein wird. Eine alte McAllister. Die Einzelteile wurden eigens angefertigt und kamen dann aus Boston, vielleicht sogar aus Edinburgh. Das ist teuer, und diese Kirche ist genauso arm wie alles an der Côte Acadienne und in ganz Nova Scotia. Die Lage war schlimm hier in den Jahren 27 und 28, wenn auch nicht so schlimm wie in Ontario, dort waren sie ja von der Industrie abhängig. Und dann noch der Börsen-Crash. Aber die Bewohner von Saint Homais hatten nie viel Geld für Investitionen, und jetzt haben wir nur noch die Fischerei und die Landwirtschaft. Unsere Nahrungsmittel bauen wir selbst an oder bekommen sie aus dem Annapolis Valley. Der Boden dort ist gut, und es gibt Wasser. Wir können uns glücklich schätzen.«
»Ja. Aber nun zur Orgel, Father. Die alten McAllister-Orgeln haben großartige Bronzepfeifen, aber die Mechanik ist etwas anfällig. Ich weiß das, denn wir haben früher Verbindungsstücke dafür hergestellt. Bei Ihrer Orgel sind einige Teile gewiss schon mehr als einmal ersetzt worden.«
»Ja, das stimmt, das steht so im Protokoll. Aber es wird immer teurer. David Chandler meint, er könnte versuchen, die Teile in seiner Modelltischlerei anzufertigen. Er meint, für die Blasebälge könnten wir schweres Segeltuch verwenden. David ist ein guter Handwerker. Kennen Sie ihn?«
»Nein. Noch nicht. Aber ich habe schon von ihm gehört. Er stellt auch Lederwaren her, hat man mir gesagt.«
»Ja, das stimmt.«
Father William trug eine schwarze Soutane, den römischen Kragen offen und die Ärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt. Er hatte kurz geschorene rötliche Haare, struppige rote Augenbrauen, und seine hellgrauen Augen strahlten die Hoffnung und die Zuversicht eines jungen Mannes aus. Vermutlich war er noch keine dreißig Jahre alt, so jung, dass er ihr Sohn hätte sein können. Er saß da und betrachtete sie, er nahm sich Zeit, die gefalteten Hände auf dem Tisch. Schließlich sagte er: »Haben Ihnen Sidonie oder Mildred irgendetwas über uns hier erzählt?«
»Ja, ein wenig.«
»Saint Homais war natürlich rein französisch, so wie die anderen Gemeinden an der Côte Acadienne, der ganze Küstenbogen von Yarmouth bis Port L’Hebert und Port Joli, und sogar noch weiter. Inzwischen sind nur noch etwa sechzig Prozent Franzosen, aber viele von ihnen stammen ursprünglich von hier, wie die Chouinards und die Cabayés und die Bissonnettes. Das sind die Familiennamen, die auf einigen der ältesten Grabsteine auf dem Hügel stehen, und darauf ist man stolz. Aber viele hier sind auch nicht französisch, Mildred beispielsweise, und viele sind Zugereiste so wie ich oder David Chandler. Der ist übrigens Amerikaner. Unsere Gemeinde ist sehr geschlossen, sie ist wie eine große und manchmal etwas zanksüchtige Familie. Sehen Sie, seit der Beerdigung fragen mich die Leute, wer Sie sind und was Sie hierher verschlagen hat und ob Sie hierbleiben werden.«
»Nun, ich hoffe es. Aber da Sie gerade von Ihrer Gemeinde sprechen, sollte ich Ihnen etwas sagen. In meiner Familie waren wir nicht gerade regelmäßige Kirchgänger. Erst recht nicht, nachdem das Kolonialamt den Missionaren die Schuld am Tod meines Vaters gegeben hat. Ich glaube, meine Mutter hat danach nie wieder einen Fuß in eine Kirche gesetzt.«
»Ihr Vater war Missionar?«
»Nein, er war Ingenieur. Er hat vor allem in Französisch-Westafrika gearbeitet.«
»Verstehe. Aber Sie beherrschen das gesamte Repertoire der Kirchenmusik? Das achtzehnte und das neunzehnte Jahrhundert?«
»Ja, natürlich. Das ist die tiefgründigste Musik, die wir haben. Sie haben mich doch den Brahms spielen gehört.«
»Ja, das habe ich. Das war gut. Und zum Thema regelmäßige Kirchgänger, wie Sie das bezeichnen, kann ich Ihnen versichern, dass Sie nicht die Einzige im Ort und sogar in der Gemeinde sind, die nicht engagiert ist.«
»Nicht engagiert?«
»Ja, was Ihren Glauben betrifft. Ich habe Verständnis dafür, und ich habe auch nichts dagegen. Nun, einerseits schon und andererseits nicht, schließlich besteht immer Hoffnung. Allerdings habe ich durchaus etwas dagegen, wenn diese Leute sich als Freidenker bezeichnen, denn mit Denken hat das nichts zu tun. Die wirklichen Freidenker besaßen tatsächlich die Gabe, geradlinig denken zu können. Kierkegaard, Nietzsche, Martin Buber, der noch lebt und für die Kirche immer noch einen spitzen Stachel darstellt. Wir haben im Priesterseminar ihre Schriften studiert.«
Er hielt inne und betrachtete seine Hände auf dem Tisch. Dann sah er wieder auf. »Diese Kirche war einmal eine Kathedrale«, sagte er. »Wissen Sie, was das ist?«
Sie spürte, dass sie rot wurde. »Eine Kathedrale. Nun, ja. So viel weiß ich schon, Father. Das ist die wichtigste Kirche in einer Diözese. Oder der Sitz des Bischofs. Gibt es hier einen Bischof?«
»Nein, nicht mehr. Aber diese Kirche ist immer noch das Herz unserer Gemeinde, und sie hat eine lange Geschichte. Sie wurde vor zweihundert Jahren zur Kathedrale geweiht, bevor die Grenzen der Diözese neu gezogen wurden. Sie wird immer eine Kathedrale im Geiste sein, wenn auch nicht in der Praxis. Sie entstand damals dank des Einsatzes der Gemeinde. Die Bewohner haben mitgeholfen, und ein Baumeister, ein französischer Architekt, hat sie angeleitet. Bei den Bauarbeiten sind zwei Männer zu Tode gekommen. Sie sind oben auf dem Hügel begraben.«
»Sie ist sehr schön«, sagte sie. »All die Steine und das von Hand bearbeitete Gebälk und die Holzdecken. Diese Tischlerarbeit, wie bei einem Schiffsrumpf.«
»Ja, sie ist wirklich schön. Mrs. Giroux, ich sage es ganz offen. Es geht nicht nur um die Orgel … Es geht auch um den Chor. Ich glaube, ich habe das bei unserem ersten Gespräch nicht erwähnt, bevor Sie vorgespielt haben. Ich benötige auch noch Hilfe, um den Chor wiederaufzubauen, aber ich wollte Sie zuerst spielen lassen. Jetzt weiß ich, dass die Leute Sie akzeptieren werden. Einige haben mich bereits darauf angesprochen.«
»Ja. Ich würde mich freuen, Sie dabei zu unterstützen. Sehr sogar. Was ist mit dem Chor passiert?«
»Das Übliche. Eifersüchteleien und Streitereien, gleich nachdem Adelaide vor ein paar Monaten gestorben ist. Sie war unsere Organistin und Chorleiterin. Wir haben seither immer nur improvisiert, aber das funktioniert nicht so gut. Eine Kirchengemeinde braucht gute Musik. Sie führt die Menschen zusammen.«
»Ich würde Ihnen gern helfen, Father. Danke, dass Sie mich gefragt haben.«
»Gut. Sehr gut.« Er stand auf. »Begleiten Sie mich doch einen Moment ins Büro. Die Heizung dort ist kaputt, und wir benutzen den Raum nur zum Telefonieren und für die Akten. Ich gebe Ihnen die Chorliste.«
Er geleitete sie durch den Flur ins Büro und schloss hinter ihr die Tür. Er ging zu dem Aktenschrank und zog eine Schublade heraus, aber dann hielt er einen Moment inne.
Er drehte sich zu ihr um. »Mrs. Giroux, entschuldigen Sie bitte. Gibt es vielleicht etwas, was ich über Sie wissen sollte? Bevor wir fortfahren? Irgendetwas, was Sie davon abhalten könnte, für unsere Kirche tätig zu werden?«
»Ich denke nicht, Father. Nur das, was ich Ihnen erzählt habe.«
»Also nichts? In Ordnung. Sehr gut.«
Er drehte sich wieder um und zog einen Ordner hervor. »Das ist die Liste mit den ehemaligen Chormitgliedern. Vielleicht kann Mildred Ihnen helfen und Sie miteinander bekannt machen. Sie war ein aktives Chormitglied, und wenn sie nicht zu viel zu tun hat, nimmt sie sich bestimmt die Zeit dafür. Ein Rohdiamant, unsere Mildred. Eine Frau, die offen ihre Meinung sagt, aber ein wichtiger, starker und aufrichtiger Mensch in der Gemeinde, und mit einer guten Stimme, wie Sie noch hören werden.«
Auf ihrem Zimmer schloss sie die Tür hinter sich und legte sich aufs Bett, die Stiefel auf einem Handtuch. Sie konnte den Meereswind in den Bäumen hören. Sie setzte sich auf und löste die Schnürsenkel, Haken für Haken bis hinunter zu den Ösen. Dann zog sie die Stiefel aus und stellte sie auf den Fußboden und legte sich wieder hin, diesmal mit den Füßen unter dem Handtuch.
Das Zimmer war sauber und schlicht, und ihre Habseligkeiten waren noch nicht ausgepackt, bis auf das Nachthemd und die Toilettenartikel und den Mantel. Zwei Hutschachteln, ein Koffer, ein Truhenkoffer aus Leder und Holz. Die Truhe stand mit aufgeklapptem Deckel an der Wand. Sie hängte jeden Abend die Kleidung vom Tag zum Lüften auf und nahm nur heraus, was sie am nächsten Tag anziehen würde. Morgens bürstete sie die Kleidungsstücke vom Vortag, faltete sie zusammen und packte sie weg.
Sie lag auf dem Bett, die Hände auf ihrem Bauch. Langgliedrige Hände, kräftige Pianistenfinger mit kurz geschnittenen Nägeln. Unter den Handgelenken konnte sie ihre Hüftknochen fühlen, sie lagen zu nah an der Oberfläche, denn in den letzten Jahren war sie dünner geworden; dünner und klüger, und in der Lage, vollkommene Einsamkeit auszuhalten. Sie lag ruhig da, mit geschlossenen Augen.
Seit dem Unfall hatte sie nicht mehr gut schlafen können. Nach dem Gefängnis und der Anstalt sollte sie eine braune Medizin einnehmen, die ihr ein Apotheker in Montreal gegeben hatte, aber sie hatte nicht gegen die Träume geholfen und nur dazu geführt, dass sie den ganzen nächsten Tag wackelig auf den Beinen war und immer mehr davon haben wollte. Mit aller Willenskraft hatte sie damit aufgehört. Sie hielt es für besser, sich den Träumen auszusetzen und ruhig in der Dunkelheit zu liegen und auf den Schlaf zu warten.
Sie stand auf und ging zum Fenster. Es war mitten in der Tide, ob die Flut gerade kam oder ging, konnte sie nicht feststellen. Sie sah das braune Ufer, den Seetang und gewaltige Felsen, die aus dem Wasser ragten.
Ein Segelboot umrundete in der Ferne eine Landzunge. Noch mehr Felsen und Koniferen, zwischen denen der Nebel hing.
Sie hörte die Kirchenglocke und zählte zwölf Schläge. Mitternacht. Vielleicht ist es dieser Ort, sagte sie zu sich selbst. Saint Homais.
In Lady Ashleys Wohnzimmer hatten sich neun Frauen und fünf Männer eingefunden, alle in gediegener Kleidung, die Frauen schön frisiert. Mildred machte sie miteinander bekannt. An einer Wand stand ein Klavier – ein Broadwood aus England mit einem Korpus aus Eiche –, und Lady Ashley bat sie, zu spielen, damit die Runde in Gang kam.
Sie setzte sich, hob die Klappe und wärmte sich mit ein paar Akkorden auf. Dann spielte sie einige Takte aus einem traditionellen kanadischen Weihnachtslied, dem Huron Carol. Nach ein paar Phrasierungen kehrte sie zum Liedanfang zurück, sah über ihre Schulter und forderte die Anwesenden mit einem Nicken auf, mitzusingen. Die meisten kannten das Lied, doch eine Stimme übertönte eindeutig die übrigen. Sie warf einen Blick über die Schulter und stellte fest, dass es Lady Ashley war. Sie spielte weiter, und als sie die linke Hand für einen Moment frei hatte, gab sie das Zeichen für sotto voce. Es klang noch nicht optimal.
Sie hörte auf und drehte sich um. »Ja, damit können wir arbeiten«, sagte sie.
Lady Ashley klingelte mit der Handglocke, und ein junges Hausmädchen in einem schwarzen Kleid mit weißer Schürze brachte aus der Küche Tee und Teller, auf denen kleine Sandwiches angerichtet waren.
Alle bedienten sich, und sie setzte sich auf das Sofa und beantwortete ihre Fragen. Sie sagte ihnen, dass sie aus der Großstadt, aus Montreal, habe wegziehen wollen, und zwar für eine ganze Weile. Ihr Ehemann sei im Krieg in Frankreich ums Leben gekommen. Danach habe sie in England gelebt und die letzten zwölf Jahre in Kanada. In Montreal war sie Madame Sidonie Cabayé begegnet, die ihr von der Côte Acadienne und von Saint Homais erzählt hatte.
Alle lächelten und nickten. Sie konnten sich gut an Sidonie erinnern. Sie erzählte ihnen noch mehr: Sie habe eine Tochter, die in Montreal zur Schule gegangen war und derzeit in London einen Radiologie-Kurs für examinierte Krankenschwestern besuchte.
»Claire ist fünfundzwanzig Jahre alt«, sagte sie.
Sie suchte in ihrer Handtasche nach der kleinen Ledermappe mit der Fotografie. Sie betrachteten sie und reichten sie herum und äußerten sich wohlwollend über die erwachsene Tochter, die noch dazu einen guten Beruf ausübte, und das in Zeiten, in denen selbst Männer kaum Arbeit fanden.
Plötzlich stand Lady Ashley auf und verließ mit entschiedenem Schritt das Wohnzimmer. Sir Anthony sei geschäftehalber in England, flüsterte jemand. Das ist er doch immer, flüsterte jemand anders.
In der Nacht fiel Schnee, und es schneite weiter bis zum nächsten Mittag. Der Schnee kam früh, sagten alle. Father William sah, wie sie sich mit dem Wagen abmühte, und er und der Küster kamen ihr mit Schaufeln zu Hilfe. Der Polizist sah sie im Vorbeifahren, parkte seinen Ford und schloss sich ihnen an.
Als sie die Räder vom Schnee befreit hatten, zog sie den Choke, trat mehrfach auf das Gaspedal und drückte den Startknopf. Der Motor stotterte zuerst, doch schließlich erwachte er zum Leben. Die Männer wedelten die Abgaswolken mit den Händen fort, stellten die Schaufeln ab und schoben den Wagen an. Endlich auf der Fahrbahn konnte sie im Rückspiegel einen Blick auf die Männer erhaschen. Der Küster und Father William gingen schon davon, doch der Polizist sah dem Wagen auf eine Art und Weise nach, die ihr nicht behagte. Die Straße war glatt, und sie musste vorsichtig fahren, und als sie noch einmal in den Rückspiegel blickte, hatte auch er sich abgewendet.
Der Schneepflug hatte ganze Arbeit geleistet, und sie konnte im zweiten Gang fahren, das abgetragene Paar Schuhe auf dem Beifahrersitz, an der Schule und am Sitz der landwirtschaftlichen Genossenschaft vorbei, dann am Hafenbecken und schließlich an einer Kiefernpflanzung, bis sie das Gebäude mit dem hohen Ziegelschornstein erreichte.
Im Büro fragte sie eine Angestellte, ob sie Mr. David Chandler sprechen könne.
»Sie sind die Klavierspielerin, Ma’am«, begrüßte die junge Frau sie erfreut. »Von der Beerdigung. Ich erkenne Sie wieder. Wenn Sie jemals …« Sie errötete und hielt inne.
Sie war sehr hübsch, doch irgendetwas war mit einer Gesichtshälfte nicht ganz stimmig.
»Wenn ich jemals was?«, fragte Hélène.
»Ach nichts, Ma’am. Gehen sie durch die Tür da und dann links, den gepflasterten Weg entlang, dann sehen Sie schon das Schild. Das ist Davids Werkstatt. Sie können ruhig hineingehen, aber am besten halten Sie sich die Ohren zu. Es ist höllisch laut mit all den kreischenden Maschinen, die er da drin laufen hat.«
Als sie die Werkstatt betrat, stand er an einer Schleifmaschine und hielt mit beiden Händen ein Werkstück gegen den Riemen. Der Staub, der dabei aufgewirbelt wurde, verschwand in einer Art Absaugmaschine, die ihrer Mutter womöglich das Leben gerettet hätte, wenn so etwas in der Molnar-Fabrik existiert hätte. Im ganzen Raum verteilt standen Zeichentische und Maschinen und Werkbänke. Arbeitsgeräte hingen in den Halterungen von Werkzeugtafeln. In der Werkstatt roch es nach trockenem bearbeitetem Holz, und einen Moment lang fühlte sie sich um mindestens zwanzig Jahre zurückversetzt.
Sie ging zwischen ihm und dem Fenster hindurch, und er sah auf und nickte, arbeitete jedoch weiter. Nach einer Weile hielt er das Werkstück hoch und steckte es in einen Messschieber. Er schaltete die Schleifmaschine aus und dann die Absaugevorrichtung.
»Ganz schön früh, der Schnee«, sagte er. Er betrachtete sie in ihrem Stadtmantel und dem Hut und warf einen Blick auf die Schuhe in ihren Händen. »Wie kann ich Ihnen helfen, Ma’am?«
Sie sagte, sie sei neu in der Stadt und Mildred vom Hotel habe ihr gesagt, dass er ihre Lieblingsschuhe angefertigt habe.
»Ihre Lieblingsschuhe«, sagte er. »Freut mich zu hören.«
Sie sagte ihm, was sie sich wünschte, und er nahm die Schuhe an sich und drehte sie im Licht der Lampe über der Werkbank hin und her.
»Ja, das lässt sich machen«, sagte er. »Wenn Sie sich auf den Stuhl setzen und Ihre Stiefel ausziehen, kann ich für den Leisten Maß nehmen. Setzen Sie sich, ich wasche mir noch schnell die Hände.«
Er verschwand durch eine Tür am Ende des Raumes, und sie hörte Wasser rauschen. Als er zurückkam, stand sie immer noch.
»Könnten Sie das Maß nicht von den Schuhen nehmen, Mr. Chandler?«
»Von den Schuhen? Hm. An den Füßen ist es wirklich viel besser. Immer an den Füßen selbst, denn jeder Fuß ist ein kleines bisschen anders, und das ist entscheidend. Der Rist oder das Gewölbe, wie breit der Fuß wird, wenn wir ihn belasten. Damit der Schuh anständig passt, macht man das so.« Er hielt ihren rechten Schuh ins Licht und betastete sein Inneres.
»Und in diesem Fall erst recht«, sagte er.
Sie setzte sich auf eine Bank.
»Ma’am?«
»Ja, Mr. Chandler. Bitte geben Sie mir einen Moment Zeit.« Sie sah sich um. »Ich habe den Großteil meiner Jugend an so einem Ort verbracht. Er war viel größer, und es gab viel mehr Arbeitsplätze, aber der Geruch nach Holz war gleich, und das Werkzeug ähnlich. Meine Mutter hat eine Pianofabrik geerbt, und sie hat mir das Geschäft beigebracht. Nach ihrem Tod habe ich die Fabrik so lange weitergeführt, wie es ging. Aber mit dem Krieg war alles zu Ende.«
Er blieb stehen und hörte ihr zu. Anscheinend wartete er darauf, dass sie auf einen bestimmten Punkt zu sprechen kam.
»Interessant«, sagte er schließlich. »Und wo war das?«
»In einer Stadt im Norden Frankreichs. Unsere Marke hieß Molnar. Wir haben viele Klaviere nach Nordamerika verschickt.«
»Molnar-Klaviere?«
»Ja. Der Flügel in Ihrer Kirche ist von Molnar. Ich habe am Abend vor der Beerdigung darauf gespielt.«
»Das waren Sie? Ich war nicht dabei, aber ich habe davon gehört.«
Sie lächelte. »Mr. Chandler«, sagte sie. »Die Sache mit dem Schuh ist mein Geheimnis.«
»Ja, Ma’am. Ihr Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben.«
»Danke. Außer einem Ersatz für dieses hier benötige ich noch zwei Paar Schuhe für drinnen. Ein elegantes Paar mit einem sehr niedrigen, fast flachen Absatz zum Klavierspielen und ein weiteres Paar mit einem etwas höheren Absatz für andere Anlässe. Aber alle in Schwarz. Könnten Sie das machen?«
»Sobald ich einen Leisten habe, kann ich für Sie jeden Schuh anfertigen, den Sie möchten. Stiefeletten, Halbschuhe. Auch mit Absatz, natürlich.«
Er stand da und wartete. Sie spürte eine beständige Liebenswürdigkeit, die von ihm ausging, eine Höflichkeit und Geduld, die ihren Sorgen Raum ließ, aber auch professionelle Hilfe bot.
»Mr. Chandler«, sagte sie. »Können Sie mir irgendwann einmal zeigen, wie diese Absaugevorrichtung funktioniert? Wo landet der Staub?«
»Hm. Er gelangt in einen Sack aus Segeltuch im Keller, genau hier drunter.« Er tippte mit einem Fuß auf den Fußboden. »Ich lasse den Sack etwa einmal im Monat leeren. Ich habe noch eine andere Werkstatt, für die Lederarbeiten, falls Sie sich wundern sollten. Diese hier ist für Modellbau und die Holzarbeiten.«
»Interessant«, sagte sie.
Sie nahm ihren Hut ab und legte ihn neben sich auf die Bank, und als sie es nicht länger hinauszögern konnte, stellte sie ihren linken Fuß auf den Holzhocker, lehnte sich vor und löste die Schnürsenkel.
Die letzte Fotografie ihres Vaters war aus Westafrika gekommen. Sein Gesicht war von der Sonne gebräunt, es hatte kaum Falten, außer über den Augenbrauen und um die Mundwinkel. Seine Lachfalten, sagte Mutter dazu. Auf dem Bild trug er ein Tropenhemd mit hochgekrempelten Ärmeln, und er hielt den langen Holzflügel einer Windmühle in der Hand, die er für die Wasser- und Elektrizitätsgewinnung in den Kolonien entworfen und installiert hatte. Das Hauptgebäude von Habitation Midi, mit fünf lächelnden Schwarzen auf der Veranda, bildete den Hintergrund.
Als der Brief mit der Fotografie eingetroffen war, hatte sie sie im Schein der Tischlampe betrachtet und sich vorgestellt, wie er mit den Menschen hinter sich redete und mit ihnen spaßte. Sie hatte sich vorgestellt, dass allen zum Lachen zumute war und sie ihm für seine Windmühlen und für seine Wasserpumpen dankbar waren. Diese und andere Menschen an jenen entlegenen Orten sahen ihn viel öfter als sie selbst, und sie hatte diese Menschen beneidet.