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Als Margarets beste Freundin die erfolgreiche Anwältin um rechtlichen Beistand bittet, reist sie sofort nach Sweetbarry. In der Kleinstadt an der wilden Atlantikküste von Novia Scotia hat Margaret den Großteil ihrer Kindheit verbracht. Erinnerungen fluten sie, und plötzlich stellt sie ihr ganzes Leben infrage. War die Karriere in der renommierten Kanzlei wirklich die vielen Verluste wert? Und wie soll es weitergehen? Dann geschieht etwas, das neben all den Fragen auch völlig neue Perspektiven eröffnet ...
Einfühlsames Frauenporträt vom kanadischen Bestseller-Autor
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Seitenzahl: 290
Cover
Über dieses Buch
Über den Autor
Titel
Impressum
Widmung
Zitat
Hier, unter Menschen
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Die Kinder
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Der Deal
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Zwanzig
Einundzwanzig
Zweiundzwanzig
Dreiundzwanzig
Vierundzwanzig
Die Eltern
Fünfundzwanzig
Sechsundzwanzig
Die Heimkehr
Siebenundzwanzig
Achtundzwanzig
Neunundzwanzig
Dreißig
Einunddreißig
Danksagung
Über dieses Buch
Als Margarets beste Freundin die erfolgreiche Anwältin um rechtlichen Beistand bittet, reist sie sofort nach Sweetbarry. In der Kleinstadt an der wilden Atlantikküste von Novia Scotia hat Margaret den Großteil ihrer Kindheit verbracht. Erinnerungen fluten sie, und plötzlich stellt sie ihr ganzes Leben infrage. War die Karriere in der renommierten Kanzlei wirklich die vielen Verluste wert? Und wie soll es weitergehen? Dann geschieht etwas, das neben all den Fragen auch völlig neue Perspektiven eröffnet …
Einfühlsames Frauenporträt vom kanadischen Bestseller-Autor
Über den Autor
Kurt Palka ist in Österreich geboren und aufgewachsen. In Kenia und Tansania hat er für den African Mirror geschrieben und Naturdokumentationen gedreht. Heute lebt Kurt Palka in der Nähe von Toronto in Kanada. Dort arbeitet er als Journalist für mehrere kanadische und amerikanische Zeitungen sowie als Drehbuch- und Romanautor. Das Geheimnis der Pianistin ist Palkas erster Roman, der auf Deutsch erscheint.
KURT PALKA
Tage, die für immer bleiben
Roman
Aus dem kanadischen Englisch von Stefanie Karg
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:Copyright © 2018 by Kurt PalkaTitel der kanadischen Originalausgabe: »The Hour of the Fox«Originalverlag: McClelland & Stewart, an imprint of Penguin Random House
Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Kerstin Ostendorf, BonnUmschlaggestaltung: Sandra Taufer, München, unter Verwendung von Illustrationen von © Arcangel Images: Rekha Arcangel; © shutterstock: Timothy Andrew Perras | M. CorneliusE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7517-1016-9
luebbe.delesejury.de
Für Heatherund für Christina und Paul, Melanie und Rob
Sie folgte langsam und sie brauchte langals wäre etwas noch nicht überstiegen;und doch: als ob, nach einem Übergang,sie nicht mehr gehen würde, sondern fliegen.
Rainer Maria Rilke, »Die Erblindende« aus Neue Gedichte, Erster Teil, 1907
Das Haus war dunkel, genau, wie sie es erwartet hatte. Sie vermutete ihn in Südamerika, aber sicher war sie sich nicht. Vielleicht Argentinien.
Sie öffnete das Gartentor und ging den Pfad um das Haupthaus herum, hinunter zum Cottage, an den Rosen und den Quittensträuchern vorbei. Alles lag im Dunkeln, doch der betonierte Pfad war heller als die Wiese und das Erdreich. Beim Cottage angekommen, schloss sie die Tür auf und ging hinein.
Sie stellte ihren Aktenkoffer auf der Küchentheke ab, und einen Moment lang glaubte sie, in einem der Fenster des Haupthauses ein Licht aufleuchten zu sehen. Sie wartete ab, ob das Licht noch einmal anging, doch das tat es nicht. Das Haus lag immer noch im Dunkeln, ein Berg aus Backsteinen, der sich in der Nacht abzeichnete. Dann flackerte wieder ein Licht auf, aber nun erkannte sie, dass es nur der Scheinwerfer eines Autos war, das auf der Straße vorbeifuhr. Es war nicht Jack.
Sie zögerte einen Moment, dann holte sie den Schlüssel aus ihrer Handtasche und ging den Pfad zurück zum Haus. Die Sträucher waren voller Früchte, die niemand mehr pflückte. Als Andrew klein war, hatten sie zusammen Quittengelee gekocht. Der Junge hatte ihr beim Pflücken und Pressen geholfen und später im kühlen Keller die Gläser aus ihrer Hand entgegengenommen, um sie so aufs untere Regalbrett zu stellen, dass die Etiketten nach vorn zeigten. In späteren Jahren hatte ein englischer Nachbar ein wenig Obst geerntet, aber auch das war längst vorbei.
Sie schloss die Hintertür auf, öffnete sie und lauschte, dann machte sie Licht und trat ein. Es war kalt und feucht, Treppenhausluft. Sie fühlte sich wie ein Eindringling, als sie nach oben ging und die Lampen einschaltete: die Diele, die Küche, modern und unbenutzt wie ein Ausstellungsraum, das Fernsehzimmer, das Wohnzimmer. Ihr Arbeitszimmer mit der geschlossenen Tür, sein Arbeitszimmer mit der offenen Tür. Sie hielt einen Moment inne, dann trat sie ein.
Bücherregale, sein Schreibtisch, Ablagekästen mit Gesteinsproben. An zwei riesigen Pinnwänden aus Kork hingen Landkarten voller Nadeln mit kleinen Flaggen. Kupfer, Gold und Silber, all die Schätze der Erde. Und auf der Tastatur seiner Schreibmaschine fand sie, wie erhofft, ein Blatt Papier mit seiner Handschrift: Argentinien, Río Negro, Aguada de Guerra. Darunter eine Telefonnummer. Sie nahm das Blatt, faltete es zusammen und steckte es in ihre Tasche. Auf der Landkarte mit der südlichen Hemisphäre suchte sie nach Argentinien und Río Negro. Da. Eine kleine Nadel mit silberner Flagge markierte Aguada de Guerra.
In der Tür blickte sie noch einmal in den Raum zurück, der so von ihm ausgefüllt war. Einen Moment lang flimmerte es vor ihren Augen, und sie presste einen Finger auf die Augenbraue. Nicht jetzt, befahl sie ihr. Nicht jetzt.
In der Nacht schlief sie auf der Wohnzimmercouch im Haupthaus. Sie machte sich im Bad fertig, holte sich aus dem Schlafzimmer ein Kissen und eine Decke und nahm beides mit ins Wohnzimmer. Sie fand ein Nachthemd, zog es an und krabbelte dann in das Nest. Lichter von vorbeifahrenden Autos streiften die Decke. Einmal glaubte sie das Telefon zu hören und taumelte hin. Sie dachte, es könnte Andrew sein, aber sie hörte nur das Freizeichen. Der Hörer lag kalt und schwer in ihrer Hand.
Später sah sie ihn im Traum auf einer Segeltuchtrage in der Wüste liegen, und sie war die Krankenschwester, die ihn wieder gesund pflegen sollte. Aber sie konnte nur hin und wieder durch das Hitzeflimmern einen Blick auf ihn werfen, ehe sie weiter Sandkörner von der einen in die andere Hand zählen musste. So viele Sandkörner. Als sie schließlich zu der Trage ging, hielt sie in jeder Hand die exakt gleiche Anzahl an Körnern, und das schien wichtig zu sein. Sie wollte es ihm erzählen, doch er war weg. Nur die leere Trage war geblieben.
»Liebe Margaret«, hatte Aileen vor nicht allzu langer Zeit zu ihr gesagt. »Er war ein guter Junge. Er wusste, was er wollte, und genau das hat er auch gemacht. Hör auf, zu zweifeln und dich zu quälen. Lass ihn los. Er hätte das so gewollt.«
Sie hatten in Sweetbarry in Aileens Wohnzimmer gesessen, und die untergehende Sonne hatte den Gull Rock in rotes Licht getaucht, ebenso wie die Wipfel der höchsten Bäume im Wäldchen ihres Vaters, die Zedern und die Kiefern.
Sie und Aileen waren schon ihr Leben lang Freundinnen. In Sweetbarry waren sie Nachbarinnen gewesen, und an dem langen Wochenende war Margaret einfach dorthin geflogen. Aileen sollte mit ihrer Stärke und Güte ihren Gedanken aus dem dunklen Labyrinth helfen, in dem sie umherirrten.
Das war einige Monate nach Andrews Tod gewesen, nachdem sein leerer Sarg nach Hause gekommen war. Schließlich hatte Margaret Jack von Angesicht zu Angesicht gesagt, dass sie auf sein Verständnis hoffe und dass sie zwar glaube, ihn immer noch zu lieben, aber derzeit nicht mit ihm zusammenleben könne. Das Zusammensein mit ihm gab ihr keine Kraft, sondern schwächte sie und lenkte sie ab. Von dem, was sie nun tun musste, sagte sie. Sie müsse den Weg zurück zu sich selbst finden. Wenn es für ihn in Ordnung sei, werde sie für eine Weile ausziehen, in das kleine Cottage aus Holz am Ende des Gartens, um allein zu sein.
Es war früh am Morgen. Aus der offenen Badezimmertür fiel Licht in die Diele. Jack stand da und betrachtete sie, er ging nun sehr behutsam mit ihr um.
»Ins Cottage«, sagte er. »Wirklich? Wir haben doch gar keine Ahnung, wie es dort aussieht, Margaret. Du weißt, dass Andrew und seine Freunde es hin und wieder benutzt haben, aber seit Jahren hat niemand mehr darin gewohnt. Bist du sicher?«
»Ja, Jack.«
Es waren einige Reparaturen nötig, und sie beschloss, sie selbst auszuführen. Sie erkundigte sich bei den Männern im Holzhandel genauestens, was sie dafür benötigte und wie sie es bewerkstelligen sollte, und dann schrieb sie Listen, kaufte Werkzeug und Material und machte sich an die Arbeit: neue Dielen in Küche und Schlafzimmer, wo die alten verfault waren, ein paar Ausbesserungen, wo die Farbe von der Wand splitterte, Reparaturen an der südlichen Außenverkleidung und einige neue Dachschindeln.
Die Reparaturen beanspruchten insgesamt fünf Wochenenden. Am letzten Wochenende war Jack zu Hause und sah vom Küchenfenster aus zu, zwischendurch auch vom Gartenweg aus. Margaret stand auf dem Dach, montierte und hämmerte. Während das Hinaufklettern relativ einfach gewesen war, fiel ihr das Hinunterklettern schwer. Jack sagte nichts, er stellte keine Fragen und wusste, dass er ihr besser keine Hilfe anbot. Aber er holte zwei elektrische Heizgeräte aus dem Haupthaus und stellte sie nah beim Cottage auf dem Pfad ab. Sie hätte ihm gern ein Lächeln geschenkt, doch sie befürchtete, dann in Tränen auszubrechen, und das wollte sie nicht mehr. Also verkniff sie sich das Lächeln. Er stand einige Zeit da, bevor er ins Haus zurückging und die Tür hinter sich schloss.
Am Morgen räumte Margaret die Couch und das Schlafzimmer auf und brachte alles in den ursprünglichen Zustand zurück. Das Nachthemd faltete sie zusammen und legte es wieder an seinen Platz in der Schublade. Wie eine Diebin schlich sie von Zimmer zu Zimmer, um sicherzugehen, dass keine Spur mehr auf ihre Nacht im Haupthaus hinwies. In der Diele griff sie zum Telefonhörer und lauschte, um dann wieder aufzulegen.
Sie fuhr wie üblich mit der U-Bahn zur Arbeit. In ihrem Büro schloss sie die Tür hinter sich, faltete den Zettel mit Jacks Nachricht auseinander und strich ihn auf ihrem Schreibtisch glatt. Sie atmete tief ein und wieder aus, dann wählte sie die angegebene Telefonnummer und fragte nach Señor Jack Bradley. Ihr Spanisch reichte aus, um die junge Frau zu verstehen, die sie um ihren Namen und ihre Telefonnummer bat, damit Señor Bradley sie zurückrufen konnte.
Als er anrief, war Jenny gerade bei ihr im Büro und machte sich Notizen für das Meeting am Abend mit dem Klienten aus Chicago. Margaret bat sie, in einer Viertelstunde wiederzukommen und die Tür hinter sich zu schließen.
»Alles in Ordnung?«, erkundigte er sich.
»Mehr oder weniger. Eine Frage: Wo war Andrew bei seiner letzten Mission? In Äthiopien, ich weiß. Aber war es ein heißer und sandiger Ort?«
Am Telefon entstand Schweigen, und selbst über die viele tausend Meilen lange Leitung spürte sie, wie Jack in seinen behutsamen Modus umschaltete.
»Willst du dir das alles noch einmal antun? Die ganzen Fragen werden nichts an der Sache ändern.«
»Sag mir nur, ob es dort heiß und sandig war.«
»Wahrscheinlich. Jedenfalls an einigen Orten. Es gibt das Hochland und die Ahmar-Berge, aber das liegt alles etwas weiter nördlich. Er war im Süden, in der Region Ogaden. Dort gibt es wohl etwas Vegetation, aber auch einige Wüstenstreifen.«
»Er war auf einer Landepiste.«
»Ja, auf einer improvisierten Landepiste. Das weißt du doch.«
»Er wollte so sein wie du«, sagte sie.
»Wie ich. Fangen wir schon wieder damit an? Es geht also wieder mal um meinen Einfluss auf ihn. Oder um meinen fehlenden Einfluss. Du weißt genau, dass ich niemals ein Pilot oder ein Soldat sein wollte. Nicht, nachdem ich erlebt habe, was der Krieg mit meinem Vater gemacht hat. Ich wollte, dass er Ingenieur wird, und er war auf dem besten Weg dahin. Er hatte seinen ersten Abschluss schon in der Tasche und hätte weitermachen können, aber dann hat er das Fliegen entdeckt. Warum fängst du wieder damit an? Ich dachte, die Vorwürfe hätten wir hinter uns.«
»Ich mache dir keine Vorwürfe. Aber du weißt, dass er dich bewundert hat, dass er so sein wollte wie du. Das Militärische liegt bei dir in der Familie.«
»Nein, davon weiß ich nichts. Nicht nach dem, was mein Vater getan hat.«
Erneutes Schweigen am Telefon.
»Warte«, sagte sie schnell. »Jack … Ich will doch nicht …«
Er wartete ab, aber als sie nicht weitersprach, sagte er: »Pass auf dich auf, Margaret. Ich bin wahrscheinlich Montag wieder zu Hause. Wir müssen reden.« Und dann legte er auf.
Am Nachmittag hatten sie und Hugh Templeton ein kurzes Meeting zum Chicago-Fall. Es ging um den Kauf und die Neupositionierung eines kanadischen Unternehmens durch einen amerikanischen Klienten, und um hundertzwanzig Millionen Dollar. Margaret hatte eine zweiseitige Zusammenfassung geschrieben, Hugh hatte sie gelesen, und nun besprachen sie die wichtigsten Punkte.
»Du leitest das Gespräch«, sagte er zu ihr. »Du gehst das alles mit ihnen durch, einverstanden?«
Hugh war der Senior Partner in der Anwaltskanzlei, und sie arbeitete eng mit ihm zusammen. Es gab vier Partner und insgesamt sieben Mitarbeiter, von denen sie die meiste Erfahrung hatte. Die einvernehmliche Übereinkunft war, dass sie als Nächste zur Partnerin aufsteigen sollte, wenn sie weiterhin so gute Arbeit leistete.
Mit Rücksicht auf den Terminplan des Klienten fand das Meeting nach der üblichen Bürozeit statt. Sie und Hugh saßen im Konferenzraum nebeneinander, auf der anderen Seite des Tisches der Klient, sein Anwalt und sein Finanzberater. Während die Männer die Zusammenfassung lasen, war es minutenlang völlig still, nur das gelegentliche Knarzen eines Stuhls war zu hören. Das Deckenlicht war eingeschaltet, und durch das Fenster konnte sie sehen, wie der Himmel immer dunkler wurde. Der Wetterbericht hatte Regen vorhergesagt. In einigen Gebäuden ringsum wurde die Beleuchtung eingeschaltet.
»Und das hier?«, fragte der Anwalt des Klienten, ein kräftiger Mann im Nadelstreifenanzug. Er hatte helle Augen und betrachtete Margaret mit der spöttischen Herablassung, die sie als Studentin und später als junge Anwältin von Männern gewohnt gewesen war, aber lange nicht mehr erlebt hatte. Er schob ihr das Blatt Papier zu und zeigte mit seinem breiten Finger auf einen Absatz. »Diese Stelle hier, Ma’am.« Er gab sich nicht einmal die Mühe, sie mit ihrem Namen anzusprechen.
Inzwischen verstand sie es, mit solchen Männern umzugehen. Das hatte sie an der Juristischen Fakultät und in den Jahren darauf an ihren verschiedenen Arbeitsplätzen gelernt. Sie bedachte ihn mit einem unaufgeregten Blick, abwartend und ruhig, bis er ihr endlich in die Augen sah. Das Ergebnis war stets das Gleiche: Aus Überraschung wurde Betretenheit, und dann veränderten sich seine Mimik und sogar seine Schulterhaltung.
»Als Firmensitz im Ausland, Ted«, sagte sie. »Ist das nicht eindeutig? Es wird unter Punkt drei ausgeführt. Sehen Sie? Ein paar Zeilen darunter stehen die Details.«
Sie wandte sich nun dem Klienten zu und erläuterte kurz die Besonderheiten dieser Eintragungen und wie sich der Steuervorteil verdreifachte, wenn man auf diesem Weg, quasi durch die Hintertür, ein Unternehmen in Kanada erwarb.
Jenny kam mit einem Tablett mit Feinkost-Sandwichs, Wasserkaraffen, Gläsern und Servietten herein. Sie sah fragend zu Margaret, und Margaret blickte auf ihre Uhr und nickte.
Die Männer beschäftigten sich weiter mit dem Text.
Draußen vor dem Fenster kreiste ein Schwarm Tauben am Himmel. Sie flatterten und landeten dann auf den Fenstersimsen des Bankgebäudes an der Ecke King Street.
Die ersten Regentropfen schlugen gegen das Glas. Margaret stand auf und öffnete die Tür, um zu lüften, ehe der Regen zu stark wurde.
Die altmodische, verglaste Flügeltür führte auf einen schmalen französischen Balkon, der von einem schmiedeeisernen Geländer eingefasst war. Margaret stand eine Weile in ihrem Kostüm und den engen schwarzen Absatzschuhen dort draußen, und plötzlich erinnerte der Geruch des Regens auf dem warmen Mauerwerk sie an ihre Jugend, an ihre Studienzeit vor so langer Zeit, an die zerstörten Straßen im Paris der Nachkriegsjahre und an das aufregende Gefühl, an einem fremden Ort voller Herausforderungen und Ideen zu sein.
Unten auf der Straße schimmerten die Autodächer, und Passanten unter Regenschirmen drängten zur U-Bahn-Station. Autoscheinwerfer zogen vorüber, Regen glänzte in den Lichtkegeln. Plötzlich schoss ein junger schwarzer Hund vom Bürgersteig auf die Fahrbahn und knallte gegen ein Auto. Der Hund wand sich und jaulte und blickte verwirrt um sich. Ein Auto fuhr beinahe auf ein anderes auf, beide Fahrer hupten, und eine Frau stand am Straßenrand und rief den Hund.
Einen Moment lang flimmerte es vor ihren Augen, und ihr Herz pochte. Nichts von dem, was sie sah, ergab für sie einen Sinn, und doch schloss sich ein Kreis. Sie stand wieder an dieser Glaswand in Lakewood, wie vor so langer Zeit. Und jetzt das hier, das Ganze hier, der junge Hund und die Frau auf der nassen Straße. Ihre Gedanken flogen von der Gegenwart in die Vergangenheit, streiften Verluste und Gefahren, und sie hatte wieder dieses Gefühl, nicht die Person zu sein, für die sie sich hielt. Das Gefühl, sich von ihrem Ankerplatz gelöst zu haben und zwischen den Welten zu treiben.
Unten auf der Straße fand der Hund zu seiner Besitzerin zurück, eine Frau in ihrem Alter, deren Mantelsaum den regennassen Bürgersteig streifte, als sie sich bückte, den Hund herzte und versuchte, die Leine an seinem Halsband zu befestigen. Es war ein schwarzer Labrador, ein verspielter Welpe, der mit dem Schwanz wedelte und der Frau Gesicht und Hände abschleckte. Währenddessen stand Margaret einfach nur da, mit der rechten Hand auf das Eisengeländer gestützt und die Fingerspitzen der linken Hand gegen die Augenbraue gedrückt. Die Männer sollten sie nicht in diesem Zustand sehen.
»Margaret«, sagte Hugh Templeton hinter ihrem Rücken. »Margaret? Wir sind fertig.«
Sie atmete tief ein, schloss die Balkontür und kehrte an den Tisch zurück. Sie konzentrierte sich auf ihre Zehen in den drückenden Schuhen, auf die schmerzenden Stellen, um sich zu fokussieren. Dabei ließ sie ihre Füße so weit wie möglich nach vorn rutschen, sodass die Zehen schmerzhaft anstießen. Das hatte ihr Zach in der Klinik beigebracht.
Am Tisch übernahm sie das Kommando, führte Schritt für Schritt durch die Transaktion und ging auf alle Alternativen und Folgen ein. Sobald sie sprach, wurde es einfacher. So war es immer. Sie saß nun wieder im Rettungsboot, wo sie sich stark fühlte und alles unter Kontrolle hatte. Das hier war ihr Metier, und nach all den Jahren der Beharrlichkeit und der harten Arbeit gehörte sie zu den Besten darin.
Der Klient und sein Anwalt hatten die Veränderung im Raum mitbekommen. Sie rückten auf ihren Stühlen nach vorn und machten sich eifrig Notizen.
Als Margaret fertig war, nahm sie ihre Lesebrille ab, klappte sie zusammen und legte sie auf den Tisch. »Gentlemen, noch Fragen?«
Die Männer sahen einander an und forderten sich mit einem Nicken gegenseitig auf, als Erster das Wort zu ergreifen. Es gebe keine Fragen, sagte der Klient, aber einiges zu bedenken.
Zum Beispiel? Sie nannten einige Punkte, die sie notierte. Dann überlegte sie kurz und erläuterte alle Einzelheiten.
Am Ende baten sie darum, ihnen einen Vertragsentwurf nach Chicago zu schicken. Vielleicht wäre eine Telefonkonferenz in ein paar Tagen hilfreich, meinte der Klient.
Es war spät geworden.
Hugh war sichtlich erleichtert und sehr redselig, als er die Männer zum Aufzug begleitete. Sie blieb allein im Besprechungsraum zurück, öffnete wieder die Balkontür und atmete die süße Luft ein. Der Regen hatte aufgehört. Draußen war es Nacht.
Danke, sagte sie.
Viel später, im Cottage, stocherte Margaret in der Küche in einem Fertiggericht herum und sah zum Haus hoch, das ganz im Dunkeln lag. Sie ging vor die Tür, in die kühle Nacht hinaus. Die Büsche und Bäume waren nach dem Regen wie rein gewaschen. Sie atmete ein paar Mal tief ein, sah zum Himmel hinauf und dann wieder zum Haus, bevor sie in die Küche zurückging.
Gegen elf Uhr rief sie Michael an. Sie saß im Morgenmantel auf dem Bett, das Gesicht gereinigt und das Haar gelöst. Sie hatte die Knie angezogen und lehnte beim Telefonieren von Zeit zu Zeit die Stirn dagegen.
In eine ihrer Sprechpausen hinein sagte er: »Margaret? Bist du da heute Nacht wirklich gut aufgehoben? Da unten im Cottage? Warum gehst du nicht wieder hoch ins Haus?«
»Es ist gar nicht so übel hier, Michael. Es ist sogar ganz nett.«
»Wie heißt noch einmal diese Nacht-Apotheke? Die in der Yonge Street, ganz in deiner Nähe? Ich schicke dir ein Rezept dorthin.«
»Nein, ich will nichts nehmen. Die meisten Sachen machen einen Zombie aus mir, aber ich muss funktionieren. Und tagsüber gelingt mir das auch. Die Nächte sind etwas anderes.«
»Es gibt ein neues Antidepressivum, das wir ausprobieren können. Wir könnten mit einer niedrigen Dosierung anfangen.«
»Nein, Michael. Hör mal, ich habe Jack angerufen.«
»Und?«
»Nichts und. Es lief nicht so gut.«
»Was ist passiert?«
»Das Übliche.«
Nach einer weiteren Pause sagte Michael: »Bitte, versuch dich an den Namen der Apotheke zu erinnern. Ich kann die Telefonnummer nachschlagen. Hast du es mal mit Codein probiert?«
»Ein oder zwei Mal. Ich mag die Nebenwirkungen nicht, aber ich habe immer eine Tablette in meiner Tasche parat.« Mit der Stirn auf den Knien fügte sie hinzu: »Ich habe schon wieder geträumt, dass ich zu beschäftigt war. In letzter Zeit denke ich immer wieder, dass ich Andrew im Stich gelassen habe, dass ich ihn vernachlässigt habe, als er ein kleiner Junge war, weil ich die ganze Zeit gearbeitet habe. Oft bis ein oder zwei Uhr morgens. Und Jack war niemals da.«
»Nicht niemals.«
»Er war öfter weg, als er zu Hause war. Ich habe mich nie beklagt, denn wir hatten von Anfang an die Abmachung, dass wir beide Karriere machen können. In den ersten acht Monaten war ich zu Hause bei Andrew, aber dann habe ich Kindermädchen beschäftigt und mir eine Stelle gesucht.«
»Das machen viele Frauen so.«
»Heutzutage vielleicht. Aber damals nicht. Manchmal, wenn es spät wurde und ich nicht aus dem Büro wegkam, habe ich in der Toilette Milch abgepumpt und sie dem Kindermädchen mit dem Taxi bringen lassen. Einmal bekam ein junger Anwalt das mit, und von da an hieß es nur noch: Für mich bitte mit Vollmilch, Mags. Hinter meinem Rücken nannten sie mich das Milchmädchen. Aber ich war entschlossen, durchzuhalten, Michael. Absolut entschlossen. Wenn ich jetzt zurückdenke, frage ich mich, ob ich vielleicht bei all der Konzentration auf die Arbeit meinen Jungen im Stich gelassen habe.«
Es entstand eine Pause. Dafür hatte sie ihn schon immer geschätzt, für den Raum, den er ihr zugestand.
»Ich finde nicht, dass du Andrew im Stich gelassen hast«, sagte er schließlich. »Margaret, hör bitte zu. Andrews Tod ist nicht dein Fehler. Es ist nicht dein Fehler. Was du gerade durchmachst, ist eine ganz übliche Phase der Trauer. Wenn wir sonst niemandem die Schuld geben können, neigen wir dazu, die Gründe bei uns selbst zu suchen. Aber als Andrew das Flugzeug bestieg, war er ein erwachsener junger Mann, und er tat, wozu er sich verpflichtet hatte. Er wollte das machen.«
»Aber vielleicht habe ich ihn nur nicht darauf vorbereitet, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Warum erinnere ich mich eigentlich lieber an den kleinen Jungen als an den erwachsenen Mann? Wie er Fahrrad fahren gelernt hat, unsere Fahrten zum Baseball-Training, seine große Begeisterung, wenn ihm etwas gelungen war. Der Geruch nach frischer Luft, den er an sich hatte, wenn er neben mir im Wagen saß. Er strotzte nur so vor Gesundheit, Michael. Er war so lebendig und freute sich auf so vieles, was er ausprobieren und erforschen wollte. Und dann die Schule und die Uni und die Ausbildung. Mir kam es vor, als wäre kaum Zeit vergangen, bis ihn dieser Bus abholte, und ich begriff nicht, dass er für immer von uns wegging. Aber woher sollte ich das wissen? Woher sollte er das wissen? Es ist alles so unvollendet.«
»Ich weiß, Margaret, wirklich.«
»Und dann ist er nie wieder heimgekehrt.«
»Ich weiß. Ich verstehe.«
Nun weinte sie und konnte nichts dagegen tun. Alles war falsch, alles war schiefgelaufen, und sie wusste nicht, wie sie es wieder richten sollte.
»Margaret? Vergiss die Apotheke. Ich rufe die Auskunft an. Ich glaube, es war irgendeiner von den Guardian Drugstores. Ich komme am Wochenende bei dir vorbei. Sagen wir Sonntagnachmittag. Wäre das in Ordnung?«
»Und Lakewood«, sagte sie zu ihm. »Selbst Lakewood ist mir wieder in den Sinn gekommen. Ich wollte es nicht, aber heute im Büro am Fenster, da war alles wieder da.«
»Margaret, wir haben über Lakewood gesprochen. Und zwar mehr als einmal. Das befindet sich an einem sicheren Ort, also rühr es bitte nicht an.«
Sie sagte »Okay, okay«, daraufhin fragte er noch einmal nach, ob Sonntagnachmittag passen würde, und sie bejahte.
In derselben Nacht, um ein Uhr morgens, und später wieder, um zwei und um drei Uhr, sah Margaret zum Haupthaus und wünschte sich, Licht in den Fenstern zu sehen. Nur nicht diese bedrohliche Dunkelheit. Dann war sie wieder froh, dass dort kein Licht brannte, denn das hätte bedeutet, Jack zu begegnen, und sie hatte fast verlernt, normal mit ihm umzugehen. Das war schon am Telefon schwer genug, aber von Angesicht zu Angesicht wäre es noch schlimmer. Was sollte sie ihm sagen? Wie sollte sie sich ihm gegenüber verhalten? Dem Mann gegenüber, der ihr vor gar nicht allzu langer Zeit alles bedeutet hatte, an den sie sich schmiegen konnte, von dem sie sich geliebt fühlte, bei dem sie ihr wahres Ich zeigen konnte. Diese Quelle ihres Selbstvertrauens hatte sie verloren. Ebenso wie den Humor und das feine Verständnis zwischen ihnen beiden. Und wodurch war das alles ersetzt worden? Durch Schuld und Verwirrung und eine Flut von Erinnerungen an vergangene Ereignisse und an Andrew. Damit musste sie irgendwie klarkommen.
Die Küche im Cottage, das sie selbst hergerichtet hatte, war ihr Rückzugsort. Aus irgendeinem Grund konnte sie hier mit Andrew sprechen, mit dem Jungen von damals, der ihr noch zugehört hatte. Der noch zu ihr aufgeschaut und so ernsthaft versucht hatte, ihren Gesichtsausdruck zu verstehen.
Sie stellte sich vor, dass er sie hören konnte, wenn sie in einem so sanften Flüsterton mit ihm sprach, als würde sie ihre Gedanken vor sich hinmurmeln. Sie erzählte ihm von dem Gift, das sie in den letzten Wochen innerlich auffraß. Von der Vorstellung, die nach dem Krieg und bis in die 1950er- und sogar die 1960er-Jahre hinein so verbreitet gewesen war, dass Frauen, die egoistisch ihre Karriere verfolgten, ihre Kinder vernachlässigten. Sie waren zu beschäftigt und wurden von den Vollzeitmüttern und den hingebungsvollen Hausfrauen verachtet, die alles richtig machten.
Doch als er klein war, hatte sie da je das Gefühl gehabt, ihn zu vernachlässigen? Nicht die richtigen Grundlagen zu legen? Wenn sie ehrlich war, war das kaum vorgekommen. Vielleicht in schwachen Momenten, als Vorwand, ihren eigenen Kampf aufzugeben. Ihren Traum von einer Karriere aufzugeben, von der Person, die sie werden wollte. Nachdem zuerst Lakewood und dann Paris und dann die Juristische Fakultät und schließlich Jack ihr geholfen hatten, das so klar zu sehen.
In Lakewood hatten sie sich tagsüber nicht im Schlafsaal aufhalten dürfen, aber an den Wochenenden, wenn die Oberin und die Hälfte des Personals nicht anwesend gewesen waren, hatte ihnen Schwester Elvira eine Stunde dort genehmigt. Es war ein goldener Herbst gewesen, und die jungen Mädchen, deren Schwangerschaften unterschiedlich weit fortgeschritten waren, drängten sich an den Fenstern und beobachteten die Boote, die auf dem Lake Rosseau unterwegs waren. Auf den edlen Holzbooten saßen weiß gekleidete Frauen unter Sonnenverdecken aus grünem Segeltuch, nippten an Sektgläsern und bedienten sich von einem Tablett mit kleinen Sandwichs, während die ebenfalls weiß gekleideten Männer am Steuer einen Flachmann kreisen ließen und sich die Lippen mit dem Handrücken abwischten. Die Männer sahen stets zu den Mädchen an den Fenstern hoch und steckten dann die Köpfe zusammen, damit ihre Frauen nicht hören konnten, was sie sagten. Doch die Mädchen sahen, wie sich die Lippen der Männer bewegten und ihre Blicke zu ihnen hochwanderten, während das Boot sanft und mühelos weiterglitt und nur eine dünne Rauchwolke über dem Wasser und eine leichte Heckwelle zurückblieben.
Bei ihrem Aufenthalt dort, den sechs Monaten um den Jahreswechsel 1946/1947, war keines der Mädchen älter als siebzehn. Sie selbst war erst sechzehneinhalb Jahre alt.
Eine von ihnen, eine Fünfzehnjährige aus New York, besaß ein Opernglas, und damit suchten sie sich liebevolle Eltern für ihre Kinder aus: reiche, elegante Männer und gütige Frauen in weißen Kleidern. Dieser hier, riefen sie dann. Oder der da, der mit den blonden Locken und den hochgekrempelten Ärmeln. Der sieht süß aus! Aufgeregt hatten die Mädchen das Opernglas untereinander weitergereicht. Einige von ihnen waren bereits im achten oder neunten Monat gewesen, manche erst im vierten.
Margaret erhitzte auf dem Herd etwas Milch, goss sie in eine Tasse, trat dann in die kühle Luft hinaus und trank ein paar Schlucke von der dampfenden Flüssigkeit. Heute Nacht zeigten sich einige Sterne am Himmel, ein paar Wolken wurden vom Mond beschienen. Sie sah zum Haus hinüber, doch die Fenster waren vollkommen dunkel. Er werde am Montag heimkommen, hatte er gesagt. Er wollte mit ihr sprechen, und sie war nicht erpicht darauf.
Schließlich ging sie wieder hinein, spülte die Tasse und den Topf und stellte beides auf den Abtropfständer. Sie ließ das kleine Licht in der Küche brennen und ging zu Bett.
In den Wochen vor Lakewood belauschte Margaret in einer Nacht, wie Vater und Großmutter AJ sich unten im Wohnzimmer in Sweetbarry im Flüsterton unterhielten, während sie oben auf dem Treppenabsatz kauerte.
»Zu ihrem eigenen Wohl, das verstehst du doch, Charles, oder? Sieh mich an. Es geht um das Wohl des Mädchens. Margaret hat einen Fehler begangen, nun denn, aber hier, unter Menschen, passiert so etwas nun mal. Wir begehen Fehler. Vielleicht mag man diesen Fehler ihrer unschuldigen Jugend zuschreiben oder dem Jungen oder der gnadenlosen Natur, der es nur um diese einzige Sache geht. Noch mehr Babys, noch mehr Bäume, noch mehr Kaninchen, einfach noch mehr von allem. Sie sagt, sie fühlte sich unter Druck gesetzt, sie wäre versucht und verwirrt gewesen, und so weiter und so fort. Es ist die immergleiche traurige Geschichte, die sich Millionen Male wiederholt. Aber wir wollen nicht, dass sie für immer und ewig für diesen einen Fehler büßen muss. Oder, Charles? Sag etwas!«
Aber er sagte nichts, oder vielleicht nickte er auch nur, und Großmutter sprach weiter.
»Ich habe mit dem Vater des Jungen geredet. Wie du dir vorstellen kannst, war das kein leichtes Gespräch. Tatsächlich waren es zwei Gespräche, und nun ist alles arrangiert. Niemand hier wird je etwas davon erfahren, und je weniger darüber gesprochen wird, umso besser.«
»Wer ist der Junge?«
»Ein Sommergast. Ein blonder sechzehnjähriger Bursche aus Montreal. Ein netter Kerl, abgesehen von dieser Sache hier. Du hast ihn auch schon gesehen. Sie mieten immer das Haus mit den grünen Fensterläden am anderen Ende der Stadt.«
Nun herrschte eine Weile Schweigen, und Margaret reckte sich, um nichts zu verpassen.
»Eigentlich bin ich stolz auf sie, Charles«, sagte Großmutter AJ. »Es muss sie ganz schön viel Mut gekostet haben, zu mir zu kommen und mich um Hilfe zu bitten. Die meisten Mädchen hätten das nicht getan. Die stehen dann am Bahngleis und starren auf die näher kommenden Lichter.«
»Wie heißt er?«
»Sein Name tut nichts zur Sache. Willst du ihn wirklich wissen und dich einmischen? Stell besser keine Fragen. Lass mich einfach die ganze Sache klären. Ich habe schon eine Menge Arbeit hineingesteckt. Lakewood ist genau das Richtige für sie. Es gibt dort sogar ein Klassenzimmer und Hauslehrer, und natürlich Ärzte. Wahrscheinlich fällt sie mit dem Stoff ein bisschen zurück, aber ich habe auch schon mit Thérèse in Paris gesprochen. Ihre Schule ist für Mädchen in solchen Situationen genau richtig, um versäumten Stoff nachzuholen. Margaret kann dort ihr Abitur machen und dann an die Universität gehen und Jura studieren. Sie kann all das hier hinter sich lassen und einen Beruf ergreifen. Eine solide Karriere verfolgen. Das hätte ich mir selbst gewünscht.«
»Als ob nichts passiert wäre?«, sagte Vater. »Glaubst du wirklich, solche Dinge hinterlassen keine Spuren?«
»Natürlich tun sie das. Eine Zeit lang. Aber wie sehen die Alternativen aus, Charles? Sag es mir.«
Großmutter AJ, stets so unmissverständlich und so stark. Bis zu dem Abend hatte Margaret oft Angst vor ihr gehabt, sie manchmal sogar gehasst. Das da, nicht das, Margaret. Pass auf. Du musst mitdenken, Mädchen, immer.
Wieder herrschte kurz Schweigen im Wohnzimmer. Dann sagte Großmutter: »Genau. Unsere Margaret ist jung, und sie ist klug, und sie hat eine Zukunft. Lass uns dafür sorgen, dass sie diese Chance nicht vergeudet. Ich werde morgen mit ihr sprechen, aber ich wollte, dass du Bescheid weißt. Jetzt zieh nicht so ein Gesicht, Charles. Bist du einverstanden?«
»Habe ich eine andere Wahl?«
»Natürlich hast du das. Nenn mir eine Alternative.«
Währenddessen kauerte Margaret mit umschlungenen Knien auf dem Treppenabsatz und verspürte Dankbarkeit und Respekt gegenüber ihrer Großmutter. Es war spät, schon nach Mitternacht. Eigentlich hatte sie nur ins Badezimmer gehen wollen, doch auf dem Rückweg ins Bett hatte sie ihren Namen gehört.
»Charles?«, fragte die Großmutter noch einmal. »Bist du einverstanden?«
Am nächsten Tag waren sie allein zu Hause. Großmutter bat sie zu sich an den Eichentisch in der Küche und erläuterte ihr die Pläne. Lakewood war gleichermaßen ein Rückzugsort, eine Klinik und eine Adoptionsvermittlung.
»Margaret, was geschehen ist, ist bedauerlich, aber es ist nicht das Ende der Welt. Ich habe mit Xaviers Vater gesprochen, und natürlich war er schockiert und wütend, aber am Ende hat er dem Plan zugestimmt. Alles andere würde er ablehnen, etwa langfristige Verpflichtungen, falls du die aberwitzige Idee haben solltest, das Kind zu behalten und selbst großzuziehen. Er wird für die Hälfte der Kosten von Lakewood aufkommen, und er wird sogar seinen Beitrag für die Privatschule in Paris leisten, damit du den versäumten Stoff nachholen kannst. Ich war ziemlich unnachgiebig.«
»Sie haben schon gepackt und sind nach Montreal zurückgefahren«, sagte Margaret. »Es war sogar ein Laster da, der ein paar Möbel mitgenommen hat. Ich war bei der Post und habe es gesehen.«
»Soso. Jungs haben es ganz schön einfach, oder? Sieh mich an, Margaret. Das geht alles vorüber. Wir werden eine Lösung finden. Das verspreche ich dir.«
Aber Margaret konnte Großmutter nicht ins Gesicht sehen. Sie saß da, knetete ihre Finger und dachte nur, wie verwirrt und wie beschämt sie war. Wie wütend.
»Die Schule in Paris heißt École Olivier«, sagte Großmutter. »Eine entfernte Verwandte von uns ist die Direktorin, Thérèse Lafontaine. Eine Cousine von einer Nichte von mir. Ich habe bereits mit ihr gesprochen. Was passiert ist, macht dich noch lange nicht zu einem schlechten Menschen, Margaret, aber es macht dich angreifbar. Ich schlage vor, dass du mit niemandem darüber sprichst. Vielleicht mit Aileen, wenn es sein muss. Jedes Gerücht darüber wird hier ewig an dir haften, und das wirst du nicht wollen. Glaub mir. Wenn deine Mutter noch unter uns wäre, würde sie dir den gleichen Rat geben. Margaret, bitte, sieh mich an.«
Schließlich sah sie von ihren Händen auf und blickte ihre Großmutter über den Tisch hinweg an.
»Liebes, du musst das alles hinter dir lassen. Du musst noch einmal von vorn anfangen und etwas aus dir machen. Du musst Prioritäten setzen. Wenn du in einer Sache richtig gut bist, solltest du dich darauf konzentrieren. Du brauchst einen Beruf, eine Vision. Eine Grundlage für dich selbst, die dir niemand nehmen kann. Und dann