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Welche psychischen Kräfte sind dafür verantwortlich, dass manche Menschen schreckliche Schicksalsschläge überstehen und nach einiger Zeit wieder ein erfülltes Leben führen, während andere an ähnlichen Herausforderungen nur leiden oder sogar daran zerbrechen? Welche Erkenntnisse können wir hierzu aus der Forschung und aus Einzelschicksalen gewinnen? Die Autoren legen ein berührendes, spannendes Buch vor. Sie haben außergewöhnliche Schicksale prominenter und kaum bekannter Persönlichkeiten untersucht und dabei zwölf Resilienz-Faktoren entdeckt, die dafür verantwortlich sind, dass das Leben auch unter schwierigen Bedingungen "gelingt". Leserinnen und Leser haben die Chance, in sich selbst ungeahnte Fähigkeiten der Resilienz zu entdecken, und bekommen wertvolle Empfehlungen, wie sie diese fördern können. Auch der Autor und die Autorin hatten in ihrem Leben schwere Aufgaben zu bestehen und schildern authentisch, wie sie damit umgegangen sind.
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Seitenzahl: 297
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1. Auflage 2016
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-031687-4
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-031688-1
epub: ISBN 978-3-17-031689-8
mobi: ISBN 978-3-17-031690-4
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Für unsere Familien, die große Quelle unserer Resilienz.Wir wünschen euch allen genug innere Widerstandskraft, um immer wieder glücklich zu sein.
Danksagung
Vorwort
Einführung: Schicksalsschläge als Gefahr und Chance
1 Unsere innere Widerstandkraft: Resilienz
Was ist »Resilienz«?
Wie verbreitet ist Resilienz?
Wie wirkt Resilienz auf den Körper und die Psyche?
2 Wie man Schicksalsschläge und Krisen bewältigen kann
Resilienz-Faktor 1: Sehen der Realität
Noris
Sehen der Realität im Katastrophenfall
Dem Unglück ins Auge schauen
Hilfe von Fachleuten für die Seele
Resümee
Resilienz-Faktor 2: Die optimale Einstellung zum eigenen Schicksal
Trost finden bei Starbucks
Anpassung an Lebenssituationen durch Einstellungsänderung
Warum haben unsere Einstellungen so viel Macht über uns?
Wie können wir unsere Einstellungen ändern?
Akzeptieren von Veränderungen
Herausforderung in jungen Jahren
Natascha Kampusch
Gestalter-Grundhaltung oder Selbstwirksamkeits-Überzeugung
Die Opfer-Grundhaltung und erlernte Hilflosigkeit
Eine Untersuchung zur Gestalter-Grundhaltung
Resümee
Resilienz-Faktor 3: Bewusstseins-Abspaltung als Resilienz-Faktor?
Erfahrungen des Autors Jens-Uwe zur Bewusstseins-Abspaltung
Körperliche Vorgänge bei der Dissoziation
Resümee
Resilienzfaktor 4: Sich selbst erkennen – Selbstbewusstsein und Persönlichkeit entwickeln
Pierre
Ein Erklärungsmodell: Transaktionsanalyse
Was ist Selbstbewusstsein?
Wichtige Regeln zur Selbsterkenntnis
Was passiert, wenn wir keine Selbsterkenntnis suchen?
Resümee
Resilienz-Faktor 5: Für sich selbst sorgen; sich erlauben, glücklich zu sein
Ein fataler Fehler
»Rollenspiel«
Humorvoller Umgang mit dem Schicksalsschlag
Resümee
Resilienz-Faktor 6: Hilfe durch soziale Kontakte
Was kann ein Blinder mit dunkler Hautfarbe vom Leben erwarten?
Schmetterling und Taucherglocke
Unsichtbare Stigmata
Innere Hemmnisse
Resümee
Resilienz-Faktor 7: Verzeihen
Erfahrungen auf Robben Island
»Wild Bill Cody«
Erkenntnisse der Psychologie und Soziologie zum Verzeihen
Sich selbst verzeihen
Resümee
Resilienz-Faktor 8: Trauerarbeit leisten
Boris darf nicht sprechen
Über das traumatische Erlebnis sprechen
Über das traumatische Erlebnis schreiben
Anleitung zum Expressiven Schreiben
Andere Formen der »Trauerarbeit«
Resümee
Resilienz-Faktor 9: Aufgaben- oder zielorientiert sein
Ein Genie wird seiner Kräfte beraubt
Hilfe für Andere
Superman im Rollstuhl
Resümee
Resilienz-Faktor 10: Sich fit halten
Der Selbstausbeuter
Dominik Fels
Resümee
Resilienz-Faktor 11: Sinn erleben
Viktor Frankl
Resümee
Resilienz-Faktor 12: Vertrauen auf ein Höheres Wesen
Krista Bouillé
Der Glaube an ein uns wohlgesonnenes Höheres Wesen hilft uns in Krisenzeiten
Untersuchungen zum Thema Religiosität
Resümee
Die Resilienz-Faktoren im kurzen Überblick
3 Am Schicksal gescheitert?
Können Außenstehende beurteilen, ob jemand an seinem Schicksal gescheitert ist?
Sackgassen auf dem Weg der Bewältigung von Schicksalsschlägen
In die Sucht flüchten
Die Probleme verdrängen
Hassen
Ausgiebiges Selbstmitleid
Ausklammern aller Gefühle
Langzeitige soziale Isolierung
Resümee
4 Angst vor Schicksalsschlägen
Das Wesen der Angst und der Furcht
Umgang mit Angst und Furcht
Die ultimative Angst: die Angst vor dem Sterben
Ungewollte Begegnungen der Autorin Birgit mit dem Tod
Ein Übergang?
Das geht gar nicht …
Tätiges Mitgefühl
Wunder, gibt es sie?
Angst oder Liebe?
Resümee
5 Schlussbetrachtung: Das Paradox schwieriger Zeiten
Anhang A Wie steht es um Ihre Widerstandskraft?
Anhang B Hilfreiche Gedankenmuster und günstige äußere Umstände zum Stärken der Resilienz
Literaturverzeichnis
Stichwortverzeichnis
Personenverzeichnis
Wir danken Krista Bouillé sowie Noris und seinen Eltern für ihre Offenheit in den Interviews und für das Vertrauen, das sie uns geschenkt haben.
Wolfgang Schäuble und David Greuzinger stellten uns ihr Fachwissen bezüglich spezieller Aspekte der Resilienz zur Verfügung. Jördis Schulz und besonders Peter Schmid-Meil gaben uns viele schriftstellerische Anregungen und Hinweise. Margot Vatter, Günter Bernkopf, Heike und Bernd Weidenmann sowie Stefanie Reutter vom Kohlhammer Verlag berieten und unterstützten uns als hilfreiche Lektoren.
Dieses Buch wäre nicht, was es ist, ohne Euch alle. Herzlichen Dank!
»Schlechte Zeiten haben einen wissenschaftlichen Wert. Es handelt sich um Gelegenheiten, die ein guter Lerner nicht missen möchte.«
— Ralph Waldo Emerson1
Jeder Mensch hat seinen ganz eigenen Lebensweg zu gehen. Manchmal werden wir dabei mit Widerständen konfrontiert, die wir als Unglück oder Schicksalsschlag ansehen. In solchen Situationen müssen wir beweisen, was in uns steckt, ob wir die Kraft, Ausdauer und Geschicklichkeit besitzen, mit diesen Aufgaben fertigzuwerden. Wenn jemand besonders schwierige Lebensaufgaben meistert, dann spricht man davon, dass er oder sie außergewöhnliche Widerstandskraft oder Resilienz besitzt.
Die Beschäftigung mit diesem Thema zeigt, welche Kraft in uns Menschen wohnt oder wohnen kann. Immer wieder entdeckt man, mit welchem Mut und mit welchem Selbstvertrauen sich Menschen auch den schlimmsten Schicksalsschlägen und Krisen stellen und sie in ihr Lebenskonzept in einer Weise einbauen, die nur bewundernswürdig genannt werden kann.
Wenn man von solchen Fällen liest oder von ihnen hört, stellt sich unwillkürlich die Frage: Wie würde ich reagieren? Auch wir Autoren haben uns diese Frage gestellt und nicht selten entstand in uns der Eindruck, dass wir das nie geschafft hätten, was andere uns vorgemacht haben. Man kann sich in guten Zeiten nicht vorstellen, welche inneren Kräfte im Notfall freigesetzt werden können, und daher kann man sich auch nicht vorstellen, dass man besonders schwere Schicksalsschläge unbeschadet überstehen kann.
Ich selbst, Jens-Uwe Martens, ein »Familienmensch«, dessen Lebensziel es schon als Kind war, einmal eine große Familie zu besitzen, habe meine erste Familie, meine Frau und meine zwei kleinen Kinder, die ich über alles liebte, bei einem Flugzeugunfall von einem Tag auf den anderen verloren. Heute kann ich sagen, dass ich es geschafft habe, dieses Unglück zu überwinden. Ich habe wieder eine bezaubernde Frau gefunden, die mir vier Kinder geschenkt hat, die sich sehr gut entwickeln – allerdings hat das Verarbeiten meines Traumas lange gedauert.
Wenn Sie mich fragen, ob ich mir vorstellen könnte weiterzuleben, wenn ich heute meine Familie wieder verlieren würde, so antwortete ich Ihnen voller Überzeugung: Nein, auf keinen Fall, das würde ich nicht überstehen! Natürlich gibt es eine Stimme in mir, die sagt: Aber du hast es doch schon einmal überstanden! Mein Verstand stimmt dem zu, aber vorstellen kann ich mir das nicht, obwohl ich das alles schon einmal erlebt und bewusst durchlebt habe, obwohl ich sogar Bücher darüber geschrieben habe, die genau analysieren, wie ich das geschafft habe2. Wir können in guten Zeiten die Stärke unserer inneren Kräfte, die nach einem Unglück oder in einer großen persönlichen Krise freigesetzt werden, nicht ermessen.
Auch ich, Birgit M. Begus, bin, wie so viele Menschen, vom Schicksal herausgefordert worden, nach dem frühen Tod meines Sohnes und einer lebensbedrohlichen Diagnose meine inneren Kräfte zu ergründen. Ich weiß heute, dass man Situationen »überleben« kann, von denen man vorher dachte, man könne es nie und nimmer, und ich habe darüber hinaus erfahren, dass alles Schwierige in meinem Leben etwas Gutes in sich trägt, das mich reicher macht.
Falls es Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, beim Lesen dieses Buches auch so gehen wird, dass Sie sich fragen, ob Sie das eine oder das andere der beschriebenen Schicksale ertragen könnten, ob Sie den Kampf mit den »Dämonen«, die als einschneidende Erlebnisse ungefragt in unser Leben einbrechen, aufgenommen hätten, dann können wir Ihnen nur Mut machen: Vertrauen Sie auf die Kraft, die auch in Ihnen schlummert und die Sie mit vielem, oder vielleicht sogar allem fertig werden lässt.
Kaum ein Leben verläuft »glatt«, ohne Hindernisse, Probleme und Widerstände. In Untersuchungen zum expressiven Schreiben, die man mit verschiedenen Gruppen durchführte, hat man entdeckt, dass durchschnittlich jeder zweite Teilnehmer über Erfahrungen berichtete, die man als traumatisch bezeichnen kann. Das gilt sogar für Studentinnen und Studenten, die noch keine lange Lebenserfahrung haben. Besonders häufig wurde berichtet von
• Vergewaltigungen,
• körperlichem und emotionalem Missbrauch,
• Selbstmordversuchen,
• Drogenproblemen,
• tragischen Unfällen,
• Todesfällen,
• gescheiterten Liebesbeziehungen und
• Scheidungsdramen3.
Es ist deshalb nicht nur klug, selbst vorbereitet zu sein, irgendwann im Leben Schicksalsschlägen und Krisen zu begegnen, sondern auch wichtig zu wissen, wie wir die Resilienz anderer Menschen stärken.
Wir werden im Laufe des Buches immer wieder erkennen, wie sehr wir Menschen uns gegenseitig brauchen, wenn sich Schlimmes ereignet.
Welche einschneidenden Erlebnisse sind Ihnen schon begegnet? Wie sind Sie damit fertig geworden? Wem wollen Sie beistehen in seiner oder ihrer Not? Dieses Buch kann Ihnen oder vielleicht durch Sie jemand anderem helfen, ein erfülltes, friedvolles und vielleicht sogar letztlich glückliches Leben zu führen – auch dann, wenn Probleme, Krisen oder Leid Sie heimgesucht haben oder noch auf Sie warten.
Lassen Sie sich inspirieren von den vielen Beispielen in diesem Buch, die Ihnen zeigen, was Menschen bewältigen können, wie sie es gemacht haben und wie Sie Ihre Resilienz und die der anderen stärken können.
Sie werden sicher die für Sie passenden Vorbilder finden.
Wir werden die wichtigsten Elemente von Resilienz mit Hilfe von zitierten Schicksalen verdeutlichen sowie Möglichkeiten aufzeigen, diese Fähigkeit bei sich selbst zu fördern. Im Anhang finden Sie eine Checkliste, mit der Sie feststellen können, wie es um Ihre eigene Widerstandskraft oder Resilienz bestellt ist. Sie können dann entscheiden, welche Seite Sie in sich fördern wollen.
München, Sommer 2016
Jens-Uwe Martens
Birgit M. Begus
1 Ralph Waldo Emerson (1803–1882), Essayist und Dichter, USA
2 Martens, Jens-Uwe (1998 und 2012b)
3 Horn u. a., 2011, S. 210
»Bewahre mich vor dem naiven Glauben, es müsse im Leben alles gelingen. Schenke mir die nüchterne Erkenntnis, dass Schwierigkeiten, Niederlagen, Misserfolge und Rückschläge eine selbstverständliche Zugabe zum Leben sind, durch die wir wachsen und reifen.«
— Antoine de Saint-Exupéry
Schicksalsschläge können wir überwinden und daran wachsen oder wir lassen unser ganzes Leben dadurch zerstören, gehen vielleicht sogar daran zugrunde. Ich, Jens-Uwe, habe persönlich beides erlebt: Resilienz und Scheitern. In einem Buch nur für meine Familie und meine engsten Freunde habe ich diese Erfahrungen beschrieben4. Die Mitautorin Birgit hat die Erlebnisse zusammengefasst:
»Die Zeit heilt alle Wunden«, hatte Jens-Uwe auf meinen fragenden Blick geantwortet, als ich vor Jahren ein Bild seiner ersten Frau und seiner ersten beiden Kinder, die bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen waren, betrachtete. Heilt die Zeit wirklich alle Wunden?
Aber das allein kann es nicht gewesen sein. Ich fragte mich oft, welch starke seelische Kraft in diesem Mann stecken muss, dass er so erfolgreich, kraft- und humorvoll, mit beeindruckender Ehrlichkeit über sich selbst mitten im Leben steht. Was hat er gemacht, außer die Zeit wirken zu lassen? Welchen Weg ist er gegangen durch mehrere Schicksalsschläge hindurch, wie sie keiner von uns erleben will, in sein erfülltes, glückliches Leben, in dem es eines seiner Hobbys ist, Glücksmomentezu sammeln?
Sein Buch »Gespräche mit Ute« gibt manche Antwort auf meine Fragen. Es ist ein berührendes Buch über die Beziehung des zunächst jungen Jens-Uwe, viertes von fünf Kindern, mit seiner sechs Jahre älteren Schwester Ute. Da ist der kleine Jens-Uwe noch schüchtern, geht manchmal im Trubel der großen Familie unter und muss mit sieben Jahren – mitten in der schwersten Nachkriegszeit – mit Unterbrechungen ein ganzes Jahr im Krankenhaus liegen, die meiste Zeit mit einem Streckverband ans Bett gefesselt. 50 Kilometer entfernt vom Zuhause liegt die Klinik, eine Weltreise in damaliger Zeit, ohne Auto, ohne verlässlich fahrende Züge. 50 Kilometer bedeuten in dieser Zeit, lange vor der Erfindung von SMS, E-Mails, Skype, CD oder gar Fernsehenmit seinen Kindersendungen, tiefe Einsamkeit und lange Tage. Ich erinnere mich, wie Jens-Uwe mir einmal erzählte, dass er an manchen Wochenenden sehnsüchtig auf einen Besuch der Mutter gewartet hatte, um schließlich von der Krankenschwester gesagt zu bekommen, dass seine Mutter nicht kommen konnte, weil sie nicht mehr in den überfüllten Zug hineingekommen war.
Es ist Ute, die spröde, verlässliche, die einfühlsame ältere Schwester, die den besten Zugang zu Jens-Uwe gewinnt, ihn mit längeren Gesprächen, Verständnis und Zuwendung durch die anschließende Zeit des Ausgeschlossenseins in der Schule und auch durch die Pubertät begleitet. Sie ist es, die ihm erklärt: »Man kann das Leben als eine Abenteuerreise sehen, bei der man nie weiß, auf welche Hindernisse man stößt, mit welchen Dämonen und Untieren man kämpfen muss. Du bist stark genug und«, fügt sie hinzu, »du hast natürlich für diese Reise Weggefährten, die dir helfen werden.«
Ute ist die wichtigste Weggefährtin für Jens-Uwe, die Vertraute und Seelentrösterin, die ihm auch den nächsten Schritt im Umgang mit den Herausforderungen des Lateinlernens vermittelt: »Wenn du den Dämon nicht besiegen kannst, musst du dich eben mit ihm arrangieren.« Durchhaltevermögenund Disziplin entwickelt zu haben sind der Lohn für diesen Kampf und auch die Beschäftigung mit Saint-Exupéryund den Philosophen Epiktet und Marc Aurel.
»Man weiß nie im Voraus, wozu etwas gut sein wird. Das kann man immer erst viel später, wenn alles schon vorbei ist, beurteilen«, sagt Ute dem kleinen Jens-Uwe und ahnt sicher nicht, dass all die schwierigen Herausforderungen ihrer jungen Leben und auch die folgenden Jahre des Glücks nur eine Vorbereitung für die ganz großen Schicksalsschläge sind.
Zunächst lacht ihnen das Glück. Sowohl Ute als auch Jens-Uwe finden ihre große Liebe. Ute heiratet zuerst, bekommt drei Kinder, dann Jens-Uwe und Mike, eine Jugendliebe, die zwei Kinder bekommen, einen Jungen und zwei Jahre später ein Mädchen. Durch den beruflichen Erfolg des Vaters ist auch finanzieller Wohlstand garantiert. Die Familien wohnen nahe beieinander und verbringen eine glückliche Zeit zusammen. Jens-Uwe schließt sein Psychologiestudium ab und gründet eine kleine Firma, die er mit viel Freude erfolgreich leitet. Das Glück scheint perfekt, selbst mit einer Fehlbildung des kleinen Sohnes von Mike und Jens-Uwe, die aber einem glücklichen Leben seinerseits nicht im Wege stehen muss. Nach dem anfänglichen Hadern mit dem Schicksalwar die innere Einstellung gefunden: Das Schicksal hatte ihnen eine Aufgabe gestellt, die es galt anzunehmen und nach besten Möglichkeiten zu lösen.
Kurze Zeit später aber schlägt das Schicksalerbarmungslos zu. Jens-Uwe und Mike sind gerade einmal 29 Jahre alt, Jan-Peter und Beatrix nur fünf und fast drei Jahre: Mike und die Kinder stürzen mit einem Flugzeug ab, die kleine Familie ist bis auf den Vater ausgelöscht.
Jens-Uwe fühlt sich in den folgenden Monaten rückblickend als willenloser und vor allem gefühlloser Roboter, der irgendwie von seinem Verstand ferngesteuert wird. Und wieder ist es Ute, die ihn auffängt.
Er zieht bei ihr und ihrer Familie ein, sie bieten ihm ein liebevolles Heim. Ute gibt ihm auch praktische Hilfe, indem sie seinen Haushalt auflöst und vor allem dadurch, dass sie viele lange Gespräche mit ihm führt. Sie und die innere Kontrollinstanz Jens-Uwes schützen ihn davor, in Selbstmitleidzu versinken oder in unrealistische Gedankengebäude abzudriften, wie: Das Schreckliche sei nicht geschehen. Jens-Uwe gelingt es erneut, eine hilfreiche Einstellung zu finden: »Ich stellte mir vor, dass mir dieser zweite, viel schimmere Schicksalsschlag auferlegt war, damit ich mich daran bewähren könnte. Ich habe die Aufgabe bekommen, meinem Schicksaloder einer höheren Macht zu beweisen, dass ich auch damit fertigwerde.«
Nach einigen Monaten bei Ute und ihrer Familie wagt Jens-Uwe einen Schritt in ein neues Leben, eine neue Wohnung, einen neuen Einrichtungsstil, sogar eine neue Art, sich zu kleiden. Es ist Teil einer selbst verordneten Therapieauf dem Weg, das Geschehene zu verarbeiten und eine »neue« Persönlichkeit zu finden.
Ein zweiter Teil der selbst verordneten Therapieist die wieder wichtig werdende Arbeit im Institut und nach einiger Zeit ein dritter, die Suche nach wenigstens körperlicher Liebe– auch wenn Seele und Gefühle noch taub sind. »Ich muss die Prägungauf meine Frau Mike auflösen, ich darf nicht nach einer zweiten Mike suchen«, ist seine Begründung für diesen Schritt. In schonungsloser Offenheit beschreibt Jens-Uwe Martens seine Versuche, dadurch seelisch zu gesunden, dass er seiner Vernunft folgt. »Gestalter«seines Lebens will er sein, nicht »Opfer der Umstände.«
Während Jens-Uwe Schritte in ein neues Leben zu gehen versucht, wendet sich das Schicksal Utes Familie zu. Ihr zehnjähriger Sohn verliert alle Haare, auch Wimpern und Augenbrauen, aufgrund einer seltenen Stoffwechselkrankheit und alles Suchen nach einer wirksamen Behandlungsmethode bleibt erfolglos. Nun ist es Jens-Uwe, der zu helfen versucht, der bei langen Spaziergängen und Gesprächen die verzweifelte Ute tröstet und seinen Neffen darin unterstützt, eine gute Einstellung zu dieser Herausforderung zu finden.
Es ist beeindruckend, wie viel stärker als die Mutter Ute ihr Sohn ist. Er erkennt, dass es ihm nicht hilft, Perücken zu tragen, sondern dass er lernen muss, mit seinem Aussehen, mit dem Unverständnis mancher Menschen,den Nachteilen und den gelegentlichen Vorteilen zu leben, zu sich zu stehen, so, wie er ist. Darüber hinaus wird ihm klar, dass er immer auffallen wird: »Mit diesem Kopf bin ich etwas Besonderes, ob ich will oder nicht. Ich falle immer auf.« Rückblickend meint er: »Ich musste ein besonderes Selbstbewusstsein entwickeln, das meiner Sonderrolle gerecht wird und durch das ich mit diesem besonderen Aussehen leben kann (Anm.: bis heute), ohne mich zu verstecken.«
»Durch Akzeptanz entsteht Raum«, drückt er es treffend aus, entsteht der Raum, der notwendig ist, um die Bedeutung der Eindrücke zu erkennen und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen.
Wie tragisch: Ute kann die guten Interpretationen, mit denen sie Jens-Uwe in seiner Not geholfen hatte, für sich nicht annehmen, als Jens-Uwe nun ihre Stütze ist. Ute bleibt in einer »Erdulderhaltung«gefangen. Sie kann ihren Sohn nicht unterstützen, eine positive Haltung zu seinem besonderen Aussehen zu gewinnen, empfiehlt ihm lieber, weiter Perücken zu tragen, obwohl er schon deshalb gehänselt worden war. Sie bleibt verzweifelt und untröstlich.
Währenddessen macht Jens-Uwes seelische Gesundung einen großen Schritt nach vorne: Seine Empfindungen erwachen aus der Taubheit, als er sich verliebt – in eine verheiratete Frau. In der Sicherheit des Unerfüllbaren – die Geliebte lässt keinen Zweifel daran, dass sie ihren Mann und ihre Kinder nie verlassen würde – wagt Jens-Uwes wunde Seele wieder zu lieben. Es entwickelt sich eine viele Jahre dauernde heimliche Beziehung, in deren Verlauf Jens-Uwe mit Zustimmung der Geliebten gleichzeitig weiter nach einer Frau sucht, mit der er eine neue Familie gründen kann. »Unzurechnungsfähig« nennt Jens-Uwe sich selbst rückblickend, als er in dieser Konstellation sogar in Offenheit gegenüber allen Betroffenen eine neue Ehe eingeht, die nur von kurzer Dauer ist.
Auch in dieser Phase beweist Ute ihrem Bruder gegenüber grenzenlose Geduld und Verständnis ohne jede Verurteilung.
Es ist der Rat eines Kollegen, der sich auf Eheberatung spezialisiert hat, der Jens-Uwe aufrüttelt: Er solle sich mit der Dreieckssituation in Bezug auf die Geliebte und ihren Mann abfinden und sich freuen, eine solch bezaubernde Frau gefunden zu haben.
Das würde bedeuten, auf die Erfüllung des sehnsüchtigen Wunsches, des großen Lebenszieles, wieder eine Familie zu haben, zu verzichten. Jens-Uwe ist inzwischen vierzig Jahre alt. Schon am Ende des Gesprächs mit dem Kollegen gewinnt in Jens-Uwe »der Gestalter«wieder die Oberhand, er ist kein »Opfer«. Er beschließt, so schwer es auch für beide sein mag, sich endgültig von der Geliebten zu trennen, sich nicht mehr die schönenErlebnisse und Möglichkeiten mit ihr ständig vor Augen zu führen, sondern all die negativen Seiten, die diese Beziehungfür ihn mit sich bringt, und den inneren Preis, den er bezahlen muss.
Dass die Dämonen unseres Lebens nicht nur Unglück, sondern auch Heilung und Schutzbringen können, erweist sich in Form von Elke, die nicht nur durch ihr Erscheinen in Jens-Uwes Leben mithilft, die Beziehungmit der verheirateten Geliebten wirklich endgültig sein zu lassen, sondern die auch bis heute Jens-Uwes »Fenster zum Leben« ist. Elke ist so anders, hat im Vergleich zu ihm so unterschiedliche Interessen und Vorlieben, dass Jens-Uwe in der Überzeugung, dass sie nicht zusammenpassen, nur sehr langsam sein Herz für sie öffnen kann. Während er noch versucht, ihr aus dem Weg zu gehen, zieht sie in seine Nähe, um »zufällig« gleichzeitig zu joggen, auch mal bei ihm zu duschen und nach einiger Zeit bei ihm einzuziehen. Aus der Überzeugung von Jens-Uwe, dass sie nicht zusammenpassen, weil sie so verschieden sind, wird die neue Erkenntnis, dass sie besonders gut zusammenpassen, gerade weil sie so verschieden sind und sich dadurch ergänzen. Der spontanen Verlobung folgen die Hochzeit und die glückliche Ankunft vier gesunder Kinder.
Doch während mit Elke und den Kindern das Glück in Jens-Uwes Leben zurückkehrt, stellt das SchicksalUte vor eine weitere Prüfung. Nina, Utes sechzehnjährige Tochter, verhält sich auffällig und was zunächst alle für eine pubertäre Reaktion gehalten hatten, entpuppt sich als Schizophrenie. Leidvolle Jahre beginnen für Nina und ihre ganze Familie.
Krankenhausaufenthalte, Entlassungen, Hoffnung auf Besserung und Rückfälle wechseln sich ab. Es ist heute kaum mehr vorstellbar, dass noch vor vier Jahrzehnten diese Krankheit fast ausschließlich medikamentös behandelt wurde, ohne intensive psychotherapeutische Betreuung der Patientin in den Phasen der Besserung oder psychologische Beratung der Familie. Nina hat außer der eher ratlos wirkenden Liebe ihrer Eltern nur die Hilfe ihres Patenonkels Jens-Uwe in psychologischer Hinsicht und muss selbst damit fertig werden, sich fremdbestimmt, gleichsam entmündigt und voll Scham über das in den akuten Phasen der Krankheit Getane zu fühlen.
So sehr Ute Rettungsanker, liebevolle Freundin, fast Therapeutin für Jens-Uwe gewesen war, so wenig kann sie nun aus seiner Erfahrung mit schweren Schicksalsschlägen und seinem psychologischen Wissen, das er ihr nur zu gerne zur Verfügung stellt, schöpfen. Sie schwankt zwischen unrealistischer Hoffnungauf beständige Heilung der Tochter und bitterer Enttäuschung bei einem Rückfall oder »Schub«. Sie verzweifelt in solchen Momenten und sucht ähnlich ihrem Mann Erleichterung im abendlichen Konsum von Alkohol.
Es schmerzt Jens-Uwe unsagbar, dass es ihm nicht gelingt, Ute zu vermitteln, welche Kraft darin liegt, von höheren Mächten auferlegte Aufgaben als Herausforderung zu akzeptieren, an denen man sich bewähren kann, statt sich gegen das Schicksalaufzulehnen, es eigentlich nicht wahrhaben zu wollen. »Akzeptanzschafft Raum«, hatte Ninas Bruder das genannt. Raum zur Gestaltung, Raum, eine zweite ärztliche Meinung einzuholen, Raum, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, Raum, dem Leben mit der Krankheit einen neuen Sinnzu geben. Aber Ute gelingt die Akzeptanznicht und Jens-Uwe gelingt es nicht, sie ihr zu vermitteln.
Nach zehn Jahren des Kampfes zerbricht Nina an ihrem Schicksal, sie wirft sich vor die U-Bahn und ist tot. Zurück bleiben eine Familie und Verwandte, die sich, wie alle Menschen in dieser Lage, erschüttert fragen: Hätte ich es verhindern können?
Jens-Uwe kennt nur zu gut aus eigener Erfahrung die Einsamkeit, das Unerreichbar-Sein nach dem Verlust eines geliebten Menschen, selbst in Gesellschaft. Mitfühlend und verständnisvoll ist er für seine Schwester da, ohne ihr billigen Trost anzubieten. Nach einem ihrer gemeinsamen Spaziergänge zu Hause angekommen, fühlt Ute sich nicht wohl, setzt sich auf das Sofa im Wohnzimmer, während Jens-Uwe ihr einen Tee macht. Als er nach wenigen Minuten zurück in das Zimmer kommt, liegt Ute wie schlafend auf dem Sofa. Sie ist tot, nach nur sechs Monaten ihrer Tochter gefolgt.
»Man kann das Leben als eine Abenteuerreise sehen, bei der man nie weiß, auf welche Hindernisseman stößt, mit welchen Dämonen und Untieren man kämpfen muss«, erklärte Ute einst dem kleinen Jens-Uwe.
Nach diesen vielen bestandenen Kämpfen und auch Niederlagen endet Jens-Uwe mit der Frage: »Ob wohl irgendwo, irgendwann ein neuer Dämon auf mich wartet?«
»Und«, hatte Ute hinzugefügt, »du hast natürlich für diese Reise Weggefährten, die dir helfen werden – wenn du diese Hilfe annimmst.«
Warum konnte der eine Teil der Familie, Jens-Uwe, seine Schicksalsschläge überwinden, während seine Schwester Ute daran zugrunde gegangen ist? Was waren die entscheidenden Faktoren, die Jens-Uwe die Kraft gaben, mit den Widrigkeiten fertigzuwerden, während es Ute nicht glückte? Warum gelingt es manchen Menschen, nach schmerzhaften Geschehnissen und tiefen Krisen ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen? Warum können sie ihre neuen Ziele erreichen, obwohl sich ihnen immer wieder Hindernisse in den Weg stellen und man es ihnen unter den gegebenen Umständen nie zugetraut hätte, während andere trotz Unterstützung von verschiedener Seite zu scheitern scheinen?
Einige Punkte sind in der obigen Schilderung schon deutlich geworden. Um diese Frage aber umfassend und nachvollziehbar zu beantworten und um die Kräfte, die die Resilienz fördern, vielleicht selbst zu unterstützen, werden wir weitere Fallbeispiele, wissenschaftliche Untersuchungen und einige psychologische Modelle heranziehen. Wir werden im Folgenden aus diesen Elementen die wichtigsten Kräfte des Widerstandes gegen die Unbilden des Schicksals extrahieren und einzeln darstellen.
4 Martens, Jens-Uwe (2014b)
»Wenn Sie glücklich sein wollen, dürfen Sie nicht um jeden Preis dem Unglück ausweichen. Eher sollte man danach suchen, wie man es meistern kann«.
— Boris Cyrulnik
In der Psychologie wurde in letzter Zeit besonders häufig untersucht, welche Eigenschaften einen Menschen dazu befähigen, Schicksalsschläge und Krisen zu überwinden, ohne Schaden zu nehmen, ja sogar durch Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen daran zu wachsen. Um diese Fähigkeiten zu beschreiben, benutzen die Psychologen den Begriff »Resilienz«, der am besten mit psychischer Widerstandskraft übersetzt werden kann.
Der Begriff »Resilienz« leitet sich aus dem lateinischen Verb »resilire« ab, das »zurückspringen, abprallen« bedeutet. Er wird in der Technik und Materialwirtschaft verwendet, um die Fähigkeit eines Systems zu beschreiben, nach einem Teilausfall nicht vollständig zu versagen, oder um die Eigenschaft eines Materials zu beschreiben, nach einer Verformung wieder in den Ausgangszustand zurückzukehren.
In der Psychologie setzte man zunächst den Begriff Resilienz dafür ein, die Widerstandsfähigkeit von Kindern zu bezeichnen, sich trotz schwieriger und belastender Umstände normal zu entwickeln. Ganz allgemein versteht man heute in der Psychologie unter Resilienz die innere, psychische Widerstandskraft oder Stärke einer Person (oder einer Familie), auf belastende Lebenssituationen, wie Unglücke, Notsituationen, traumatische Erfahrungen, existentielle Bedrohungen oder Ähnliches, angemessen zu reagieren und sie ohne psychische Folgeschäden zu bewältigen.
Wir schließen uns dieser Definition an und gehen in diesem Buch auf die innere Widerstandkraft ein, die manche Menschen entwickeln, wenn sie schwere, ihr Leben stark verändernde Schicksalsschläge erleben oder massiven Bedrohungen ausgesetzt sind. Das betrifft sowohl objektiv feststellbare Ereignisse als auch subjektiv erfahrene Erlebnisse.
Der Begriff der Resilienz wird manchmal auch verwendet, um zu beschreiben, wie man mit täglichen Belastungen der Arbeitswelt umgehen und dabei die eigene Gesundheit erhalten kann. Wir beziehen uns in diesem Buch jedoch auf die innere Widerstandskraft, die betroffene Menschen bei Ereignissen zeigen, die plötzlich einschneidende Veränderungen in ihrem Leben bewirkt haben. An ihrem Umgang mit sich und den Veränderungen können wir wie mit Hilfe eines Vergrößerungsglases sehen, was uns auch im täglichen Leben helfen kann, in Balance zu bleiben und Krisen zu bewältigen.
Während man zu Beginn der Resilienz-Forschung davon ausging, dass Resilienz eine angeborene Fähigkeit sei, weiß man heute, dass sich Resilienz zusätzlich in einem Interaktionsprozess zwischen dem Individuum und der Umwelt entwickelt und weitgehend erlernbar ist. Resilienz ist ein dynamischer Anpassungs- und Entwicklungsprozess und verändert sich im Laufe des Lebens je nach Erfahrungen sowie aktueller körperlicher, geistiger und psychischer Konstitution.
Resilienz wird durch eine Reihe von Strategien gestärkt, mit Schicksalsschlägen umzugehen (»Resilienz-Faktoren«), die wir in diesem Buch an Hand von konkreten Fallbeispielen analysieren und darstellen werden.
»Unverwundbar oder immun gegenüber dem Schicksal ist kein Mensch«, betont Rosemarie Welter-Enderlin5. Auch Menschen mit großer Widerstandskraft, also starker Resilienz, werden von Schwierigkeiten gebeutelt, erleiden Schmerzen und Trauer, aber sie erholen sich wieder davon.
Manche Menschen scheinen an einem Schicksalsschlag zu scheitern. Depressionen und exzessiver Drogenkonsum sind die häufigsten Folgen nicht oder ungenügend verarbeiteter Schicksalsschläge. Verständlicherweise hört man von solchen Fällen seltener, die Betroffenen versuchen sie zu verbergen, sprechen wenig darüber und schreiben keine Bücher, weil sie keine Kraft dazu haben und nicht stolz darauf sind. Es ist daher schwer zu bestimmen, wie groß der Anteil der Menschen ist, die auf Schicksalsschläge oder extreme Lebensbedingungen mit Widerstandskraft reagieren.
Um trotzdem eine Aussage zu versuchen, zitieren wir hier zwei einschlägige Untersuchungen, von denen sich eine auf Kinder bezieht, die unter sehr schwierigen Bedingungen aufgewachsen sind. Die Resilienz von Kindern – ein wichtiges Thema – steht in diesem Buch jedoch nicht im Mittelpunkt6:
In einer der ersten Langzeitstudien zum Thema Resilienz begleitete Emmy Werner auf der Hawaii-Insel Kauai 698 Kinder, die alle 1955 geboren wurden, 40 Jahre lang7. Knapp 210 dieser Kinder hatten sehr schlechte Startbedingungen: Sie waren in Armut geboren und wuchsen in Armut auf; bei einigen von ihnen waren vor oder während der Geburt Komplikationen aufgetreten; etliche lebten in Familien, in denen chronisch Unfrieden, Scheidung oder elterliche Psychopathologie ihre Entwicklung belasteten oder sie wurden von Müttern großgezogen, die weniger als acht Jahre zur Schule gegangen waren. Zur Überraschung von Emmy Werner entwickelten nur zwei Drittel der Kinder, die bis zum Alter von zwei Jahren vier oder mehr Risikofaktoren ausgesetzt waren, bis zum Alter von zehn Jahren Lern- oder Verhaltensprobleme. Auch wurden bis zum Alter von 18 Jahren lediglich zwei Drittel dieser 210 Kinder straffällig und/oder psychisch krank8. 72 Kindern, mehr als einem Drittel, gelang es jedoch, ihre schwierige Situation zu meistern: Sie zeigten keine Verhaltensauffälligkeiten, waren gut in der Schule, waren in das soziale Leben ihrer Insel eingebunden und setzten sich realistische Ziele. Im Alter von 40 Jahren war keine dieser 72 Personen arbeitslos, straffällig oder auf staatliche Unterstützung angewiesen. Sie waren zu leistungsfähigen, zuversichtlichen und fürsorglichen Erwachsenen geworden. Auch wenn die Startbedingungen noch so schlecht sind, gelingt es gemäß dieser Studie einem Drittel der betroffenen Menschen, ihr Leben zu meistern.
Aaron Antonovsky wertete 1970 eine Erhebung über die Anpassungsfähigkeit von Frauen verschiedener ethnischer Gruppen aus. Eine Gruppe der Frauen hatte sich in jungen Jahren in einem nationalsozialistischen Konzentrationslager befunden. Trotz der unvorstellbaren Qualen eines Lagerlebens mit anschließendem Flüchtlingsdasein waren 29 % dieser Frauen fünfundzwanzig Jahre später körperlich und psychisch gesund9.
Ob jemand genügend Widerstandskraft besaß, um ein schlimmes Erlebnis ohne Schaden zu nehmen zu überstehen, kann man nur beurteilen, wenn man die Person, wie es in den beiden oben zitierten Untersuchungen geschehen ist, über längere Zeit beobachtet. Deutlich wird das vor allem bei Schicksalen von Menschen in Kriegsländern, wo Erwachsene und auch Kinder zunächst oft stark erscheinen, während sie einige Zeit später in Friedenszeiten zusammenbrechen.
Boris Cyrulnik, bekannt für seine Arbeiten über Resilienz10, berichtet von dem vierjährigen Libanesen Ali, der sich während eines israelischen Bombenangriffes in Cana befindet:
Das Gebäude, in das Ali sich mit seinen Eltern und seiner Schwester Zeinab geflüchtet hat, wird von einer Rakete getroffen und stürzt ein. Die Mutter Roula kann sich aus den Trümmern befreien, aber seine Schwester ist tot und Ali liegt mit einer Kopfverletzung im Koma. Ein Nachbar hält ihn für tot und trägt ihn in ein Haus, in dem man die Leichen gelagert hat. Als das Kindwieder zu Bewusstsein kommt, findet es sich allein unter den zerrissenen Leibern. Sein Weinen ruft Hilfe herbei.
Vierzehn Tage später ist der Kleine fröhlich und lebhaft, man merkt ihm die schrecklichen Erlebnisse, die er durchmachen musste, nicht an. Er sagt, seine Schwester sei glücklich im Paradies. Er schläft gut, spricht freundlich und zeichnet israelische Panzer, die von libanesischen Soldaten angegriffen und zerstört werden. In der Schule zeigt er gute Leistungen und ist stolz, Märtyrer in der Familie zu haben. Wenn er groß ist, wolle er Soldat werden, sagt er. Seine bewundernde Umgebung spricht von Resilienz.
Zwei Jahre später herrscht Friede, die Libanesen sind schon wieder mit dem Aufbau beschäftigt. Doch Ali geht es sehr schlecht. Seine Mutter bringt ihn in das medizinisch-psychologische Zentrum in Tyros. Das Kindbleibt keine paar Sekunden an seinem Platz, läuft hin und her, zerreißt alle Zeichnungen – seine und die seiner leidenden Kameraden –, es zerbricht Gegenstände und reagiert ausgesprochen aggressiv. Es hat Angst, dass seine Mutter getötet wird.
Dieses Beispiel zeigt, dass man eine kurzzeitige Bewältigungsstrategie, auch Coping genannt, nicht mit Resilienz verwechseln darf. Kurzfristige Bewältigungsstrategien, wie die Verdrängung des Geschehenen, das Nicht-dran-Denken, können die Persönlichkeit kurzzeitig schützen, aber das Trauma bleibt wirksam und kommt nach einiger Zeit in Form von Verhaltensauffälligkeiten wieder zum Vorschein – bei Kindern ebenso wie bei Erwachsenen.
Resilienz ist also ein längerfristiger Prozess, in dem schwerwiegende Erlebnisse, die einem Menschen widerfahren sind, verarbeitet werden. Untersuchungen legen nahe, dass etwa ein Drittel der betroffenen Menschen starke Resilienz aufweist. Gleichzeitig weiß man heute, dass Resilienz förder- und erlernbar ist.
Das gängige medizinische Modell des Westens geht davon aus, dass der Körper, die Psyche und die soziale Realität des Menschen überwiegend unabhängig voneinander zu sehen sind. Oft sind es gar nicht die Ärzte, die diesem Konzept anhängen, sondern die Patienten, die ein schnell wirkendes Mittel bei Kopf- oder Magenschmerzen, Herzrasen oder sonstigen Beschwerden fordern.
Dem gegenüber steht die systemische, ganzheitliche medizinische Sichtweise, die Körper und Seele nicht als getrennt voneinander betrachtet. Sie geht davon aus, dass Körper, Geist und Psyche sich gegenseitig beeinflussen, dass die Natur ein hierarchisch angeordnetes Kontinuum von miteinander in Wechselwirkung stehenden, immer komplexer werdenden und auseinander hervorgehenden Systemen ist. Lebende Systeme reagieren nicht einfach passiv auf Umgebungsreize, sondern sie interpretieren diese und weisen ihnen (je nach eigener Funktion) aktiv Bedeutung zu, sie werten sie.11
Welchen großen Einfluss bewusste oder unbewusste Bewertung haben kann, sieht man daran, dass häufig die Vorstellung von etwas ausreicht, um eine körperliche Reaktion auszulösen. Das Einsetzen von Placebos beruht auf diesen Erkenntnissen und jeder, dem das Herz schneller schlägt, wenn er an eine Prüfungssituation oder den ersten Kuss denkt, erfährt diesen Zusammenhang zwischen Vorstellung und Körperreaktion. Ein sehr dramatisches Beispiel für die Wirkung einer Vorstellung auf den Körper ereignete sich in Indien:
In Indien wurde einem zum Tode Verurteilten mitgeteilt, dass man bei ihm eine neue Hinrichtungsart ausprobieren werde. Man verband ihm die Augen und legte ihn auf eine Liege. Dann ritzte man ihn nur leicht, aber so, dass er es registrierte, in den Arm und ließ anschließend Wasser in eine Schale tröpfeln, so dass es der Delinquent hören konnte. Er starb, obwohl er kein Blut verloren hatte.12
Das Bedeutende an diesem menschenverachtenden Geschehen ist, dass es uns überdeutlich aufzeigt, wie sehr uns unsere Vorstellungen beeinflussen. Tragisch für den Mann war, dass ihm wahrscheinlich nicht klar war, dass wir Menschen weitgehend selbst bestimmen können, welche Vorstellungen in uns wirksam werden. Wir können die Verantwortung für diese Vorstellungen übernehmen, die unsere körperlichen Vorgänge beeinflussen.
In der Psychoneuroimmunologie, einem Forschungszweig der Medizin, der sich mit der Wechselwirkung von Psyche, Nervensystem und Immunsystem beschäftigt, erforscht man, wie der Zusammenhang zwischen bewertender Vorstellung und körperlichen Vorgängen zu erklären ist. Wie der Begriff sagt, ist das Bindeglied zwischen beiden das Immunsystem. Christian Schubert13 nennt das Immunsystem den »sechsten Sinn«, mit dem wir unter Zuhilfenahme der Psyche sowohl mit der Umwelt als auch mit unserem Körper verbunden sind.
Die Forschungsergebnisse der Psychoneuroimmunologie sind für das Thema Resilienz deshalb so wichtig, weil sie wissenschaftlich nachweisen, dass das bewusste Verarbeiten von Krisen und Schicksalsschlägen positiven Einfluss auf das Immunsystem und somit die Vermeidung oder Linderung von Folgekrankheiten hat sowie auf die psychische Situation der Betroffenen. Depression, Angst, Sorge, Ärger und Schuldgefühle werden gelindert, positive Affekte wie Dankbarkeit, Fröhlichkeit, Aktivsein, Autonomie, Selbstakzeptanz und positive Beziehungen zu anderen werden gestärkt.
5 Welter-Enderlin, Rosemarie, 2010, S. 22
6 Einen Überblick über die Forschung in diesem Bereich gibt u. a. das Buch von Opp, Fingerle und Freytag (Hrsg.), 2007
7 Werner & Smith, 1992, s. a. Berndt, 2014, S. 65
8 Werner, Emmy, 2012, S. 30
9 Antonovsky, Aaron, 1997
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