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Ein schwedischer Sommer voller Geheimnisse ...
Meg und Frank verbringen den Sommer bei ihrem Onkel in Hester Hill – einem alten, geheimnisvollen Herrenhaus. Kaum dass sie angekommen sind, passieren die seltsamsten Dinge: Wen hört Meg nachts in den verschlossenen Zimmern weinen? Wohin ist das Mädchen so spurlos verschwunden, das sie im verlassenen Bahnhof gesehen hat? Und was hat es mit dem großen Unglück auf sich, das vor langer Zeit das ganze Dorf bedroht hat?
Schon bald sind Meg und Frank einem dunklen Geheimnis auf der Spur, das sie nicht nur in die verborgensten Räume und Geheimtunnel des alten Hauses führt, sondern bis in die Vergangenheit …
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Seitenzahl: 222
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© 2015 Kristina Ohlsson
Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Mysteriet på Hester Hill« bei Lilla Piratförlaget AB, Stockholm
Published by agreement with Salomonsson Agency
© 2019 für die deutschsprachige Ausgabe by cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann
Umschlaggestaltung: Carolin Liepins, München unter Verwendung von Shutterstock (Sharon Freeman, helgafo, camilkuo, NextMars, Barbara Diniz, pashabo, Lana2016, Ziamary)
ml • Herstellung: AJ
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-19396-6V003
www.cbj-verlag.de
Warum war niemand da, um sie abzuholen? Es war spät am Abend und der Regen pladderte nur so. Meg und Frank hatten unter dem Dach des alten Bahnhofs Schutz gesucht. Es ragte ein Stück über das Haus hinaus und darunter standen sie nun und warteten. Nass und durchgefroren. Der Bahnhof selbst war geschlossen, man kam nicht hinein.
»Warum kommt Onkel Eliot denn nicht?«, fragte Frank. »Er sollte schon längst hier sein.«
»Schon«, erwiderte Meg. »Aber der Zug war schließlich verspätet. Vielleicht war er hier und ist dann wieder weggefahren, als wir nicht gekommen sind.«
Über eine Stunde war es her, dass sie in Svarthed aus dem Zug gestiegen waren. Und buchstäblich die ganze Zeit hatte es geregnet. Und windig war es auch. Eigentlich hätten sie kurz nach sieben Uhr am Abend ankommen sollen. Jetzt war es schon fast zehn und die beiden wurden langsam müde.
»Wir hätten uns nie darauf einlassen sollen, hierher zu fahren«, sagte Frank wütend.
»Als ob wir irgendeine Wahl gehabt hätten«, gab Meg zurück und schob die Hände in die Jackentaschen.
Wann hatte sich eigentlich alles verändert? Meg meinte, es wäre irgendwann im Herbst gewesen. Da hatten Mama und Papa angefangen zu streiten. Über alles. Die ganze Zeit. Als die Weihnachtsferien kamen, wurde es still. So schrecklich still. Damals wünschte Meg sich, dass sie wieder anfangen würden zu streiten, doch das taten sie nicht. Stattdessen schwiegen sie weiter. Bis Ostern. Dann hatten sie erzählt, dass sie sich trennen würden. Dass sie nicht mehr zusammenwohnen würden.
»Wir können gerade nicht so gut miteinander«, sagte Papa. »Das passiert manchmal einfach.«
Das passiert manchmal einfach. Meg konnte überhaupt nicht begreifen, wie er so etwas Dummes sagen konnte. Als ob sie nichts dagegen unternehmen könnten. Als ob es nichts ausmachen würde, dass sie nicht mehr zusammenwohnten. Wenn sie sich nur nicht scheiden ließen. Das würde Meg so traurig machen, dass sie wahrscheinlich sterben müsste.
Der Sommer kam. Meg hoffte, dass alles wieder gut werden würde. Aber das wurde es nicht. Mama und Papa hatten keine Ahnung, was sie in den Sommerferien unternehmen wollten.
»Wir haben diesen Sommer nichts geplant. Es gab so viel anderes zu bedenken.«
Meg wurde wütend und traurig, wenn sie daran dachte. Sie hatte gebettelt und gebeten, in ein Schreib-Ferienlager fahren zu dürfen, aber das hatten Mama und Papa einfach vergessen. Obwohl sie doch wussten, dass Meg Schriftstellerin werden wollte.
»Vielleicht sollten wir zu Fuß losgehen«, schlug Meg vor.
»Wohin denn?«, fragte Frank. »Wir wissen ja nicht mal, wo sie wohnen.«
»Nein, das stimmt natürlich«, gab Meg zu.
Dann standen sie eine Weile schweigend im Regen.
Frank und Meg hatten schon versucht, Onkel Eliot anzurufen, aber ihre Handys funktionierten nicht. Meg meinte, das würde an all dem Wald liegen. Es war einfach überall Wald. Auf der anderen Seite der Gleise erhob er sich hoch und mächtig.
Nur Meg und Frank waren an diesem Bahnhof ausgestiegen. Alle anderen waren weitergefahren. Die beiden hatten mehrere Runden um das Bahnhofsgebäude gedreht, um zu sehen, ob sie Onkel Eliot vielleicht verpasst hatten. Auf der anderen Seite der Straße waren eine Kirche und ein Friedhof. Große schwarze Laternen beleuchteten die Reihen von Grabsteinen. Meg schauderte es. Als ob es nicht genug wäre, dass sie allein gelassen waren. Jetzt war auch noch ihre einzige Gesellschaft eine Menge toter Menschen.
Das mit Svarthed war Papas Idee gewesen.
»Ihr findet doch, dass es immer so lustig ist, wenn Onkel Eliot und Carl uns besuchen«, sagte Papa. »Da wäre es doch perfekt, wenn ihr im Sommer ein paar Wochen bei ihnen wohnen könntet.«
Erst waren Meg und Frank erschrocken gewesen. Klar war Onkel Eliot immer nett. Aber wie oft sahen sie ihn und Carl denn? Das war selten mehr als zweimal im Jahr. Und niemals bei denen, sondern immer nur bei Meg und Frank. Außerdem waren die beiden total alt, mindestens siebzig.
Aber am Ende gab den Ausschlag, dass sie keine anderen Alternativen hatten. Den ganzen Sommer zu Hause bleiben wollten sie nicht. Außerdem hatten Mama und Papa wieder angefangen zu streiten. Darüber, wer denn nun aus dem Haus ausziehen sollte und wer sich um Meg und Frank kümmern sollte.
»Das wird schön für euch«, sagte Mama, als sie die beiden zum Bahnhof brachte.
Aber Meg konnte sehen, dass sie weinte, als der Zug losfuhr.
»Das hier war ja wohl die mieseste Idee seit Menschengedenken«, sagte Frank. »Ich glaube, ich werde Mama und Papa nicht ein einziges Mal anrufen, solange wir hier sind.«
Meg erschrak.
»Aber das müssen wir«, sagte sie. »Sonst werden sie sich wundern.«
»Wundern? Worüber?«
Meg zuckte nur mit den Schultern. Sie mochte nicht mehr mit Frank streiten. Stattdessen drückte sie das Gesicht gegen eines der dunklen Fenster des Bahnhofgebäudes. Es war schwer zu erkennen, aber es sah aus, als würden auf den Bänken eine Menge weiße Laken liegen. Wie seltsam. Wie sollten sich denn Leute auf die Bänke setzen, wenn sie mit Stoff zugehängt waren.
Sie lief um das Gebäude herum und spähte durch ein anderes Fenster. Doch auch dort konnte sie nur diese weißen Laken ausmachen, die sie schon von der anderen Seite gesehen hatte.
Das Fensterglas beschlug, wenn sie darauf atmete. Typisch. Wenn sie wenigstens ein Weilchen da hätten reingehen und sich hinsetzen können. Dann hätte sie an der Geschichte weiterschreiben können, die ihr eingefallen war, als sie im Zug saßen.
Sie wollte gerade weggehen, als sie plötzlich etwas zu sehen meinte. Einen Schatten, der sich zwischen den Bänken bewegte. Schnell trat sie wieder an das Fenster. Das Glas war kalt und feucht, als sie die Stirn daran lehnte. Sie blinzelte mehrmals. Hatte sie sich möglicherweise getäuscht?
»Was machst du?«
Franks Stimme ließ sie zusammenfahren.
»Da ist jemand drin«, flüsterte sie.
»Glaube ich nicht«, meinte Frank. »Probier mal die Tür. Die …«
»Warte«, sagte Meg.
Denn da sah sie es ganz deutlich. Drinnen saß ein junges Mädchen mit dem Rücken zu Meg auf einer der mit Laken belegten Bänke.
Megs Herz schlug schneller.
»Hallo!«, sagte sie und klopfte ans Fenster.
Das Mädchen rührte sich nicht.
Seine Haare waren zu einem dicken Zopf geflochten, der schnurgerade über ihren Rücken fiel. Ganz unten hatte es eine rote Rosette hineingebunden.
»Hallo!«, rief Meg wieder und bollerte noch fester an die Fensterscheibe.
»Komm, hör auf«, sagte Frank. »Versuch’s mal hier …«
»Psst!«, mahnte Meg.
Denn jetzt stand das Mädchen auf. Aber nicht, wie Meg gemeint hatte, um hinzugehen und die Tür aufzumachen. Nein, stattdessen entfernte es sich in die andere Richtung. Weg von Meg und hinein in die Schatten auf der anderen Seite des Bahnhofsgebäudes. In einen Teil des Hauses, in dem es keine Fenster gab.
»Aber«, sagte Meg.
Sie hörte Frank seufzen. Er stand an seine geliebte Tuba gelehnt, die er von zu Hause mitgeschleppt hatte. Die Tuba lag in einem Kasten und war sehr groß. Die anderen Koffer standen noch auf der Vorderseite des Gebäudes, aber die Tuba hatte er nicht aus den Augen lassen wollen.
»Wie komisch«, sagte Meg.
»Überhaupt nicht«, meinte Frank.
Dann zeigte er auf die Tür des Bahnhofs. Dort hatte jemand ein dickes Holzbrett befestigt. Dass sie das aber auch nicht früher gesehen hatte.
»Kapierst du jetzt?«, fragte Frank. »Du musst dich getäuscht haben. Dieser Bahnhof ist komplett geschlossen. Bestimmt ist er seit mehreren Jahren nicht mehr geöffnet gewesen.«
»Aber ich habe doch ein Mädchen da drinnen gesehen«, sagte Meg.
Sie ging zum Fenster zurück und spähte hinein. Dort war niemand.
In dem Moment schlug die Kirchenuhr. Frank und Meg fuhren herum. Ganz in der Nähe grummelte ein Gewitter, fast übertönte es die Kirchenglocke.
»Wenn er in einer Viertelstunde nicht da ist, werde ich ein Hotel suchen«, sagte Frank.
Und wo?, dachte Meg.
Sie spürte, wie die Furcht angekrochen kam. Ein stillgelegter Bahnhof und eine menschenleere Kirche. Es musste doch noch mehr geben in Svarthed.
Im selben Moment zerteilte ein großer Blitz den rabenschwarzen Himmel. Noch nie hatte Meg einen so heftigen Blitz gesehen. Er erleuchtete die Kirche und den Friedhof.
Wo waren sie hier eigentlich gelandet? Wo wohnten die Leute? Und warum war außer ihnen niemand in Svarthed ausgestiegen?
»Jetzt kann uns das mal alles egal sein«, sagte Meg mit zitternder Stimme. »Jetzt suchen wir uns ein Hotel.«
Frank konnte nicht antworten, denn im selben Augenblick war eine laute Autohupe zu hören. Ein schwarzes Auto hielt an.
Es war Onkel Eliot. Er lehnte sich im Regen aus der heruntergekurbelten Fensterscheibe.
»Tut mir leid!«, rief er. »Entschuldigt!«
Onkel Eliot konnte gar nicht aufhören, um Verzeihung zu bitten. Frank fand, er klang wie eine Platte mit Sprung.
»Entschuldigt!«, rief Onkel Eliot wieder und wieder. »Ich dachte, ihr würdet erst morgen kommen. Aber dann hat Carl gesagt: ›Bist du dir da ganz sicher?‹, und da habe ich gesagt: ›Aber ja!‹. Obwohl ich nicht ganz und gar sicher war, sondern hingehen und noch mal im Kalender nachsehen musste. Und da habe ich gesehen – GESEHEN – dass ihr ja HEUTE kommt. Ist euch kalt? Habt ihr Hunger? Seid ihr müde? Ist auch niemand reisekrank?«
Das waren zu viele Fragen. Frank und Meg saßen schweigend auf dem Rücksitz, der so weich war, dass man ganz darin verschwand. Frank war erleichtert, als sie an ein paar erleuchteten Häusern vorbeifuhren. Einige davon sahen aus, als wären sie Läden. Es wohnten also noch mehr Leute als Eliot und Carl in Svarthed. Sehr gut.
»Seid ihr das?«, fragte Onkel Eliot wieder.
»Was denn?«, erwiderte Frank.
Es klang, als würde er jeden Moment einschlafen.
»Hungrig oder reisekrank?«, fragte Onkel Eliot.
»Nein«, versicherte Meg.
Dann schwiegen alle für den Rest der Autofahrt. Frank schielte zu Meg. Warum sie sich wohl ausgedacht hatte, sie hätte jemanden im Bahnhofsgebäude gesehen? Sie hatte so eine lebhafte Fantasie. Ihr größter Wunsch war, Schriftstellerin zu werden. Am Tag vor ihrer Abreise hatten sie mit ihren Freunden eine Party gefeiert. Frank und Meg hatten kurz zuvor Geburtstag gehabt und Meg wollte sich gern verkleiden. Frank fand die Idee nicht gut.
»Es ist so praktisch, dass ihr Zwillinge seid«, sagte ihre Mutter. »Da kann man immer zusammen feiern.«
Aber Frank dachte nur, dass es das letzte Mal war. Jetzt waren sie zwölf geworden, nächstes Mal würden sie dreizehn werden. Da wollte Frank ein eigenes Fest haben. Dann könnte Meg gerne ihr Faschingsfest haben, wenn sie wollte.
»Da wären wir!«, rief Onkel Eliot, als sie durch ein großes Eisentor fuhren.
Frank konnte nichts von einem Haus erkennen. Aber er sah so etwas Ähnliches wie einen Park. Onkel Eliot hielt den Wagen an und stieg kurz aus, um das Eisentor hinter ihnen zu schließen.
Der Park war von einer hohen Mauer umgeben. Sie war so hoch, dass klar war, ohne Leiter würde man niemals drüberklettern können.
Onkel Eliot ging zum Auto zurück und fuhr einen schmalen, steilen Weg hinauf.
»Hast du nicht gesagt, wir wären da?«, fragte Frank.
»Das sind wir auch«, antwortete Onkel Eliot.
Im selben Moment sahen sie das Haus. Frank holte Luft. Es sah aus wie ein altes Spukschloss aus einem Märchen. Onkel Eliot hielt vor einer großen Treppe. Ganz oben auf der Treppe stand jemand mit einem schwarzen Regenschirm.
»Willkommen auf Hester Hill«, sagte Onkel Eliot und stieg aus dem Auto.
Die Person von der Treppe kam herangeeilt. Es war Carl, der sie auch willkommen heißen wollte.
»Meine lieben Kinder, was müsst ihr auf dem öden Bahnhof einsam gewesen sein«, sagte er bekümmert.
Frank und Meg drängten sich unter Carls Regenschirm. Carl versuchte, sie gleichzeitig zu umarmen, und verlor dabei den Schirm. Onkel Eliot nahm ihr Gepäck.
»Die Tuba kann ich selbst tragen«, sagte Frank eilig.
Wenn Onkel Eliot die fallen lassen würde, wäre der ganze Sommer ruiniert.
»Jetzt gehen wir rein«, sagte Onkel Eliot entschieden. »Sonst holen wir uns noch eine Erkältung.«
Dann ging er vor den anderen durch die Tür.
Frank war noch nie zuvor in einem solchen Haus gewesen. So hohe Decken, so große Fenster, so riesige Räume. Und so viele Zimmer.
»Wohnt ihr ganz alleine hier?«, fragte er verblüfft.
»Ja«, sagte Carl.
»Nur ihr beiden?«, fragte Meg.
Carl lachte.
»Ja«, sagte er und zeigte auf Onkel Eliot. »Glaubt ihr, ich hätte es mit diesem Verrückten in einem kleineren Haus ausgehalten? Dann wären wir bestimmt nicht mehr zusammen.«
Er zwinkerte mit einem Auge. Onkel Eliot grinste.
Frank dachte an seine Eltern. Er fragte sich, ob sie in einem größeren Haus wohl glücklicher gewesen wären. Er glaubte es nicht. Sie hätten bestimmt trotzdem alles kaputt gemacht. Meg schien zu glauben, dass ihre Eltern sich wieder vertragen könnten. Frank glaubte das nicht. Sie würden sich scheiden lassen. Das hatten sie ihnen bloß noch nicht gesagt.
»Sie haben keinen Hunger«, sagte Onkel Eliot zu Carl. »Und sie sind auch nicht reisekrank geworden.«
»Aber vielleicht wollt ihr ja etwas heiße Schokolade?«, fragte Carl. »Ich meine, ehe ihr ins Bett geht? Die ist schon fertig.«
Meg und Frank nickten. Carl ging mit ihnen in die Küche.
Frank gähnte.
»Nehmt einfach eure Tassen mit«, sagte Onkel Eliot. »Die Hausbesichtigung verschieben wir auf morgen. Jetzt zeigen wir euch mal eure Zimmer.«
Sie hatten ein Zimmer für Meg und eines für Frank vorbereitet. Beide lagen im ersten Stock, aber nicht nebeneinander.
»Wir haben uns gedacht, dass es dich vielleicht stört, wenn Frank Tuba spielt«, sagte Carl zu Meg. »Ich meine, wenn er zu dicht dran wohnt.«
Das war eine gute Überlegung. Franks Tuba war in der halben Stadt zu hören, wenn er sie blies, und manchmal beklagte sich Meg darüber. Frank seufzte leise. Manchmal beklagte sich Meg einfach über alles. Genau wie Mama und Papa. Aber ansonsten war sie in Ordnung.
Wir müssen zusammenhalten, dachte Frank. Sonst sind wir am Ende ganz alleine.
Frank bekam sein Zimmer zuerst zu sehen.
»Wie schön!«, sagte er.
Hauptsächlich, weil ihm die Worte fehlten. Das Zimmer war um mehr als die Hälfte größer als ihr ganzes Haus daheim. In der einen Ecke stand ein grüner Kachelofen. Jemand hatte ein Feuer darin gemacht.
»Das wird im Laufe der Nacht ausgehen«, erklärte Onkel Eliot.
An der Wand hing eine goldfarbene Uhr, die tickte genauso, wie richtig alte Uhren es tun.
»Dein Zimmer liegt am anderen Ende des Flurs, Meg«, sagte Carl.
Sie zogen los. Frank sorgte dafür, dass die Tuba richtig stand. Zum Glück gab es Carl, denn Onkel Eliot war immer so gestresst und wuselig. Vielleicht weil er Professor war und einer der klügsten Menschen der Welt. Zumindest behauptete das Papa.
Einmal hatte er eine Maschine erfunden, die er an jemanden in den USA verkauft hatte. Frank wusste nicht, was für eine Maschine das gewesen war, und auch nicht, wer sie gekauft hatte. Aber die Erfindung hatte Onkel Eliot unheimlich reich gemacht. So reich, dass er aufhörte zu arbeiten. Stattdessen saß er jetzt zu Hause und erfand Sachen.
»Anscheinend hat er eine Garage, in der er experimentiert«, hatte ihr Vater erklärt.
Eine Garage. Wenn Papa das Haus von Onkel Eliot sehen würde, dann wäre ihm schon klar, dass hier nicht von irgendeiner Garage die Rede sein konnte. Wie hatte Onkel Eliot das Haus noch genannt?
Hester Hill.
Danach musste Frank sich noch mal genauer erkundigen.
Der Flur vor Franks Zimmer war ewig lang. Auf dem Fußboden lag ein blauer Teppich und an den Wänden hingen große Gemälde. Er wanderte an einer geschlossenen Tür nach der anderen vorbei, alle gleichermaßen hoch und dunkel. Alle außer einer, das war eine zweiflügelige Tür, und über der hing ein Schild, auf dem stand:
Treppe.
Da kam man also ins Stockwerk darüber. Frank drückte die Klinke herunter. Die Tür war abgeschlossen.
»Frank?«
Onkel Eliot war in den Flur getreten.
»Wollte nur mal probieren«, meinte Frank.
»Schon klar«, erwiderte Onkel Eliot. »Wir versuchen, so wenig wie möglich in den oberen Stockwerken zu sein. Das Haus ist voller leerer Zimmer, und da muss sich ja niemand aufhalten.«
Ne, dachte Frank, der gern mehr von dem Haus gesehen hätte.
»Jetzt gehen wir mal und sehen uns Megs Zimmer an«, meinte Onkel Eliot.
Und damit war das Thema beendet. Fürs Erste.
Meg hatte genau wie Frank ein Eckzimmer mit Kachelofen und Fenstern in zwei Richtungen bekommen.
»Wer ist das?«, fragte sie und baute sich vor einem großen Gemälde auf, das an der Wand hing.
»Das da, Margareta, ist die Familie, die hier wohnte, bevor Carl und ich hergezogen sind«, verkündete Onkel Eliot feierlich.
Meg runzelte die Stirn.
»Ich heiße Meg.«
»Ganz und gar nicht«, erwiderte Onkel Eliot. »Aber wenn du lieber so genannt werden möchtest, dann tun wir das natürlich.«
Meg nickte entschieden. Frank musste gegen ein Lachen ankämpfen. Meg hasste es, Margareta genannt zu werden.
Er sah das Gemälde an, nach dem Meg gefragt hatte. Das musste alt sein, das konnte man schon an den Kleidern der Leute erkennen. In der vordersten Reihe saßen drei kleine Kinder, die alle sehr ernst blickten. Ganz außen in der Reihe stand ein leerer Stuhl.
»Wem gehört der?«, fragte Meg und zeigte darauf.
»Ah, wie interessant, dass du danach fragst«, sagte Onkel Eliot. »Also, es ist so, angeblich …«
»Jetzt red keinen Blödsinn, wenn das Mädchen schlafen soll«, unterbrach Carl ihn grob.
Er war damit beschäftigt gewesen, im Kachelofen Holz nachzulegen, aber jetzt stand er auf und sah wütend aus.
»Mein Gott«, erwiderte Onkel Eliot. »Margareta, ich meine, Meg, ist doch kein kleines Baby mehr, oder? Die kann doch wohl eine alte Schauergeschichte anhören.«
»Die nehmen wir uns an einem anderen Tag vor«, entschied Carl.
Meg konnte den Blick nicht von dem leeren Stuhl wenden.
»Da fehlt ein Kind«, sagte sie. »Das ist es doch, oder? Dass da ein Kind fehlt?«
Carl schüttelte nur den Kopf.
»Da siehst du, was du angerichtet hast«, schimpfte er mit Onkel Eliot.
»Wir machen es so, wie Carl sagt«, meinte Onkel Eliot. »Wir nehmen uns das an einem anderen Tag vor.«
Aber jetzt konnte sich Frank nicht länger beherrschen.
»Meg hat ja heute angeblich schon ein Gespenst gesehen«, sagte er. »Drinnen im abgesperrten Bahnhof.«
»Das habe ich gar nicht!«, rief Meg.
Onkel Eliot sah Meg erstaunt an.
»Aber was hast du dann gesehen?«, fragte er.
Frank traute seinen Ohren nicht. Die gingen doch wohl nicht Megs Geschichten auf den Leim?
»Ich habe ein Mädchen gesehen«, sagte Meg. »Das saß drinnen auf einer der Bänke. Es hat mich nicht gehört, als ich ans Fenster geklopft habe. Und dann … ist es einfach aufgestanden und weggegangen.«
Onkel Eliot nickte gedankenverloren.
»Es muss ziemlich dunkel gewesen sein«, meinte er.
»Nicht leicht, da richtig was zu sehen«, ergänzte Carl.
Meg sah zum Gemälde auf der Wand. Dann legte sie den Finger auf eine der Frauen in der hinteren Reihe.
»Das Mädchen sah aus wie die«, sagte sie leise. »Es hatte genauso einen langen Zopf. Und dieselbe Rosette.«
Meg erwachte von einem Geräusch. Es hatte aufgehört zu regnen. Sonnenstrahlen drangen durch das Fenster und erleuchteten das ganze Zimmer. Meg kniff die Augen zusammen. Sie war müde. Es war noch früh am Morgen.
Was hatte sie wohl gehört? Sie wusste es nicht genau. Vielleicht ein Geräusch von der bemalten Standuhr im Mora-Stil?
Da war es wieder. Schritte. Jemand war eilig im Zimmer über dem von Meg unterwegs. Sie setzte sich kerzengerade im Bett auf. Wenn nur Onkel Eliot oder Carl nichts passiert war! Oder Frank. Sie wollte gerade die Bettdecke abschütteln, als die Schritte nicht mehr zu hören waren. Meg wartete, aber nichts rührte sich.
Ich sollte ein bisschen lesen, dachte sie. Danach kann ich vielleicht noch mal einschlafen.
Das funktionierte allerdings nicht so gut. Sie musste an ihre Eltern denken und fragte sich, ob sie jetzt wohl gerade stritten. Und dann dachte sie an Frank. Er hatte sich auch verändert. Er wurde oft zornig. Und dann schloss er sich in seinem Zimmer ein und spielte so lange Tuba, bis Meg meinte, ihr müssten die Ohren abfallen.
Im oberen Stockwerk wurde eine Tür geöffnet und wieder geschlossen. Meg konnte nicht umhin, neugierig zu werden. Und vielleicht auch ein klein wenig ängstlich. Schließlich hatte Onkel Eliot gesagt, dass da oben niemand wohnte.
Im Nu war sie aus dem Bett, ging auf Zehenspitzen zur Tür und öffnete sie. Sie knarrte. Vorsichtig beugte sich Meg in den Flur hinaus. Jetzt war nichts zu hören.
»Seltsam«, flüsterte sie vor sich hin.
Sie schlich zu Franks Tür und legte das Ohr daran. Der schnarchte laut auf der anderen Seite der Tür. Natürlich. War ja auch klar, dass er so früh noch nicht wach war.
Meg kehrte in ihr Zimmer zurück. Sie kroch ins Bett und zog sich die Decke bis zum Kinn hinauf. Die Sommerferien hatten gerade erst begonnen und sie fühlte sich schon einsam. So einsam, dass sie nicht wieder einschlafen konnte. Und Hunger hatte sie auch. Konnten die anderen nicht allmählich mal aufwachen?
Das taten sie natürlich, jedoch nicht vor neun Uhr. Dann frühstückten alle gemeinsam auf der verglasten Veranda.
»Ich habe im Zimmer über mir jemanden gehört«, berichtete Meg.
Onkel Eliot sah gestresst aus. Er schien am liebsten schnell zu seinen Erfindungen verschwinden zu wollen.
»Unmöglich«, gab er zurück. »Das muss irgendein anderes Geräusch gewesen sein. Ich kann dir versichern, dass niemand dort war. Die Tür zur Treppe ist immer abgeschlossen.«
Carl lächelte.
»Die Fenster da oben sind nicht besonders dicht«, erklärte er. »Vielleicht ist eines aufgegangen und dann sind Vögel oder so hereingekommen.«
Onkel Eliot nickte.
»Wenn Helga kommt, müssen wir sie bitten, nachzusehen«, sagte er.
»Helga?«, fragte Meg.
»Helga ist ein wichtiger Teil von Hester Hill«, sagte Carl. »Ohne sie wären wir verloren. Früher hat sie das Hotel unten im Ort geleitet. Jetzt ist sie hier die Chefin. Zum Beispiel über unsere Apfelplantagen.«
Meg hatte schon viel von ihren Äpfeln gehört. Ihr Vater behauptete, die beiden würden die meisten Äpfel in ganz Schweden anbauen.
»Warum nennt ihr das Haus eigentlich Hester Hill?«, fragte Frank.
»Weil es so heißt«, erwiderte Onkel Eliot.
»Na ja«, wandte Carl ein.
»Okay, weil es fast so heißt«, gab Onkel Eliot zu. »Ursprünglich hieß es Hestershus. Aber ich habe sehr lange in England gelebt und dort gibt man Häusern oft einen Namen mit Hill. Hill bedeutet Hügel, und schließlich steht dieses Haus auf einem Hügel. Deshalb fand ich, Hester Hill wäre ein besserer Name.«
»Was habt ihr heute vor?«, fragte Carl, der nicht sonderlich an Onkel Eliots Geschichte interessiert zu sein schien.
»Wir haben für jeden von euch ein Fahrrad rausgesucht«, fuhr er fort. »Hester Hill ist eigentlich immer zu sehen, wo auch immer in Svarthed man sich befindet. Nur wenn man zum Teich im Wald, dem Nattdammen, rausfährt, sieht man das Haus nicht. Aber dorthin führt nur ein einziger Weg.«
»Ich würde gern Fahrrad fahren, aber ich muss arbeiten«, erklärte Onkel Eliot.
Carl zog eine Augenbraue hoch.
»Das ist nun wirklich der erste Tag der Kinder hier«, gab er zu bedenken. »Da könntest du doch wohl mal …«
»Nein«, entgegnete Onkel Eliot, »das kann ich nicht. Und das habe ich von Anfang an gesagt. Ich werde diesen Sommer nicht den Spielonkel geben können. Die Kinder müssen sich allein beschäftigen.«
Er stand auf. Meg wurde sauer. Warum sollten Frank und sie einen Spielonkel brauchen? Und warum hatte Onkel Eliot sie überhaupt eingeladen, wenn er doch genauso wie Mama und Papa nur fand, dass sie im Weg waren?
»Schon okay«, sagte sie. »Wir kommen allein zurecht. Das sind wir gewohnt.«
Carl sah wütend zu Onkel Eliot. Keiner von beiden sagte etwas und die Stimmung war angespannt.
»Dieser Teich«, fragte Meg, »kann man in dem baden?«
Onkel Eliot wischte ein paar Brotkrümel vom Tisch.
»Doch, das kann man«, sagte er.
»Ist vielleicht heute ein bisschen kalt«, warf Carl ein.
Meg seufzte ungeduldig.
»Aber man kann in dem Teich baden? Oder nicht?«, fragte sie.
Carl sah sie streng an.
»Natürlich kann man das. Er ist nur ein wenig tief, unser Nattdammen, deshalb darfst du nicht allein darin baden. Das Wasser sieht auch sehr dunkel aus. Deshalb heißt er ja so – der Nachtteich.«
Meg, die Wasser eigentlich liebte, schauderte es doch ein wenig. Das klang alles irgendwie unheimlich.
Da ertönte hinter ihr eine Stimme.
»Baden kann man immer dort, wenn man es nur mit Verstand tut. Sag nur Bescheid, wenn Carl und Eliot zu faul sind, mit zum Teich zu gehen, dann begleite ich dich.«
Meg drehte sich erstaunt um. In der Tür stand eine Frau, die jünger als Onkel Eliot und Carl war, aber älter als Mama und Papa. Und sie hatte das strahlendste Lächeln, das Meg je gesehen hatte.
»Ich bin Helga«, sagte sie.
»Oh, die Chefin«, meinte Meg und gab ihr schnell ordentlich die Hand.
Frank tat es ihr nach.
»Haha, haben Carl und Eliot das gesagt? Dass ich die Chefin sei?«, fragte Helga. »Na, vielleicht haben sie gar nicht so unrecht. Wenn ich nicht wäre, würde hier nichts fertig.«
Carl lachte, aber Onkel Eliot sah verärgert aus.
»Meg hat heute Morgen seltsame Geräusche aus dem oberen Stockwerk gehört«, sagte er. »Könnten Sie wohl mal raufsteigen und nachsehen, ob da nicht irgendein Fenster offen steht?«
Helga versprach, das zu tun.
»Dann nehmen Sie doch Meg und Frank mit«, sagte Carl. »Dann lernen die beiden gleich den Rest des Hauses kennen.«
Und so machten sie es. Helga hob eines der Bilder in dem langen Flur an, hinter dem offenbar der Schlüssel zur Tür nach oben hing. Meg verstand nicht, warum die Tür abgeschlossen war.
»Aus diesem Raum hier musst du die Geräusche gehört haben«, sagte Helga. »Das liegt nämlich genau über deinem Zimmer, Meg.«
Sie ging zu einer der Türen, öffnete sie und betrat das Zimmer.
»Ach du meine Güte«, hörten die Kinder sie sagen.
Frank und Meg blieben auf der Schwelle stehen. Es war wirklich eines der Fenster aufgegangen und auf dem Fußboden hockte ein großer schwarzer Vogel. Meg traute ihren Augen nicht.