Die Tote im Sturm - August Strindberg ermittelt - Kristina Ohlsson - E-Book + Hörbuch
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Die Tote im Sturm - August Strindberg ermittelt E-Book

Kristina Ohlsson

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Beschreibung

Hoch aufragende Klippen, knarrende Docks, malerisch rote Bootshäuser – und ein Mord: Der Auftakt der beliebten Bestsellerserie!

Ein Sturm nähert sich dem verschlafenen Ort Hovenäset. In der Nacht, als das Unwetter über der idyllischen schwedischen Westküste niedergeht, passieren zwei Dinge: Die Lehrerin Agnes verschwindet spurlos, und ein neuer Bewohner taucht in Hovenäset auf. Der Stockholmer August Strindberg hat das lokale Bestattungsunternehmen gekauft – samt Leichenwagen –, um einen Secondhand-Laden zu eröffnen. Während August sein neues Fahrzeug gelb lackiert, um sein schauriges Domizil angenehmer zu gestalten, wird ihm klar, dass sein Haus im Zentrum um Agnes‘ Verschwinden steht. Er beginnt auf eigene Faust zu ermitteln.


Lust auf noch mehr Schweden? Lernen Sie Kristina Ohlssons andere Krimireihen kennen, zum Beispiel mit »Aschenputtel« oder »Schwesterherz«.

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Seitenzahl: 619

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Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

Gute Geschichte, Menschen und Gegend wachsen einem ans Herz. Weiter so mit dem Stockholmer und Maria…
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Buch

Ein Sturm nähert sich dem verschlafenen Ort Hovenäset. In der Nacht, als das Unwetter über der malerischen schwedischen Westküste niedergeht, passieren zwei Dinge: Die Lehrerin Agnes verschwindet spurlos, und ein neuer Bewohner taucht in Hovenäset auf. Der Stockholmer August Strindberg hat das lokale Bestattungsunternehmen gekauft – samt Leichenwagen –, um dort einen Secondhandladen zu eröffnen. Während August sein neues Fahrzeug gelb lackiert, um sein schauriges Domizil angenehmer zu gestalten, wird ihm klar, dass sein Haus im Zentrum von Agnes’ Verschwinden steht. Er beginnt ihrem Verschwinden auf den Grund zu gehen

Autorin

Kristina Ohlsson, Jahrgang 1979, arbeitete im schwedischen Außen- und Verteidigungsministerium als Expertin für EU-Außenpolitik und Nahostfragen, bei der nationalen schwedischen Polizeibehörde in Stockholm und als Terrorismusexpertin bei der OSZE in Wien. Mit ihrem Debütroman »Aschenputtel« gelang ihr der internationale Durchbruch und der Auftakt zu einer hoch gelobten Thrillerreihe um die Ermittler Fredrika Bergman und Alex Recht. Neben der Veröffentlichung zahlreicher Jugendbücher schuf Kristina Ohlsson außerdem den hartgesottenen Anwalt Martin Benner, der in den Bestsellern »Schwesterherz«, »Bruderlüge« und »Blutsfreunde« ermittelt. Nun stellt uns Kristina Ohlsson ihren neuesten Ermittler vor: August Strindberg, der als Hobbyermittler mit seinem gelben Leichenwagen Fälle löst, obwohl er gar nichts mit der Polizei zu schaffen hat …

Weitere Schweden-Krimis von Kristina Ohlsson:

Aus der Serie mit Fredrika Bergman und Alex Recht:

Aschenputtel

Tausendschön

Sterntaler

Himmelschlüssel

Papierjunge

Sündengräber

Aus der Serie mit Martin Benner:

Schwesterherz

Bruderlüge

Blutsfreunde

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KRISTINA OHLSSON

DIE

TOTE

IM

STURM

AUGUST STRINDBERG ermittelt

Ein SCHWEDENKRIMI

Deutsch von Susanne Dahmann

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Stormvakt« bei Bokförlaget Forum, Stockholm.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright der Originalausgabe © 2020 by Kristina Ohlsson

Published by agreement with Salomonsson Agency

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 by Limes in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Ingola Lammers

Covergestaltung: www.buerosued.de

Covermotive: mauritius images/Westend61/Michael Runkel; www.buerosued.de

Karte: © Peter Palm, Berlin BL

Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-28334-6V006

www.limes-verlag.de

Für Mama und Papa

So einen stürmischen Sommer hatte es seit Jahrzehnten nicht gegeben. Sogar die alten Fischer zogen die Augenbrauen hoch. Man sagte, der Wind bliese stärker als sonst, und das sei ein Vorbote von Unglück. Mit den Stürmen würden Chaos und Unordnung zu den zartesten Perlen der Westküste gebracht werden.

Bei den meisten riefen solche Prophezeiungen allerdings nur Kopfschütteln hervor. Wind war Wind, und manchmal war er eben stärker als sonst. Niemand, der mit beiden Füßen fest auf der Erde stand, glaubte, dass mit dem Wind das Böse käme.

Doch der Sommer war nun auch nicht völlig ereignislos gewesen. Im Gegenteil, bereits im Mai wurde man gewahr, dass eine Veränderung vor der Tür stand, und das wie immer ohne Vorwarnung: Eines Tages war es plötzlich eine Tatsache, dass Kungshamns einziges Bestattungsinstitut verkauft werden würde. Das allein hätte im Grunde keine große Aufmerksamkeit erregt, wäre da nicht ein kleines Detail gewesen:

Der Bestatter – ein Mann, der auf die siebzig zuging – war von einer jüngeren Frau um alle seine Ersparnisse gebracht worden.

Deshalb musste er die Immobilie, in der er sein Büro gehabt hatte, nun verkaufen und aus dem Ort wegziehen. Die Scham saß einfach zu tief, der Tratsch war zu erdrückend und die Schulden waren weitaus höher als seine Einkünfte.

Kungshamn ist kein Ort, an dem übertrieben viel passiert, weshalb sich die Geschichte vom betrogenen Bestatter mit der Schnelligkeit eines Waldbrandes verbreitete. Und als das Gerede erst einmal in Gang gekommen war, wurden unzählige ungeklärte Fragen aufgeworfen. Wie lange würde es wohl dauern, bis das Bestattungsinstitut einen neuen Besitzer bekam? In den Schaufenstern herrschte gähnende Leere, und das Schild des Maklers mit der Überschrift ZU VERKAUFEN sah allmählich schon verwittert aus. Zwar traf das bereits in der ersten Woche zu, doch nachdem das Geschäft fast zwei Monate lang unberührt dagestanden hatte, fingen die Leute an zu grübeln, ob jetzt womöglich dem Makler etwas zugestoßen war.

Dieses Gerücht schaffte es jedoch nicht sonderlich weit, denn plötzlich konnten alle, die wollten und des Lesens mächtig waren, der Lokalzeitung Bohuslänning entnehmen, dass das Bestattungsinstitut endlich verkauft war. Der neue Besitzer, ein Mann aus Stockholm, würde das Geschäft Anfang September übernehmen.

Man sah einander verstohlen an. Was das wohl für einer war, dieser Stockholmer? Was führte einen Mann aus der königlichen Hauptstadt Schwedens hinüber an die Westküste? Hatte er womöglich eine Verbindung nach Kungshamn?

Eine Woche nach der anderen verstrich, und es wurde Mitte August. Die Ferienzeit war vorbei, die Touristen packten ein und fuhren nach Hause, die Sommerhausgäste ebenso. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt nahm der Tratsch über den Stockholmer neue Fahrt auf, denn nun hatte ein weiteres Gerücht die Einwohner von Kungshamn erreicht:

Der Mann, der das Bestattungsinstitut gekauft hatte, war kein Bestatter.

Es hieß, seine Pläne mit der Immobilie seien ganz anderer Art. Welcher Art genau, wusste niemand, doch jemand deutete so etwas an, dass der Stockholmer womöglich ein Bordell eröffnen wolle. Viel mehr war nicht nötig, um das Gerede im Umlauf zu halten.

Noch schlimmer wurde es, als herauskam, wo der neue Besitzer wohnen würde:

Er hatte sich gegen Kungshamn und für Hovenäset entschieden, das alte, knapp drei Kilometer entfernte Fischerdorf. Und selbst das könnte ja noch in Ordnung sein, wäre da nicht die Adresse gewesen. Der Stockholmer würde nämlich in Janssons altes Haus einziehen. Das behauptete jedenfalls das Ehepaar Jansson selbst, und die mussten es ja wissen.

Janssons Haus hatte bald dreißig Jahre lang keinen Mieter mehr gehabt, und das aus gutem Grund. So sagte man: Es gäbe gute Gründe, warum niemand auf Dauer dort wohnen wollte. Gründe, die dem neu zugezogenen Stockholmer offenbar unbekannt sein mussten. Und wenn er Kenntnis davon hatte, dann war sowieso irgendwas nicht in Ordnung mit ihm. Niemand, der wusste, was in diesem Haus passiert war, wollte dort wohnen.

Niemand.

Nicht einmal Herr und Frau Jansson selbst, denen das Haus gehörte. Sie begnügten sich damit, es über den Sommer an diverse Leute zu vermieten, und in der Zeit dazwischen stand es leer.

Mitte August begann die Schule.

Der Wind, von dem behauptet wurde, er sei eine Vorankündigung von Veränderung und Dunkelheit, war das Einzige, was vom Sommer noch übrig blieb. Und ganz allmählich, ohne dass jemand erklären konnte, warum, breitete sich die Sorge aus.

Etwas Schreckliches würde geschehen.

Und man konnte nur warten.

25. August

»Ich allein weiß, dass alles vorbei ist.«

Der Wind steigerte sich zu einem Sturm. Agnes Eriksson hörte ihn vor der Tür heulen und dachte: Jedes Übel hat auch sein Gutes. Das schlechte Wetter verschaffte ihr eine Ausrede, das Haus zu verlassen, und das begrüßte sie. Sie rief Fredrik zu, dass sie eine Runde rausgehen, aber bald zurück sein würde. Sie würde nur runter zum Steg gehen, um zu kontrollieren, ob das Boot auch ordentlich vertäut war.

Es war kurz nach sechs und regnete ausreichend für eine Weltuntergangsstimmung. Nicht dass sie dafür irgendwelche Nachhilfe benötigt hätte. Alles war vorbei. Etwas Neues würde beginnen. Wie das vor sich gehen sollte, war ihr allerdings noch nicht klar.

Agnes stieg in ein Paar kniehoher grüner Gummistiefel und zog einen roten Regenmantel über, den sie sorgfältig zuknöpfte. Sie hasste Regen. Sie hasste Wind. Und von beidem gab es an der Westküste zu viel.

Wenn sie wählen könnte, dann würde ihr neues Leben sonniger und weniger windig aussehen.

Fredrik erschien in der Diele.

»Soll ich mitkommen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Kein Problem, ich kann allein gehen. Wäre doch blöd, wenn wir beide nass würden.«

Sie bemühte sich um einen lockeren Tonfall. Gesellschaft war das Letzte, was sie brauchte.

»Ich habe das Fleisch aus dem Kühlschrank geholt«, sagte Fredrik. »Wir wollten ja grillen, aber ich glaube, ich brate es lieber im Ofen. Mit Kartoffeln und kalter Soße dazu. Ich rühre was zusammen.«

Agnes nickte und legte eine Hand auf die Türklinke.

»Das ist gut«, sagte sie. »Lass uns essen, wenn ich nach Hause komme.«

Fredrik war in einer anderen Lebensphase als sie. Er befand sich immer noch in ihrem gemeinsamen Alltag. Der mit sich brachte, dass sie zur Schule ging, um zu unterrichten, und er sich um das nächste Bauprojekt auf der nahe gelegenen Halbinsel Smögen kümmerte.

Er war vollkommen durchgetaktet und lief exakt wie ein Uhrwerk.

Ich allein weiß, dass alles vorbei ist, dachte Agnes.

Sie sah Fredrik an.

»Ich bin gleich wieder da.«

Sie sehnte sich nach draußen, fort. Zu all dem, was sie nicht bekam, aber brauchte.

Sie hatte so ungeheuer große Fehler gemacht. Es gab keine Entschuldigung für das, was sie getan hatte, was sie angerichtet hatte. Und sie würde für ihre Sünden bezahlen müssen, das war ihr vollkommen klar. In dieser Erkenntnis schwang auch etwas Erleichterung mit. Es gab einen Ausweg. Das war das Einzige, was sie aufrecht hielt.

Als sie öffnete, zerrte eine Bö an der Tür. Der Regen peitschte auf die Erde. Kalter Wind blies in die Diele, und sie eilte hinaus, um gleich wieder hineinzugehen.

Fredrik stand noch in der Diele.

»Hast du was vergessen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Isaks Fahrrad steht noch in der Einfahrt. Sag ihm doch bitte, er soll es in die Garage stellen.«

Das ständige Ermahnen des Sohnes. Und das Fahrrad, das nicht repariert wurde, sondern einfach nur unbenutzt dastand.

Dass Isak einfach nicht lernen konnte zu beenden, was er angefangen hatte, Verantwortung zu übernehmen.

»Ja klar«, sagte Fredrik, »mache ich sofort.«

Agnes begab sich erneut ins Unwetter hinaus. Sie schlug die Kapuze des Regenmantels hoch und lief mit schnellen Schritten den Bürgersteig hinunter. Der Hafen war so nah und dennoch genau weit genug weg. Nie wieder würde sie dorthin gehen, um die Sehnsucht zu stillen, die so beschämend war, dass sie ihr keinen Namen zu geben vermochte.

Der Regen peitschte auf ihre Haut.

Ein Regenschirm war zwecklos. Der Wind würde ihn binnen zwei Sekunden zerreißen.

Agnes schob eine eiskalte Hand in die Tasche und umfasste das Handy. In der anderen Jackentasche hatte sie ein Messer. Sie hoffte, dass sie es nicht brauchen würde.

Im äußeren wie im inneren Hafenbecken bewegten sich die Boote unruhig hin und her. Das von Agnes und Fredrik lag im äußeren Becken, doch dorthin war sie nicht unterwegs. Stattdessen blieb sie an der Reihe roter Bootshäuser stehen, die direkt am Badeplatz standen. Fredrik und sie hatten gefeiert, als sie endlich ihre eigene Hütte ergattert hatten. Die lag so perfekt genau zwischen Badeplatz und Bootssteg. Doch auch zum Bootshaus der Familie war Agnes nicht unterwegs.

Der Steg war rutschig vom Regen. Der Sommer schien schon weit entfernt. Selbst die Boote ruckten an ihren Tampen, als würden sie sich von Sturm und Regen wegwünschen.

So wie ich, dachte Agnes.

Im Fenster vom Bootshaus ganz hinten leuchtete ein schwaches Licht. Dorthin wollte sie.

Die Tür quietschte, als sie sie öffnete und hineinsah.

Ein Schatten bewegte sich da drinnen.

Bald, dachte Agnes. Bald ist das alles vorbei.

Aber ganz sicher war sie nicht, denn sonst hätte sie nicht so viel Angst gehabt.

Ihr Herz schlug heftiger.

Jetzt war erst einmal am wichtigsten, dass sie Schweigegarantien erhielt, damit ihr Verbrechen nicht ruchbar würde.

Agnes betrat das Bootshaus und schloss die Tür hinter sich.

Jetzt oder nie.

Kurz vor Mitternacht stieg August aus dem Bus an der Hovenäsbrücke. Die Dunkelheit war pechschwarz wie im tiefen Winter, aber das Wetter etwas milder, wenn auch immer noch streng. Der Wind zerrte an seiner Jacke, und der Boden war nass. Den größten Teil der Reise über hatte es wie wahnsinnig geregnet.

August atmete die kühle Luft ein. Endlich war er angekommen. Um halb zehn Uhr abends hatte er den letzten Bus von Göteborg genommen und war dann in Uddevalla umgestiegen. Nun stellte er fest, dass der Bus früher angekommen war als im Fahrplan angegeben. Das passierte wahrscheinlich häufiger an einem Ort, wo so wenige Menschen lebten und es eher eine Überraschung war, wenn an mehr als drei Haltestellen überhaupt jemand stand.

Der Busfahrer wartete geduldig, bis August seine Taschen aus dem Gepäckraum des Busses gehievt hatte. August zählte. Drei Stück. Er schlug die Ladeklappe zu, und der Bus verschwand die Straße hinunter.

August sah sich um. Am Nachthimmel drängten sich dicke Wolken.

Genau das hatte seine Mutter auch gesagt.

Dass es auf Hovenäset ständig stürmen und regnen würde. Obwohl sie viele Jahre lang stets mehrere Sommerwochen auf Hovenäset verbracht habe, hätte sie doch dort nicht einmal schönes Wetter erlebt. Augusts Großeltern väterlicherseits hatten die Familie dazu gebracht, immer wieder hierherzufahren. Sie besaßen ein Sommerhaus auf Hovenäset und behaupteten bis zu ihrem Tod stur, dass das Wetter natürlich ein bisschen durchwachsen sein könne, aufs Ganze gesehen aber immer nur fantastisch gewesen sei. August und seine Eltern hätten bei ihren Besuchen einfach nur Pech gehabt.

Jedes Mal.

August ließ seine Taschen stehen und ging auf die andere Seite der Brücke. Aus der Entfernung konnte er die Schatten und Konturen eines kleinen Ortes erkennen, doch war es zu dunkel, um genauer zu sehen. Das machte nichts, denn August wusste schon, was ihn erwartete. Ungefähr hundert weiße Holzhäuser, ein paar rote Bootshäuser und dramatisch hohe Klippen, die sich hinter den kleinen Dachgiebeln erhoben.

Es war ein hübscher Ort.

Seine Mutter wäre sehr erstaunt, wenn sie ihn jetzt sehen würde. Die starken Arme auf das Brückengeländer gestützt und den Blick über das Wasser und den Ort gerichtet, wo er wohnen würde. Noch erstaunter wäre sie, wenn sie wüsste, was er gerade dachte:

Dass er irgendwie ein Heimkehrer war.

Und das, obwohl er lediglich ein paar Kindheitssommer auf Hovenäset verbracht hatte und jetzt fast fünfunddreißig Jahre nicht hier gewesen war. Seine Großeltern hatten ihr Sommerhaus verkauft, als er zehn Jahre alt war, und obwohl er sich seither zurückgesehnt hatte, war doch nie etwas daraus geworden.

August hatte nicht im Entferntesten daran gedacht, dauerhaft an die Westküste zu ziehen. Er war auf der Suche nach einem Sommerhaus gewesen, gerne eines, das ein bisschen liebevolle Zuwendung benötigte. Eine größere Veränderung hatte er sich nicht vorgestellt. Doch dann hatte er die Anzeige gesehen, in der stand, das alte Bestattungsinstitut in Kungshamn würde zum Verkauf stehen. Er erinnerte sich noch, wie er am Rechner gesessen und die Bilder angeschaut hatte, während eine Welle von Glück durch seinen Körper lief.

Das hier war der Zufall, auf den er gewartet hatte.

Das hier würde sein neues Leben werden.

Natürlich hatte er um eine Besichtigung und sogar um ein Sachverständigengutachten gebeten – sein Eifer war also nicht in Naivität umgeschlagen –, doch nachdem das erledigt war, konnte ihn nichts mehr aufhalten. Ein Bestattungsinstitut zu betreiben interessierte ihn nicht, denn er hatte andere Pläne, die er hier verwirklichen wollte. Vor vier Wochen hatte er den Vertrag unterschrieben. Mehr Zeit schien ihm nicht notwendig, um sein Leben in Stockholm abzuwickeln.

Hinter ihm hupte es.

Er drehte sich um.

Ein grauer Saab hatte bei seinen Taschen angehalten.

Der Fahrer fuhr die Scheibe herunter. Auf dem Beifahrersitz saß eine Frau.

»August?«, fragte der Mann.

»Korrekt«, erwiderte August.

Die Frau sah erleichtert aus.

»Wir waren uns nicht sicher«, sagte sie, »wegen des Nachnamens. Wir haben nicht geglaubt …«

Der Mann räusperte sich.

»Wir dachten, man kann doch nicht Strindberg heißen«, erklärte er. »Zumindest nicht, wenn man mit Vornamen August heißt.«

»Doch, das kann man«, bestätigte August. »Und Sie müssen Esmeralda und Sven Jansson sein.«

Der Mann und die Frau nickten. Sie stiegen aus dem Auto aus und gaben ihm die Hand zur Begrüßung. Von ihnen würde er das Haus mieten, das für das nächste Jahr sein Zuhause sein würde.

»Vielen Dank, dass Sie kommen und mich abholen«, sagte August.

»Das fehlte ja gerade noch«, meinte Esmeralda. »Es ist zwar nicht weit zu gehen, aber wenn man so viele Sachen dabeihat, braucht man doch Hilfe.«

Sven packte Augusts Taschen in den Kofferraum des Autos.

»Was man so viel nennt«, sagte er, »das hier wirkt eigentlich nicht so.«

»Die restlichen Sachen kommen in ein paar Tagen mit dem Umzugsunternehmen«, erklärte August.

»Das hat er doch in dem Brief geschrieben, den er geschickt hat«, sagte Esmeralda.

»Welcher Brief?«, fragte Sven.

»Ich meine in der Mail«, sagte Esmeralda. Sie wandte sich an August: »Sie wissen ja, dass das Haus teilmöbliert ist. Ich glaube, Sie werden gut zurechtkommen, bis Ihre eigenen Sachen kommen.«

Sven schlug den Kofferraum zu.

In dem Moment fuhren zwei Polizeistreifen vorbei. Das Blaulicht blinkte, aber das Martinshorn war ausgeschaltet. August sah ihnen nach.

»Eine Frau ist vermisst gemeldet worden«, erklärte Esmeralda, »offensichtlich erst vor ein paar Stunden.«

»Bestimmt wird sie bald gefunden«, ergänzte Sven. »Jetzt fahren wir mal los.«

Die Nacht war schonungslos. Kriminalkommissarin Maria Martinsson stand am Badeplatz von Tången, knapp hundert Meter von Badehütten und Steg entfernt. Der Wind zauste an ihrem Haar und schien jede Haarsträhne zu bearbeiten, wie um sie herauszureißen. Weiter hinten auf dem Parkplatz waren brennende Straßenlaternen zu sehen, doch dort, wo Maria stand, war die einzige Leuchte kaputt.

Ob dunkel oder hell, spielte eigentlich keine Rolle. Maria navigierte nach den Geräuschen in ihrer Nähe. Vor ihr toste das Meer. Im Wasser lag ein langer Ponton, der den kurzen Strandstreifen mit der Insel Klåvholmen ein Stück weiter draußen auf dem Meer verband. Der Ponton ruckelte an den Ketten, die ihn an Ort und Stelle hielten.

Maria packte fest die schwere Taschenlampe, die sie aus dem Auto mitgebracht hatte, und ließ den Lichtkegel über den Boden und hin zum Steg hinüber nach Klåvholmen gleiten. Die Holzplanken glänzten hell vor Feuchtigkeit von Regen und Meerwasser. Hinüberzugehen war undenkbar. Einerseits war der Ponton wegen Reparaturarbeiten abgesperrt, und andererseits würde er glatt wie eine Schlittschuhbahn sein. Alle paar Sekunden schlugen die Wellen hoch und überspülten den Steg.

Sie sah über das Meer. In den dunklen Schatten konnte man Verschiebungen erkennen. Das Meer senkte und hob sich im Takt mit den Wellen. Kaum zu glauben, dass dies hier vor knapp einer Woche noch ein Idyll gewesen war.

Eine Bewegung in ihrem Augenwinkel weckte sie aus ihren Betrachtungen.

Ein Stück entfernt stand Ray-Ray, ihr Kollege, mit dem sie am engsten verbunden war.

Sie hatten beide dieselbe Sorge: Agnes Eriksson war etwas zugestoßen.

Der Anruf von ihrem Chef Roland war gegen 21 Uhr gekommen, als Maria gerade mit Paul zusammen einen Film anschaute. Da waren sie also nach acht Jahren Ehe gelandet. Vor dem Fernseher.

»Eine Frau aus Kungshamn ist verschwunden«, hatte Roland gesagt. »Ihr Mann hat angerufen und sie vermisst gemeldet. Von Uddevalla haben sie eine Streife hingeschickt, und die sind genauso besorgt wie der Ehemann. Nimm Ray-Ray mit, und fangt schon mal mit ein paar einleitendenden Befragungen an, macht euch ein Bild, was da passiert sein könnte. Spart nicht an Material wenn nötig.«

Seither waren ein paar Stunden vergangen. Familie Eriksson wohnte in dem Teil von Kungshamn, der Fisketång hieß, aber nur Tången genannt wurde. Ihr Haus lag mitten in einem pittoresken Gewimmel von hauptsächlich Sommerhäusern. Die Erikssons wohnten jedoch dauerhaft in einem Haus, das etwas größer war als die anderen im Viertel.

Ray-Ray trat zu Maria.

»Was denkst du?«, fragte er.

»Dass wir zu wenig wissen«, erwiderte Maria.

Ray-Ray leuchtete mit der Taschenlampe auf das Wasser vor sich. In ihrem Schein blitzten wütende Wellen auf.

»Dieser ganze Ort besteht doch aus nur einer einzigen Einbahnstraße«, sagte er. »Wenn sie den ganzen Weg bis zum Boot gekommen ist, dann gibt es nicht so viele Stellen, an denen sie sein kann.«

»Wie geht es mit dem Türenklopfen voran?«, fragte Maria.

»Es sind verdammt viele leere Häuser. Aber eine Zeugin haben wir, eine Dame, die ungefähr dreihundert Meter von hier entfernt wohnt. Sie bestätigt, gesehen zu haben, wie Agnes kurz nach sechs Uhr heute Abend auf dem Bürgersteig vorbeieilte. Die Zeugin hat nicht genau gesehen, wohin sie ging, aber es war Richtung Badeplatz.«

»Okay, gut«, sagte Maria.

Somit wussten sie zumindest mit Sicherheit, dass Agnes wirklich zu der Zeit, die ihr Mann angegeben hatte, das Haus verlassen hatte. Aber sie hatten immer noch keine Ahnung, ob sie dann wirklich unterwegs zum Bootssteg gewesen war, wie ihr Mann gesagt hatte, oder ob sie dort gewesen und dann umgedreht und woanders hingegangen war.

Maria warf dem Meer einen letzten langen Blick zu, ehe sie gingen. Die Lichter der Taschenlampen ihrer Kollegen spielten zwischen den kleinen Badehütten und sogar draußen auf dem Stortångskäret, dem Felsen, den man im Unterschied zu Klåvholmen über einen sehr viel kürzeren Steg erreichen konnte. Maria sah ihre Kollegen vorsichtig über die Holzplanken balancieren, als wären auch die von Regen und Meerwasser rutschig. Ray-Ray und sie hatten schnell alle Mitarbeiter zusammengetrommelt, nachdem sie mit Fredrik, dem Ehemann von Agnes, gesprochen hatten. Seine Aufregung musste als glaubwürdig beurteilt werden, und zudem wurde er noch von seinem besorgten Sohn bestärkt. Kurz darauf war der volle Zirkus in Gang. Die Stege waren abgesucht worden, die Boote waren kontrolliert und die Badehütte der Familie durchsucht worden. Dann wurde das Suchgebiet in schnellem Takt weiter ausgedehnt.

Ihnen allen war vor allem eins klar: Das hier war nicht die richtige Nacht, um ins Wasser zu fallen. Dieses Meer konnte sogar den stärksten Mann verschlucken.

Ein Helikopter trotzte dem Unwetter und kreiste über der Umgebung, hinaus über das Meer und dann wieder in einem Halbkreis zurück. Spürhunde kläfften durch die Nacht und suchten mit demselben Eifer nach Agnes wie alle anderen.

Und auf dem Meer gab es auch noch die Seenotrettung, die ebenfalls aktiviert war. Sie waren mit mehreren Schiffen rausgefahren und suchten nun die nächste Küstenstrecke zusammen mit einem Lotsenboot vom Schifffahrtsamt ab. Es war eine elende Arbeit. Die Lampen leuchteten stark, aber da sich die Wogen selbst in Landnähe hoch auftürmten, war es schwer, das Meer zu überblicken. Somit liefen sie Gefahr, Agnes zu überfahren und zu verletzen. Wenn sie es überhaupt geschafft haben sollte, im Wasser zu überleben.

Maria spürte das Adrenalin in ihrem Körper kochen. Sie wollte Morgendämmerung und Tageslicht. Sie wollte, dass Agnes eine faire Chance hatte.

Da rief Roland sie auf dem Handy an. Ray-Ray verschwand zu einer der Badehütten.

»Irgendwelche Fortschritte?«, fragte Roland.

»Nein, leider nicht. Noch nicht«, antwortete Maria.

»Es ist eine harte Nacht«, sagte er. »Für den Fall, dass die Sache noch länger dauert, möchte ich jetzt schon mal klarstellen, dass ich Ray-Ray und dir die Leitung der Ermittlung übertrage.«

Maria schluckte.

»Wir werden sie finden«, sagte sie.

»Ich sage ja nichts anderes«, entgegnete Roland, »aber wir müssen darauf vorbereitet sein, dass es anders ausgeht, als wir gehofft haben. Wenn das so wäre, dann möchte ich, dass ihr beide vor Ort bleibt. Ihr könnt den Wohnwagen als Basis nehmen und dem restlichen Team woanders Platz verschaffen, soweit es nötig ist.«

Maria erstarrte.

»Den Wohnwagen? Hör mal, Roland, das geht nicht. Der ist doch …«

»Er ist alles, was wir haben«, unterbrach Roland sie. »Aber ich kann vielleicht noch einen größeren besorgen.«

Er legte auf.

Der Wohnwagen. Das würde Ray-Ray nicht gefallen.

Hinter ihr hustete jemand, und sie drehte sich um.

Ein paar Meter entfernt stand Fredrik Eriksson.

Das Gesicht verhärmt, aber die Miene entschlossen. Keine Spuren von Erschöpfung zu erkennen. Die akute Sorge hielt ihn am Laufen, und so würde es auch weiter sein. Maria hatte das schon öfter gesehen, als sie zählen konnte. Der Rausch der Angst war am schwersten zu beruhigen.

Maria trat zu ihm.

»Es sind viele hier«, sagte er und sah zu den Badehütten, »ich meine, Polizisten.«

Maria nickte.

»Wir tun unser Bestes«, sagte sie.

Fredrik winkte mit der Taschenlampe, die er in der Hand hielt. Die Batterien waren dabei, ihren Geist aufzugeben, und die Lampe leuchtete nur noch schwach. Maria suchte seinen Blick, doch der Mann, der nach seiner Frau Ausschau hielt, sah in alle Richtungen, nur nicht in ihre.

»Sie ist eine gute Schwimmerin«, sagte er, »eine sehr gute.«

»Ja, das haben Sie erwähnt«, erwiderte Maria.

Und dann, als würde ihr das plötzlich einfallen:

»Erzählen Sie mir noch mal vom Abend.«

»Wir haben schon gestern von dem Unwetter gehört, aber Sie wissen ja, wie das ist, ehe es da ist, glaubt man ja doch nicht, dass es so schlimm wird. Agnes ist losgegangen, um zu kontrollieren, ob das Boot ordentlich vertäut ist. Das war kurz nach sechs. Ich hatte gesagt, ich würde mich ums Abendessen kümmern, weil ich ausnahmsweise mal früher von der Arbeit zu Hause war. Und dann kam sie nicht zurück. Und ist auch nicht ans Handy gegangen. Wir wollten Fleisch braten, ich hatte es schon aus dem Kühlschrank genommen, damit es nicht so kalt war, wenn ich es in den Ofen schob. Ich wartete eine Stunde, dann sagte ich zu Isak, ich würde mir Sorgen machen. Nachdem wir anderthalb Stunden vergeblich gesucht hatten und Agnes immer noch nicht zu erreichen war, habe ich Sie angerufen.«

Maria nickte. Fredrik hatte schon mehrmals vom Verschwinden seiner Frau berichtet, und jedes Mal erzählte er exakt dieselbe Geschichte. Sollte er Teile davon erfunden haben, dann war er ein geschickter Lügner.

Fredrik sah sich verwirrt um. Die Panik stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Maria verstand seine Sorge.

Es war das Unwetter, das sie von Anfang an auf Hochtouren hatte laufen lassen. Das und die Geschichte von dem geplanten Abendessen. Agnes hatte nicht vorgehabt, länger wegzubleiben.

Maria legte eine Hand auf Fredriks Arm.

»Gehen Sie nach Hause«, sagte sie. »Gehen Sie nach Hause, und nehmen Sie Ihren Sohn mit. Wir lassen von uns hören, wenn wir etwas zu berichten haben.«

Fredrik schüttelte den Kopf.

»Sie ist doch irgendwo hier«, sagte er. »Sie muss irgendwo hier sein.«

Vom Badeplatz her kam ein Schatten. Dann noch einer. Isak, der Sohn von Agnes und Fredrik, kam auf sie zu. Er hatte einen Freund dabei, einen großen Jungen mit ernster Miene und dunklem Haar mit schrägem Pony. Beide Jungs waren um die siebzehn, aber der Blick des Freundes wirkte präsenter und hatte einen deutlicheren Fokus als der von Isak. Agnes’ Sohn sah vor allem frustriert aus, und das lag sicher nicht nur daran, dass es seine Mutter und nicht die des Freundes war, die man suchte. Isak war hitziger veranlagt, das merkte man an seiner Körpersprache und seiner Art zu reden.

»Was soll das denn alles?«, fragte er. »Warum geht es so langsam?«

Er spuckte die Worte aus, als könnte er sie nicht schnell genug loswerden.

Fredrik versuchte, den Arm um die Schultern seines Sohnes zu legen, doch Isak schüttelte ihn ab.

»Sie tun ihr Bestes«, sagte Fredrik heiser.

»Einen Scheiß tun sie, sie trödeln rum.«

Für Maria war Isaks Wut logisch. Die vergangenen Stunden mussten sich für ihn wie eine Ewigkeit angefühlt haben.

»Wir tun alles, was wir können«, fügte Maria hinzu.

Dann bemerkte sie noch eine weitere Person. Eine Frau mit kurzem Haarschnitt stand ein Stück entfernt, so als wolle sie nicht stören. Dennoch hatte Maria das Gefühl, dass sie auf irgendeine Weise zu den Menschen, die sie vor sich hatte, gehörte.

Fredrik und die Frau sahen sich an und nickten einander kurz zu. Isaks Freund ging zu ihr, woraufhin die beiden zu diskutieren begannen.

»Wo ist sie?«, fragte Fredrik jetzt, und dann noch einmal laut: »Wo zum Teufel ist Agnes?«

»Wir werden sie finden«, sagte Maria.

Das war ein gewagtes Versprechen, das sie da abgab, doch sie meinte es aufrichtig. Es kam so gut wie nie vor, dass sie etwas einfach so behauptete. Das hier war ein Fall, der absolute Nähe erforderte – ganz gleich ob die nur über Nacht halten musste oder noch länger.

Maria hatte Agnes selbst nie gesehen, aber Bilder von ihr. Fredrik hatte jede Menge in seinem Handy, und auf fast allen strahlte seine Frau Stärke und Ruhe aus. Außerdem war sie auf eine klassische Weise schön.

Auf den Fotos hatte Agnes mit warmem und einfühlsamem Blick in die Kamera geschaut. Und keck. Ein Wort, das Maria im Grunde vergessen hatte und das erst nach dem Anblick der Fotos von Agnes wieder in ihrem Bewusstsein aufgetaucht war.

Keck.

Lebensbejahend.

Stärke und Ernst waren auch dabei.

Fredrik sah sie an. In seinem Gesicht war eine lange Reihe Gefühle erkennbar. Unruhe, Angst und Sorge, aber auch Tatkraft und etwas, das wie Hoffnung aussah.

Maria holte Luft.

»Wir werden sie finden«, sagte sie noch einmal.

Dann wandte sie wieder den Blick zum Meer und wusste, dass sie es auch wirklich so meinte. Sie würde nicht aufgeben, ehe sie erfuhr, was Agnes mit dem warmherzigen Blick zugestoßen war.

Knapp drei Minuten dauerte es, um von der Hovenäsbrücke zum Haus auf dem Kärleksvägen – dem »Liebesweg« – zu fahren. Eine magische Adresse, in die sich August sofort verliebt hatte. Was ein Glück war, denn er hatte ziemlich schnell eine Unterkunft finden müssen. In dem Haus, das er dem Bestatter abgekauft hatte, befand sich im oberen Stockwerk auch eine große Wohnung, und August hatte ursprünglich den Plan gehabt, sich dort einzurichten. Doch eine Woche nach Vertragsabschluss hatte der Makler angerufen und von schlechten Nachrichten gesprochen.

»Der Verkäufer hat im Badezimmer im oberen Stockwerk einen Wasserschaden entdeckt«, hatte er gesagt, »aber Sie haben Glück im Unglück. Er hat eine Firma gefunden, die schon morgen anfangen kann, daran zu arbeiten.«

August war richtig wütend geworden. Das war sonst eigentlich nicht seine Art, doch der freche Ton des Maklers ließ ihn an die Decke gehen. »Glück im Unglück« war kein Ausdruck, den er passend fand.

Einen Wasserschaden zu reparieren, das brauchte Zeit. Man würde Trockenventilatoren aufstellen müssen, das Leck musste behoben werden, und am Ende musste die Wand wieder verputzt werden. Er fragte sich, was der Gutachter gemacht hatte. Wie hatte er einen so offensichtlichen Schaden übersehen können?

»Wie wäre es denn, wenn Sie in Hovenäset wohnen würden«, hatte der Makler gesagt. »Ich habe einen Tipp für ein Haus am Kärleksvägen bekommen.«

Der Vorschlag hatte August direkt ins Herz getroffen. Der Liebesweg. Und dann auch noch auf Hovenäset. August war kein Freund langer Bedenken, sondern hatte sich wenige Stunden später entschieden. Er wollte gern das Haus auf Hovenäset mieten, doch nicht nur für wenige Wochen, sondern für ein Jahr. Es würde zu aufwendig werden, so kurzfristig zwischen verschiedenen Adressen hin und her zu ziehen, und außerdem wollte er Hovenäset wirklich eine Chance geben. Die Eheleute Jansson freuten sich, einen längeren Vertrag abschließen zu können, und jetzt würde er also gleich vor Ort sein.

Während sie fuhren, saß August auf dem Rücksitz und sah die unbewohnten dunklen Sommerhäuser draußen vorm Autofenster vorbeiziehen. Er war schon immer gern allein gewesen, aber möglicherweise würde das hier doch etwas zu viel Einsamkeit sein.

»Bin ich der Einzige, der hier wohnt?«, fragte er in dem Versuch, so zu wirken, als würde er einen Witz machen.

»Aber Nein«, antwortete Esmeralda, »es gibt fast einhundertachtzig Leute, die ständig hier wohnen.«

Sven grinste.

»Sie sind also in eine richtige Metropole gezogen«, ergänzte er.

August lächelte.

»Ich hoffe, das Haus entspricht Ihren Erwartungen nach den Bildern«, sagte Esmeralda besorgt, als sie aus dem Auto ausstiegen.

»Ganz bestimmt«, beruhigte August sie.

Das Haus war von derselben Art wie die meisten in der Umgebung. Ein weißes Holzhaus, auf einem Felsen gebaut, der fast so hoch war wie August lang. Viel Schnitzwerk um Fenster und Türen. Ein Balkon im Süden und eine Terrasse im Schatten des Nachbarhauses.

Ihm wurde warm ums Herz. Das hier würde gut werden.

Esmeralda ging vor ihm die Treppe hoch und schloss die Tür auf.

August und Sven folgten mit den Reisetaschen.

Im Haus roch es muffig, und zwar nicht diese Art Sommerhausmuff, der auf feuchte Stellen und Schimmel hindeutete, sondern mehr, als hätte jemand vergessen zu lüften.

»Es ist nicht sonderlich groß«, sagte Esmeralda, immer noch mit besorgter Miene, »aber ich hoffe, es genügt Ihnen.«

Mehr als das. Im Obergeschoss gab es Badezimmer, Aufenthaltsraum, ein kleines Gästezimmer und ein Schlafzimmer mit Balkon und Aussicht übers Meer. Und im Erdgeschoss eine Küche, ein weiteres Bad, dann ein größeres Wohnzimmer mit Esszimmer und einen kleineren Raum, von dem August sofort beschloss, dass er sein Homeoffice werden würde. Das Haus war nicht frisch renoviert, aber auch nicht verkommen oder unmodern. Allerdings hatten die Eheleute Jansson einen völlig anderen Einrichtungsgeschmack als er. Es gab keine einheitliche Linie in der Auswahl der Möbel. Alte Sessel drängten sich um neuere Couchtische und Bücherregale, und auf dem Boden lagen alte Flickenteppiche. Das hätte charmant sein können, wenn die Auswahl nicht so zufällig wirken würde.

Esmeralda und Sven sahen sich kurz an.

»Die Küche«, sagte Sven, »der Herd.«

»Ja, genau«, erwiderte Esmeralda.

Sie lief aus dem Zimmer, und August nahm an, dass er folgen sollte.

»Diese Platte hier ist ein wenig langsamer als die anderen«, sagte sie und zeigte auf die kleinste Herdplatte. »Wenn das ein Problem ist, dann können Sie das natürlich sagen.«

Sie wechselte einen Blick mit ihrem Ehemann. Sven verzog keine Miene.

»Ich koche leidenschaftlich gern«, antwortete August, »aber es gibt ja noch drei andere Platten auf dem Herd.«

Er lächelte wieder.

Trotzdem schienen die Eheleute Jansson sich nicht entspannen zu wollen. August besah sich die weißen Küchenschränke und den hellen Holzfußboden. Die großen Fenster sahen aus, als wären sie frisch geputzt. Übersah er etwas? Irgendeinen Mangel, von dem sie befürchteten, er könnte ihn entdecken?

Das glaubte er nicht.

Und wenn, dann konnte er sich ja bei ihnen melden.

»Nun gut«, sagte Esmeralda, »dann wollen Sie jetzt vielleicht mal Ihre Ruhe hier haben.«

»Zögern Sie nicht, uns anzurufen, wenn irgendetwas ist«, sagte Sven. »Wir wohnen ja bloß in Kungshamn und sind in wenigen Minuten hier.«

»Ich bin ziemlich sicher, dass ich mich wohlfühlen werde«, erwiderte August und begleitete sie hinaus in die Diele.

Esmeralda schenkte ihm ein kurzes Lächeln.

»Aber etwas neugierig ist man ja doch«, sagte sie. »Wie kommt es, dass Sie das Bestattungsinstitut gekauft haben und hierher gezogen sind? Ich meine, von Stockholm nach Kungshamn ist ja weit. In mehrfacher Hinsicht. Stockholm ist eine Großstadt und Kungshamn … also, schon viel kleiner.«

Ohne es zu wissen, hatte sie die Frage schon selbst beantwortet.

Es waren die geografische Entfernung und der Kontrast zwischen den beiden Orten, die ihn angezogen hatten. Er hatte eine Veränderung gebraucht, und das umgehend. Ein Sommerhaus wäre da nicht ausreichend gewesen, das wurde ihm jetzt klar.

Denn August hatte das schlimmste Jahr seines Lebens hinter sich.

Ein annus horribilis.

So hatte sein ältester Freund und Kollege Henrik Mohlin es genannt, und das war eine gute Beschreibung eines widerwärtigen Jahres. Selbst wenn August rein intellektuell begriffen hatte, dass alle Menschen in ihrem Leben ein solches Jahr durchmachten, hätte er doch erst später im Leben damit gerechnet. Er war für sein schlimmstes Jahr einfach nicht bereit gewesen, da er doch erst auf halbem Weg zum Neunzigsten war.

Vor allem zwei Ereignisse hatten das Jahr so elendig gemacht.

Zuerst eine Trennung. August war von der Frau verlassen worden, mit der er mehr als zwanzig Jahre zusammengelebt hatte. Sie hieß Helene und gehörte jetzt der Vergangenheit an.

Nur wenige Monate später starben Augusts Eltern. Ein schlimmer Verlust, den er immer noch nicht bewältigt hatte. Beide Eltern waren am selben Tag gestorben. Augusts Umzug an die Westküste war also vor allem von der Tatsache getrieben, dass er Mutter und Vater verloren hatte.

Doch all das verschwieg er lieber. Es war zu privat, zu sensibel. Deshalb hatte er eine alternative Antwort vorbereitet, um für den Fall, dass ihm Fragen über seinen Umzug gestellt würden, etwas sagen zu können.

»Ich möchte etwas Neues ausprobieren«, erklärte er Esmeralda, »und zwar dort, wo ich mich zu Hause fühle. Kungshamn und Hovenäset erschienen mir als eine gute Wahl, weil ich einen Teil meiner Kindheit hier verbracht habe.«

Das klang so klug, so durchdacht. Und befreiend weit von der Wahrheit entfernt.

»Ah, ich verstehe«, sagte Esmeralda. »Und was haben Sie in Stockholm gemacht?«

»Ich habe als Vermögensverwalter gearbeitet«, antwortete August.

»Was ist das denn?«, fragte Sven. »Jemand, der Geld aus Geld macht?«

»So ungefähr«, antwortete August.

Er war gut darin gewesen.

Ausreichend gut, um einer der Allerbesten zu werden.

Ausreichend gut, um vermögend zu werden.

Aber war er glücklich gewesen? Die Antwort lautete Nein.

Der Beruf des Vermögensverwalters war nichts gewesen, was er sich erträumt hatte, es war einfach so gekommen. Zwei Jahrzehnte hatte er in der Finanzbranche verbracht, ohne davon begeistert zu sein. Er hatte vermieden, darüber nachzudenken, was das mit der Seele eines Menschen machte. Ungefähr so wie er lieber nicht zu viel darüber nachdachte, was die Jahre mit Helene ihn rein mental gekostet hatten.

»Und wann werden Sie Ihr Geschäft in Kungshamn eröffnen?«, fragte Esmeralda, die ansonsten für die Finanzbranche nicht viel übrigzuhaben schien.

»In einer Woche bekomme ich die Schlüssel zu den Räumen«, sagte August.

Es ärgerte ihn immer noch, wenn er an den Wasserschaden dachte, wegen dem er sieben Tage warten musste, bis er das Haus übernehmen konnte, und deshalb lenkte er das Gespräch in eine andere Richtung.

»Bald wird eine Anzeige im Bohuslänningen erscheinen«, sagte er. »Ich hoffe, dass die eine rasche Wirkung haben wird.«

»Eine Anzeige?«, fragte Sven.

»Ja, die Leute sollen doch erfahren, was ich hier vorhabe«, meinte August.

Esmeralda und Sven sahen ihn an.

»Jetzt dürfen Sie uns aber nicht länger auf die Folter spannen«, bat Esmeralda. »Was werden Sie mit dem alten Bestattungsinstitut machen?«

»Ich dachte, das wüssten Sie schon«, sagte August erstaunt. »Ich werde ein Geschäft eröffnen. Strindbergs Secondhand.«

Als er es gerade ausgesprochen hatte, wurde der Himmel von einem Blitz geteilt, der für einen Moment den ganzen kleinen Ort erhellte, Sekunden später ließ ein Donner sämtliche Fenster scheppern.

Dann gingen alle Lichter aus, und das Haus, das August Strindberg gemietet hatte, versank in Dunkelheit.

»Ich will, dass du mit nach Hause kommst.«

Karl sah seine Mutter nicht an. Seine Aufmerksamkeit war auf Isak, Fredrik und die Polizistin gerichtet.

»Ich will hierbleiben, solange Isak hier ist.«

Das war eine Lüge.

Karl wollte um seiner selbst willen bleiben, aber er hatte keine Lust, das zu erzählen.

Er konnte sehen, dass seine Mutter fror. Im Grunde fror sie so gut wie immer, aber jetzt doch mehr als sonst.

»Isak braucht mich«, fügte Karl hinzu.

Das hingegen war keine Lüge.

Aber es war immer noch nicht der Grund dafür, dass er nicht nach Hause gehen wollte.

Der Wind biss in seine Wangen. Er reagierte darauf, indem er sich da kratzte, wo es am meisten brannte. Wenn er gestresst war, kratzte er sich im Gesicht – eine blöde Angewohnheit, die er nicht ablegen konnte. Er strengte sich an, still zu stehen, damit er nicht vor Kälte zitterte. Seine Mutter war nicht die Einzige, die fror.

Sie seufzte.

»Okay«, sagte sie, »tu, was du nicht lassen kannst. Ich vertraue darauf, dass du deinen klugen Kopf benutzt, wenn es darum geht, vernünftige Entscheidungen zu treffen.«

Sie legte die Hand sanft auf seinen Nacken und versuchte, ihn an sich zu ziehen, aber sie war zu klein, zu schwach.

»Ich gehe jetzt nach Hause«, sagte sie. »Papa wird sicher noch ein paar Stunden mit der Seenotrettung draußen sein. Versprich mir, dass du dich nicht von Isak zu irgendwelchen dummen Sachen verleiten lässt. Versprich mir das!«

Er nickte rasch. Was glaubte sie eigentlich von ihm? Wohl nicht das Schlimmste, soviel wusste er.

Isaks Stimme schnitt durch das Unwetter. Irgendwie klang es, als würde er die Polizei trödelig nennen, Karl konnte es aber nicht genau verstehen.

Seine Mutter steckte die Hände in die Taschen.

»Ich habe das Handy an«, sagte sie. »Ruf mich an, wenn etwas ist. Ruf mich sofort an, Karl.«

»Ja, versprochen«, sagte er.

Seine Mutter lächelte ihn traurig an und ging. Mehrmals schaute sie über die Schulter zurück, so als glaubte sie, er würde sich in Luft auflösen, wenn sie sich abwandte.

Karl verstand nicht, wie sie es aushielt, die ganze Zeit so nervös zu sein. Und Angst hatte sie auch. Hauptsächlich, dass ihm etwas passieren könnte. Oder »passieren« war eigentlich das falsche Wort. Seine Mutter hatte vor allem Angst, was normal war. Zum Beispiel, dass Karl nach dem Abitur von zu Hause ausziehen würde. Und dass er schon wusste, womit er dann arbeiten würde: Raumfahrt. Als Astronaut, Ausbildung bei der NASA.

Ein Helikopter flog übers Land und dann wieder übers Meer. Karl merkte, wie seine Mutter ihm nachsah.

Wenn sie wüsste, was ich weiß, dachte er, dann wäre sie richtig krank.

Isak kam zu Karl rüber und sah der Mutter des Freundes hinterher.

»Was hat Cecilia gesagt? Gehst du etwa nach Hause?«

»Nein, nicht doch.«

»Gut«, sagte Isak. »Das sind solche verdammten Deppen, die Polizisten. Die tun einfach nichts. Warum ist das Militär nicht hier?«

Er hatte rotfleckige Wangen und dunkle Augen.

»Das Militär?«, fragte Karl und spürte, wie sein Puls stieg. »Ich glaub ja nicht, dass die bei sowas dabei sind.«

Isak stöhnte.

»Das ist so verdammt lahm«, schimpfte er. »Mama ist schließlich jetzt weg. Jetzt. Scheißkalt ist es hier draußen. Was, wenn sie irgendwo verletzt liegt?«

Karl schluckte.

Isak zog ihn am Arm.

»Komm«, sagte er.

Sie verließen Steg, Badehütten und Badestelle und gingen den Weg zu den Sommerhäusern hoch. Isak leuchtete mit seiner Taschenlampe in die Gärten, an denen sie vorbeikamen, und Karl folgte seinem Beispiel. Dann ging Isak plötzlich zu einem der Häuser und leuchtete in ein dunkles Fenster.

»Hallo? Was machst du da?«, fragte Karl.

»Wir müssen doch alles ordentlich checken«, sagte Isak.

Karl sah erschrocken zu dem Haus. Er hatte keine Ahnung, wer da wohnte, und Isak wusste das sicher genauso wenig.

»Warum sollte Agnes da drinnen sein?«, fragte er.

»Warum sollte Mama überhaupt verschwunden sein?«, konterte Isak. »Die Polizei hat an allen leicht zugänglichen Stellen gesucht. Jetzt werden du und ich mal da suchen, wo noch keiner war. Komm schon. Jetzt finden wir Mama.«

»Was zum Teufel …«, murmelte Sven, als das Licht weg war.

August spähte aus dem Fenster. Die Dunkelheit war so pechschwarz, dass einem Hovenäset wie eine Grabkammer vorkam.

Esmeralda zog ihre Jacke fester um sich.

»Der Blitz wird wohl eingeschlagen haben«, sagte sie.

Sven sah sich um.

»Meine Güte, wie finster das plötzlich ist«, sagte er. »Ich habe eine Taschenlampe im Auto, die hole ich mal.«

Er ging raus.

August hielt die Tür fest, damit sie nicht zufiel.

»Die hier können Sie ausleihen«, sagte Sven als er mit einer Taschenlampe zurückkam, die so groß war wie ein Brotlaib.

»Vielen Dank«, sagte August und nahm die Riesenlampe an sich.

Seine erste Nacht in dem Haus würde bei schlechter Beleuchtung stattfinden.

Esmeralda lehnte sich an die Wand.

»Ein Secondhandladen«, sagte sie. »Erzählen Sie mehr davon.«

August lächelte. Er hatte gemeint, er sei zu alt, noch einmal neu anzufangen und zu tun, worauf er Lust hatte, anstatt die Erwartungen anderer zu erfüllen.

»Ich glaube, das könnte gut laufen«, sagte er. »Ich habe mir das Angebot an Geschäften in Kungshamn und den umliegenden Orten gründlich angeschaut, und …«

»Leuchten Sie uns doch nicht so direkt ins Gesicht«, unterbrach Sven ihn. »Das ist ja wie beim Zahnarzt.«

»Oh, Entschuldigung«, sagte August und beleuchtete stattdessen sich selbst.

Doch als er dann sein von unten angestrahltes Gesicht im Fenster erblickte, richtete er die Lampe lieber auf den Boden, denn das sah ja aus, als würde er eine Gruselgeschichte erzählen.

»Davon können Sie uns ja auch an einem anderen Tag mehr erzählen«, sagte Sven. »Auf jeden Fall wird es definitiv alle zum Schweigen bringen, die glauben, Sie würden ein Bordell eröffnen.«

August verstummte, und Esmeralda wand sich, peinlich berührt.

»Aber Sven!«

»Ich kann ja wohl nichts dafür, was ich an der Tankstelle so höre«, sagte Sven.

»Nein, aber du kannst sehr wohl was dafür, was du anderen Menschen, die du nicht kennst, einfach so ins Gesicht sagst«, schimpfte Esmeralda und schubste ihren Mann Richtung Tür.

Ein Bordell.

August hätte nicht erstaunter sein können. Niemand, der ihn kannte, würde auf so eine Idee kommen. Bordellbesitzer – das wäre wirklich eine Überraschung gewesen.

Er räusperte sich.

»Es wäre schön, die Leute hier in der Gegend ein bisschen besser kennenzulernen«, sagte er. »Haben Sie irgendwelche Tipps, wie ich das anstellen könnte?«

»Das kommt darauf an, welche Interessen Sie haben«, meinte Sven. »Wie wäre es mit der Seenotrettung?«

»Die Seenotrettung?«, fragte August. »Nein, das ist wohl eher nicht mein Ding.«

»Ah, also nicht«, antwortete Sven, »vielleicht werden Sie anders darüber denken, wenn Sie sich erst mal ein Boot anschaffen.«

Esmeralda strahlte.

»Die Leseratten«, sagte sie. »Das ist ein offener Lesekreis für alle, die mitmachen wollen. Wir treffen uns einmal im Monat im Belgier und sprechen über ein Buch, das wir gelesen haben. Die Herbstrunde beginnt in einer Woche, am 2. September.«

Diesen Vorschlag fand August richtig interessant. Er las sehr gern und hegte die Hoffnung, dass Bücher einen wichtigen Bestandteil seines Ladens ausmachen würden. Und ein Lesekreis war wirklich sehr weit von allem anderen entfernt, was er je in Stockholm so unternommen hatte.

»Das klingt wirklich nett«, sagte er. »Der Belgier ist wahrscheinlich eine Bar oder ein Restaurant, nehme ich an.«

»Eine Bar«, erklärte Esmeralda. »Wie schön, dass Sie mitmachen wollen.«

»Welches Buch lesen Sie jetzt gerade?«, erkundigte sich August.

»Der Report der Magd von Margaret Atwood. Wenn Sie mehr erfahren wollen, rufen Sie Maria Martinsson an. Die organisiert unsere Treffen.«

August holte sein Notizbuch heraus und schrieb eine Zeile hinein: Die Leseratten. Der Report der Magd. Atwood. Der Belgier. 2. September.

»Ich sage Ihnen auch noch Marias Nummer«, bot Esmeralda an, »falls Sie irgendwelche Fragen haben.«

»Oder falls Sie Hilfe brauchen«, schob Sven ein, »Maria ist nämlich Polizistin.«

Esmeralda verdrehte die Augen und las Marias Telefonnummer aus ihrem Handy vor. August notierte.

»Haben Sie dieses Notizbuch immer dabei?«, fragte Sven.

»Ja«, erwiderte August, »ich mag zeitlose Dinge.«

Sven starrte ihn an.

»Also, ich mag Sachen, die es wirklich gibt, die eine Geschichte haben«, schob August hinterher, um zu erklären, was er meinte.

Sven fuhr sich durch die Haare.

»In der Küche steht ein altes Radio«, sagte er, »vielleicht ist das was für Sie.«

Esmeralda gab August einen Schlüsselbund.

»Ein Hauptschlüssel und zwei Ersatzschlüssel«, erklärte sie. »Und der Schlüssel zum Fahrrad, wenn Sie das ausleihen wollen, bis Ihr eigenes hier ist. Wir haben es hinters Haus gestellt. Und hier noch ein Zusatzschlüssel zum Keller. Ach ja, dazu müssten wir Ihnen vielleicht etwas sagen. In den Keller kommen Sie von außen. Da stehen ein paar Sachen, die frühere Mieter zurückgelassen haben, und außerdem haben Sven und ich noch Kisten dort. Bitte sagen Sie Bescheid, wenn wir was wegräumen sollen, das machen wir dann natürlich. Und wenn Sie ein paar von den Möbeln aus dem Haus dort unterbringen wollen, geht das natürlich auch sehr gut.«

»Danke«, sagte August. »Das wird sicher aktuell, wenn mein Umzug kommt.«

»Dann viel Glück mit allem«, sagte Esmeralda.

Sie ging auf die Eingangstür zu, während Sven noch August die Hand schüttelte.

»Es ist ein guter Ort in dieser Welt, an den Sie gezogen sind«, sagte er. »Wenn wir nur rauskriegen, wohin Agnes Eriksson verschwunden ist, dann wird alles wieder wie immer sein.«

August hatte die Polizeiautos, die an der Bushaltestelle vorbeigefahren waren, schon fast vergessen.

»Heißt die Frau so, die verschwunden ist?«, fragte er. »Agnes Eriksson?«

Esmeralda nickte.

»Sie wohnt in Kungshamn«, sagte sie. »Hoffentlich ist ihr in dem Unwetter nichts zugestoßen.«

»Wahrscheinlich sitzt sie in irgendeiner Kneipe und trinkt Wein«, sagte Sven. »Oder sie ist ins Ausland gefahren. Ihr Mann verdient schließlich gut, bestimmt ist das irgendein schlaues Steuerding, was die drehen.«

Esmeraldas Miene verfinsterte sich. Offenkundig gefiel ihr nicht, wie ihr Mann von der Vermissten sprach, und in ihrem Gesicht spiegelten sich Sorge und Angst.

»Jetzt lassen wir uns diese elende Geschichte mal egal sein«, sagte Sven. »Rufen Sie uns einfach an, wenn irgendwas ist.«

Er sah Esmeralda kurz nach, die durch die Tür verschwand und die knarrende Treppe hinunterging. Sven zögerte ein wenig, doch dann drehte er sich entschlossen zu August herum und sagte mit gesenkter Stimme:

»Die Leute hier reden ziemlich viel.«

August wartete auf eine Fortsetzung.

»Ich meine«, sagte Sven, »glauben Sie bloß nicht alles, was Sie hören. Und definitiv nicht das Gerede über die Frauen, die verschwunden sind.«

Diese Bemerkung fand August besonders merkwürdig. Waren denn noch mehr Frauen verschwunden?

»Okay?«, sagte er abwartend.

»Das ist wichtig«, betonte Sven. »Hören Sie nicht auf das Getratsche der Leute. Mit diesem Haus ist alles in Ordnung.«

August zog die Augenbrauen hoch.

»Okay«, sagte er wieder.

Sven nickte.

»Gut«, sagte er, »gut.«

Und damit verschwand er aus der Tür und ließ August allein im Dunkel zurück.

Mit diesem Haus ist alles in Ordnung.

Nur hatte August das Gefühl, dass Sven selbst sich da gar nicht so sicher war.

Mit der Taschenlampe in der Hand ging er in die Küche zurück. Das Radio, das Sven erwähnt hatte, stand in einem der Fenster. Soweit August sah, hatte es kein Kabel, schien also per Batterie betrieben zu sein.

Er probierte, es einzuschalten, und lautes Geknaster erfüllte die Küche.

Nachdem er es leise gedreht hatte, suchte er nach einem Sender und hatte auch schon bald den Westküstensender gefunden. Da brachte man Lokalnachrichten über den Sturm und die verschwundene Frau, von der die Janssons erzählt hatten.

Eine junge Reporterin berichtete direkt aus Kungshamn. Sie redete so schnell wie eine Sportkommentatorin und bemühte sich kein bisschen zu verbergen, wie exaltiert sie war.

»Hier bei mir habe ich Kriminalkommissarin Maria Martinsson, die an der Suche nach der verschwundenen Agnes Eriksson beteiligt ist«, sagte sie. »Was meinen Sie? Wann werden Sie Agnes gefunden haben?«

August wurde hellhörig. Das musste dieselbe Maria Martinsson sein, die den Lesekreis leitete.

Eine andere Frauenstimme antwortete:

»Wir tun, was wir können, um Agnes Eriksson zu finden. Falls jemand etwas gesehen oder gehört hat, was für die Polizei wichtig sein könnte, soll er sich bitte sofort telefonisch bei uns melden.«

Im Unterschied zu der Reporterin klang die Stimme der Polizistin ruhig und besonnen.

Autorität, dachte August. Sie hat Autorität.

»Was können Sie uns von Agnes Eriksson berichten?«, fragte die Reporterin.

Der Regen schlug an die Fenster des Hauses.

August schauderte es.

»Im Moment konzentrieren wir uns darauf, sie zu finden«, sagte Maria. »Wir hoffen, bereits heute Nacht eine Lösung zu haben. Jetzt muss ich leider weiter.«

»Danke, dass wir mit Ihnen sprechen durften«, sagte die Reporterin.

August schaltete das Radio aus.

Ein Blitz erhellte den Himmel, und gleich danach war ein Donner zu hören.

Dann gingen die Lichter im Haus an.

Der Strom war wieder da.

November

Heute habe ich zum ersten Mal meinen Therapeuten getroffen. Meine Chefin hatte mich bei einem Psychologen in Uddevalla angemeldet. Die Therapie hat meinen lieben Ehemann bedenklich hoch erfreut. Ich weiß schon, warum er das für eine so gute Idee hält. Weil ich gesagt habe, dass ich mich kaputt und verloren fühle, dass ich wünschte, ich würde ein Werkzeug finden, um meinen Alltag zu verändern, ohne Haus, Job und Mann zu wechseln. Fredrik ist kein Mensch, der sieht, dass er in einem solchen Zusammenhang selbst auch etwas beizutragen hätte. Er denkt, das Problem bin ich, und jetzt will er, dass ich mich darum kümmere, ehe er auch noch ein Problem bekommt.

Der Therapeut hat vorgeschlagen, ich solle Tagebuch schreiben. Nicht jeden Tag, sondern nur einmal im Monat. Da würde es leichter, den Blick zu heben und die größeren Perspektiven zu erkennen.

Und der Vorschlag hat mir gefallen.

»Erzählen Sie von sich selbst«, forderte der Therapeut mich auf. »Was ist schwierig? Und was macht Sie richtig glücklich?«

Ich glaube, es ist so: Am glücklichsten bin ich, wenn ich bei der Arbeit bin. Und das ist unhaltbar. Ich liebe es, Lehrerin zu sein. Die Leute sagen, man würde es mir ansehen, wie meine Miene sich aufhellt und ich leuchte, strahle, funkele, wenn ich darüber rede, was in der Schule passiert und welche kleinen und großen Geschichten ich zusammen mit den Kindern in meiner Klasse erlebe. Das ist sicherlich so. Ich hoffe es jedenfalls. Denn wenn man sehen kann, dass ich strahle, muss man doch auch sehen können, wenn ich betrübt bin. Wie gesagt, es ist unhaltbar, dass ich bei der Arbeit am glücklichsten bin.

Ich will nicht, dass es so ist. Ich brauche einen Plan, und den ziemlich schnell. In weniger als zwei Jahren macht Isak Abitur. Er hat schon jetzt verkündet, dass er so schnell wie möglich von zu Hause ausziehen will, und das glaube ich ihm auch. Auf der einen Seite erkenne ich, dass er mich mehr denn je braucht, auf der anderen war er noch nie so sehr davon überzeugt, dass er allein klarkommen wird.

Fredrik arbeitet und arbeitet. Man könnte sagen, er schuftet, um weiterzukommen, aber ohne eine klare Richtung. Ihn scheint das nicht zu belasten, Fredrik bleibt ruhig, solange er sicher sein kann, dass sein Erfolg bei anderen Neid und Bewunderung weckt.

Ich selbst bin den Freuden und Präferenzen anderer gegenüber gleichgültig.

Wir sind eine schlechte Kombination.

Die wenigen Male, an denen ich spüre, dass unsere Beziehung nach wie vor einen lebendigen Nerv besitzt, ist, wenn wir streiten. Nach dem Streit haben wir sogenannten Versöhnungssex, und es gelingt uns irgendwie, den ein ums andere Mal auf ein neues Niveau zu heben. Das ist eine ungesunde Dynamik, aber ich weiß nicht, wie wir da rauskommen sollen. Zwischendrin schlafen wir nicht viel miteinander. Fredrik arbeitet schließlich so viel.

Der Therapeut hat gefragt, wann Fredrik und ich als Paar am besten funktionieren. Ich habe geantwortet, dass wir gut darin sind zu verreisen, aber das hält ja nicht lange vor.

Ich bin traurig, dass es so viel gibt, was wir nicht mehr machen.

Dass es so vieles gibt, aus dem wir herausgewachsen sind.

Das Leben geht einfach weiter.

Ich arbeite und gehe nach Hause.

Arbeite und gehe nach Hause.

Es muss sich etwas verändern. Es muss was passieren. Vielleicht bin ich Meisterin darin geworden, die Bedürfnisse anderer zu sehen, aber jetzt muss ich feststellen, dass ich nicht so gut darin bin, meine eigenen zu erkennen. Und das tut auch niemand anders. Wenn mich jemand bitten würden, mich selbst in höchstens zwei Zeilen zu beschreiben, dann sähe das so aus:

Ich heiße Agnes Eriksson.

Und ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal das Gefühl hatte, gesehen zu werden.

1. September

»Ihr glaubt, dass sie tot ist.«

Wir hoffen, bereits heute Nacht eine Lösung zu haben.

Eine Woche war vergangen, seit Maria Martinsson diesen Satz im Lokalradio ausgesprochen und ihn seither stündlich bereut hatte. Wie hatte sie nur so etwas Amateurhaftes sagen können?

Die Antwort war ebenso einfach wie traurig: Maria hatte Trost schenken wollen. Das wollte sie immer noch, aber es hatte nicht geklappt. Denn am nächsten Tag suchten sie immer noch. Und so war es weitergegangen, Tag um Tag.

Als am siebten Morgen, nachdem Agnes vermisst gemeldet worden war, der Wecker klingelte, lag Maria schon wach und starrte an die Decke.

Sieben Tage Suche an Land und auf dem Meer.

Die Ermittlungsarbeit konzentrierte sich nun darauf herauszufinden, ob das Verschwinden von Agnes mit einem Verbrechen in Verbindung stand. Und man wollte auch sicherstellen, dass sie sich nicht freiwillig wegbegeben hatte. All das, um sicher sein zu können, dass sie keinem Unfall zum Opfer gefallen war.

Sie hatten alles getan, was sie konnten. Die notwendigen Absperrungen aufgestellt, unzählige Befragungen und massive Sucheinsätze mit Hunden, Helikopter und Booten. Und dann hatte man weiterhin auf dem ganzen Weg vom Haus der Erikssons bis runter zum Hafen und im umliegenden Gebiet an jede Tür geklopft. Drei Mal hatten sie bei allen vorgesprochen. Nur ganz wenige waren zu Hause gewesen, und so hatten sie immer noch keine weiteren Zeugen als die Dame, die gesehen hatte, wie Agnes in Richtung Hafen an ihrem Haus vorbeiging.

Niemand hatte Agnes unten am Steg getroffen. Niemand hatte ungewöhnlichen Lärm gehört oder andere Beobachtungen gemacht.

Agnes war und blieb verschwunden.

Maria schickte ein kurzes Stoßgebet zum Himmel, dass dies hier der Tag sein möge, an dem sich alles wenden und sie ein richtig fettes Puzzleteil auf den Tisch bekommen würden, mit dem man arbeiten konnte. In ihrer Brust wuchs die Entschlossenheit.

Sie durften nicht aufgeben. Noch nicht.

Neben ihr bewegte sich Paul. Sie kannte seine Bewegungsmuster auswendig, wusste genau, was er als Nächstes tun würde. Trotzdem hatte sie immer das Gefühl, einen Schritt hinter ihm zu sein. Bei der Arbeit war sie Polizistin, zu Hause war sie die Frau ihres Mannes.

»Guten Morgen«, sagte er, als er das durchdringende Signal des Handys ausgeschaltet hatte.

Sie streckte sich.

»Guten Morgen.«

Er gab ihr einen eiligen Kuss auf die Wange, während er gleichzeitig den Blick schon auf das Telefon gerichtet hatte. Die Finger arbeiteten schnell. Erst checkte er die Websites der Abendzeitungen. Dann ging es schnell weiter zu den größten Tageszeitungen: Svenska Dagbladet, Dagens Nyheter, Göteborgs-Posten.

Alles das wusste sie, ohne das Display seines Handys sehen zu müssen.

Sie angelte nach ihrem eigenen Telefon.

Gegen acht Uhr würde sie sich mit Ray-Ray treffen, um einen Freund von Agnes zu vernehmen. Sie hatten systematisch Freunde und Bekannte und Kollegen der Vermissten ausfindig gemacht, doch inzwischen gingen ihnen langsam die Namen aus.

»Gut geschlafen?«, fragte Paul.

»Sehr gut«, erwiderte Maria.

Er tat das Handy beiseite und legte eine Hand auf ihre eine Brust. Es war eine abwesende Geste, wie in Gedanken. Maria flocht ihre Finger zwischen seine.

»Du hast in den letzten Tagen wahnsinnig viel gearbeitet«, sagte er und drückte ihre Hand.

Maria schob sich näher heran und legte den Kopf auf seine Schulter.

»Ich weiß«, sagte sie, »aber die Wende wird bald kommen.«

Pauls Hand löste sich aus ihrer und wanderte weiter ihren Bauch hinunter. Sein Finger zeichnete einen vorsichtigen Kreis um ihren Nabel.

»Werdet ihr sie finden?«

Maria nickte.

»Es gibt keine andere Option«, sagte sie. »Wir müssen sie finden.«

Ein Handyklingeln ließ sie beide den Kopf heben. Pauls Telefon. Seine Hand verschwand von ihrem Bauch. Maria hörte zu, während er ranging.

Paul strich ihr über die Wange.

»Nein, es ist überhaupt nicht zu früh«, sagte er auf Englisch in das Telefon, »selbstverständlich können wir reden.«

Er sah Maria mit resignierter Miene an. Sie flüsterte:

»Wir sparen uns für heute Abend auf.«

Dann verließ sie das Bett.

Er warf ihr eine Kusshand zu und sagte ein lautloses »Sorry«.

Sie schlich aus dem Schlafzimmer und zog die Tür hinter sich zu.

Die Ermittlergruppe würde sich am Vormittag treffen und entscheiden, wie es weitergehen sollte. Für Maria war die Antwort einfach, wie sie schon zu Paul gesagt hatte:

Solange Agnes’ Verschwinden ein Rätsel war, gab es keine andere Option, als zu suchen und der Sache auf den Grund zu gehen.

Der Wind wirbelte den Staub vom Wendeplatz vor dem Eingang zur Maklerfirma. Maria schloss ihr Fahrrad ab und ging hinein. Ray-Ray wartete an der Rezeption auf sie. Hier würden sie einen der Makler befragen, Viktor Bengtsson, der ein alter Klassenkamerad von Agnes aus Gymnasiumszeiten war. Mit jeder Vernehmung, die sie tätigten, bewegten sie sich weiter weg von Agnes’ engstem Kreis hin zu immer entfernteren Personen. Der Makler Viktor war genau dafür ein Beispiel.

Die Maklerfirma saß draußen auf Kleven mit Blick auf den bekannten Steg Smögenbryggan, nur knapp zehn schnelle Minuten per Fahrrad von Marias und Pauls Haus entfernt. Dennoch war ihr, als wäre sie in einem anderen Teil von Bohuslän gelandet. Überall neu gebaute Mehrfamilienhäuser, die – in der Architektensprache – mit den Klippen »verschmolzen« (was sie nach Marias Ansicht gar nicht taten), und nirgends waren irgendwelche Menschen zu sehen.

Viktor empfing sie in seinem Büro. Eine Sekretärin brachte Kaffee und schloss dann die Tür hinter sich, als sie ging.

»Wie läuft es bei Ihnen? Natürlich möchte ich so viel helfen, wie ich kann.«

Viktor sah bekümmert aus. Maria hatte seinen Hintergrund gecheckt und festgestellt, dass er ein gesetzestreuer Bürger mit ungewöhnlich hohem Einkommen war.

Er trug ein blau-weiß gemustertes Hemd, ein marineblaues Jackett und helle Chinos. Er sprach mit einer knarrenden Stimme, die ihn älter wirken ließ, als er war.

»Wir arbeiten einfach«, sagte Maria.

Das war eine Untertreibung. Sie schufteten wie Tiere, doch das merkte man nicht.

Ray-Ray und sie saßen Viktor gegenüber auf Besucherstühlen. Zwischen ihnen thronte ein großer, moderner Schreibtisch. Alles im Zimmer – Wände, Schränke, Regale und Möbel – war weiß, nur auf dem Fußboden lag helles Eichenparkett. Maria war schleierhaft, wie er das aushielt.

Ray-Ray lehnte sich zurück.

Er mochte Viktor Bengtsson nicht, und das war unnötig deutlich zu erkennen.

»Wann haben Sie Agnes zuletzt gesehen?«, fragte er.

»Vor drei Wochen. Wir haben auf dem Steg Kaffee getrunken.«

Maria nahm an, dass er die Smögenbryggan mit ihren vielen Cafés und Geschäften meinte.