Die Frau im Eishaus - Kristina Ohlsson - E-Book

Die Frau im Eishaus E-Book

Kristina Ohlsson

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Beschreibung

Ein erhängter Mann unter dem Sprungturm, eine zerstückelte Leiche in der Gefriertruhe – und ein Backwettbewerb! Ein neuer Fall für August Strindberg.

Obwohl der Sommer noch nicht vorüber ist, legt sich hartnäckiger Nebel über Hovenäsets Eisbuden, Segelboote und Badestege. Während sich August intensiv auf einen Backwettbewerb vorbereitet, zieht eine Unbekannte nach Hovenäset. Und zwar ausgerechnet in das Eishaus: jenes Gebäude, in dem August die zerstückelte Leiche von Lydia Broman fand. Dann taucht ein erhängter Mann unter dem Sprungtum auf – hat die fremde 19-Jährige etwas mit dem Toten zu tun? Endlich löst sich auf, was Lydia Broman im Jahr 1989 zustieß, und ob August Strindberg den Backwettbewerb gewinnt.


Können Sie nicht genug bekommen von August Strindberg? Lesen Sie in »Die Tote im Sturm«, wie er nach Hovenäset kam.

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Seitenzahl: 654

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Buch

Obwohl der Sommer noch nicht vorüber ist, legt sich hartnäckiger Nebel über Hovenäsets Eisbuden, Segelboote und Badestege. Während sich August intensiv auf einen Backwettbewerb vorbereitet, zieht eine Unbekannte nach Hovenäset. Und zwar ausgerechnet in das Eishaus: jenes Gebäude, in dem August die zerstückelte Leiche von Lydia Broman fand. Dann taucht ein erhängter Mann unter dem Sprungturm auf – hat die fremde 19-Jährige etwas mit dem Toten zu tun? Endlich löst sich auf, was Lydia Broman im Jahr 1989 zustieß, und ob August Strindberg den Backwettbewerb gewinnt.

Autorin

Kristina Ohlsson, Jahrgang 1979, arbeitete im schwedischen Außen- und Verteidigungsministerium als Expertin für EU-Außenpolitik und Nahostfragen, bei der nationalen schwedischen Polizeibehörde in Stockholm und als Terrorismusexpertin bei der OSZE in Wien. Mit ihrem Debütroman »Aschenputtel« gelang ihr der internationale Durchbruch und der Auftakt zu einer hoch gelobten Thrillerreihe um die Ermittler Fredrika Bergman und Alex Recht. Neben der Veröffentlichung zahlreicher Jugendbücher schuf Kristina Ohlsson außerdem den hartgesottenen Anwalt Martin Benner, der in den Bestsellern »Schwesterherz«, »Bruderlüge« und »Blutsfreunde« ermittelt. August Strindberg ist Ohlssons neueste Romanfigur, der als Hobbyermittler mit seinem gelben Leichenwagen Fälle löst, obwohl er gar nichts mit der Polizei zu schaffen hat …

Weitere Schweden-Krimis von Kristina Ohlsson:

Aus der Serie mit Fredrika Bergman und Alex Recht:

Aschenputtel

Tausendschön

Sterntaler

Himmelschlüssel

Papierjunge

Sündengräber

Aus der Serie mit Martin Benner:

Schwesterherz

Bruderlüge

Blutsfreunde

Aus der Serie mit August Strindberg:

Die Tote im Sturm

Das Feuer im Bootshaus

Die Frau im Eishaus

Weitere in Vorbereitung

KRISTINA OHLSSON

DIE

FRAU

IM

EISHAUS

Ein SCHWEDENKRIMI mit AUGUST STRINDBERG

Deutsch von Susanne Dahmann

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »Skuggläge« bei Bokförlaget Forum, Stockholm.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright der Originalausgabe © 2022 by Kristina Ohlsson

Published by agreement with Salomonsson Agency

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2024 by Limes in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Ingola Lammers

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: mauritius images / Stuart Black / Alamy / Alamy Stock Photos; www.buerosued.de

BL · Herstellung: DiMo

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling 

ISBN 978-3-641-31263-3V001 

www.limes-verlag.de

Der Sommer begann damit, dass die Sonne schien und die Vögel zwitscherten. Im ganzen Land sprach man über die Mittelmeerhitze, und die erreichte sogar die Westküste. Das Dasein auf Hovenäset ging von harmonisch zu paradiesisch über. Die Eisbude war offen, und am Badeplatz bei Reso öffnete die Schwimmschule. Gleichzeitig begannen die jährlich von der Segelgemeinschaft Hovenäset organisierten Segelkurse, und als endlich auch alle Sommergäste vor Ort waren, gab es ein Singalong im Österparken.

Mit anderen Worten, die Stimmung auf der Halbinsel war in diesem Sommer sehr gut, als der Nebel angekrochen kam. Zunächst schüttelte man einfach nur den Kopf. Das Wetter war schließlich strahlend schön, was konnte schon ein bisschen Dunst daran ändern? Doch dann schloss sich ein dicker Nebel erster Güte, wie er sonst nur im Märchen vorkam, um den kleinen Ort, und da wurde man doch ein wenig nachdenklich.

Und so blieb es. An manchen Tagen strahlte die Sonne von einem klaren blauen Himmel, und dann wieder hing der Nebel so dicht, dass man kaum die Hand vor Augen sah. Das war sehr ungewöhnlich, darüber waren sich alle einig. So viel Nebel in so kurzer Zeit.

Mit einem Mal wurde der Sommer zu etwas, was kam und ging. Manchmal war er da, dann wieder nicht. Als würde die Jahreszeit manchmal einatmen, um die Sonne scheinen zu lassen, und dann wieder ausatmen, um dem Nebel Platz zu machen.

In dieser seltsamen Zeit stieg auch das Vergangene wieder an die Oberfläche.

Jemand hatte die Gelegenheit erkannt, ein jahrzehntealtes Geheimnis zu lüften – und damit war das Drama vorprogrammiert.

Niemand konnte ahnen, dass die Sache bereits ins Rollen gebracht worden war.

Niemand wurde gewarnt, keiner blieb verschont.

Als schließlich neuer Nebel über die Halbinsel zog, stieg die Anspannung unter den Bewohnern von Hovenäset. Wem konnte man noch vertrauen? Und was würde die Wahrheit diejenigen kosten, die ihr Leben lang verzweifelt versucht hatten, die Schrecken der Vergangenheit zu verbergen?

20. Juli

»Ein dunkler, schwerer Schatten«

Als er am Tierpark Nordens Ark vorbei war, verdichtete sich der Nebel. Laut Navi hatte er da noch ungefähr dreizehn Kilometer bis Hovenäset, was mit vierzehn Minuten Fahrzeit berechnet wurde.

Vilhelm seufzte.

Das Navi hatte keine Ahnung von Nebel, so viel stand fest. Er kroch im Schneckentempo über eine Landstraße, und selbst das fühlte sich schon zu schnell an. Diese Fahrt hier dauerte einfach so lange, wie sie dauerte. Da er es bis hierher geschafft hatte, wäre es völlig bekloppt, alles zu ruinieren, indem er von der Straße abkam.

Vilhelm hielt das Lenkrad fester als sonst und ertappte sich dabei, wie er sich beim Fahren vorbeugte, als ob er dann besser sehen könnte. Er lachte in sich hinein. Nun benahm er sich wirklich wie sein alter Großvater, der mindestens zehn Jahre zu lange stur darauf beharrt hatte, noch weiter Auto zu fahren.

Er wischte sich über die Stirn.

Irgendwas stimmte mit der Heizung nicht. Man konnte sie nicht abschalten, deshalb war es die ganze Zeit zu warm im Auto. Jetzt, da er so langsam fuhr, hatte er die Fenster sowohl auf der Fahrer- als auch auf der Beifahrerseite ein paar Zentimeter geöffnet, doch auf der Schnellstraße war das viel zu laut gewesen, da hatte er sie geschlossen halten müssen.

Verdammte Scheißkarre. Er hätte sich einen anderen Wagen ausleihen sollen. Mit diesem Schrotthaufen konnte man keinen Staat machen.

Vilhelm fluchte leise vor sich hin.

Der Nebel schuf eine so märchenhafte Stimmung, dass er eine Gänsehaut bekam. Ein Straßenschild informierte ihn darüber, dass er sich nun Askum näherte. Gleichzeitig sagte das Navi, dass er bald links abbiegen und dann den Hallindenvägen runterfahren sollte. Von der umliegenden Landschaft konnte er fast nichts erkennen, der Nebel war zu dicht. Auf der rechten Seite konnte er Felder erahnen, und ab und zu kam er linker Hand an etwas vorbei, das wie Wasser aussah.

Er fuhr nicht zum ersten Mal nach Hovenäset und wusste sehr wohl, wie schön die Strecke auf den letzten Kilometern war, denn er hatte die Natur im Herbst, Winter, Frühjahr und jetzt im Sommer ihre Farben wechseln sehen. Ein ganzes Jahr hatte er in das Projekt investiert, und jetzt endlich war das Ende der Reise in Sicht.

Was war das für ein Jahr gewesen.

Was für eine Schufterei.

Aber das war es unbedingt wert.

Vilhelm umklammerte das Steuerrad noch fester.

Das hier würde eine große Sache werden. Richtig groß.

Ein Blick aufs Navi. Gleich war er da, wenn auch etwas später als vereinbart.

Er hatte Schmetterlinge im Bauch.

Jetzt war er kurz vorm Ziel, das spürte er am ganzen Leib.

Der Nebel schloss sich dicht um das Auto. Es war kurz vor drei Uhr nachmittags, doch das viele Weiß löste die Grenze zwischen Tag und Nacht, zwischen Sommer und Winter auf. Die Wirklichkeit endete fünf Meter vorm Auto. Alles danach war nur weißer Rauch.

Das Auto rollte am Ortsschild von Hovenäset vorbei.

Vilhelm blinkte links und bog in den Lerdalsvägen ein, eine Nebenstraße über die Halbinsel.

Langsam glitt der Wagen durch den Ort.

Die weißen Häuser wirkten im Nebel geradezu gespenstisch. Ein in Milch getauchtes Sommerparadies.

Bald würde er da sein. Bald würde er der Wahrheit, die so lange unentdeckt bleiben konnte, einen weiteren Schritt näher kommen.

»Walderdbeeren-Pie«, sagte August Strindberg.

Er saß in seinem Secondhandladen in Kungshamn am Schreibtisch und sah Maria erwartungsvoll an. Sie lehnte an einem der hohen Bücherregale, aus dem sie ein Jugendbuch gezogen hatte. Ihr taubenblaues Sommerkleid endete kurz oberhalb der Knie.

Sie sah skeptisch aus.

»Gibt es das nicht schon?«, fragte sie.

»Natürlich gibt es Walderdbeeren-Pie«, erwiderte August ungeduldig. »Aber so darf man doch nicht denken. Es geht schließlich darum, die eigene einzigartige Version zu entdecken.«

Maria lächelte. An diesem Lächeln konnte sich August gar nicht sattsehen.

»Strindbergs Walderdbeerenversteck«, sagte sie.

»So in der Art«, erwiderte August.

»Das wird bestimmt gut. Aber wenn das zu einem Kuchen reichen soll, musst du wahrscheinlich die ganze kostbare Walderdbeerenstelle abernten.«

»Gegessen werden sie ja sowieso. Und es müssen ja nicht nur Walderdbeeren im Kuchen sein. Ich kann mir auch Blaubeeren und etwas weiße Schokolade als Füllung vorstellen. Aber mich legst du nicht rein. Ich sehe genau, dass du das Thema nicht wirklich ernst nimmst. Ich werde einfach einen Pie probebacken, und dann schauen wir mal, was du meinst.«

»Just do it«, entgegnete Maria.

Im Frühjahr, als die Tage heller und länger wurden und alles um ihn herum grünte, war August die Idee mit dem Backwettbewerb gekommen.

Der Plan war einfach: Es ging darum, den besten Kuchen von Hovenäset zu backen. Wer mitmachen wollte, musste ein eigenes Rezept erfinden, und dann sollte eine Jury entscheiden, welches das beste Backwerk war.

August hatte sich sein ganzes Erwachsenenleben lang anhören müssen, wie ungewöhnlich es doch war, dass er gerne buk. In seiner Heimatstadt Stockholm hatten sich Männer höchstens mal zu Sauerteigbrot hinreißen lassen, doch er stellte süße Stückchen und Konditoreitörtchen her, und das erstaunte die Leute. Dabei machte er das nicht, um zu essen, sondern weil er das Ritual und den kreativen Moment mochte. Es hatte etwas Meditatives, binnen weniger Stunden – oder manchmal auch schneller – von der Idee zu einem fertigen Werk zu gelangen.

Und wenn sein Hobby schon im Stockholmer Bekanntenkreis eher ungewöhnlich gewesen war, so hatte es ihn unter den Männern in Kungshamn und Hovenäset erst richtig zum Exzentriker gemacht.

Ungefähr so wie sein Name.

August Strindberg. Konnte man so denn heißen?

Ja, das konnte man. Er hieß so, und ja, natürlich war er mit dem Schriftsteller verwandt, doch nur sehr weit entfernt.

Der Gedanke an den Wettbewerb, den er ins Leben gerufen hatte, machte August froh. In zwei Wochen war es so weit. Er hoffte, dass dieses Ereignis etwas Licht auf Hovenäset werfen würde. Es kannten einfach viel zu wenig Menschen diese wunderbare Halbinsel. Von Smögen, das knapp sieben Kilometer entfernt lag, hatte jeder schon gehört oder war sogar dort gewesen, doch die wenigsten wussten, dass Hovenäset existierte. Das fand August schade, denn von allen Orten, die er in seinem Leben besucht hatte, war dies der absolut schönste.

Maria riss ihn aus seinen Gedanken, als sie versehentlich das Buch fallen ließ, in dem sie blätterte. Schnell hob sie es wieder auf und schob es zurück ins Regal.

Die hellbraunen Locken tanzten ihr ums Gesicht, als sie sich bewegte.

Sonne, salziger Wind und das Schwimmen im Meer hatten ihre Haare ausgebleicht. Sie hatte Sommersprossen auf der Nase, und ihre Haut war hellbraun.

Wie herrlich, dachte August, und musste lächeln.

Es war ihr letzter Urlaubstag. Die Ferien gehörten zu den besten, die August je erlebt hatte. Ganz Bohuslän hatte fast die ganze Zeit herrliches Sommerwetter geboten, und Maria hatte ihre Wohnung auf Fisketången in Kungshamn verkauft, um endgültig bei ihm auf Hovenäset einzuziehen. Sie hatten Besuch von Augusts Freunden aus Stockholm gehabt, und auch Marias Eltern waren da gewesen und hatten beim Umzug geholfen.

Alles stimmte. Das Leben war so perfekt wie nur möglich.

Ein solches Glück hätte er sich nicht träumen lassen, als er vor einem Jahr hier gewesen war und das alte Bestattungsinstitut in Kungshamn besichtigt hatte. Doch dann war alles so schnell gegangen. Mit 45 Jahren verließ er Knall auf Fall das Leben als Finanzbeamter in der Hauptstadt, um sich in der Region Bohuslän an der Westküste niederzulassen, und, einmal vor Ort, verwandelte er das Bestattungsinstitut in einen Laden für alte Dinge, die ebenso heimatlos waren wie er selbst.

Lautester Kritiker war damals sein bester Freund Henrik gewesen.

»Du denkst doch nicht klar«, hatte er gesagt. »Deine Eltern sind gerade gestorben, und deine Freundin hat dich verlassen. Jetzt überstürz mal nichts!«

Überstürzen?, hatte sich August gefragt. Wie kann es überstürzt sein, ein Dasein zu verlassen, in dem ich mich nie wohlgefühlt habe?

Und so dachte er immer noch. Die Westküste und sein Secondhandladen waren genau das Richtige für ihn. Davon war er immer fester überzeugt.

Heute war er allerdings nur im Laden, um nach dem Rechten zu sehen, bevor am nächsten Tag der Urlaub zu Ende ging. Und außerdem hatte er versprochen, einen Sommergast abzuholen, der ein Haus auf Hovenäset mieten wollte.

»Wann wird sie eigentlich kommen?«, fragte Maria.

»Viertel nach sechs, sie müsste also bald da sein.«

Esmeralda Jansson hatte sich bei August gemeldet und gefragt, ob er vielleicht den Gast in Kungshamn abholen könnte.

»Sie wird unser Haus auf Hovenäset mieten«, hatte sie erklärt, »und das für ganze zwei Wochen. Bloß jetzt hat sie mir geschrieben, dass sie zwei Tage früher kommt als geplant. Aber da sind Sven und ich verreist. Du hast ja schon mal in dem Haus gewohnt und kennst dich aus, und da dachte ich, du könntest sie vielleicht empfangen und ihr alles zeigen.«

Nur wenige Häuser hatten eine so finstere und dramatische Geschichte wie das von den Janssons. Es wurde »das Eishaus« genannt und war Augusts erstes Zuhause auf Hovenäset gewesen.

Das Eishaus war hauptsächlich wegen einer einzigen Sache bekannt:

Vor knapp dreißig Jahren hatte ein junges Paar in dem Haus gewohnt. Die Frau hieß Lydia Broman und war eines Tages plötzlich verschwunden. Kurz darauf wurde ihre Leiche zerstückelt in der Tiefkühltruhe gefunden, die im Keller ihres Hauses stand. Ihr Mann war für das Verbrechen zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden und hatte sich später im Gefängnis das Leben genommen.

Daher hatte das Eishaus seinen Namen, und aus diesem Grund wollte niemand auf Dauer dort leben – nicht einmal die Besitzer Sven und Esmeralda. Sie hatten das Haus als Geldanlage gekauft und angefangen, es im Sommer, wenn die Touristen Bohuslän bevölkerten, wochenweise zu vermieten.

»Wir können der Frau, die wir mitnehmen sollen, ja schon mal entgegengehen«, schlug Maria vor. »Vielleicht findet sie im Nebel nicht hierher.«

»Ich schalte nur noch die Alarmanlage ein«, sagte August.

Die Alarmanlage war das neueste Modell. Sie war teuer gewesen, doch niemand hatte infrage gestellt, dass August eine anständige Alarmanlage brauchte. Nicht nach alldem, was im letzten Winter im Zusammenhang mit dem Brand in seiner Bootshütte passiert war. Damals wäre er fast ums Leben gekommen, doch dachte er immer seltener an die schlimmen Tage. Er und Maria lebten und waren gesund, und das war das Einzige, was zählte. Die Ordnung war wiederhergestellt und die Bootshütte neu aufgebaut. Bei Maria dauerte es etwas länger, die Ereignisse zu verarbeiten, doch schien es ihr mit jeder Woche und jedem Monat, der verging, besser zu gehen.

August streckte seinen Finger aus, um die sechs Ziffern des Codes, die den Alarm aktivierten, einzutippen, hielt aber inne, als plötzlich sein Telefon klingelte.

Als er sah, wer ihn anrief, konnte er einen Seufzer nicht unterdrücken.

Gunnar Wide.

Der Ritter von Hovenäset und bis vor Kurzem der Vorsitzende der örtlichen Interessenvereinigung.

Immer bereit, sich in irgendetwas einzumischen, das ihn nichts anging.

Schnell tippte August den Code ein und ging mit Maria auf die Straße hinaus. Sie grinste, als er ihr das Telefon hinhielt, sodass auch sie sehen konnte, wer da anrief.

Gunnar war es gewesen, der an jenem Wintertag August das Leben gerettet hatte, deshalb konnte man ihn nur schwer abweisen. Seit einem Schlaganfall saß er nunmehr im Rollstuhl, doch das hatte überhaupt nichts verändert, denn nun nutzte er erst recht jede Gelegenheit, Gesellschaft und Aufmerksamkeit zu bekommen.

»Jetzt habe ich gerade keine Zeit«, sagte August. »Ich rufe ihn nachher zurück.« Das Handy verstummte, als hätte Gunnar neben ihnen gestanden und gehört, was August sagte.

Und da erblickten sie den Schatten.

August blinzelte.

Plötzlich war er einfach da.

Eine dunkle Gestalt bewegte sich durch die Nebelschleier auf sie zu.

Wie ein Gespenst, dachte August. Genau wie ein Gespenst.

Geheimnisse können krank machen. Das pflegte die Großmutter von Oskar Samuelsson immer zu sagen, und er konnte ihr da einfach nur recht geben. Lügen waren ein Gift, das Menschen und Beziehungen zerfraß. Trotzdem gab es so viele.

Vor allem in Oskars Familie.

Ohne diesen Ort und diese Menschen hier wäre ich verloren, dachte er, als er die Tür öffnete und vor den Räumen der Anonymen Alkoholiker in Kungshamn auf die Treppe trat. Die Sitzung war vorüber, und wie immer fühlte er sich gestärkt und sicher.

Mit einem Lächeln auf dem Gesicht atmete er die kühle Sommerluft ein.

Die meisten Menschen hatten Geheimnisse, aber wer hatte schon so vieles, wofür er dankbar sein konnte, wie Oskar? Er hatte ein Kind, das er über alles liebte, ein Zuhause, in dem er sich wohlfühlte, und einen Job, der ihm Spaß machte.

Keine Selbstverständlichkeiten – das war ihm schmerzhaft bewusst. Die Zeit, in der er all das nicht gehabt hatte, lag nur wenige Jahre zurück.

»Wie ist es denn dazu gekommen?«, hatte ein Therapeut, der ihm über die Anonymen Alkoholiker vermittelt worden war, gefragt.

»Weiß nicht«, hatte er geantwortet.

Das war nicht die Wahrheit, aber doch die einzig denkbare Antwort. Er wusste nur zu gut, warum er irgendwann angefangen hatte zu trinken, und er wusste auch, warum er aufgehört hatte. Das musste genügen.

Oskar holte tief Luft.

Jetzt würde er nach Hause fahren und den Babysitter ablösen. Vielleicht würde er Matilda Chips essen und ein bisschen Limonade trinken lassen, um ein Gefühl von Sommerferien aufkommen zu lassen, obwohl er doch tagsüber arbeitete und der Nebel dick über dem Ort hing. Nicht, dass Matilda gewusst hätte, wie Nebel aussah, aber sie spürte durchaus, wenn es kühler wurde.

Oskars Tochter war blind geboren, und im Laufe der Jahre hatte er zu akzeptieren gelernt, dass seine Trauer darüber größer war als ihre. Sie wusste nicht, was man sehen konnte, und hatte ihre eigene Art, die Welt zu entdecken.

Zwei der anderen Teilnehmer traten aus dem Raum. Man nickte einander zu und sagte »Schönen Abend noch«, und jeder ging zu seinem Auto. Oskar kannte nur ihre Vornamen und konnte sich auch nicht erinnern, ihnen jemals in irgendeinem anderen Zusammenhang begegnet zu sein.

Das gehörte zum Besten mit den Anonymen Alkoholikern, dass man eben anonym bleiben konnte. Oskar passte das perfekt, denn so konnte er selbst entscheiden, was er über sich erzählen und worüber er kein Wort verlieren wollte.

So sprach er auf den Treffen laut und gerne davon, wie er nah daran gewesen war, als Mensch völlig bankrottzugehen. Er war ein junger Alkoholiker, gerade erst 38 Jahre alt. Was alle anderen in den ersten 38 Jahren ihres Lebens gemacht hatten, wusste er nicht, aber er selbst hatte sich von der Abhängigkeit ganze Jahrzehnte stehlen lassen.

Und am Ende war er sogar nah daran gewesen, Matilda zu verlieren.

»Du darfst unsere Tochter gerne besuchen, wenn du nüchtern bist«, hatte Matildas Mutter gesagt. »Doch solange du so drauf bist, werde ich nicht erlauben, dass sie übers Wochenende oder auch nur über Nacht bei dir bleibt.«

Jetzt lebte Matildas Mutter nicht mehr.

Sie war an einem sonnigen Frühjahrstag vor exakt 802 Tagen gestorben. Das waren ebenso viele Tage, wie Oskar nüchtern war. Kein Ereignis hatte sein Leben auf eine solche Weise verändert. Kein einziges. Nicht einmal Matildas Geburt.

Oskar bekam einen Kloß im Hals, wenn er daran zurückdachte, wie er wegen seiner Alkoholsucht Hilfe gesucht hatte. Er war außer sich vor Angst gewesen, weil er plötzlich die Elternrolle übernehmen musste und weil er nicht wusste, was Matilda davon halten würde, mit ihm zu leben. Vielleicht würde sie ihn hassen, wo er doch nicht einmal imstande war, sich selbst zu mögen.

Und dann war alles über jede Erwartung gut gegangen.

Er suchte in der Hosentasche nach den Autoschlüsseln. Der Nebel war wirklich grandios. Normalerweise wäre er zu Fuß zum Treffen gegangen oder mit dem Fahrrad gefahren, doch in diesem Wetter hatte sich das völlig unmöglich angefühlt.

»Alles in Ordnung?«

Seine Betreuerin Ellen stand neben ihm. Sie war für eine Frau recht groß, fast genauso groß wie Oskar, und er war einszweiundachtzig. Sie schaute ihn mit warmem Blick aus den braunen Augen an. Das dunkle Haar war kurz geschnitten, und in ihren Ohren trug sie wie immer große, auffällige Ohrringe – heute hatte sie sich mit zwei Papageien geschmückt.

»Ja, alles gut.«

Ellen war die beste Betreuerin, die Oskar sich denken konnte. Ihr Engagement war immer groß, aber nie erstickend. Bei den AA gab es nur wenige Regeln, aber eine, die in den meisten Gruppen berücksichtigt wurde, war, dass man keinen Betreuer des anderen Geschlechts haben durfte. Das könnte zu einer unglücklichen Vermischung von Gefühlen führen, zum Beispiel, wenn Menschen sich aus falschen Gründen ineinander verliebten. Aber Ellen war glücklich verheiratet mit ihrer Sonia, und deshalb durfte sie seine Betreuerin sein.

Er dankte den höheren Mächten für dieses Geschenk.

Die Idee mit den Betreuern war, Neulingen bei den AA das Gefühl zu geben, dass es jemanden gab, der ihren Kampf aus der Nähe verfolgte und verstand, und der auch zwischen den Treffen mal Fragen beantworten und eine Hilfe sein konnte.

»Man sieht dir an, dass es dir gut geht«, sagte Ellen. »Du scheinst an einem guten Punkt in deinem Leben zu sein.«

Oskar lächelte.

»So ist es«, antwortete er.

Tatsächlich war in diesem Moment alles in seinem Leben ganz genau so, wie es sein sollte.

Abgesehen von dem Geheimnis.

Und es gab noch eine Sache, die ihn beunruhigte. Nicht viel und nicht immer, aber manchmal. Denn Oskar hatte sich eine weitere Weisheit seiner Großmutter bewahrt, diesmal über das Zweifeln:

»Vom Zweifeln kommt die größte Ungewissheit, die den Menschen zerfrisst«, hatte sie gesagt. Auch das kannte Oskar. Aber was sollte man da schon tun? Zweifeln konnte ohnehin nur, wer Wahlmöglichkeiten hatte, und die gab es für Oskar nicht.

Und auch seine Großmutter hatte die vielleicht nicht immer gehabt, denn durch die gesamte Verwandtschaft zog sich eine vergiftete Linie des Blutes. Es begann mit Oskars Urgroßvater, der schon als junger Mann ins Strafarbeitslager gekommen war, nachdem er in einem Sommer mehrere Frauen vergewaltigt und in ganz Bohuslän Angst und Schrecken verbreitet hatte, und ging weiter zu Oskars Großvater, der wegen Mordes an einem Mann in seiner Jagdgesellschaft verurteilt worden war. Dann schien die kriminelle Ader eine Generation übersprungen zu haben, ehe sie erneut durch Oskar in der Familie Fuß fasste.

Verstohlen sah er zu Ellen.

Er wurde beschuldigt, etwas Schreckliches getan zu haben – das war sein Geheimnis. Und sein Zweifeln rührte daher, dass er sich selbst an nichts davon erinnerte.

Doch war es unmöglich, Ellen davon zu erzählen. Nicht jetzt und wahrscheinlich niemals.

Der Schatten löste sich aus dem Nebel, und ein junges Mädchen erschien.

»Hallo«, sagte sie, »ich bin Iben Syrén.«

August und Maria begrüßten sie und stellten sich vor. Ibens Händedruck war erstaunlich fest und stand in scharfem Kontrast zu ihrem fast kindlichen Aussehen.

»Welch ein dramatischer Auftritt«, sagte August und machte eine diffuse Geste in den Nebel hinein. »Willkommen in Kungshamn.«

Iben antwortete ihm mit einem reservierten Lächeln. Ihre helle Haut und das lange rote geflochtene Haar ließen sie jünger aussehen, als sie war. Laut Esmeralda Jansson war Iben neunzehn Jahre alt, und das stimmte sicherlich, denn die Janssons nahmen es immer sehr genau damit, ihr Haus nicht an unmündige Personen zu vermieten.

August fragte sich, wieso wohl ein junges Mädchen allein ausgerechnet das Eishaus mieten wollte. Er selbst hatte sich nicht über die Geschichte des Hauses informiert, ehe er dort eingezogen war, und scheinbar galt das noch mehr für Iben, denn nach den Geschehnissen im vorigen Herbst, als die Lehrerin Agnes Eriksson verschwunden war, hatte das Haus noch mehr Schlagzeilen gemacht.

Doch darüber wollte er nicht weiter grübeln. Er hatte anderes zu bedenken, zum Beispiel seinen und Marias letzten Abend im Zeichen der Dekadenz, ehe sie wieder an ihre Arbeitsplätze zurückkehren mussten. Sie waren auf Smögen gewesen und hatten frische Krabben und Muscheln für eine Meeresfrüchtepasta gekauft, die sie gemeinsam kochen wollten, und dann würden sie ein Glas Wein trinken und auf der verglasten »Punschveranda« sitzen und bei Nebel lesen. Oder sich vielleicht ins Bootshaus setzen, das seit Sommeranfang wiederhergerichtet war.

»Ist die Tasche schwer? Sollen wir tragen helfen?«

Marias Stimme riss August aus seinen Überlegungen. Ihre Frage richtete sich an Iben, deren Gepäck aus einem Rucksack und einer Reisetasche bestand.

»Ist es denn weit zum Auto?«, fragte Iben.

»Nein«, sagte August, »es steht hier um die Ecke.«

»Dann brauche ich keine Hilfe.«

August warf einen Blick in Richtung Hafen, ehe er die wenigen Schritte zum Auto ging. Dort konnte man die Konturen der Segelbootmasten erahnen, doch die immerhin vierhundert Meter lange Smögen-Brücke war kaum mehr als ein schwacher schmaler Strich, und das auch nur, weil sie so hoch war. Dass etwas so Großes von etwas so Flüchtigem wie Nebel verschluckt werden konnte, war grandios und gruselig zugleich.

Der Hafen war nur einen Katzensprung vom Laden entfernt. Das gehörte zu den Vorteilen, die August an seinem Dasein sowohl in Kungshamn und auf Hovenäset am meisten schätzte. Nichts war weit weg. Alles war nah. Das gab ihm das Gefühl, sich die ganze Zeit in einer Miniaturwelt zu bewegen.

Erdrückend, fanden seine Freunde aus Stockholm, wenn sie zu Besuch kamen.

Befreiend, dachte August.

Während er das Auto aufschloss, sah Iben sich um und wirkte dabei mehr schüchtern als neugierig.

»Warten wir noch auf jemanden?«, fragte August.

Sie schüttelte rasch den Kopf.

»Nein«, sagte sie. »Nicht, dass ich wüsste.«

Doch dann hob sie wieder den Blick und ließ ihn wie ein Radar durch den Nebel gleiten.

Der Wagen stand auf der Auffahrt neben dem bahnhofsähnlichen Haus, in dem August seinen Laden hatte. Das Haus war groß, und er hatte immer noch nicht entschieden, was er mit dem oberen Stockwerk anfangen wollte.

»Cooles Auto«, sagte Iben.

»Danke«, erwiderte August.

Vorher hatte er einen gelben Leichenwagen besessen, den er zusammen mit dem Bestattungsinstitut gekauft hatte, doch diese Zeit war vorbei. Jetzt fuhr er einen knallblauen Kastenwagen, der an einen alten Schulbus erinnerte und oft die Blicke auf sich zog.

Doch jetzt im Sommer fuhr er nur selten mit dem Auto zur Arbeit, denn er hatte eine neue Angewohnheit: Neuerdings legte er die Strecke zum Laden per Boot zurück. Ein Dienstboot, das er mehr als alle Fahrzeuge liebte, die er je besessen hatte, und für das er sich einen Liegeplatz in Kungshamn besorgt hatte. Auf Hovenäset lag es dann am Steg des Bootshauses.

»Danke, dass Sie angeboten haben, mich zu fahren«, sagte Iben. »Das wäre wirklich nicht nötig gewesen.«

August betrachtete sie schweigend.

Sein Eindruck war, dass Iben nicht nach Hovenäset gekommen war, um Ferien zu machen. Sie wirkte nicht unfreundlich, war aber auch nicht sonderlich mitteilsam. Obwohl sie noch nicht einmal im Auto saß, schien sie schon zu bereuen, der Fahrt zugestimmt zu haben.

Als sie zum dritten Mal den Blick über die Umgebung schweifen ließ und dann das Handy aus der Hosentasche nestelte, um es schnell zu checken, wiederholte Maria ihre Frage.

»Sind Sie sicher, dass wir nicht auf noch jemanden warten sollen?«

Iben schluckte.

»Alles gut«, entgegnete sie.

August und Maria wechselten einen Blick, und Maria zuckte nur mit den Schultern.

Offensichtlich hatte sie dasselbe gesehen wie er.

Irgendetwas beunruhigte Iben.

Und sie wollte nicht mit Fremden darüber sprechen.

»Werden Sie alles finden?«

Der hochgewachsene Mann mit dem unwahrscheinlichen Namen August Strindberg sah Iben an. Obwohl ihr das eigentlich widerstrebte, antwortete sie mit einem raschen Lächeln. Iben gehörte nicht zu den Leuten, die unnötig lächelten.

»Ja, natürlich.«

»Hier sind also die Schlüssel. Der zur Eingangstür und der zur Veranda. Und das ist der Schlüssel zu dem Fahrrad, das an der Treppe steht. In den Keller kommt man nur von außen, und die Tür ist verschlossen. Die Besitzer wollen nicht, dass Sie hineingehen, denn sie benutzen den Keller als Abstellraum.«

Nicht in den Keller gehen?

So ein Mist.

»Okay, dann weiß ich Bescheid. Vielen Dank noch mal fürs Abholen.«

Strindberg und seine Freundin gingen zur Tür. Dann drehte sich August um.

»Wissen Sie«, begann er, »ich habe selbst einmal hier gewohnt. Ich war damals völlig neu auf Hovenäset und wusste überhaupt nichts von der Geschichte des Hauses. Und das war ein bisschen schade, denn die ist sehr speziell. Aber alles, was geschehen ist, ist Vergangenheit und … Ja, das wollte ich einfach nur sagen. Sie müssen nicht darüber grübeln, was das Haus schon alles erlebt hat.«

Hier hielt er inne und sah Iben an. Sie bemühte sich, erstaunt und gleichzeitig abwartend auszusehen. Sie wollte nicht den Anschein erwecken, bereits zu wissen, was in diesem Haus passiert war, wollte aber August auch nicht ermuntern, noch weiter über das Thema zu sprechen.

»Okay«, erwiderte sie. »Ich werde es mir merken.«

»Gut«, sagte August. »Und vergessen Sie nicht, dass wir nur fünf Häuser weg wohnen. Kommen Sie gerne vorbei, wenn Sie irgendwelche Fragen haben. Unsere Telefonnummern haben Sie doch, oder?«

»Ja«, erwiderte Iben.

Die hatte sie bereits im Auto von der Freundin bekommen. Die war Polizistin. August hatte während der Fahrt darüber Witze gemacht, dass Iben sich auf der Halbinsel ganz sicher fühlen könnte, denn es würde zumindest eine supergute Polizistin geben, und dann hatte er vielsagend zu Maria geschaut. Doch Iben hatte schon längst erraten, in welchem Beruf Maria arbeitete, sie hatte alle Zeichen erkannt: die gerade Haltung, die stets verschränkten Arme, der durchdringende Blick.

Iben hatte sich auf die Zunge beißen müssen, um nicht sofort eine Menge Fragen zu stellen. Sie wollte alles darüber wissen, wie es war, heute Polizistin zu sein, denn das wollte sie selbst unbedingt auch werden. Genau wie ihr Großvater. Der hatte ihr natürlich viel über seine Arbeit erzählt, aber da Maria jünger war und außerdem eine Frau, würde sie sicherlich ein paar andere Dinge über den Polizeiberuf zu sagen haben. Doch diese Fragen mussten warten. Am besten zog sie nicht so viel Aufmerksamkeit auf sich. Wenn sie anfing, Leute auszufragen, bestand doch die Gefahr, dass man auch auf sie neugierig werden würde.

Obwohl sie wusste, dass sie vorsichtig sein sollte, hatte sie sich fast sofort verraten. Als sie hörte, dass sie in Kungshamn abgeholt werden würde, war sie völlig außer sich gewesen und hatte schreckliche Angst gehabt, dass jemand auf der Straße sie erkennen würde. Und das war wirklich lächerlich dumm, denn niemand in Kungshamn wusste, wer sie war. Sie musste sich zusammenreißen, sonst würde alles schiefgehen.

August und Maria verabschiedeten sich und gingen. Die Tür schlug zu, und dann waren sie weg.

Im Haus war es mucksmäuschenstill.

Shit!

Dass sie das geschafft hatte. Endlich war sie vor Ort.

Natürlich war Iben bekannt, was man über das Haus wissen musste, das war ja genau der Grund, warum sie ausgerechnet hier wohnen wollte. Sie wusste sogar, dass dieses Haus von den Bewohnern der Halbinsel das Eishaus genannt wurde.

Das Eishaus.

Was für ein episch lächerlicher Name. Und gleichzeitig: völlig logisch. Schließlich war eine Frau tot in der Tiefkühltruhe gefunden worden. So etwas hinterließ Spuren.

Ihr Magen knurrte und beendete fürs Erste Ibens Begeisterung darüber, dass sie ihr erstes Etappenziel erreicht hatte. Sie war hungrig und sollte etwas essen, also kramte sie eine Stulle aus ihrem Rucksack. Die Miete des Hauses hatte sie so viel Geld gekostet, dass kaum mehr etwas übrig war, um Essen zu kaufen.

Aber das war egal.

Bei den zwei Wochen auf Hovenäset ging es ja nicht um luxuriöses Essen, sondern sie wollte ein paar Dinge erledigen, über die sie schon eine gefühlte Ewigkeit, im Grunde aber nur ein paar Monate nachdachte.

Sie biss in ihr Brot und goss sich ein Glas Wasser ein.

Das Haus roch muffig, und es war kalt. Alle Heizkörper waren abgeschaltet, und zwei der Deckenlampen funktionierten nicht. Hier drinnen hatte man das Gefühl, dass schon Herbst war, obwohl draußen noch Sommer war.

Iben aß im Stehen, das Brot in der einen Hand und das Handy in der anderen. Sie sah auf die Uhr. Sie musste achtgeben, dass sie das Treffen nicht verpasste. Noch hatte sie gut Zeit, aber sie hatte noch andere Sorgen. Zum Beispiel, dass die Website und der dazugehörige Chat, wo sie überhaupt etwas über das Treffen erfahren hatte, gelöscht worden waren. Einfach so. Ohne Erklärung. Zuletzt hatte sie das bei ihrer Ankunft in Kungshamn gecheckt, aber die Website war immer noch weg. Es war reines Glück, dass sie Screenshots von allem gemacht hatte, was sie wissen musste.

Die Website über den Stückelmord hatte Iben vor ein paar Wochen entdeckt. Sie war zum Lachen schlecht, voller halb fertiger Texte und einem gelinde gesagt fantasielosen Layout und Design. Nicht einmal die Rubriken waren hübsch, alles sah einfach zusammengebastelt aus. Doch gab es auf der Website auch einen Chat, und der war ihr von großem Nutzen gewesen.

Von sehr großem Nutzen.

Sie schob sich den Rest des Brotes in den Mund.

Es war, als wäre sie bei einem LARP von einem Horrorfilm dabei. Was für eine krasse Vorstellung, dass hier im Keller eine zerstückelte Leiche gefunden worden war. Wenn ihre beste Freundin Ronja hier wäre, dann würde die nur kreischen, dass Iben doch verrückt wäre und dass sie packen und abhauen sollten. Ronja hatte immer Angst im Dunkeln, aber Iben nicht.

Sie hatte das Haus nicht gemietet, weil es gemütlich aussah, sondern um es ungestört erforschen zu können.

Damit ich endlich mal erfahre, was hier eigentlich passiert ist, dachte sie.

Doch im Moment schien das gar keine so gute Idee zu sein.

Iben konnte das Gefühl der Enttäuschung, das sich allmählich in ihr ausbreitete, nicht abschütteln. Sie hatte sich vorgestellt, dass es unglaublich episch sein würde, in das Eishaus zu kommen, doch jetzt vor Ort fühlte es sich überhaupt nicht heftig an.

Das Haus war einfach nur … ein Haus.

Wie jedes andere auch.

Und es war unsäglich viele Jahre her, was hier passiert war.

Ich hätte genauso gut im Hostel wohnen können, dachte Iben. Das wäre einfacher und weniger spooky gewesen. Und billiger.

Was würden wohl ihre Mutter und ihr Großvater sagen, wenn sie erfuhren, was sie entdeckt hatte und wo sie sich befand? Erstmal würden sie völlig durchknallen, so viel war klar. Doch dann würden sie ja wohl hoffentlich begreifen, dass dies hier nicht ihre Schuld war.

Nicht sie hatte zuerst gelogen, sondern ihre Mutter.

Und nun wollte Iben die Sache auf ihre Art regeln.

Deshalb musste sie sich etwas ausdenken, wie sie ihre Mutter und ihren Großvater da raushielt.

Ihre Mutter auf Abstand zu halten, das war ein sehr fremder Gedanke für Iben, denn sie war es gewohnt, sie immer ganz nah bei sich zu haben. Die Mutter hatte bereits mehrmals angerufen, aber Iben war nicht rangegangen. Sie hatte fürs Erste genug gelogen.

Iben hatte Schuldgefühle, wenn sie an ihre Mutter dachte, und dabei hatte sie eigentlich nichts falsch gemacht. Sie war neunzehn Jahre alt und hatte seit Kurzem das Abitur in der Tasche. Sie musste niemandem Rechenschaft darüber ablegen, was sie tat.

Ich habe alles richtig gemacht, dachte sie. Und jetzt mache ich, was ich will. Sie hatte brav die Schule durchlaufen und mit einem Abschluss verlassen, der absolut in Ordnung war. Sie hatte nebenher gearbeitet und jede einzelne Krone, die sie übrig hatte, gespart – nun war das Geld bald verbraucht, aber das war eine andere Geschichte.

Und sie hatte einen Plan für die Zukunft. Das war mehr, als man von der Mehrheit ihrer Klassenkameraden behaupten konnte.

Bei der Abschlussfeier hatte ihre Mutter sie umarmt und ihr zugeflüstert: »Ich freue mich so über deine guten Noten. Ich bin so froh, dass du es geschafft hast.«

Wobei sie wahrscheinlich meinte, dass sie selbst es geschafft hatte, ihre Rolle als Mutter zu bewältigen, obwohl sie, als sie schwanger wurde, so alt war wie Iben heute.

Noch einmal versuchte Iben, die Gedanken an ihre Mutter abzuschütteln, und beschloss, sich das Haus anzusehen. Das stand ganz oben auf ihrer To-do-Liste und war ein guter Anfang.

Sie begann mit dem Erdgeschoss. Da gab es die Küche, ein Wohnzimmer und ein Badezimmer. Keines der Zimmer war frisch renoviert, doch wirkten sie auch nicht heruntergekommen. Iben versuchte, sich vorzustellen, wie Lydia Broman dort gelebt hatte. Wie sie in der Küche gekocht hatte, vielleicht im Wohnzimmer zu einem Fest oder einem Abendessen mit ihrem Mann gedeckt hatte. Lydia war dreißig Jahre alt gewesen, als sie starb. Da hatten sie und ihr Mann Mats seit drei Jahren in dem Haus gewohnt.

Iben ging ins obere Stockwerk. Ein knarrendes Geräusch ließ sie innehalten. Sie kannte das aus dem Haus ihrer Großeltern. Alte Häuser machten Geräusche, das war nichts Besonderes.

Sie betrat das Schlafzimmer, wo ein breites Doppelbett stand. Die Möbel gehörten wahrscheinlich dem Vermieterehepaar Jansson und stammten nicht mehr von Lydia und Mats. Alle Zimmer waren auf eine unpersönliche, aber funktionelle Weise möbliert. Die Tapeten an den Wänden waren alt und groß gemustert, aber kaum abgenutzt.

Wie gesagt.

Das Eishaus war einfach nur ein Haus.

Draußen war die Welt weiß von fluffigem Nebel. Als ob ganz Hovenäset in eine Wolke hinaufgeschickt worden wäre. Zu Hause in Trollhättan war es warm und sonnig gewesen, fast perfektes Sommerwetter. Und jetzt das.

Iben streckte sich.

Luft, dachte sie. Vor dem Treffen brauche ich noch einmal frische Luft.

Rasch lief sie die Treppe herunter, zog ihre Jeansjacke an und ging hinaus. Auf dem Bürgersteig blieb sie stehen und betrachtete noch einmal das Haus.

Weiße Holzfassade und Schnitzereien. Viel zu süß, um ein Tatort zu sein. Und der Name der Straße, an der das Eishaus lag, fühlte sich ja auch völlig falsch an, wenn man bedachte, was in dieser Bruchbude alles Schreckliches passiert war. Die Straße hieß Kärleksvägen, der »Liebesweg«, und da wohnte ja offensichtlich auch August Strindberg, »nur fünf Häuser weg«.

Sie warf einen Blick auf die Uhr. Es war Viertel nach sieben.

Die Verabredung war um acht Uhr, und die wollte sie auf keinen Fall verpassen. Vor allen Dingen, da ja sowohl die Website als auch der Chat aus dem Netz genommen waren, sodass die anderen nicht wussten, dass sie bei dem Treffen dabei sein wollte.

Sie hoffte, dass niemand verärgert reagieren würde, wenn sie überraschend auftauchte.

Andererseits spielte es auch keine große Rolle, ob sie willkommen war oder nicht.

Es gab etwas, was Iben Syrén einfach erfahren musste, weil es möglicherweise ihr ganzes Leben verändern würde.

»Das ist wirklich verdammt lecker. Ist es in Ordnung, wenn ich noch mal was nehme?«

Maria Martinssons Kollege Ray-Ray sah sie fragend an. Er hatte sich nach Dienstschluss gemeldet und gefragt, ob er vorbeikommen dürfe. Eigentlich hatte Maria sich darauf gefreut, den letzten Ferienabend alleine mit August verbringen zu können, doch da es so selten vorkam, dass Ray-Ray anrief und sich mit ihr treffen wollte, hatte sie es nicht übers Herz gebracht, Nein zu sagen.

Und jetzt saß er am Tisch auf der Punschveranda und hatte wie gewöhnlich nichts anderes vor, als von ihnen allen am meisten zu essen.

»Natürlich«, erwiderte Maria trocken. »Vergiss August und mich einfach, wir können stattdessen an einem anderen Tag was essen.«

Die Pasta war genauso wunderbar geworden, wie sie gehofft hatten. Das Rezept war neu, aber die Zutaten klassisch: Meeresfrüchte, selbst gemachter Fond, etwas Chili, Tomaten, Knoblauch, ein paar Spritzer Sahne.

August grinste Ray-Ray an und schenkte Maria noch etwas Wein ein, um dann auch sein eigenes Glas nachzufüllen. Seine Haare waren genau wie ihre von den vielen Sonnenstunden des Frühjahrs und des Sommers ausgebleicht, und außerdem war er lange nicht beim Friseur gewesen und hatte jetzt helle Strähnchen und Locken. Das stand ihm gut.

»Jetzt lass mal deinen armen, hart arbeitenden Kollegen in aller Ruhe essen«, erwiderte August. »Er kann ein paar zusätzliche Kalorien gebrauchen.«

»Typisch«, sagte Maria. »Ihr haltet immer zusammen.«

Wie um ihre Aussage zu bestätigen, sahen sich August und Ray-Ray an und nickten gleichzeitig.

Maria wurde warm ums Herz.

Die Atmosphäre wirkte entspannend auf sie. Der Wein und das Essen und die beiden Männer. August, den sie mehr liebte als jeden anderen Mann zuvor, und Ray-Ray, der ihr vertrautester Kollege und Freund war. Wer alles über mich wissen will, dachte sie, der muss nur diese beiden entführen.

Ray-Ray versorgte sich mit Pasta und Soße. Er gehörte wirklich nicht zu den gesellschaftlich aktiven Menschen in ihrem Bekanntenkreis. Im Gegenteil. Eigentlich war er immer mit seinen fünf Kindern beschäftigt, die er mit vier verschiedenen Frauen hatte, oder mit einem neuen Date oder einer neuen Freundin. Doch heute Abend hatte das offensichtlich nicht geklappt, was er auch sofort gestanden hatte, als er kam.

»Eigentlich sollte ich auf einem Tinderdate in Hamburgsund sein, aber das wurde abgesagt«, hatte er gesagt. »Und außerdem habe ich den ganzen Tag allein in diesem verdammten Wohnwagen gehockt.«

An den Wohnwagen wollte Maria nicht gern erinnert werden. Zu Anfang hatte er als Notquartier für die Streifenpolizisten gedient, die über den Sommer die polizeiliche Präsenz auf den Inseln verstärkten. Doch als im vorigen Herbst eine Frau aus Kungshamn verschwunden war, verwandelte sich der Wohnwagen plötzlich in eine Polizeizentrale für die Ermittler vom Gewaltdezernat, die sich um den Fall kümmerten.

Nachdem der Fall gelöst war, hatte ihr Chef Roland sich entschieden, Maria und Ray-Ray auf Dauer in diese Gegend zu versetzen. Bis dahin war ihr Hauptquartier die Polizeistation in Uddevalla gewesen, und jetzt also der Wohnwagen in Kungshamn. Besonders ärgerlich war an diesem Arrangement, dass der Wohnwagen lächerlich dicht bei den Räumen des Rettungsdienstes stand, in denen sich zuvor das inzwischen aufgelöste Polizeirevier in Kungshamn befunden hatte.

Ray-Ray schaute konzentriert auf seine Gabel, als er die langen Spaghetti aufrollte. Seine schwarzen Haare waren wie immer zu einem kleinen Pferdeschwanz gebunden, und an den Schläfen waren immer mehr graue Strähnen zu erkennen.

Sein Handy brummte, und er holte es schnell heraus.

»Na, hast du noch mehr Dates am Laufen?«, fragte Maria. »Ich nehme gerne die Portion, die du dir aufgehäuft hast, falls du keine Zeit hast, das alles aufzuessen.«

Ray-Ray grinste breit.

»Es gefällt mir, dass du so von meiner Anziehungskraft überzeugt bist«, sagte er. »Aber ich habe nicht das geringste Date am Laufen. Das hier war Job.«

»Wer’s glaubt«, entgegnete Maria. »Das ist dein privates Handy, das sehe ich doch.«

Ray-Ray schob das Telefon wieder in die Tasche.

»Es war eins von den Kindern«, erklärte er.

»Aha.«

»Was heißt hier Aha? Könnte doch sein, oder?«

Maria brach in lautes Lachen aus.

»Könnte sein? Dann stimmt es also nicht?«

Ray-Ray sah ertappt aus und konzentrierte sich etwas verlegen wieder auf die Pasta.

»Wie läuft’s denn so mit dem Backwettbewerb?«, fragte er.

»Gut, glaube ich«, sagte August.

»Es geht das Gerücht, dass du selbst dran teilnehmen willst.«

»Das stimmt. Ich habe das Gefühl, das wäre eine wichtige symbolische Handlung.«

»Aber es ist doch verdammt noch mal dein alter Kumpel, der die Jury ausgesucht hat.«

»Dein alter Kumpel«, sagte Maria grinsend. »Wie süß.«

»Dass du aber auch alles kommentieren musst, was man sagt«, schimpfte Ray-Ray und sah sie streng und gleichzeitig warmherzig an. »Wie soll ich Henrik denn sonst nennen?«

»Ich mach doch nur Witze«, sagte Maria.

»Ich weiß. Deshalb mögen wir dich ja so«, sagte Ray-Ray und schob sich dann eine unfassbar große Ladung Pasta in den Mund.

Maria war von Zuneigung überwältigt.

Ray-Ray und sie waren überhaupt nicht verwandt, doch keinem ihrer Geschwister hatte sie sich je so nah gefühlt wie ihm.

August verstand, dass man Familie lieber aussuchte als sie vorgesetzt zu kriegen, da konnte sie sicher sein. Er hatte keine Geschwister, und seine Eltern waren tot, aber er hatte seinen Henrik. Und er wäre nicht einmal im Entferntesten eifersüchtig, wenn er Maria und Ray-Ray zusammen sah.

Marias inzwischen verstorbener Ehemann Paul hätte ein solches Abendessen niemals ertragen. Er wäre wahnsinnig geworden vor Eifersucht und davon ausgegangen, dass Maria und Ray-Ray eine Affäre hatten. Und sobald er und Maria dann allein gewesen wären, hätte er auf die deutlichste und schmerzhafteste Weise dafür gesorgt, dass sie nicht auf die Idee kam, ihn zu betrügen.

Die Erinnerung an Paul ließ sie vom Tisch aufstehen, um die Wasserkaraffe zu füllen, obwohl sie noch halb voll war. Wenn sie an diesen Mann dachte, wurde sie schnell nervös.

»Sie müssen einsehen, dass es viel Zeit braucht, eine so schreckliche Erfahrung zu verarbeiten«, hatte der Psychologe, den sie nach Pauls Tod aufgesucht hatte, zu ihr gesagt.

Viel Zeit.

Als ob Paul sie nicht schon viel zu viel Zeit gekostet hätte. Eine quälend lange Ehe und eine langwierige Scheidung, in die er niemals eingewilligt hatte, weil er sie bis zum Schluss unter Kontrolle haben wollte.

Und er hatte ihr nicht nur Zeit gestohlen, sondern auch Freunde und Familie und Interessen.

Zuletzt wollte er ihr noch August entreißen, doch das war ihm zum Glück nicht gelungen. Sein teuflischer Plan hatte ihn das Leben gekostet. Er war im März gestorben, und das machte die ganze Situation viel einfacher.

Paul war weg.

Und Maria war frei.

Jetzt musste sie sich daran gewöhnen, dass es ihr gut ging.

Als Maria den Wasserhahn zudrehte, lenkte eine Bewegung draußen auf der Straße sie ab. Das Küchenfenster war über der Spüle, und von dort aus war es nur ein knapper Meter bis zum Kärleksvägen, sodass sie gerade noch die Person erkennen konnte, die da durch den Nebel ging. Der lange rote Zopf verriet sie.

Es war das Mädchen, das sie aus Kungshamn mitgenommen hatten.

Iben Syrén.

Maria sah ihr nach.

Im Auto und bei der Ankunft war Iben sehr wortkarg gewesen und hatte weder über ihren Besuch auf der Halbinsel noch über sich selbst viel reden wollen. Und irgendetwas war seltsam daran gewesen, wie sie mit ihren großen grünen Augen alle Orte, an denen sie vorbeifuhren, scannte. Als würde sie nach etwas oder jemandem suchen.

Iben war ihr unheimlich, aber Maria konnte nicht erklären, warum. Das war doch dumm und kindisch.

Was tust du hier, ganz allein im Eishaus?, dachte sie und sah zu, wie der Nebel Iben verschluckte.

Es war ein kühler Abend. Oskar und Matilda hatten eben etwas gegessen, und sie hatte ununterbrochen davon erzählt, was im Laufe des Tages im Kindergarten passiert war. Vor allem sprach sie von einem Mädchen, das neu in die Gruppe gekommen war.

»Die ist supernett«, sagte Matilda. »Und lustig!«

»Wie schön«, sagte Oskar.

Ihm tat das neue Mädchen ja leid, das mitten im Sommer, wenn fast niemand da war, in einer neuen Tagesstätte anfangen musste.

Matildas Hund jaulte vorsichtig. Er war es jetzt leid, ihr Gerede anzuhören.

Matilda, die immer gut darin war, die Bedürfnisse ihres vierbeinigen Freundes zu erraten, strahlte sofort.

»Sollen wir rausgehen, Tony?«, fragte sie. »Möchtest du das?«

Der Hund antwortete mit einem euphorischen Geheul.

Matilda brach in Lachen aus und wandte sich Oskar zu.

»Wir müssen rausgehen«, erklärte sie, als wäre sie nicht sicher, dass er den Hund genauso verstanden hatte wie sie.

»Ich höre es«, sagte Oskar und stand auf.

Den Hund hatte er gekauft, als Matilda dauerhaft zu ihm gezogen war. Er hatte sich gedacht, dass ein Hund ihnen beiden das Leben vielleicht erleichtern könnte.

Und das erwies sich als richtig.

Oskar war völlig unvorbereitet darauf gewesen, wie sehr er den Hund mögen würde. Tony war ein riesiger Bernhardiner mit einem Herz aus Gold und keinem einzigen bösen Gedanken im Leib. Und wer konnte schon zu achtzig Kilo selbstloser Liebe Nein sagen?

Matilda verschwand in der Diele, um die Leine zu holen. Er hörte sie in dem Korb wühlen, den er auf ihrer Höhe an der Wand angebracht hatte. Ihre Bewegungen waren hastig und eifrig, wie bei allen Kindern, wenn sie sich auf irgendetwas freuten.

Er stellte ihre Teller auf die Spüle. Ein normaler Alltag war das Schönste für ihn, wo keine nicht zu bewältigenden großen Sachen passierten und es tausend Routinen gab, derer er niemals müde wurde. Das war eine Lebenssituation, in der man Harmonie entstehen lassen konnte, und davon brauchte Oskar ganz viel.

»Müssen wir jetzt noch spülen?«, fragte Matilda ungeduldig.

»Nein, nein, das mache ich, wenn wir nach Hause kommen.«

Oskar schob das Handy in die Hosentasche.

Matilda und er wohnten in einem Sommerhaus auf Valberget in Kungshamn, das Oskar von den Eltern seiner Betreuerin Ellen mietete. Sie hatte ihm den Tipp gegeben, dass das Haus frei würde und ihre Eltern gern einen langfristigen Mieter hätten.

Für Oskar, der damals eine neue Wohnung suchte und gerne etwas Kleineres mit Terrasse haben wollte, war es perfekt. Das Haus hatte nicht mehr als 65 Quadratmeter, aber es war winterfest und warm und lag nur zweihundert Meter vom Meer entfernt.

Matilda schloss die Tür auf und ging auf die Treppe hinaus. Tony zog an der Leine, doch nicht mehr, als Matilda dagegenhalten konnte. Es war, als gäbe es zwischen den beiden eine Art Gentleman’s Agreement, obwohl Tony hundertmal stärker war als Matilda. Er war kein echter Blindenhund – wenn Matilda älter war, würde man sehen müssen, ob sie einen solchen brauchen würde.

Oskar legte die Hand auf Matildas Arm. Sie hatte schon eine Gänsehaut von der Kälte.

»Du solltest einen Pullover anziehen«, sagte er. »Ich hole einen.«

Ehe er reinging, warf er Tony einen scharfen Blick zu, und das genügte schon, dass sich der Hund setzte.

Oskar griff sich schnell einen Pullover von Matildas Bett und eilte wieder hinaus. Immer in Sorge. Ein einziger Moment des Versagens könnte katastrophale Konsequenzen für Matilda haben. So ging es allen Eltern, aber Oskar noch mehr, weil seine Tochter nichts sehen konnte und sich manchmal bei dem, was sie sich vornahm, gravierend verschätzte.

»Dann gehen wir mal los«, sagte Oskar.

Matilda hielt sich am Geländer fest, als sie die Treppe runterstieg.

Tony trottete wie ein Leibwächter neben ihr.

»Sollen wir die lange Runde gehen?«, fragte Matilda.

Oskar spürte den Nebel auf den Wangen und schüttelte den Kopf.

»Nein, die kurze reicht.«

Matilda hielt Oskar am Arm, und in der anderen Hand hatte sie die Leine. Wie immer lief sie schnell. Früher hatte Oskar geglaubt, sie würde nur deswegen eilen, weil er zu schnell ging, doch dann hatte er erkannt, dass sie immer mit so raschen Schritten unterwegs war. Völlig furchtlos, nicht im Geringsten um ihre eigene Sicherheit besorgt.

»Das wird toll, wenn ich mal mit Tony alleine rausgehen kann«, sagte Matilda und strahlte dabei.

Das war etwas, was sie sich wirklich wünschte, rauszugehen und den Hund alleine ausführen zu können.

»Hm«, sagte Oskar.

Rein intellektuell verstand er schon, dass blinde Menschen auch ihren Hund ausführen konnten.

Rein praktisch war ihm unbegreiflich, wie das vor sich gehen sollte. Im Herbst kam Matilda in die Schule. Da hatte er auch erst nicht gewusst, wie das funktionieren würde. Mussten sie jetzt umziehen? Wo gab es die nächste Sonderschule für Sehbehinderte? Doch die Gemeinde hatte einen beruhigenden Bescheid für ihn. Es gab keine solchen Sonderschulen mehr. Matilda würde in eine gewöhnliche Schule gehen, und genau wie jetzt in der Tagesstätte hatte sie das Recht auf einen Assistenten.

Seine Gedanken wanderten von der Tochter zu seinem Geheimnis, das die Wurzel allen Übels war.

Sosehr er es auch versuchte, vermochte er seine Zweifel doch nicht abzuschütteln. Aufgekommen waren die überhaupt erst, seit er trocken war. Je mehr gute Tage es in Oskars Leben gab, desto stärker wurden die Zweifel. Und je stärker sie wurden, desto öfter wagte er, an das Vergangene zu denken.

Was, wenn ich das Schlimme gar nicht getan habe?, dachte er jetzt wieder. Ich erinnere mich nur an Fetzen von alldem, was angeblich geschehen ist, und es erscheint mir völlig unbegreiflich.

Oskar hatte angefangen, sich unbeobachtete Momente zu suchen, in denen niemand merkte, dass er sich auf etwas anderes konzentrierte. Bei einer solchen Gelegenheit hatte er sich hingesetzt und Informationen im Netz gesucht.

Wie funktionierten Erinnerungslücken, und gab es die überhaupt?

Von welchem Alter an begann ein Mensch, Erinnerungen zu speichern, und welche Geschehnisse zu vergessen war normal?

Aber vor allem las er über einen aufsehenerregenden Kriminalfall in Schweden, bei dem zwei Kinder für den Tod ihres Freundes verantwortlich gemacht worden waren und dann jahrzehntelang damit leben mussten. Daran hätte sich sicherlich nichts geändert, wenn nicht eines Tages ein Journalist auf die Idee gekommen wäre, sich den Fall näher anzusehen, und herausfand, dass die Jungen überhaupt keine Mörder gewesen waren.

Jedes Mal, wenn er an diese Jungen dachte, stieg Oskars Puls.

Er wollte auch freigesprochen werden, er wollte auch Gerechtigkeit.

Aber wie sollte das vor sich gehen?

Im Unterschied zu dem Fall der anderen Jungen war der von Oskar nie in die Öffentlichkeit gedrungen. Nicht durch die Polizei, nicht von irgendeinem Gericht. Wie sollte er dann erwarten, freigesprochen zu werden? Sie konnten ja kaum einem Menschen, von dem sie nie gehört hatten, Gerechtigkeit verschaffen.

Mehrere Male schon hatte er sich überlegt, ob er jemanden um Rat fragen sollte. Vielleicht könnte er Kontakt zur Polizei aufnehmen und so tun, als würde er sich im Auftrag von jemand anderem erkundigen. Oder er könnte die Sache mit Ellen besprechen. Sie wusste ja bereits so viel von ihm.

Aber das?

Nein, das war unmöglich.

Sein Handy brummte in der Jackentasche.

Sein Onkel Espen schickte eine Nachricht.

Oskar blieb wie angewurzelt stehen.

Eine deutlichere Erinnerung daran, dass er mit niemandem über sein Dilemma sprechen durfte, hätte er nicht bekommen können.

»Was ist los?«, fragte Matilda.

»Ich muss nur kurz was nachsehen.«

Eilig las er die kurze Nachricht.

Oskar. Lange her. Wäre doch schön, wenn wir uns sehen würden. Wir dachten, dass ihr, du und Matilda, doch zu einem kleinen Essen zu Olgas Geburtstag vorbeikommen könntet. Melde dich bei uns.

Olgas Geburtstag. Oskar kramte in seinem Gedächtnis, wann der überhaupt war. So ungefähr in einer Woche, er musste den exakten Tag aber noch mal checken.

Espen und seine Frau hatten zusammen mit Oskars Eltern entschieden, dass die Polizei Oskars angebliches Verbrechen nicht untersuchen dürfe. Oskars eigene Familie war es also gewesen, die ihn in ein rechtliches Vakuum versetzt hatte.

Lange Zeit hatte er sich in diesem Prinzip des Schweigens sicher gefühlt. Seine Eltern und Onkel und Tante hatten alle gesagt, das sei die beste Art, wie man die Sache regeln könnte, und es sei zu seinem eigenen Besten, wenn die Polizei nicht reingezogen würde – und Oskar hatte das akzeptiert.

Bis er eines Tages trocken war und sein Leben wieder zurückbekam und sich zum ersten Mal Zweifel erlaubte.

Oskar las die SMS noch einmal.

An Espen war nichts Böses, er meinte es sicherlich nur gut. Oskars Eltern waren tot, und Espen war seine letzte Verbindung in die Vergangenheit.

Sie sahen sich nur sporadisch und ausnahmslos zu Hause bei Espen und Olga. Oskar widerstrebte es, die beiden in das Haus auf Valberget einzuladen. Espen und Olga erinnerten ihn an eine Geschichte, an die er nicht rühren wollte, und deshalb hatten sie in seinem Zuhause nichts zu suchen. In diesem Haus war er immer nüchtern gewesen, immer ordentlich und immer der alleinige Sorgeberechtigte für Matilda.

»Stimmt was nicht?« Matildas Stimme.

Er legte einen Arm um ihre schmalen Schultern und zog sie an sich.

»Nein, nein«, beteuerte er. »Alles gut.«

Vielleicht sollte er die Essenseinladung positiv sehen. Es war doch gut, wenn Matilda merkte, dass sie auch auf Oskars Seite Verwandte hatte und nicht nur die Verwandten ihrer Mutter, die weit von Kungshamn entfernt lebten und sie deshalb nicht oft sahen.

Er beschloss, noch einmal darüber nachzudenken, ob er die Einladung annehmen sollte, und seinen Onkel nicht allzu schnell abzuwimmeln.

Matilda wedelte mit den Armen.

»Du, Papa«, sagte sie. »Das neue Mädchen in der Tagesstätte. Kann ich nicht mal mit der spielen?«

»Natürlich kannst du das«, sagt Oskar. »Sie kann gerne zu uns nach Hause kommen, wenn sie möchte. Oder vielleicht willst du ja auch sie besuchen.«

Er war dankbar, dass Matilda so sozial und nach außen gewandt war, das würde ihr im Leben von großem Vorteil sein.

»Wir können doch beides machen«, meinte Matilda entschieden. »Aber zuerst will ich zu ihr nach Hause gehen.«

Oskar lächelte.

»Warum das denn?«, fragte er.

»Weil sie auf Hovenäset wohnt, und da bin ich noch nie gewesen.«

Oskar erstarrte.

Da hast du nichts zu suchen, dachte er. Das ist ein böser Ort auf der Welt.

»Papa?«

Sie zupfte ihn am Arm und blieb stehen.

Warum bin ich hiergeblieben?, dachte Oskar müde. Ich hätte schon vor mehreren Jahren ganz weit wegziehen können.

»Papa? Sag doch was.«

Oskar schluckte ein paarmal.

»Deine Freundin ist jederzeit bei uns zu Hause willkommen«, sagte er.

Dann gingen sie schweigend weiter.

Nicht in hundert Jahren würde Oskar einen Fuß auf Hovenäset setzen.

Die Luft war schwer von Feuchtigkeit und viel zu kühl. Iben knöpfte ihre Jacke zu, während sie langsam den Kärleksvägen herunterging.

Sie schaute die Häuser an, an denen sie vorbeikam. Aus einigen hörte man Menschen, die redeten und lachten, und in mehreren Fenstern brannte Licht. Viele der Häuser lagen so dicht an der Straße, dass die Hauswand mit der Grundstücksgrenze abschloss. So etwas hatte Iben noch nie gesehen.

Natürlich hatte sie recherchiert, ehe sie losgefahren war. Sie wusste, dass nicht mehr als knapp 200 Menschen das ganze Jahr über auf Hovenäset wohnten, dass es keine richtige Stadt war und es dort kein einziges Geschäft gab. Nicht einmal jetzt im Sommer, da die Bevölkerungszahl sich mehr als verdoppelt hatte.

Iben schaute sich um. Was für ein Mensch wäre sie geworden, wenn sie an einem Ort wie diesem aufgewachsen wäre?

Das laute Klingeln ihres Handys ließ sie zusammenfahren.

Wieder ihre Mutter. Die würde nicht aufgeben, so viel war klar.

Widerwillig ging Iben ran.

»Endlich!«, rief ihre Mutter. »Ich habe schon so oft angerufen. Warum gehst du nicht ran? Wie geht es dir? Hattest du eine gute Reise?«

Iben duckte sich unwillkürlich im Ansturm der Fragen. Sie hätte gleich beim ersten Mal rangehen sollen, das machte sie nämlich sonst immer.

»Alles ist gut gegangen, es gab überhaupt keine Probleme.«

»Ist der Schlafsaal und alles gut?«

»Ja, supergut. Nur ein bisschen eng.«

Iben wurde rot.

Der Schlafsaal.

Wenn Mama wüsste.

»Ich freue mich so für dich«, sagte ihre Mutter und klang erleichtert. »Ich weiß doch, wie sehr du dir dieses Stipendium gewünscht hast.«

All die Lügen.

Iben presste das Telefon ans Ohr und hob den Blick. Sie war vom Kärleksvägen auf den Hovenäsvägen gegangen und dann in eine Straße eingebogen, die Kryssnäsvägen hieß. Die führte auf einen Wendeplatz und von dort aus weiter zu einem kleineren Aussichtspunkt. Der Nebel schien fast zärtlich über die graue Wasseroberfläche zu streichen, und sie konnte sich überhaupt nicht vorstellen, wie dieser Ort wohl im Sonnenschein aussah.

»Es ist doch schön, oder?«, sagte ihre Mutter.

Iben wurde wachsam.

»Was denn?«, fragte sie.

»Visby. Das ist doch so schön da«, erklärte ihre Mutter.

Visby auf Gotland. Sie hatte behauptet, sie würde dorthin fahren, weil sie ein Stipendium für einen Fotokurs bekommen hätte. Eigentlich war das nur halb gelogen. Sie hatte das Stipendium tatsächlich bekommen, aber abgesagt, als sie sich dazu entschloss, den Sommer anderen Themen zu widmen.

Oh Mama, verzeih mir.

»Ja, es ist sehr schön.«

»Mein Liebes, du klingst aber nicht gerade fröhlich.«

Iben atmete schwer.

»Das ist im Moment hier einfach ziemlich viel«, sagte sie leise. »Und ich war gerade auf dem Weg, noch mal auszugehen, also …«

Sie verstummte. Sie konnte einfach nicht mehr lügen.

Ausgehen, Schlafsaal, Kursteilnehmer, Freunde.

All das hatte sie für das hier abgelehnt: einen vom Nebel verschluckten Ort, an dem sie sich vor allem und jedem versteckte.

Zumindest fast.

Sie ging jetzt vom Kryssnäsvägen auf das Haus zu, wo die Verabredung stattfinden sollte.

»Ich rufe dich ein andermal an«, sagte sie.

»Morgen«, entgegnete ihre Mutter entschieden. »Wir telefonieren morgen.«

»Wenn ich es schaffe«, sagte Iben.

»Das schaffst du«, erwiderte ihre Mutter. »Ich hab dich lieb, Oma und Opa lassen auch grüßen. Die sind grade vorbeigekommen und wollen jetzt eine Tasse Kaffee.«

Sie hörte ihre Großmutter im Hintergrund rufen.

»Wir vermissen dich, Iben!«

Sie beendete das Gespräch. Ihre Schritte wurden länger, sie ging eiliger. Sie war nervös und wütend, weil ihre Mutter sie zu einer Menge Lügen zwang. Weil sie ihr dann noch ein schlechtes Gewissen machte. Weil sie sich plötzlich kindisch vorkam. Das passiert sonst fast nie, aber jetzt war es so.

Ein Stück von dem Haus entfernt, wo sie sich verabredet hatten, blieb sie stehen.

Sie musste in der Nähe bleiben, um das Haus trotz des Nebels im Blick zu behalten, wollte aber auch nicht entdeckt werden. Zumindest nicht, bevor es so weit war. Schließlich entschied sie, sich auf der anderen Straßenseite an eine Laterne zu stellen. Es war jetzt Viertel vor acht, die Person, auf die sie wartete, müsste also jeden Moment kommen.

Sie holte ihr Handy raus und ging ins Netz. Die Website und der Chat funktionierten immer noch nicht.

Verdammter Mist.