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Einwohner und Gäste von Acapulco sind in Gefahr. Überall in der Stadt sind Depots angelegt mit Dioxin in hoher Konzentration. Ein paar Männer haben monatelang den großen Coup vorbereitet. Sie fordern 65 Millionen Dollar. Wenn sie das Gift freisetzen, wird Acapulco aufhören zu existieren. Mit einer umgerüsteten Hochseeyacht liegen die Männer in der malerischen Bucht von Acapulco und stellen ihr Ultimatum. Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, schüren sie mit Durchsagen die Angst. Die Herausforderung trifft eine völlig unvorbereitete Stadt. Dennoch, der Krisenstab tritt sofort zusammen. Doch die Verantwortlichen müssen erkennen, dass ihnen außer der Evakuierung der Einwohner kaum Möglichkeiten bleiben… Spannend bis zuletzt.
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Seitenzahl: 453
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Hinrich Matthiesen
Jahrgang 1928, auf Sylt geboren, wuchs in Lübeck auf. Die Wehrmacht holte ihn von der Schulbank. Zurück aus der Kriegsgefangenschaft, studierte er und wurde Lehrer, viele Jahre davon an deutschen Auslandsschulen in Chile und Mexiko. Hier entdeckte er das Schreiben für sich.
1969 erschien sein erster Roman: MINOU. Dreißig Romane und einige Erzählungen folgten. Die Kritik bescheinigte seinem Werk die glückliche Mischung aus Engagement, Glaubwürdigkeit, Spannung und virtuosem Umgang mit der Sprache. Die Leser belohnten ihn mit hohen Auflagen.
Immer stehen im Mittelpunkt seiner Romane menschliche Schicksale, Menschen in außergewöhnlichen Situationen. Hinrich Matthiesen starb im Juli 2009 auf Sylt, wo er sich Mitte der 1970er Jahre als freier Schriftsteller niedergelassen hatte.
»Zum literarischen Markenzeichen wurde der Name Matthiesen nicht zuletzt durch die Kunst, in eine pralle Handlung Aussagen zu verweben, die außer dem aktuellen stets auch einen davon unabhängigen Bezug haben. Gedankliche Strenge, sprachliche Disziplin und ein offensichtlich unauslotbarer verbaler Fundus lassen Matthiesen zu einem Kompositeur in Prosa werden.«
Deutsche Tagespost
»Matthiesen ist zu beneiden um seine Fähigkeiten: Kompositionstalent, menschliche Einfühlung, scharfe Beobachtungsgabe – und vor allem um seinen Stil«
Deutsche Welle
Werkausgabe Romane Band 17
Herausgegeben von Svendine von Loessl
Der Roman
Einwohner und Gäste von Acapulco sind in Gefahr. Überall in der Stadt sind Depots angelegt mit Dioxin in hoher Konzentration. Ein paar Männer haben monatelang den großen Coup vorbereitet. Sie fordern 65 Millionen Dollar. Wenn sie das Gift freisetzen, wird Acapulco aufhören zu existieren.
Mit einer umgerüsteten Hochseeyacht liegen die Männer in der malerischen Bucht von Acapulco und stellen ihr Ultimatum. Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, schüren sie mit Durchsagen die Angst.
Die Herausforderung trifft eine völlig unvorbereitete Stadt. Dennoch, der Krisenstab tritt sofort zusammen. Doch die Verantwortlichen müssen erkennen, dass ihnen außer der Evakuierung der Einwohner kaum Möglichkeiten bleiben… Spannend bis zuletzt.
Hinrich Matthiesen
Das Gift
Roman
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BsB_BestSelectBook_Digital Publishers
Werkausgabe Romane
Herausgegeben von Svendine von Loessl
Band 17
Alle Rechte vorbehalten
© 2016 by BestSelectBook_Digital Publishers München
ISBN 978-3-86466-363-5
Eine Tür fiel ins Schloss, aber Leo Schweikert zuckte nicht zusammen.
Früher hatte er die Menschen seiner Umgebung unter anderem danach beurteilt, wie sie mit Türen umgingen, laut oder leise, ungestüm oder behutsam. Selbst aus den Zwischenwerten hatte er noch charakteristische Nuancen herauszulesen versucht, und immer war ihm das Verhaltene lieber gewesen als das Heftige.
Nun aber war er, zumindest was den Umgang mit Türen betraf, weit entfernt von so peniblen Unterscheidungen, denn in dem Haus, das ihn seit fast einem Jahr beherbergte, gab es nur Türen aus Eisen, und das Öffnen und Schließen war jedes Mal eine geräuschvolle, harte Angelegenheit, grad so wie die Leute, die das besorgten, hart waren und rau, jedenfalls nach außen hin.
Er sah auf die Uhr. Gleich ist es so weit, dachte er. Hoffentlich ist er pünktlich! Falls nicht, hat er seinen ersten Minuspunkt weg. Doch er wird pünktlich sein. Georg hat ihn ausgesucht, hat ihn nach dreiwöchiger Beobachtung aus den sechs B-Block-Häftlingen seiner engeren Wahl herausgepickt und ihn mir schließlich als hervorragend geeignet beschrieben.
Er setzte sich an den kleinen Tisch, der in der Mitte des Zimmers stand, und ließ seinen Blick wandern. Was er sah, war die karge, nur durch wenige private Gegenstände ergänzte Einrichtung der Zelle 16 im Block A, die er nun seit dreihundertfünfunddreißig Tagen bewohnte und in vier Wochen zu verlassen gedachte, nicht heimlich bei Nacht, sondern am Tage, durch das große Tor, ganz legal. Der Anstaltsleiter hatte ihm diesen Termin bestätigt.
Er blickte auf das Bord mit den Tassen und Tellern, die ihm gehörten, mit der Kochplatte, die noch von seinem Vorgänger stammte, mit der Keksdose und einigen Büchern und Zeitschriften. Über dem Bord hing ein Poster, ein Werbeplakat für einen Stierkampf in Sevilla. Oben prangte in großen Buchstaben der Name des Toreros:El Cordobés. Der Kampf hatte vor vielen Jahren stattgefunden, und die Eintrittskarten hatten 150, 200 und 250 Peseten gekostet. Das Plakat hatte ein paar Flecken, die nicht mehr zu entfernen waren. Wahrscheinlich stammten sie von Wasser oder Eau Sauvage, denn gleich daneben befand sich das Waschbecken. Er liebte das Bild, war vernarrt in die straffe, leicht nach hinten gebogene Gestalt des Toreros, die ihm als Symbol erschien für Wachsamkeit, Energie und Kraft. Auch er, Leo Schweikert, war ein Kämpfer, zwar noch leidend unter einer schmählichen Niederlage, aber hinter seiner Stirn war der Gegenschlag längst programmiert.
Sein Blick ging weiter, erfasste die Tür, das WC, das Bett, den Schrank. Viel mehr gab es nicht zu sehen in der nur dreieinhalb mal zweieinhalb Meter messenden Zelle. Andere Strafgefangene, die er gelegentlich besuchen durfte, hatten sich geradezu häuslich eingerichtet, mit Fernseher und Stereo-Anlage, mit eigenen Möbeln und zahlreichen Fotografien, aber für ihn war das nicht in Frage gekommen.
Um Punkt halb acht wurde die Tür geöffnet. Der Aufseher schob Richard Wobeser in die Zelle. Schweikert musterte den Eingetretenen. Der etwa fünfunddreißigjährige große, schlanke Mann gefiel ihm auf Anhieb. Wobeser trug, wie er selbst, keine Anstaltskleidung, sondern hatte schwarze Jeans und einen hellgrauen Rollkragenpullover an. Und er hatte keinen verhunzten Kopf, mit dem so viele Männer durch die Gegend liefen. Er war nicht nur bartlos, sondern auch gut rasiert, und sein volles, dunkles Haar war sorgfältig gekämmt. Ja, dachte Schweikert, er wirkt geradezu adrett und sieht trotzdem aus wie ein Marlboro-Mann. Er trat auf ihn zu, gab ihm die Hand, bot ihm seinen Stuhl an und setzte sich auf die Bettkante. Gleich darauf legte jeder eine flache Blechschachtel auf den Tisch. Wobeser hatte die seine beim Eintritt in der linken Hand gehalten, und Schweikert hatte sein Kästchen aus der Jackentasche hervorgeholt. Sie öffneten die Behälter, und bald war der Tisch mit Briefmarken bedeckt. Wie Patiencen lagen die kleinen bunten Rechtecke auf der Tischplatte.
Nach einigen Minuten steckte der Wärter seine Nase noch einmal in den Raum, und das veranlasste Schweikert, auf eine der Marken zu zeigen und sein Gegenüber zu fragen:
»Gibst du mir dafür die olivbraune Togo?«
Die Tür schloss sich wieder, und Schweikert wertete es als einen weiteren Pluspunkt, dass sein Besucher, obwohl sie wieder allein waren, antwortete: »Die ist aber viel mehr wert! Da müsstest du mir schon noch was dazugeben, vielleicht die blaue Neuguinea.« Und auch, dass Richard Wobeser auf die gewünschte Marke zeigte und also das Guckloch berücksichtigte, deutete der Gastgeber als ein Zeichen von Umsicht.
»Du heißt Richard?« Schweikert hatte seine Stimme gesenkt, und Wobeser antwortete ebenfalls leise: »Ja. Und du bist also der Doktor.«
»Sag lieber Leo, wie die anderen es auch tun! Auf den Doktor pfeife ich sowieso. Siehst ja, was er mir eingebracht hat.« Mit einem leichten Kreisen des Kopfes und einem kurzen Verdrehen der Augen machte er dem anderen klar, was gemeint war, dass nämlich er, der Chemiker Dr. Leo Schweikert, wegen eines Deliktes einsaß, das mit der Ausübung seines Berufes zusammenhing.
»Okay, also nenn’ ich dich Leo, wie die anderen. Georg sagte mir, du willst mich kennenlernen. Warum?«
Schweikert stand auf, holte von der Ablage über dem Waschbecken eine Pinzette, setzte sich wieder, nahm mit der kleinen Zange eine orangefarbene Marke auf, hielt sie Wobeser hin und sagte: »Hab’ gehört, du verstehst was von der Funkerei, von Flugzeugen und Yachten, auch von Sprengstoff, und du warst schon mal in Südamerika, sprichst sogar Spanisch.« Er legte die Marke auf den Tisch zurück.
Wobeser fragte: »Darf ich mal?« Und da hatte er auch schon die Pinzette an sich genommen, schnappte damit nach der orangefarbenen Marke, hielt sie sich dicht unter die Augen und sagte: »Zuletzt war ich anderthalb Jahre Pilot bei einer privaten bolivianischen Fluggesellschaft.«
»Warum nur anderthalb Jahre?«
»Dann bin ich geflogen.« Er grinste über seinen Witz, wurde aber gleich wieder ernst. »Alkohol. Einmal nur. Ein einziges verdammtes Mal, aber mein Boss reagierte darauf, als hätte ich seinen Hangar angezündet oder die dritte Bruchlandung in acht Tagen hingelegt. Er sagte nur: ›Hol dir dein restliches Geld, du bist gefeuert!‹« Wobeser griff unter den Pullover, fingerte seine Zigaretten aus der Hemdtasche, hielt sie Schweikert hin. Beide steckten sich eine an. »Ich hätte dir das natürlich auch verschweigen können, hätte dir zum Beispiel erzählen können, die Firma sei pleite gegangen oder die Leute bezahlten zu mies.«
Schweikert nickte. »Nun verrat mir genauso ehrlich: Hängst du an der Flasche?«
»Hier? Wie denn wohl?«
»Ich meine draußen.«
»Natürlich nicht! Aber flieg du mal über dem bolivianischen Urwald durch ein schweres Gewitter, neben dir einen Funker, der sich vergeblich bemüht, den abgerissenen Kontakt wiederherzustellen, und sich bei jedem Blitz bekreuzigt! Dann orderst du nach der Zwischenlandung auch nicht grade ein Glas Milch. Der Mist war nur der, dass ich beim Weiterflug das Gewitter in der Birne hatte, und da saß es leider immer noch, als ich in Santa Cruz landete und mein Boss auf der Piste erschien.«
»Okay. Ich brauche keinen Piloten. Was ich suche, ist ein Mann, der clever ist, Mut hat, ein bisschen Spanisch spricht, eine Motoryacht fahren, mit Dynamit oderTNTumgehen, funken und den Mund halten kann.«
»Und was kriegt der für all das?«
»Sagen wir mal, das Dreifache vom Doppelten dessen, was er sich in seinen kühnsten Träumen erhofft.«
»Und was ist das in Zahlen?«
»Einzelheiten gibt’s heute Abend noch nicht. Erst später. Aber du kannst dich darauf verlassen: Wenn du die Zahl hörst, kippst du vom Hocker! Ich wollte dich erst mal nur kennenlernen. Bis jetzt hab’ ich einen prima Eindruck. Mach ihn nicht wieder kaputt durch Ungeduld! Bist du fit?«
»Der Medizinmann hier im Knast sagte bei meiner Einlieferung, ich hätte in Anbetracht meiner Moral eine geradezu unverschämte Gesundheit. Das war vor einem halben Jahr. Und vor drei Wochen, bei der Routine-Untersuchung, sagte er ungefähr das Gleiche.«
»Feste Freundin?«
»Selten länger als bis zum nächsten Morgen.«
»Verwandte?«
»Einen ganzen Haufen, aber seit Jahren hab’ ich von der Clique keinen mehr gesehen. Die wissen nicht, dass ich hier gelandet bin, denken bestimmt, ich bin immer noch Briefträger in den Kordilleren.«
»Und warum bist du hier?«
»Ach, diese Scheißnacht in Frankfurt damals! Ich wollte einen Besuch machen bei einem Juwelier, und leider traf ich ihn an.«
Plötzlich beugte Schweikert sich über den Tisch, griff nach Wobesers Unterarmen.
»Tätowierungen?«, fragte er.
Der andere lächelte. »So besoffen kriegt mich keiner.«
»Das ist gut. Es ist keine Bedingung, aber es ist gut.«
»Müssen wir bei der Sache denn halbnackt herumlaufen?«
»Nein, nein! Aber ich hab’ über tätowierte Leute so meine Theorie. Es geht ihnen doch nie wirklich um den Anker oder das Herz oder das Weib, sondern immer nur darum, dass sie sich ihren Mut beweisen wollen. Wer das nötig hat und dann nichts weiter zustande bringt als so eine alberne Kritzelei, der kann einfach nicht top sein. Vielleicht ist er nur ein bisschen naiv, aber top ist er jedenfalls nicht. Doch lassen wir das! Ist nur ’ne persönliche Meinung. Wie steht es denn mit deinem Register?«
»Bei einem Klassentreffen würd’ ich es nicht grad herumzeigen. Also: außer ’ner Jugendstrafe zweimal verknackt, einmal davon mit Bewährung und einmal…, na ja, hast mich ja vor dir.« Er nahm eine neue Briefmarke zur Hand, hielt sie so, dass das Deckenlicht darauf fiel, legte sie wieder hin. »Einzelheiten also noch nicht, das akzeptier’ ich. Aber du fragst mir Löcher in den Bauch, und darum würd’ auch ich ganz gern ein paar grundsätzliche Dinge wissen. Zum Beispiel: Wer macht mit? Das hat nichts mit Ungeduld zu tun. Wie ich nie in ’ne vergammelte Maschine steigen würde, würde ich auch nie ein Ding drehen mit Leuten, denen ich nicht mindestens so vertraue wie mir selbst. Georg ist also dabei, und der ist okay.«
»Ja, Georg und ein Spanier aus Block C.«
»Ein Spanier? Dann hast du ja schon einen, der die Sprache kann.«
»Alle müssen Spanisch sprechen. Nicht unbedingt perfekt, aber es muss ausreichen, um sich verständlich zu machen.«
»Ausland also. Spanien?«
»Ich hab’ noch eine wichtige Frage vergessen: Wann genau wirst du entlassen?«
»Morgen in drei Wochen. Hab’ noch zweiundzwanzig leere Felder auf meinem Kalender.«
»Also doch ungeduldig?«
»Nee, nur scharf auf ’ne Frau. Spanien also?«
Aber Schweikert schwieg, und daraufhin erklärte Wobeser: »Ich wollte eigentlich auch nur wissen, ob es mit Sicherheit nicht die Bundesrepublik ist, denn mit der hab’ ich, wenn ich hier wieder raus bin, nichts mehr im Sinn.«
»Es ist nicht Deutschland«, antwortete Schweikert, »nicht mal Europa. Mehr darüber erfährst du in den nächsten Tagen. Morgen Abend machen wir es umgekehrt: Da besuche ich dich. Wir werden wieder Briefmarken tauschen. Die Erlaubnis dazu hab’ ich schon. Und Donnerstag spielen wir bei Georg einen Skat. Der hat dann nämlich Geburtstag. Um sieben Uhr fangen wir an, du, der Spanier, Georg und ich. Dann haben wir drei Stunden Zeit.«
»Ich kann keinen Skat.«
»Wir sind auch keine echten Briefmarkensammler, und du kannst ja wohl noch zehn Karten halten, ohne dass sie dir aus der Hand fallen.«
»Und wenn der Aufseher kiebitzen will? In unserem Block machen die Wärter das manchmal. Neulich hat einer sogar mitgespielt.«
»Es ist eine Geburtstagsparty, und er ist nicht eingeladen. Wenn er trotzdem kommt, machen wir ’ne Pause und singenHappy Birthday. Das hält er nicht aus, und dann zieht er Leine. Wie viel Geld hast du?«
»Oh, Mann, damit sieht es schlecht aus bei mir.«
»Hab’ ich mir gedacht. Aber das macht nichts. Wir brauchen als Startkapital etwa fünfzigtausend Dollar.«
»Donnerwetter! Und wie kriegen wir die zusammen?«
»Ich bringe fünfundzwanzigtausend ein.«
»Und Georg und der Spanier?«
»Die haben auch nichts. Aber das kommt auf jeden Fall zurecht. Gute Leute sind mir wichtiger als Geld. Du musst jetzt gehen. Besser, du bist schon weg, wenn sie gleich ihre Runde machen.«
Sie sammelten ihre Marken ein und legten sie in die Kästchen, standen auf, gaben sich die Hand. »Bis morgen!«, sagte Schweikert.
»Bis morgen! Und für den Donnerstag lass’ ich mir die Skatregeln beibringen.«
»Von wem?«
»Ist ’n Kumpel von nebenan.«
»Aber auch für den gehst du nur zum Skat und zum Geburtstag!«
»Na klar!«
Schweikert drückte auf den Klingelknopf, und der Aufseher kam. Er ließ Wobeser hinaus, schloss wieder ab.
Schweikert trat ans Waschbecken und schüttete sich kaltes Wasser ins Gesicht. Als er sich abgetrocknet hatte, blickte er lange in den Spiegel. Auf der rechten Wange und unten am Kinn hatte er ein paar Narben. Die waren jetzt schon fünf Jahre alt. Damals war ihm eine Laborpanne unterlaufen, die dem Hollmann-Werk ein neues Produkt und ihm selbst diese hässlichen Verätzungen beschert hatte.
Er trat einen Schritt zurück, strich sich das Haar glatt, legte ein paar Strähnen, die auf die falsche Seite geraten waren, wieder zurecht. Ich seh’ schlecht aus, dachte er; aber das krieg’ ich hin, die Sonne von Acapulco und der Pazifik werden mir dabei helfen.
Er nahm ein Buch vom Bord, legte sich damit aufs Bett, öffnete es. Las: »Ignacio y Esteban son hermanos. Ignaz und Stefan sind Brüder.Sus padres son señor y señora Gómez. Seine Eltern sind Herr und Frau Gómez.La familia Gómez tiene una bonita casa. Die Familie Gómez hat ein schönes Haus.« Als ob ich drüben jemals solchen Blödsinn reden würde! Hab’ denen ganz andere Dinge zu verkünden. Zum Beispiel: »Das Lösegeld muss bis übermorgen Abend an Bord sein!« Na ja, Fernando weiß, wie das auf Spanisch heißt.
Aber ihm war klar, dass das Lernen ähnlichen Gesetzen unterworfen ist wie zum Beispiel das Häuserbauen, bei dem man ja auch nicht mit dem zehnten Stockwerk, sondern mit dem Fundament beginnt, und außerdem war er ein disziplinierter Mann, und so las er weiter, las und lernte.
Es war wie an fast jedem Morgen der letzten sieben Jahre: Paul Wieland richtete sich in seinem Bett auf, gähnte, sah verschlafen zu, wie die alte Indianerin durch das halbdunkle Zimmer ging, das Tablett abstellte und den Vorhang zurückzog. Dann traf ihn wie ein Blitz die Sonne.
»Buenos días, Soledad!«
»Buenos días, señor!«
Immer war er es, der die älteren unter seinen Angestellten zuerst grüßte. Mit seiner Gewohnheit, ihnen Respekt zu erweisen, traf er sogar den Brauch einer vergangenen Zeit, obwohl der ganz anders zu deuten war: Wer zuerst grüßte, erteilte damit dem anderen die Erlaubnis, sich ihm zuzuwenden und das Wort an ihn zu richten. Indes, von dieser alten Regel wusste Paul Wieland nichts. Er grüßte die zierliche, ergraute Indianerin, die seit Langem in seinen Diensten stand, aus Höflichkeit.
»Hatten Sie eine gute Nacht,señor?«
»Ja, danke. Wie läuft es unten? Sind die neuen Gäste mit dem Frühstück zufrieden?«
»Von den Früchten sind sie begeistert. Und vom Kaffee natürlich. Einer hat zu Manolo gesagt, er hätte in dem großen Hotel an derCostera, wo er vorher gewohnt hat, eine Woche lang jeden Morgen Spülwasser trinken müssen, und der Umzug insRefugiohätte sich allein schon wegen des Kaffees gelohnt. Haben Sie noch einen Wunsch,señor?«
»Nein. Wie geht es deinen Enkelkindern?«
»Danke, gut. Ricardo ist in ein paar Monaten mit der Schule fertig, Lázaro und María Eugenia kommen bald in dieSecundaria, und die drei Kleinen von meinem Sohn Ruben in Chilpancingo bringen nur Neunen und Zehnen nach Hause.«
»Du kannst stolz sein auf deine Familie.«
»Das bin ich auch,señor.« Soledad schwieg einen Moment, und dann fügte sie, etwas verschämt, hinzu: »Lázaro bringt mir jetzt das Lesen und Schreiben bei.«
»Das ist gut. Dann kannst du ja bald die Wäscheliste übernehmen. Sag Manolo, er soll nachher, wenn er das Fleisch holen will, auf mich warten. Ich fahre mit ihm in die Stadt.«
»Ja,señor.«
Die Indianerin verließ das Zimmer. Paul Wieland stand auf und ging ins Bad.
Als er zurück war, öffnete er die Balkontür, stellte das Frühstückstablett hinaus und setzte sich.
Und dann erlebte er, wie so oft am Morgen, eine glückliche halbe Stunde. Er sah, während er seinen Fruchtsalat aus Mango und Papaya, Melone und Ananas aß und seinen Kaffee trank, hinunter auf die Bucht von Acapulco.
Seit siebzehn Jahren gehörte sie zu seinem Leben. Damals war er mit zwölf Dollar und sechzig Cent in der Tasche auf dem holländischen FrachterKormoranhier angekommen, hatte sich ein paar Tage umgesehen und dann zum Bleiben entschlossen. Er hatte abgemustert und sich an dieser schönsten der vielen Meeresbuchten, die ihm während seiner Seemannsjahre vor Augen gekommen waren, einen Job gesucht. Dreiundzwanzig Jahre alt war er zu der Zeit gewesen, und trotz seiner Jugend hatte es ihm Schwierigkeiten bereitet, in dem feuchtheißen Tropenklima zehn, elf oder gar zwölf Stunden täglich zu arbeiten. Aber er hatte durchgehalten. Vor allem die großen Hotels an den Stränden waren sein Tätigkeitsfeld gewesen. Er hatte als Bell-Boy gearbeitet, als Clerk, als Sub-Manager und schließlich als Direktor. In dieser Zeit hatte er jeden Peso, den er nicht unbedingt zum Leben brauchte, gespart, und dann war endlich der große Tag gekommen. Im StadtteilCondesa, auf halber Höhe des die Bucht säumenden Hügelringes, war ihm von einer Erbengemeinschaft, die es eilig hatte zu verkaufen, ein großes Grundstück billig angeboten worden. Da er damals noch nicht naturalisiert war, hatte er es nur durch die Hilfe eines mexikanischen Freundes, der als Strohmann fungierte, erwerben können. Drei Jahre später hatte er, zusammen mit seiner Bank, einen soliden Finanzierungsplan erstellt und zu bauen begonnen.
Schon lange vorher hatte er von seinem Hotel eine klare Vorstellung gehabt. Um nichts in der Welt hatte er einen jener seelenlosen Betontürme bauen wollen, wie sie zu Dutzenden zwischen Uferstraße und Strand standen und größtenteils von den weltweit vertretenen Hotelketten für den Massentourismus bereitgehalten wurden. Ebenso wenig wollte er ein Haus wie beispielsweise das HotelMiami, das sich ein Schweizer in der Nähe der Altstadt gebaut hatte. Zwar saß er dort manchmal im schattigenpatiobei einem Glas Bier und unterhielt sich mit den vorwiegend deutschstämmigen Gästen aus der Hauptstadt, aber zum Wohnen war ihm das durch den dichten Bewuchs verwunschen wirkende Haus zu düster. Er wollte seinen Gästen kein Dschungel-Camp bieten, sondern eine lichtdurchflutete und zugleich kühl gehaltene Residenz. Da kam Teddy StauffersVilla Veraseinen Vorstellungen schon näher, nur war ihm dieses Luxus-Hotel zu extravagant und natürlich auch viel zu teuer. Er wollte ein Hotel der Mittelklasse, komfortabel, ruhig und sauber.
Schließlich war ein Haus entstanden, das seinem Sinn für das Maßvolle entgegenkam und doch auch gehobenen Ansprüchen gerecht wurde. Es war ein doppelstöckiges weißes Gebäude mit dreißig großzügig eingerichteten Zimmern, jedes mit Balkon oder Terrasse versehen. An einer Ecke des Hauses erhoben sich, fast wie ein Flughafen-Tower, zwei weitere Etagen auf einer Grundfläche von etwa fünfzig Quadratmetern. Dieser aufgesetzte Kubus bildete seinen privaten Bereich. Er enthielt im unteren Teil ein großes Arbeitszimmer und im oberen einen mit viel Komfort ausgestatteten Wohn-Schlafraum, zu dem auch der Balkon gehörte, auf dem er jetzt saß.
Während der Errichtung und Ausstattung des Hotels war er sorgfältig darauf bedacht gewesen, die zahlreichen Fehler, die seine Kollegen in den großen Häusern begingen, zu vermeiden. So hatte er zum Beispiel die Aggregate der Klima-Anlagen, die viel Lärm verursachten und die in manchen Hotels oberirdisch arbeiteten, im Boden versenkt, sodass nur ein leichtes Summen zu hören war. Auch einen anderen weit verbreiteten Missstand hatte er vermieden. In seinem Hause gab es keine Musik! Zu oft hatte er in den Hotels derCosteradie Beschwerden der Gäste entgegengenommen, die nachts an der Rezeption erschienen waren, verstört und empört, weil die Lautsprecher den harten, hämmernden Beat, der unten gespielt wurde, bis ins zehnte Stockwerk hinaufschleuderten. Darum prangte an seinem Hotel über der Eingangstür ein Schild mit der Aufschrift »30 comfortable rooms – swimmingpool – 24 hours service – air condition – no music«. Der Hausprospekt bekam den gleichen Text, und schon bald sollte er erfahren, dass vor allem der letzte Hinweis viele Gäste bewog, unter den zahlreichen Hotels von Acapulco seines, dasRefugio, auszuwählen.
Er stand also gut da, und die meisten seiner Besucher waren Stammgäste.
Im Erdgeschoss hatte er eine kleine Wohnung anbauen lassen, in der seit zwei Jahren seine Eltern lebten. Nachdem dasRefugioeine verlässliche Existenzgrundlage geworden war, hatte er sie gebeten, zu ihm zu kommen. Die Verwandten in Deutschland hatten diesen Schritt als ein zu großes Wagnis bezeichnet und dafür Gründe aufgeführt, wie die Volksweisheit sie nun mal bereithält: Alt und Jung dürfen nicht zusammenleben, und alte Bäume soll man nicht mehr verpflanzen! Auch auf den gerade für ältere Menschen beschwerlichen Wechsel von kühleren Breiten in ein tropisches Land hatte man hingewiesen. Doch das Experiment war geglückt. Was das Zusammenleben unter einem Dach betraf, dachten alle drei mittlerweile wie die Mexikaner, die, ob arm oder reich, zwischen den Generationen engen Kontakt halten. Und auch mit dem tropischen Klima kamen die beiden fast Siebzigjährigen gut zurecht. Ja, sie waren unter der Sonne Mexikos sogar aufgelebt.
Er sah aufs Wasser und gestand sich wohl zum hundertsten Male ein: Es ist der schönste Platz der Welt, wenn es einem gelingt, dem Lärm da unten zu entfliehen. Ich habe es richtig gemacht, damals, als ich mit meinen zwölfeinhalb Dollar an Land sprang und mich fürs Bleiben entschied!
Von seinem Balkon aus konnte er fast die ganze Bucht übersehen, das riesige Oval mit dem schmalen gelben Saum und den grünen Hängen, und einmal mehr begriff er, dass die von der Natur geschaffene Anlage den Namen verdiente, den irgendein findiger Kopf ihr gegeben hatte: Amphitheater.
Auf der türkisfarbenen Bühne und der gelben Rampe lief das immer gleiche Stück, dasFERIENhieß oderFREIZEIToder auch einfach nurFREUDE, und auf dem sanft ansteigenden Hügelring befanden sich, über die Ränge verteilt, Abertausende von Zuschauern. Ganz oben, auf dem fünften Rang, hatten noch bis vor Kurzem die Armen gehaust, ohne Wasser, ohne Licht. In Scharen waren sie aus der Tiefe des Hinterlandes gekommen in dem Glauben, der Tourismus gebe auch ihnen Arbeit und Brot. Ihre Rechnung war nicht aufgegangen. Dennoch waren immer mehr hergeströmt,los paracaidistas, wie man sie nannte, die Fallschirmspringer, weil sie, wie vom Himmel gepurzelt, auf einem Stück des scheinbar so gesegneten Territoriums gelandet waren und es, als hätten sie’s erobert, nicht wieder preisgeben wollten. Schließlich aber, Anfang der achtziger Jahre, ereilte sie das rigorose Sanierungsprogramm der Stadtväter von Acapulco. Die hatten ihnen zwanzig Kilometer landeinwärts eine Siedlung von gewaltigen Ausmaßen aus der Erde gestampft und ihr einen verheißungsvollen Namen gegeben,Ciudad Renacimiento, die wiedergeborene Stadt. Dort gab es Wasser und Elektrizität, und dennoch bedurfte es polizeilicher Gewalt, um die Bewohner umzuquartieren. Wasser und Licht, nun gut, zwei Errungenschaften, die geeignet waren, ihnen das Leben zu erleichtern. Aber was war mit der Bucht und mit der frischen Brise? Die hatten sie verloren, und so sehnten sie sich zurück nach ihrem fünften Rang.
Paul Wieland schaute eine Weile den Wasserskiläufern und den Seglern zu, doch dann schweifte er ab, folgte einer Gewohnheit. Schon früher hatte er sich beim Anblick alter Städte gern ausgemalt, wie die Menschen dort vor zwei, drei oder vielleicht noch mehr Jahrhunderten gelebt haben mochten, und so versetzte er nun auch den vor ihm liegenden Hafen in eine Zeit, in der palmenbewachsene Strände noch nichts mit Freizeit und Erholung zu tun hatten, dachte sich hinein in das Acapulco derconquistadores.
Die Bucht war dieselbe. Den Hügelring gab es, den Strand und die Palmen. Ja, das Amphitheater existierte schon, doch seine Ränge waren noch leer, und die Stücke auf der Bühne waren andere: Nachdem Cortez das Land im Auftrag der spanischen Krone erobert hatte, wurde Acapulco der bedeutendste Handelsplatz der Neuen Welt für den Warenaustausch mit Asien. Spanische Galeonen brachten Seide, Elfenbein, Porzellan und Gewürze aus China und holten dafür mexikanische Produkte wie Gold, Silber, Wein und Kakao. Das erste dieser Schiffe, die beschwerliche monatelange Reisen zu bestehen hatten, war dieNao de China. Fortan wurde das Eintreffen neuer Waren zu einem Fest. Musik, die noch Musik war, ertönte auf den Straßen und Plätzen, Wein wurde ausgeschenkt, man tanzte, und Gäste kamen von weither.
Doch, wie zu allen Zeiten, gab es auch damals Menschen, die ernten wollten, ohne gesät zu haben. Sobald bekannt geworden war, dass regelmäßig kostbare Schiffsladungen zwischen Mexiko und China unterwegs waren, nahmen auch die Piraten Kurs auf Acapulco, kreuzten vor der Küste und versuchten, die reichbeladenen Schiffe abzufangen und aufzubringen. Das bewog die spanischen Kolonialherren, in Acapulco die FestungSan Diegozu errichten.
Der Aufstieg der Stadt zu Rang und Ansehen hielt nicht an. Im Gegenteil, sie entwickelte sich wieder zurück. Als nämlich Mexiko sich vom spanischen Mutterland löste, war es mit dem weltweiten Handel vorbei. Acapulco geriet wieder auf den Stand eines unbedeutenden pazifischen Fischerhafens, denn immer noch nicht waren die Buchten der Welt zum Baden da. Ihr Segen beschränkte sich darauf, den Schiffen Schutz zu gewähren.
Der zweite Aufschwung der Stadt begann viel später. Erst 1927 wurde die Autostraße zwischen Mexico City und Acapulco eröffnet, sodass man in wenigen Stunden von der Hauptstadt an die Küste gelangen konnte. Und zwanzig Jahre danach beschloss Miguel Alemán, seinerzeit Präsident der Republik, den genau auf dem hundertsten Meridian liegenden Ort nicht nur für die Mexikaner zum Urlaubsparadies zu machen, sondern für Gäste aus aller Welt.
Es wurde geworben, und es wurde gebaut. Bald wand sich, der Bogenlinie derbahíafolgend, eine zwanzig Kilometer lange Uferstraße, dieCostera Miguel Alemán, am unteren Saum des Hügelringes entlang. Zwischen ihr und dem Strand entstanden in rascher Folge zehn-, zwanzig-, dreißigstöckige Hotels. Der kleine Flughafen neben der LaguneTres Paloswurde zum internationalen Landeplatz erweitert. Die Tourismusbörse notierte das ZauberwortAcapulcound bald auch den zweiten Namen der Stadt:Perle des Pazifiks. Und tatsächlich, sie kamen, die Gäste aus aller Welt, kamen mit dem Auto, dem Flugzeug, dem Schiff.
Die Sonne stand, von ihm aus links, über derBase Naval, dem kleinen Marinestützpunkt nahe derPlaya Icacos. Drei Stunden weiter, dachte er, und sie wirft ihr Licht und ihre Glut senkrecht auf diebahía. Dann haben selbst die hohen Hoteltürme keine Schattenfelder mehr, und im Sand schmoren die Menschenleiber, bräunen in Stundenfrist. Heute Abend, gegen sieben Uhr, rollt der riesige rote Ball hinter der InselRoquetawieder ins Meer. Das ist der eigentliche Reichtum hier: dass an mindestens dreihundert Tagen im Jahr die Sonne scheint. Dieser Reichtum ist durch nichts zu gefährden. Auch diebahíaund die grünen Hügel kriegt niemand kaputt. Das Amphitheater wird es immer geben. Es kommt nur darauf an, wie sich das Publikum benimmt. Ja, ich habe es richtig gemacht, als ich mir hier meinRefugioschuf.
Er stand auf, läutete nach der alten Indianerin. Sie kam, räumte den Tisch ab und begann mit dem Saubermachen. Er verließ seinen Turm, um nach den Eltern zu sehen.
Johannes Wieland und seine Frau Martha waren Frühaufsteher. Für sie hatte der Arbeitstag schon vor zwei Stunden begonnen, und zwar in Garten und Küche. Dort tätig sein zu dürfen, hatten sie sich ausbedungen, bevor sie herübergekommen waren. »Kein Drohnendasein«, hatte Johannes Wieland seinem Sohn damals geschrieben, »wir kommen nur, wenn wir uns nützlich machen können.«
Paul Wieland fand die beiden auf ihrer Terrasse. Sie machten ihre erste Pause. Er setzte sich zu ihnen, fand, dass sie wohl aussahen, braungebrannt wie er selbst.
»Mir scheint, du hast dein Haus ziemlich voll«, sagte die Mutter.
»Gott sei Dank«, antwortete Paul Wieland. »In ein paar Tagen hält dieBanco de Comerciowieder ihre Hand auf.«
»Vier Jahre noch«, sagte der Vater, »das ist eine verdammt lange Zeit.«
»Macht euch keine Sorgen, ich schaffe es schon! Fast zwei Drittel der Laufzeit sind herum. Also noch ein Drittel, und dann kommt das große Aufatmen.«
»Und wenn du mit den Preisen raufgingest?«, fragte die Mutter. »Dann könntest du es früher schaffen. In meinem Canasta-Club sagen sie, du bist zu billig, könntest hundert Dollar nehmen statt achtzig.«
»Mutter, das haben mir schon viele Leute gesagt, aber es wäre mit Sicherheit ein Fehler. Mir würden die Gäste wegbleiben.«
»Du machst es schon richtig«, sagte der Vater. »Hör nicht auf die anderen Leute! Entschuldige, Martha, aber es ist ein Unterschied, ob man Canasta spielt oder ein Hotel führt.«
Paul Wieland stand auf. »In einigen Jahren kaufe ich ein zweites Grundstück, baue noch ein Haus. Die Pläne habe ich schon. Die Belastung wird kein Problem sein, weil ich sie aus den Einnahmen von zwei Betrieben abtragen kann. Die Sache funktioniert aber nur, wenn immer genügend Gäste da sind, und die locke und halte ich mit meinem Achtzig-Dollar-Angebot. Es hat sich bewährt. So, jetzt muss ich in die Stadt. Wir sehen uns beim Mittagessen. Dann zeige ich euch die Pläne. Ich hab’ eine Option auf den halben Garten der beiden alten Orellana-Schwestern. Macht’s gut! Bis nachher!«
Wie vereinbart, war Fernando Ortiz, der Spanier, schon eine halbe Stunde vor Beginn der Geburtstagsparty bei Georg erschienen. Die beiden bereiteten die Feier vor, wischten die ausgeliehenen Gläser nach, schnitten den Schinken in Scheiben, suchten ein paar CD’s heraus, zündeten Kerzen an und stellten aus zwei umgestülpten Eimern und einem Brett eine Sitzbank her.
Sie verrichteten ihre Arbeiten flink, verstanden sich gut. Äußerlich waren sie ein höchst ungleiches Gespann. Der zweiunddreißigjährige Georg Brüggemann war mittelgroß und kompakt, hatte die für den Pykniker typische Gestalt, ohne dass es ihm deshalb an Geschicklichkeit fehlte. Die Haare auf seinem fast kugelrunden Kopf waren blond und strähnig, und die leicht geröteten Pausbacken erinnerten an ein Babygesicht, ebenso seine hellblauen Augen. Ja, die Augen vor allem erweckten den Eindruck von Schutzlosigkeit. Doch der täuschte. Georg Brüggemann war, allerdings nicht immer in löblicher Absicht, couragiert, dazu bärenstark, und wer von seinen Mitgefangenen ihn näher kannte, vermied es, sich mit ihm anzulegen.
Fernando Ortiz war klein, schlank, nervig. Er hatte den dunklen Teint des Südländers, dunkelbraune Augen und volles schwarzes Haar. Er stammte aus der Nordwestecke der iberischen Halbinsel, aus der Provinz Galicien, und hatte die ersten Jahre seiner Kindheit in Santiago de Compostela verbracht. Dann waren seine Eltern wegen mangelnder Arbeitsmöglichkeiten mit der achtköpfigen Familie nach Deutschland gegangen. Er war siebenundzwanzig Jahre alt und sprach das Deutsche akzentfrei.
Georg und Fernando verband ein gemeinsam begangenes Delikt, dessentwegen sie einsaßen. Sie hatten zum Schein eine Maklerfirma gegründet, sich in Spanien einige Helfer verschafft, hatten für ein wunderschönes galicisches Tal Kaufinteressenten gewonnen, neunzig an der Zahl, sie in zwei Busse geladen und in Fernandos Heimat transportiert. Nach der Besichtigung des in der Tat landschaftlich besonders reizvollen Terrains hatten siebenundzwanzig Teilnehmer sich zum Kauf einer Parzelle entschlossen und den Preis an Ort und Stelle entrichtet, die meisten per Scheck. So plump dieser Schwindel auch angelegt war, er hatte zunächst vor allem deshalb Erfolg, weil die in Santiago de Compostela gedungenen Helfer mit einem ganzen Sortiment vertrauenerweckender Requisiten ausgestattet worden waren: mit gestohlenen und veränderten Grundbuchblättern, gefälschten Vertragsurkunden, behördlichen Stempeln, sogar mit einer Polizei-Uniform, in der einer der Komplizen sich präsentierte. So hatte der ganze Vorgang – das Eintragen in lange Register, das Ausfertigen von Bescheinigungen, das fleißige Stempeln – den Opfern die Abwicklung amtlicher Verrichtungen vorgegaukelt, und der falsche, zum Schein zwischen dem angemieteten Gasthaus und dem Bürgermeisteramt hin und her pendelnde Polizist war ihnen als ein mit wichtigen Botengängen betrauter Gesetzesvertreter erschienen.
Trotz der kostspieligen Inszenierung wäre die Beute lohnend gewesen, für jeden der beiden etwa vierzigtausend Euro, aber sie kamen nicht in den Genuss des Geldes, denn zwei der Käufer wollten sofort mit dem Bauen beginnen und fuhren gar nicht erst nach Deutschland zurück. Ihr Gespräch mit einem spanischen Architekten brachte dann zutage, dass das schöne galicische Tal weder parzelliert noch für eine Erschließung vorgesehen war und seit hundertfünfzig Jahren der Kirche gehörte.
Georg und Fernando, die gleich nach ihrer Rückkehr die zahlreichen Schecks bei der Bank eingereicht hatten und nur noch darauf warteten, dass sie das Geld abheben konnten, wurden verhaftet, des Betruges angeklagt und verurteilt. Über einige Wochen hin war nicht klar gewesen, ob ihr Fall in die deutsche oder in die spanische Gerichtsbarkeit gehörte, doch da der Betrug seinen Ausgang in der Bundesrepublik genommen hatte und die Geschädigten ausnahmslos Bundesbürger waren, kam die deutsche Seite zum Zuge.
Wie Leo Schweikert und Richard Wobeser, so hatten auch Georg und Fernando ihre Haftzeit bald hinter sich. Ja, sie waren sogar die Ersten, die das Gefängnistor in Richtung Freiheit passieren würden, hatten nur noch ganze acht Tage abzusitzen, und so galt das Geburtstagsfest gleichzeitig als Abschiedsfeier. Aus diesem Grunde hatten die Aufseher die Speisen und Getränke durchgehen lassen.
Georg nahm eine Bierflasche vom Fenstersims. »Ist kalt genug«, sagte er, und Fernando antwortete: »Hauptsache, von dem Zeug ist reichlich da! Ein paar Kurze wären mir allerdings lieber. Monika hätte dir doch eigentlich mal wieder ’ne Flasche Korn schicken können.«
»Die schickt mir gar nichts mehr. Mit der ist es aus.« »Seit wann denn das?«
»Schon seit zwei Wochen. Hat mich einfach abgehängt.«
»Das find’ ich aber unfein, wenn einer sitzt und nichts dagegen tun kann.«
»Ach, weißt du, mir passt das ganz gut, grad jetzt, wo wir das große Ding vor uns haben. Ich hätte ihr ja erzählen müssen, dass ich für ’ne Weile verreise, und dann hätte sie mich mit ihren Fragen genervt oder vielleicht sogar darauf bestanden, mitzufahren. Dann wär’s wahrscheinlich sowieso zum Bruch gekommen. Stell dir mal vor, ich sag’ zu Leo, meine Braut kommt mit! Der würde mich wie ’ne heiße Kartoffel fallenlassen.«
Fernando zog ein paar Papierschlangen aus der Hosentasche und fing an, sie durch die Zelle zu spannen. »Ist schon was Tolles«, sagte er, »die Aussicht, reich zu werden. Wenn du wüsstest, wie es bei uns zu Hause in Galicien aussah! Es fehlte an allen Ecken. Mit sechs Jahren kriegte ich zum ersten Mal ein Paar Schuhe, die neu waren. Bis dahin waren es immer nur die alten von meinen Brüdern. Und wie oft hab’ ich abends im Bett Hunger gehabt! Manchmal bin ich aufgestanden und hab’ in der Küche nach Brot gesucht, und wenn mein Vater mich dabei erwischte, war es aus. Kannst du dir so was vorstellen: Mein Vater war ein richtiger Tyrann und dabei bettelarm! Das ist das Allerletzte, arm sein und sich aufführen wie ein Tyrann. Sogar meine Mutter hatte immer Angst vor ihm. Hat sie noch heute. Wie war es denn bei dir zu Haus?«
»Ach, eigentlich konnte man es da aushalten. Bloß meine Mutter, die hatte ’ne Macke.«
»Wieso?«
»Na, die tickte nicht richtig. Sie glaubte, sie wäre ’ne Dame, und hackte dauernd auf meinem Vater rum, weil er es nicht schaffte, das Niveau ein bisschen zu liften. Er war ’ne einfache, ehrliche Haut, und wenn wir Besuch hatten und meine Mutter mit ihren blöden Sprüchen anfing, also, dass sie doch eigentlich was Besseres wäre und so, dann ging er aus dem Zimmer. Liebe? Nee, die war nicht. Ich bin mit sechzehn aus ’m Haus. Du weißt ja, ich hab’ ’ne Schlosserlehre gemacht und dann später auf einer Hamburger Werft gearbeitet, bis die keine Aufträge mehr reinkriegte. Also ging ich stempeln. Davon konnte ich grad mein Zimmer in Altona bezahlen und mich so eben über Wasser halten.«
Fernando umwickelte nun die Gitterstäbe mit den Papierschlangen, sah kurz von seiner Arbeit auf und fragte:
»Was, glaubst du, wird Leo uns erzählen?«
»Weiß ich nicht, aber mit Sicherheit ’ne Geschichte, die vorn und hinten stimmt. Wenn Leo was anpackt, ist das sozusagen wissenschaftlich untermauert. Kein simpler Bruch mit ’ner läppischen Tageskasse oder ein paar Lohntüten als Beute, nee, bei ihm gibt’s nur großes Kaliber, sagen wir mal: vom Londoner Postraub an aufwärts.«
»Ich dachte, der sitzt bloß wegen ’ner Panscherei mit Chemikalien.«
»Ja. Man hat ihn reingelegt. Aber er ist empfindlich und schlägt zurück. Er hat zu mir gesagt: ›Lieber einmal ein großes Ding drehen als zehnmal ein kleines.‹ Er arbeitet schon seit Monaten dran, und die Investition ist fünfstellig.«
»Por Dios!«
»Er sagte auch: ›Wenn ich was mache, dann nur ein Ding, das noch nicht da war.‹«
»Und wie ist er auf uns gekommen?«
»Er hat unsere Kritiken gelesen. Ja, so drückte er sich aus, und die haben ihm, obwohl es schiefgegangen ist, gefallen. Er sagte, die Idee war gut, und auch das Konzept fand er im Großen und Ganzen akzeptabel; wir hätten nur an den Einzelheiten noch ein bisschen feilen müssen.«
»Was meinst du, wie viel bringt die Sache ein?«
»Keine Ahnung. Ich weiß nur, danach haben wir ausgesorgt. Wirklich, seine Theorie hat was für sich. Wenn du jedes Jahr ein Ding drehst, bist und bleibst du ein Ganove. Machst du aber einmal was ganz Großes, kannst du für immer auf die andere Seite überwechseln. Dann spielt es keine Rolle mehr, woher dein Geld stammt. Hauptsache, du hast es.«
»Wann soll’s denn eigentlich losgehen?«
»Schon ziemlich bald nach der Entlassung, glaube ich.«
Die Gäste waren pünktlich. Gratulation, Umarmung und – augenzwinkernd – Glückwünsche für den nächsten Lebensabschnitt.
Sie setzten sich, schenkten Bier ein, aßen und tranken.
Dann kamen die Spielkarten auf den Tisch, und nachdem der Aufseher sich zum ersten Mal vom harmlosen Ablauf der Feier überzeugt hatte, begann Leo mit seinen Instruktionen.
»Solange wir noch hier sind, wird es zu unserem Plan keinen Fetzen Papier geben. Aufbewahrungsort für jede Anweisung, jede Skizze, jede Liste, jeden Termin, jeden Namen, kurz: für alles, was erörtert wird, ist der Kopf, und eher wird der eingebüßt, als dass da was rausgeht. Auch unser vierter Mann«, er nickte in Richtung auf Wobeser, »ist jetzt voll einbezogen. Ein fünfter gehört noch dazu. Er ist draußen. Ihr werdet ihn bald kennenlernen. Mit ihm sind wir komplett. Wir kommen hier nicht zum selben Termin raus, aber im Ganzen vollzieht sich unsere Entlassung in einem Zeitraum von nur einem Monat. Ihr, Georg und Fernando, seid die Ersten. Ich hab’ nichts dagegen, wenn ihr zusammenzieht; man weiß sowieso, dass ihr befreundet seid. Aber das erste Treffen zu viert muss verdeckt erfolgen. Wir sehen uns im HarzhotelKreuzeckin Hahnenklee, und zwar am 26. März, abends um acht. Getrennte Anreise in Pkws. Bevor die Harzroute eingeschlagen wird, muss jeder absolut sicher sein, dass er keine Polizei im Schlepp hat. Ich weiß nicht, ob überhaupt, und wenn ja, inwieweit sie uns nach der Entlassung unter Kontrolle halten, aber sicher ist sicher! Also gehen wir davon aus, dass sie es tun. Weiter: Eintragung im Hotel auf jeden Fall unter falschem Namen! Ich wiederhole den Termin: 26. März. Fragen dazu?«
Richard Wobeser meldete sich, indem er die Linke mit den Spielkarten anhob.
»Ja?«, fragte Leo.
»Geht es vom Harz aus gleich los, oder fahren wir erst noch wieder nach Haus?«
»Wir bleiben danach noch etwa zwei Monate in Deutschland. Ende Mai geht’s nach drüben.«
»Darf man jetzt erfahren, was ›drüben‹ bedeutet?«, fragte Richard.
»Geduld! Alles zu seiner Zeit. Erst mal muss ich euch von einem sechsten Beteiligten erzählen, der eigentlich der wichtigste ist, denn ohne ihn läuft die ganze Sache nicht. Er ist kein Partner im üblichen Sinn, kein Wesen aus Fleisch und Blut, dennoch Hauptakteur in unserem Spiel. Allerdings will ich hoffen, dass er nicht zum Einsatz kommt. Wir halten ihn nur bereit. Er ist das Mittel, mit dem wir drohen; er gibt unserer Forderung das nötige Gewicht.«
»Mach es nicht so spannend!«, sagte Georg. »Wer ist denn nun dieser komische Partner, der gar keiner ist?«
»Keiner«, antwortete Leo, »sondern eines. Ein Gift. Dioxin. Ihr habt alle von Seveso gehört, wo das Zeug die ganze Einwohnerschaft verjagt hat. Es ist übrigens falsch, immer nur vondemDioxin zu reden, wenn es um diese Killersubstanz geht, die die chemische Industrie so nebenher miterzeugt. Es gibt nicht weniger als zweihundertzehn Dioxine, die hundertfünfunddreißig Dibenzofurane eingerechnet, die zu derselben Familie gehören. Die Grundsubstanzen der Dioxine und Furane sind Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff und Chlor, nichts Aufregendes also, aber – wie meistens in der Chemie – kommt es auf die Kombination an. Die zweihundertzehn Arten…«
»Müssen wir das alles unbedingt wissen?«, unterbrach ihn Georg. »Wenn ich vorm Fernseher sitze, frag’ ich mich doch auch nicht, wie so ein Kasten von innen aussieht.«
»Da wir mit dem Dioxin, sagen wir mal, ziemlich intim umgehen werden, solltet ihr durchaus wissen, wie es beschaffen ist! Also: Die zweihundertzehn Arten unterscheiden sich nur durch die Anzahl der an den Kohlenstoff gebundenen Chlor-Atome. Einige Kombinationen sind harmlos, andere dagegen, wie eben das Seveso-Gift, richten schon in winzigen Mengen verheerende Schäden an. Sie können zum Beispiel Akne erzeugen und Krebs, und sie können Missgeburten verursachen und sogar zum Tode führen. So viel vorerst über unseren sechsten Partner. Zu den Vorbereitungen wird es gehören, ihn auszuwählen, zu erwerben, zu verpacken und nach drüben zu verfrachten. Ihn zu bekommen, ist für mich kein großes Problem, denn ich habe jahrelang mit solchen Stoffen gearbeitet und kenne die Plätze, an denen sie zu holen sind. Ihr ahnt gar nicht, wie schlampig es auf einigen zugeht! Man hat zwar Gesetze verabschiedet, die die Beseitigung von Giftmüll regeln sollen, aber sie erfolgt oft genug nur auf dem Papier. Es gibt Tausende von sogenannten Altablagerungsplätzen, und jährlich werden – teils per Schiene, teils per Straße, teils auf dem Wasser – einige hundert Millionen Tonnen von Stoffen durch die Bundesrepublik transportiert, die entweder Gift enthalten oder radioaktiv sind oder explodieren können. Die Bewegungen solcher Mengen kann man gar nicht bis ins Letzte kontrollieren. Also, an mein Dioxin komme ich schon heran. Aber weiter! Das Verladen und Verschiffen unter Verwendung falscher Konnossemente geht auch in Ordnung.«
»Und das Ausladen?«, fragte Fernando.
»Drüben, wo wir das Zeug verwenden wollen, wird es keine Schwierigkeiten geben, denn unsere Fässer dürften nicht die ersten sein, die den Zoll ungeprüft passieren. Das ist nur eine Frage des Geldes. So, und was ist jetzt ›drüben‹?« Er machte eine Pause, stand auf, holte eine Flasche Bier, öffnete sie, schenkte sich ein und nahm einen Schluck. »Ja, drüben«, sagte er, setzte Glas und Flasche auf dem Tisch ab und fuhr fort: »Stellt euch vor: die Tropen, eine paradiesische Bucht, Längsausdehnung etwa sechs Kilometer. An ihrem Ufer eine Stadt mit fast einer Million Einwohnern und einem halben Tausend Hotels, rund zwanzig Badestränden und einer ganzjährigen Saison. Ich rede von Acapulco, dem Platz also, an dem US-Bürger, Kanadier und Europäer Ferien machen und den Dollar rollen lassen. Wir fahren, wenn wir das Dioxin nach drüben geschafft und an verschiedenen Plätzen der Stadt eingegraben haben, in die Bucht ein und gehen da vor Anker. Unsere Giftfässer sind außen mit Sprengladungen versehen, die wir zu jeder Zeit zünden können. Das heißt aber nicht, dass wir das Dioxin zur Explosion bringen, denn dann würde es verbrennen. UnserTNTist nur der Büchsenöffner, der das Fass zerreißt, damit das Dioxin sich verbreitet. Dafür, dass das nicht geschieht, müssen die Leute bezahlen. Nicht das Fußvolk, die Gäste ebenso wenig, wohl aber diejenigen, die mit den Gästen ihr Geschäft machen, also die Hoteliers. Es gibt da Hotels aller Kategorien. Die kleinen unter ihnen sind natürlich keine Goldgruben, aber es gibt eben auch die weltweit operierenden Hotelketten.« Erst jetzt setzte er sich wieder hin. »Es ist nicht unsere Aufgabe, den Leuten zu sagen, wie sie die Last aufzuteilen haben; das müssen sie schon unter sich ausmachen. Wir sind nur zuständig für das Ganze, also für die Schutzgebühr insgesamt, und die beläuft sich auf…«, noch einmal machte er eine Pause, und dann flüsterte er die Zahl über den Tisch, sprach aber trotzdem so deutlich, dass die drei keine Mühe hatten, sie zu verstehen, »fünfzig Millionen Dollar! Das sind etwa fünf Prozent dessen, was die Hotels in Acapulco mit ihrer weißen Industrie jährlich umsetzen.«
Fernando war der Erste, der etwas sagte, und vor Schreck fiel er in seine Muttersprache zurück: »Madre mía!«
Und Georg meinte: »Hab’ zwar mit einem irren Haufen Kies gerechnet, nach allem, was du bis jetzt angedeutet hast, aber… fünfzig Millionen! Zehn Millionen pro Nase! Sag mal, ist das nicht utopisch?«
Bevor Leo zu einer Antwort kam, sagte Richard: »In so einer Größenordnung kann ich überhaupt nicht rechnen! Du hattest recht, als du meintest, ich würde vom Hocker kippen. Ich sitze zwar noch, aber innerlich oder symbolisch, oder wie soll ich mich da ausdrücken, bin ich längst gekippt.«
»Es ist nicht utopisch«, sagte Leo. »Natürlich werden sie versuchen, die Summe herunterzuhandeln, aber auf mehr als zwanzig Prozent Reduzierung würden wir uns nicht einlassen, und dann blieben immer noch vierzig Millionen Dollar. Allerdings, um falsche Hoffnungen von vornherein auszuschließen: Die Summe geht nicht durch fünf! Der Verteilerschlüssel ist ein anderer, und das müsst ihr einsehen. In keinem vernünftigen Wirtschaftsunternehmen der Welt verdient der Boss das Gleiche wie seine Leute. Wäre ja auch ungerecht. Gehen wir mal ruhig von fünfzig Millionen Dollar aus! Davon rechnen wir rund fünfundzwanzig Prozent fürs Waschen ab. Es ist ja heißes Geld, und wir tauschen es in Panama um. Bleiben also siebenunddreißigeinhalb Millionen. Davon kriegt ihr jeder fünf, und den Rest teile ich mit dem Mann, der drüben alles vorbereitet. Denn er und ich machen die Planung, wir investieren, und ich leite das Unternehmen. Folglich sind unsere Anteile größer. Aber auch mit fünf Millionen Dollar seid ihr fein raus. Ihr könnt in Saus und Braus leben, und das allein von den Zinsen. Klar?«
Alle drei nickten. Leo stand wieder auf, ging zur Tür, wies die anderen an, sich leise zu verhalten, lauschte, hörte nichts, kehrte an seinen Platz zurück und erklärte: »Wär’ nicht gut, wenn grad jetzt einer durchs Loch linsen würde. Ihr seid nämlich so blass um die Nase, als hätte man euch mitgeteilt, ihr müsstet noch mindestens zwanzig Jahre sitzen. Am besten, wir stoßen erst mal an! Also: Auf diebahíavon… stopp! Der Name der Stadt darf von nun an nicht mehr fallen! Wenn der Coup gelaufen ist und in allen Zeitungen breitgetreten wird, würde man sich womöglich daran erinnern, dass hier ein paar Figuren kurz vor ihrer Entlassung mehrmals diese exotische Vokabel im Mund geführt haben. Das Projekt kriegt jetzt einen Namen. Mister Di, das Dioxin! Trinken wir also auf Mister Di, unseren Freund und Partner!«
Sie nahmen ihre Gläser auf, schlugen sie gegeneinander, und kein noch so reiner kristallener Klang hätte sie fröhlicher stimmen können als dieser harte Zusammenprall von dickwandigem Glas.
Natürlich kamen nun Fragen auf. Die vielen Millionen würden ihr Leben verändern, aber nicht in der Weise, wie jeder Lotto-Gewinner sie in seinem Konzept hat. Nicht der neue Wagen und der Pelz für die Ehefrau. Auch nicht die lang ersehnte Weltreise. Die machten sie ja schon vorher. Nicht das Einfamilienhaus am Stadtrand mit Thermopane-Scheiben und Einliegerwohnung und Frühstücksterrasse und Garten und ganz unterkellert. Nein, so nicht! Dies war eine andere Dimension. Das Sommerhaus an der Côte d’Azur und die Wohnung in Paris. Und das Rennpferd, das man in Ascot auf die Bahn schicken würde. Ja, eine Ahnung von dieser anderen Größenordnung hatten alle drei verspürt, und sie hatte ihnen wohl auch für einen Moment die Balance geraubt, doch nun kehrten sie zurück in ihre Zelle und an ihren Tisch mit den derben Biergläsern. Und kamen zu den Fragen, den kleinen und den großen, die es zu beantworten galt.
Als Erster sprach wieder Fernando, zunächst zögernd, aber dann mit mehr und mehr Nachdruck: »Sag mal…, die Bucht… ich meine, der schöne Strand und die vielen Menschen, du hast gesagt, eine Million Einwohner…, und dazu kommen noch die Hotelgäste, also die Stadt, die ganze Stadt… was passiert damit, wenn die Leute nun nicht bezahlen wollen und wir… Mister Di zum Einsatz bringen müssen? Willst du sagen, dass dann alles kaputtgeht, dass Wasser und Luft und Land verseucht werden und die Menschen sterben müssen? Heißt es, dass wir dann die ganze Gegend und ihre Bewohner auf dem Gewissen haben?«
»Weißt du«, sagte Leo, »es gehört nun mal zu den Spielregeln der Erpressung, dass man nur mit Hilfe einer realen Gefahr zum Zuge kommt. Jeder Kidnapper ist nur deshalb so stark, weil es ihm gelungen ist, sich zum Herrn über Leben und Tod seines Opfers zu machen. Meine Antwort also: Ja!« Er verhielt kurz, bedachte jeden der drei mit einem raschen Blick, fuhr dann fort: »Wenn sie nicht spuren, ist es für sie das Ende. Zwar werden nicht alle gleich ins Gras beißen, aber ihr Paradies ist verpestet. Die Strände sind auf Jahre hin unbenutzbar. Die schwangeren Frauen müssen damit rechnen, dass sie Missgeburten zur Welt bringen, und der Tourismus ist natürlich tot, absolut tot. Das alles ist unser Trumpf. Wenn die Hoteliers die Katastrophe vielleicht auch überleben, weil sie ins nächste Flugzeug springen, so ist doch ihre berufliche Existenz mit Sicherheit vernichtet. Ich will es mal auf die kürzeste Formel bringen: Je größer die Bedrohung, desto größer unsere Chance.«
»Aber sag mal…«, Richards Stimme war belegt; er räusperte sich mehrmals und fuhr dann fort: »Seveso, das war doch damals, ich glaube 1976, ein weltweiter Skandal mit einem Riesenrummel in Presse und Fernsehen!«
Leo nickte. »Richtig. Den meisten Menschen wurde das Dioxin erst dadurch bekannt.«
»Und wenn es«, fragte Richard, »nun also wieder das Dioxin sein wird, besteht dann nicht die Gefahr, dass es noch mal so einen Wirbel gibt? Mit Schlagzeilen und TV-Reportagen im Nacken hab’ ich noch nie gearbeitet, und ich schätze«, er sah Georg und Fernando an, »ihr auch nicht.«
Leo griff über den Tisch und packte seinen Arm. »Junge, so liegen die Dinge nun mal! Entweder unsere Sache ist groß, und dann steigen die Medien voll ein, oder wir drehen ein schäbiges, kleines Ding, und die Berichterstattung bleibt auf Provinzniveau; aber die Beute dann eben auch.«
»Ich hab’ mal ein Foto gesehen«, sagte Fernando, »ich glaub’, es war ein Kind aus Vietnam. Da war die Nase so groß wie ein Kürbis oder jedenfalls so groß wie der ganze übrige Kopf. Das Bild vergesse ich nie. Das war nichts Menschliches mehr.«
»Ja, Vietnam«, sagte Leo. »Da haben die Amerikaner das dioxinhaltige EntlaubungsmittelAgent Orangebenutzt. Untersuchungen bei einigen der GIs, die da im Einsatz waren, und auch bei einem Teil der einheimischen Bevölkerung ergaben, dass der Kontakt mit dem Gift zu Veränderungen im Erbgut und dementsprechend zu Missbildungen beim Nachwuchs geführt hat. Und ein Stadtteil von Hamburg, in dem manTCDD– das ist das Kürzel für das Teufelszeug – als Bestandteil von Industrieabfällen gefunden hat, geriet in die Schlagzeilen, weil ein Klinikarzt aussagte, er habe im Verlauf mehrerer Jahre acht Fälle von Holopros-Enzephalie beobachtet. Das ist eine sonst nur äußerst selten auftretende Missbildung des Gehirns bei Neugeborenen. Die Häufigkeit dieses Defektes liegt bei 1:35.000, war aber in dem Hamburger Bezirk, jedenfalls laut Presse, auf das Vierzehnfache angestiegen. Nachforschungen sollen ergeben haben, dass die betroffenen Eltern zumindest zeitweilig in der Nähe der gelagerten Dioxin-Abfälle gewohnt hatten. Bilder wie deins, Fernando, kenne ich auch. Die kommen fast alle aus Vietnam. Wenn man sich diese Kinder ansieht…, na, dagegen ist ’ne Horde Zombies eine anmutige Engelschar. Natürlich treten die Anomalien in unterschiedlicher Stärke auf. In besonders schweren Fällen haben die Kleinen statt des Gehirns eine Wasserblase und mitten im Gesicht ein Zyklopenauge oder einen Rüsselstumpf.«
»Und das alles«, warf Richard entsetzt ein, »geht auf unser Konto?«
»Dazu wird es ja nicht kommen«, antwortete Leo, »denn keiner, der auch nur die geringste Chance hat, sich davon freizukaufen, lässt sie ungenutzt.«
»Mal was ganz anderes!«, meldete Georg sich zu Wort. »Begleiten wir etwa den Container auf dem Schiff und sitzen dann drei Wochen lang auf den Fässern?«
»Keine Angst! Wir fliegen, und zwar mit verschiedenen Linien. Fernando fliegt mit mir, Georg mit Richard. Und die Tickets werden nichten blocgekauft, sondern jeder bekommt im Harz sein Handgeld und besorgt den Flugschein selbst. Wir nehmen vier verschiedene Reisebüros. Es ist wichtig, dass während der Flüge und auch schon während der Vorbereitungen keinerlei Kontakte zwischen uns erkennbar sind. Und möglichst keine neuen Beziehungen anknüpfen! Austoben könnt ihr euch später, allerdings ohne gleich mit den Dollars um euch zu werfen. Klar ist auch, dass wir mit falschen Pässen reisen. Unser Partner, die Nummer Fünf, wird sie besorgen. Er hat die nötigen Verbindungen. Ihr müsst, wenn ihr hier raus seid, also Fotos parat haben. Unser Mann wird sich auch um Blankoformulare für die Einreise kümmern. Die versehen wir mit falschen Tagesstempeln und können damit notfalls beweisen, dass wir erst nach dem Dioxinanschlag ins Land gekommen sind. Noch weitere Fragen?«
»…’ne richtige Frage eigentlich nicht«, sagte Fernando, »aber ich hab’ noch nie ein Ding bewaffnet abgezogen, und nun, beim ersten Mal, sind es gleich C-Bomben!«
»So ist es. Aber wir rüsten uns natürlich auch mit Pistolen aus. Jeder kriegt seineMAUSERoderLUGERoderWALTHER, und im Harz üben wir auf einem Schießstand.«
»Wozu das?«, fragte Richard. »Du sagst doch, die Bedrohung durch das Gift macht die Leute kirre.«