11,99 €
Willkommen an Bord
Sham lebt in einer Welt, in der das freie Land zwischen den Städten eine gefährliche Wildnis ist. Nur die Züge verkehren auf einem dynamischen und sich ständig verändernden Schienennetz zwischen den Siedlungen. Als Sham auf einem der Züge, dem Medes, anheuert, beginnt das Abenteuer seines Lebens. Denn die Medes-Crew hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Wesen zu jagen, die die Natur zu einer tödlichen Gefahr machen: Nager und Kleintiere von monsterartiger Größe. Sham ahnt nicht, auf was er sich einlässt …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 465
Das Buch
Das Gleismeer – das sind die schier unendlichen, lebensfeindlichen, von Abertausenden Schienensträngen durchzogenen Weiten. Die Menschen leben auf Inseln und kleinen Kontinenten – unter einem Himmel, dessen Bewohner nicht weniger gefährlich sind als die monströsen Nagetiere, die auf der Erde lauern. Was Schiffe für eine Welt mit Ozeanen sind, sind hier die Züge, die das Gleismeer befahren. Auf einem dieser Züge, dem Medes, heuert der Waisenjunge Sham an. An Bord führt die knallharte Kapitänin Naphi das Kommando, die geradezu besessen ist von der Jagd nach Mocker-Jack, einem gigantischen Maulwurf, der in den Weiten des Gleismeers sein Unwesen treibt und Naphi einst fast getötet hätte. Für Sham ist es der Beginn eines lebensgefährlichen Abenteuers, denn schon bald ist nicht mehr klar, wer hier eigentlich wen jagt …
Der Autor
China Miéville wurde 1972 im englischen Norwich geboren und studierte an der Universität Cambridge sowie an der London School of Economics. Er gilt als einer der einflussreichsten Autoren moderner Fantastik, der Kritiker wie Leser gleichermaßen begeistert, und wurde für seine Werke bereits mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Arthur C. Clarke Award, dem World Fantasy Award und dem British Fantasy Award. Sein bekanntester Roman, Perdido Street Station, ist im Heyne Verlag erschienen. Der Autor lebt und arbeitet in London.
Mehr über China Miéville und seine Werke erfahren Sie auf:
CHINA MIÉVILLE
DASGLEISMEER
Roman
Aus dem Englischen übersetztvon Eva Bauche-Eppers
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
Titel der englischen Originalausgabe:
RAILSEA
Deutsche Erstausgabe 02/2015
Redaktion: Ralf Dürr
Copyright © 2012 by China Miéville
Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Eisele Grafikdesign, München
Satz: Schaber Datentechnik, Wels
ISBN 978-3-641-14406-7
www.diezukunft.de
Für Indigo
ERSTER TEIL
Großer Südlicher MoldywarpTalpa ferox rex
Abbildung mit freundlicher Genehmigungdes Wohltätigkeitsvereins der Maulwurfsjäger von Streggeye.
PROLOG
Dies ist die Geschichte eines blutüberströmten Jungen.
Da steht er & schwankt wie ein Rohr im Wind. Er ist über & über rot. Wäre es doch Farbe! Mit jedem Fuß steht er in einer roten Pfütze, seine Kleider sind bis zum letzten Faden in Purpur getränkt, ihre ursprüngliche Farbe nicht mehr zu erahnen, das Haar nur noch feuchte, klebrige Borsten.
Nur seine Augen stechen hervor. Ihr Weiß leuchtet aus all dem Blut wie Lampen in einem dunklen Raum. Angestrengt starrt er ins Leere.
Die Situation ist nicht so makaber, wie es scheint. Der Junge ist hier nicht die einzige blutige Gestalt. Er ist umgeben von anderen, die ebenso triefend rot sind wie er & fröhlich singen.
Der Junge ist ratlos. Er hat keine Antworten gefunden, wie er glaubte. Er hatte gehofft, dieser Augenblick könnte ihm Klarheit bringen, aber sein Kopf ist nach wie vor angefüllt mit nichts oder er weiß nicht was.
Wir sind zu früh hier. Natürlich können wir überall anfangen, darin liegt die Schönheit des Geflechts, das ist sein Sinn & Zweck. Doch wo wir beginnen oder nicht beginnen, hat Konsequenzen, & dieser Zeitpunkt ist nicht gut gewählt. Spulen wir also zurück. Bis zu einer Stelle, kurz bevor der Junge in Blut gebadet wurde, Pause & dann wieder vorwärts, um zu sehen, wie wir hierhergelangt sind, zu dem Rot, dem Gesang, dem Chaos, zu einem großen Fragezeichen hinter der Stirn eines jungen Mannes.
1
Eine Fleischinsel!
Nein. Zurück, zurück, stopp.
Ein Kadaverberg?
Noch ein bisschen zurück.
Bingo. Wochen früher, als es noch kälter war. Die letzten paar Tage ein ereignisloses Zuckeln durch Bergeinschnitte & den blauen Schatten von Klippen aus Eis, am Spätnachmittag unter einem feuersteingrauen Himmel. Der Junge, noch nicht in Blut gebadet, beobachtete Pinguine. Er sah kleine Felseilande bis zum letzten Zentimeter besetzt von den gedrungenen Vögeln, die ihre glänzenden Federn aufplusterten & sich Wärme & Geborgenheit suchend zusammendrängten. Seit Stunden galt ihnen seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Als endlich die Lautsprecher über ihm zum Leben erwachten, zuckte er zusammen. Es war das Signal, auf das er & die gesamte übrige Besatzung der Medes gewartet hatten. Ein krächzender Sirenenton. Dann über das Intercom der Ruf: »Da wühlt er!«
Augenblicklich setzte hektische Geschäftigkeit ein. Scheuerlappen flogen zur Seite, Schraubenschlüssel wurden fallen gelassen, angefangene Briefe & Schnitzereien verschwanden in Taschen, ungeachtet der noch feuchten Tinte, der sägestaubigen Unfertigkeit. Zu den Fenstern, an die Reling. Alle reckten sich in den peitschenden Wind.
Die Mannschaft, im holpernden Abteil, auf schwankendem Dachdeck, spähte aus zusammengekniffenen Augen durch die eisigen Böen, an mächtigen Schieferzähnen vorbei. Vögel sammelten sich hoffnungsfroh über dem Zug, aber jetzt warf niemand ihnen Futterbrocken zu.
Weit voraus, wo – ein Trick der Perspektive – die Doppelreihe der Schienen in spitzem Winkel zusammenlief, brodelte die Erde. Steine rollten. Unsichtbare Gewalten brachen den Boden um. Aus der Tiefe ertönte dumpfes Geheul.
Vor einer Kulisse absonderlicher Geländeformen & archaischer Plastikstummel türmte sich schwarzes Erdreich zu einem steilen Kegel, & etwas drängte ans Licht. Welch ein gewaltiges & dunkles Geschöpf! In einer Schollenfontäne schnellte es aus seinem Bau. Ein Ungeheuer. Es brüllte, es stieg hoch, höher in die Luft. Einen unwirklichen Augenblick hing es still auf dem Scheitelpunkt des Bogens. Als wollte es Umschau halten. Als wollte es die Aufmerksamkeit – seht her! – auf seine gewaltige Größe lenken. Stürzte wieder hinab in sein unterirdisches Reich.
Der Moldywarp war gesprungen.
Von allen gebannt dreinschauenden Zuschauern auf der Medes schaute keiner gebannter als Sham. Shamus Yes ap Soorap. Großer, vierschrötiger junger Kerl. Untersetzt, nicht immer der Geschickteste, das braune Haar kurz gehalten & dadurch des störrischen Eigensinns beraubt. Die Finger um den Rand des Bullauges gekrallt, die Pinguine vergessen, hatte er das Gesicht einer lichthungrigen Sonnenblume gleich aus dem Abteil gereckt. In der Ferne wühlte sich der Maulwurf in atemberaubender Geschwindigkeit durch die seichte Humusschicht, einen Meter unter der Oberfläche. Sham verfolgte den Buckel in der Tundra, sein Herz ratterte wie Räder auf Schienen.
Nein, dies war nicht der erste Moldywarp, den er gesehen hatte. Schulen, wie man ihre verspielten Rudel nannte, bestehend aus hundegroßen Exemplaren, gruben ständig in der Streggeye Bay. Die Erde zwischen den Schwellen & Schienen im Hafen war gespickt mit ihren Haufen & Rücken. Er hatte auch die Welpen größerer Arten gesehen, elend in Terrarien vegetierend – von Jägern zum Fest der Steingesichter mitgebracht: junge Flaschenhalsmulle & Mondpanthermulle & lebhafte Teerfußmulle. Aber die großen, richtig großen, die größten Tiere kannte Sham ap Soorap nur von Bildern im Rahmen der Jagdausbildung.
Er hatte eine epische Liste der anderen Namen des Moldywarps auswendig lernen müssen – Unterhöhler, Talpa, Muldvarp, Maulwurf –, hatte unscharfe Flachografien & Stiche der imposantesten Arten studiert. Strichmännchen waren maßstabsgerecht neben die Bestie gezeichnet, den Stern-, den Kammmull, & auf einem letzten, sehr abgegriffenen Blatt, leporelloartig ausfaltbar, um eine Vorstellung von der Größe zu geben, war ein Leviathan abgebildet, gegen den die zum Vergleich dienende Menschenfigur zwergenhaft erschien. Der Große Südliche Moldywarp, Talpa ferox rex. Das nämliche Geschöpf, das vor ihnen durch das Erdreich pflügte. Sham überlief eine Gänsehaut.
Boden & Schienen waren grau wie der Himmel. Unweit des Horizonts durchbrach eine Nase, die größer war als er, die Erdoberfläche. Sie warf ihren Maulwurfshügel neben etwas auf, das Sham im ersten Moment für einen abgestorbenen Baum hielt, doch bei genauerem Hinsehen erkannte er, dass es sich um eine rostige Metallstrebe handelte. Vor undenklichen Zeiten umgestürzt, ragte sie jetzt in den Himmel wie das Bein eines toten Käfergottes. Sogar in dieser menschenleeren Eisöde fand sich Epave.
Bahner hingen aus dem Betriebswagen der Medes, schwankten auf Trittbrettern zwischen Waggons & auf Aussichtsplattformen, ihr Geschrei vermischte sich mit dem Trommeln der eiligen Schritte über Shams Kopf. »Ja ja ja, Käpt’n …« Die Stimme von Sunder Nabby, Ausguck, plärrte aus den Lautsprechern. Die Kapitänin musste über das Walkie-Talkie eine Frage gestellt haben, & Nabby hatte vergessen, auf »intern« zu schalten. Er sendete seine Antwort an den ganzen Zug, durch klappernde Zähne mit einem breiten Pittman-Akzent. »Großer Bock, Käpt’n. Jede Menge Fleisch, Fett, Fell. Sehen Sie nur, was er für ein Tempo draufhat …« Die Medes legte sich in eine Kurve, der Wind bescherte Sham einen Schwall Dieselqualm. Er spuckte aus, in Gleisrandgestrüpp. »Wie? Tja … er ist schwarz, Käpt’n«, erwiderte Nabby auf eine ungehörte Frage. »Was sonst? Gutes, sattes Moldywarp-Schwarz.«
Eine Pause. Der ganze Zug wirkte peinlich berührt. Dann: »Gut, gut.« Eine neue Stimme – Käpt’n Abacat Naphi hatte sich zugeschaltet. »Warschau! Moldywarp. Ihr habt ihn gesehen. Bremser, Manöverer: auf Station. Harpuniere: an die Waffen. Bereit an den Jollen. Volle Kraft voraus!«
Die Medes nahm Fahrt auf. Sham bemühte sich, mit den Füßen zu horchen, wie man es ihn gelehrt hatte. Ein Wechsel, befand er, von schrasch-schaa zu drag’ndragan. Allmählich lernte er die Ratternamen.
»Wie geht’s mit der Operation voran?«
Sham fuhr herum. Dr. Lish Fremlo musterte ihn von der Schwelle des Abteils her. Hager, nicht mehr jung, aber voller Energie, zerfurcht wie die verwitterten Felsen neben den Gleisen, beäugte der Chirurgus Sham unter einem Schopf gewehrstahlgrauer Haare hervor. Oha, Steingesichter, seid mir gnädig, dachte Sham, wie lange stehst du schon da? Fremlos Blick wanderte zu einem Sortiment von Holz- & Stofforganen, die Sham der Leibeshöhle einer lebensechten Puppe entnommen & noch nicht, wie ihm aufgetragen, säuberlich etikettiert an Ort & Stelle zurückgelegt hatte.
»Ich bin dabei«, beeilte Sham sich zu versichern. »Ich wurde … da gab es …« Er raffte die künstlichen Organe zusammen.
»Oh.« Beim Anblick der frischen Schnitte, die Shams Taschenmesser in der Lederhaut der Puppe verursacht hatte, verzog Fremlo schmerzlich das Gesicht. »Was hast du dem armen Ding angetan, Sham ap Soorap? Ich sollte wohl ein Machtwort sprechen.« Der Doktor hob einen mahnenden Zeigefinger & setzte – nicht unfreundlich – mit der ihm eigenen sonoren Dozentenstimme zu einem kleinen Vortrag an: »Das Studentenleben ist kein schillerndes, ich weiß. Zwei Dinge solltest du lernen. Erstens …«, Fremlo bewegte sacht die Hand von oben nach unten, »… Ruhe bewahren & zweitens, was kann ich mir erlauben, ohne Fremlos Furor fürchten zu müssen. Dies ist der erste Große Südliche auf dieser Reise & das heißt, dein erster überhaupt. Keinen, mich eingeschlossen, interessiert es einen grünen Vogelschiss, ob du ausgerechnet jetzt anatomische Studien betreibst.«
Shams Herz schlug schneller.
»Lauf zu«, sagte der Doktor. »Nur steh den Leuten, die arbeiten müssen, nicht im Weg herum.«
Die Kälte verschlug Sham den Atem. Die meisten Besatzungsmitglieder waren in Pelze gehüllt. Sogar Rye Shossunder, der ihn im Vorbeigehen mit einem herablassenden Blick streifte, besaß eine ordentliche Kaninchenfelljoppe. Rye war jünger & rangierte als Moses theoretisch noch weiter unten auf der Stufenleiter der Medes alsSham, doch er war schon einmal Relingsmann gewesen, was ihm in der schlichten Meritokratie des Maulwurfsfängers einen Vorteil verschaffte. Sham wickelte sich fester in seine billige Wombatjacke.
Bahner & Bahnerinnen waren auf Stegen & sämtlichen Waggondachdecks zugange, drehten Spille, schärften Klingen, ölten die Räder der Jollen. Hoch darüber schwebte Nabby in seinem Korb unter dem Krähennestballon.
Boyza Go Mbenday, Erster Offizier, stand auf der Warschaubühne auf dem hintersten Waggondach. Er war mager & dunkelhäutig, hatte ein quecksilbriges Temperament & rotes Haar, vom Fahrtwind flach an den Schädel gedrückt. Während er den Weg des Zuges auf der Karte verfolgte, unterhielt er sich halblaut mit der Frau an seiner Seite. Käpt’n Naphi.
Naphi beobachtete den Moldywarp durch ein großes Fernrohr. Sie hielt es vollkommen ruhig ans Auge, dabei war es schwer, & sie stemmte das Gewicht mit nur einer Hand. Obwohl nicht groß, zog sie die Blicke auf sich. Ihre breitbeinige Haltung wirkte kriegerisch. Das lange graue Haar trug sie im Nacken zusammengebunden. Sie stand regungslos, während der Wind mit ihrem abgewetzten braunen Mantel spielte. Dioden blinkten in ihrem künstlichen, aus zahllosen Einzelteilen zusammengesetzten linken Arm, Metallgelenke knackten, bewegt von Drahtsehnen in Elfenbeinhülsen.
Die Medes ratterte über eine schneescheckige Ebene. Beschleunigte von drag’ndragan in einen schnelleren Rhythmus. Vorbei an Fels, Klamm & untiefer Schlucht, vorbei an zerklüfteten Ausblühungen arkanen Treibguts.
Das Licht erfüllte Sham mit Ehrfurcht. Er schaute durch die zwei oder mehr Meilen hohe Schicht guter Luft zu der giftig wallenden Wolkenmasse des Brodems. Verkrüppeltes Strauchwerk, schwarz wie Eisen, flog vorüber, wie auch echter Eisenschrott aus versunkener alter Zeit. Über dieses Panorama, so weit das Auge reichte, zog sich ein fantastisches, schier endloses Geflecht aus Schienensträngen.
Das Gleismeer.
Lange Geraden, enge Kehren, Stahlstangen auf Schwellen aus Holz. Überlappend, spiralig, zu Knotenpunkten gebündelt, provisorische Nebenlinien, die abzweigten & sich wieder mit einem Stammgleis vereinten. Hier liefen die Gleise strahlenförmig auseinander, dazwischen viel freie Fläche, dort führten sie so dicht nebeneinander her, dass Sham von einem zum anderen hätte springen können, obwohl sich ihm allein bei der Vorstellung die Haare sträubten. Wo sie sich verschränkten, an unzähligen Punkten in diesem verwirrend geknüpften Netz, sorgten technische Installationen der verschiedensten Art für problemloses Weiterkommen: Außenbogenweichen, Gleiskreuzungen, Schleppweichen, Kreuzweichen, einfache & doppelte Kreuzungsweichen. & vor den Anfahrten zu all diesen gab es die entsprechenden Signalmasten, elektrische & mechanische Stellwerke.
Der Moldywarp tauchte unter die steinharte Erde oder den Felsgrund, auf dem die Gleise lagen, & der längliche Wall, der seine Route kennzeichnete, verschwand, erschien wieder & wölbte den Boden zwischen Schienensträngen. Sein Kielwasser aus Erde bildete eine vielfach unterbrochene Linie.
Der Käpt’n hielt ein Mikrofon vor den Mund & erteilte von Knistern & Rauschen untermalte Befehle. »Manöverer auf Station!« Wieder schluckte Sham Dieselabgase, aber diesmal gefiel es ihm. Die Weichensteller beugten sich von dem Steg, der seitlich an der Lok entlangführte, von den Plattformen des zweiten & vierten Waggons, Stellhaken & Fernbedienung einsatzbereit.
»Steuerbord«, tönte es aus den Lautsprechern, & ein Manöverer vorn richtete seine Fernbedienung auf eine näher kommende Gleiskoppelspule. Zungen verschoben sich seitwärts, Signale sprangen um. Die Medes erreichte die Kreuzung & schwenkte auf das neue Gleis in die neue Richtung.
»Steuerbord … backbord … wieder backbord …« Den Kommandos aus den Lautsprechern gehorchend, lief die Medes tief in die arktische Wüste hinein, mäanderte über Stahl & Holz, von Gleis zu Gleismeergleis, & Stück um Stück verringerte sich der Abstand zu den Erdwerken des Mulls.
»Backbord«, wurde befohlen, & eine Manöverin reagierte, aber »Belegen! Belegen!«, brüllte Mbenday & der Käpt’n: »Steuerbord!« Die Frau drückte wieder ihren Knopf, aber zu spät, triumphierend raste das Signal vorbei. Sham kam es vor, als wüsste es, dass es eine Katastrophe auslöste, & freute sich diebisch darüber. Ihm stockte der Atem. Seine Finger umklammerten die Reling. Die Medes stürmte auf das Herzstück zu, hinter dem das wie auch immer geartete Verhängnis lauerte, das Mbenday derart in Panik …
… & in diesem Augenblick beugte Zaro Gunst sich von seinem Posten auf den Puffern zwischen dem fünften & sechsten Wagen weit nach außen, & mit seinem Stellhaken & verwegenem Schwung & der Präzision eines ritterlichen Lanzenstechens zielte er nach dem vorbeisausenden Hebel.
Der Haken zerbrach, Holzsplitter spritzten nach allen Seiten, aber im letzten Moment schnappten die Zungen zurück, & die Vorderräder der Medes liefen über das Herz & weiter auf sicherer Bahn.
»Guter Mann, dieser Mann«, bemerkte der Käpt’n. »Ein spät gekennzeichneter Spurweitenwechsel.«
Sham ließ den Atem entweichen. Hatte man Zeit, entsprechende Vorrichtungen & keine andere Wahl, ließ sich die Spurweite eines Eisenbahnwaggons ändern. Aber einen Übergangspunkt mit vollem Tempo passieren? Sie wären entgleist.
»So, so«, meinte Käpt’n Naphi. »Er ist ein schlauer Bursche. Macht uns Schwierigkeiten. Wohlgetan, alter Schollenbrecher.«
Die Besatzung applaudierte. Eine traditionelle Erwiderung auf diese ebenfalls traditionelle Anerkennung besonderer Schläue bei einem gejagten Wild.
Tief hinein in das verschlungene Netz der stählernen Pfade.
Der Moldywarp wurde langsamer. Die Medes manöverte, bremste, hielt Abstand, während der unterirdische Räuber nach riesigen Tundrawürmern stöberte, die nicht leicht zu überraschen waren. Nicht nur Bahner vermochten Gleisvehikel am Geräusch zu erkennen. Manche Tiere spürten den pochenden Rhythmus rollender Züge aus vielen Meilen Entfernung. Entsprechend behutsam ließ man von Davits auf den Waggondächern Räderjollen auf benachbarte Gleise herab.
Die Jollenbesatzungen starteten ihre kleinen Motoren, legten Weichen möglichst geräuschlos. Holten auf.
»Jetzt zieht er los.«
Sham hob verdutzt den Blick. Neben ihm beugte Hob Vurinam, der junge Zugmaat, sich begeistert über das Geländer. Mit lässigem Aplomb klappte er den Kragen seines abgewetzten Paletots hoch, sein ganzer Stolz, obwohl aus dritter oder vierter Hand. »Der alte Samtrock kann sie hören.«
Ein Maulwurfshügel wuchs in die Höhe. Tasthaare, Schnauze & Stirn eines schwarzen Schädels erschienen. Er war riesig. Der Rüssel witterte von einer Seite zur anderen & versprühte Erde & Speichel. Das Maul klappte auf, übervoll mit spitzen Zähnen. Der Talpa hatte gute Ohren, aber das zwiefache Weichengeratter verwirrte ihn. Er stieß ein grollendes Knurren aus. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel schlug ein Geschoss neben dem Riesen ein. Kiragabo Luck – Shams Landsmännin, aus Streggeye gebürtig, zum Ungehorsam neigende Harpunierin – hatte geschossen & verfehlt.
Augenblicklich drehte der Moldywarp sich in rasender Geschwindigkeit in die Tiefe. Der Harpunier der zweiten Jolle, Damjamin Benightly, mondgrauer, gelbhaariger Hüne aus den Wäldern von Gulflask, brüllte in seinem barbarischen Dialekt Befehle, & seine Mannschaft beschleunigte durch den aufspritzenden Dreck. Benightly betätigte den Abzug.
Nichts. Der Mechanismus klemmte.
»Verdammt!«, sagte Vurinam. Er zischte wie ein Zuschauer bei einem Schlagballmatch. »Den können wir abschreiben!«
Aber Benightly, der große Waldläufer, hatte gelernt, kopfunter an Lianen hängend mit dem Wurfspeer zu jagen. Bei seiner Mannbarkeitsprobe hatte er aus einer Entfernung von zwanzig Metern ein Erdmännchen durchbohrt & barg es, bevor seine Familie wusste, was geschehen war. Während die Jolle sich dem grabenden Behemoth näherte, zog Benightly die Lanze aus dem Rohr. Hob sie auf Schulterhöhe, die Muskeln ballten sich wie Ziegelsteine unter der Haut. Beugte sich nach hinten, wartete & schleuderte die mit Widerhaken versehene Waffe mitten in den Leib des Riesenmaulwurfs.
Der Moldywarp bäumte sich auf, der Moldywarp röhrte. Der Lanzenschaft bebte. Peitschend entrollte sich die Leine unter dem Toben des Giganten, die Erde rötete sich von seinem Blut. Über wogende Gleise wurde die Jolle von dem flüchtenden Maulwurf mitgerissen. In fliegender Hast knotete die Besatzung einen Erdanker an die Leine & warf ihn über Bord.
Die zweite Jolle kam wieder ins Spiel, & Kiragabo schoss nicht zweimal daneben. Weitere Anker furchten den Boden hinter dumpfem Wutgebrüll & tumultuarischer Erde. Die Medes setzte sich ruckend in Bewegung & folgte den Fangjollen.
Die Schleppanker hinderten den Maulwurf daran, in die Tiefe zu entkommen. Er grub sich halb unter, halb über dem Erdboden voran. Aasvögel kreisten. Besonders dreiste landeten & pickten, & der Moldywarp runzelte den Pelz.
In einer Lagune aus steiniger Steppe, einem Stück gleisfreien Geländes im Schienenmeer, hielt er endlich inne. Ein Beben lief durch den gewaltigen Leib, der erschlaffte. Als wieder die gierigen Gleismöwen auf dem bepelzten Hügel landeten, wurden sie nicht verscheucht.
Die Welt wurde still. Ein letztes Ausatmen. Der Abend dämmerte. Die Mannschaft des Maulwurfsfängers Medes zückte die Messer. Die Frommen dankten den Steingesichtern oder Mary Ann oder den Zänkischen Göttern oder der Eidechse oder That Apt Ohm oder wem oder was sie anbeteten. Freidenker hatten eine eigene Adresse für ihr Staunen & ihren Dank.
Der Große Südliche Moldywarp war tot.
2
Eine Fleischinsel! Ein Kadaverberg!
Die Jagdtrupps zurrten die Stricke fest, & Zugwinden schleiften Tonnen Maulwurfsblubber & einen kostbaren Pelz über den Erdboden, auf den kein Mensch ohne Not den Fuß setzen würde. Die nutznießenden Vögel flogen schließlich zu ihren Schlafplätzen, & an ihrer Stelle erschienen die arktischen Schwarzfledermäuse. Im schwindenden Tageslicht unternahm der Moldywarp eine letzte, posthume Reise zum Metzelwaggon, & keine Illustrationen, keine Flachografien, keine gesammelten Bandaufzeichnungen, Gemälde, Salzdrucke oder Flüssigkristalldarstellungen & erst recht nicht das zum Gähnen langweilige Jägerlatein der Veteranen, das Sham auswendig kannte, hatten ihn auf das höllisch stinkende Geschäft vorbereitet, welches nun folgte.
Der Maulwurf wurde aufgebrochen. Seine Eingeweide ergossen sich in Kaskaden auf den Boden des offenen Güterwaggons. Sham atmete flach, hohlbrüstig, wie beim Gebet.
Die Mannschaft hackte, sägte, säbelte, filetierte. Man schnaufte & sang Shantys. »What shall we do with the drunken brakesman?« sangen sie & »Ein Zug wird kommen«. Oben dirigierte Sunder Nabby den Chor mit seinem Teleskop. Sham machte große Augen.
»Nichts zu tun?« Es war Vurinam, der im Flensen innehielt, das blutige Messer in der Faust. »Weiche Knie?«
»Nö«, antwortete Sham. Vurinam stand mit bloßem Oberkörper unter der Hitzeglocke, die über dem Kadaver & den Kochfeuern waberte, mager & muskulös, schweißüberströmt, während einen Schritt weiter klirrende Kälte herrschte. Er grinste wie trunken. Plötzlich konnte Sham glauben, dass nur wenige Jahre zwischen ihnen lagen.
Keiner benötigte Erste Hilfe, aber Sham wusste, Dr. Fremlo würde nichts dagegen haben, wenn er in einer Nacht wie dieser seinen Aufgabenbereich auf andere Dienstleistungen ausweitete. Auf der Suche nach einer Aufgabe für Sham wanderte Vurinams Blick hin & her. »He!«, rief er dann der Schar seiner Mitstreiter zu, die damit beschäftigt waren, den Maulwurf zu zerwirken. »Jemand durstig hier?« Lautes, müdes Gejohle. Er senkte den Kopf & blickte Sham bedeutungsvoll an. »Du hast es gehört.«
Im Ernst? Er mochte Vurinam recht gut leiden, aber war das sein Ernst? Ich will nicht behaupten, Famulus eines Chirurgus zu sein wäre mein größter Lebenstraum,aber Schnaps ausschenken? Habt ihr keinen Moses? Bei allem Respekt, es ist nichts, dessen man sich schämen müsste, aber ist es wirklich meine Aufgabe, Rum mit Wasser zu panschen & in durstige Kehlen zu schütten? Sham sagte all das, aber nur in Gedanken. Was sein Mund sagte, war: »Jawohl, Zugmaat.«
& im Nu war Sham Yes ap Soorap Teil dieses Augenblicks. Im Nu voller Blut. So begann die längste, härteste Nacht seines bisherigen Lebens.
Vom Metzelwaggon zur Messe & zurück, wieder & wieder, von einem Ende des Zugs zum anderen. Beladen mit Getränken, mit Fourage, um die Leute bei Kräften zu halten; zu Fremlos Abteil, wo der Arzt ihm Verbandsmaterial & Salben & blutstillendes Pulver & schmerzlinderndes Mastix aufpackte & wieder zurück, um sie je nach Bedarf an den Mann zu bringen.
Der Lohn für Shams Mühen bestand darin, dass die derben Späße & Spottnamen & Beschwerden über seine Trägheit, die ihm von den Maulwurfsmetzgern entgegenschallten, in den meisten Fällen gutmütige Frotzeleien waren. Außerdem empfand er es sogar als Erleichterung, genau zu wissen, was er zu tun hatte.
Wann immer möglich, stahl er sich ein paar Sekunden, um zu verschnaufen, & stand allein an Deck, von dumpfer Erschöpfung übermannt. Auch wer nicht das Messer schwang, bekam sein Teil Blut ab. So wurde Sham zu dem Jungen vom Anfang unserer Geschichte, der schwankte wie ein Rohr im Wind & aussah wie mit roter Farbe übergossen. Der nicht wusste, was er denken sollte. Wie alle im Zug hatte er auf dieses Ereignis gewartet, & nun war er hier & tief beeindruckt, aber nach wie vor verwirrt. Ratlos.
Nicht die Jagd beschäftigte seine Gedanken. Nicht seine medizinischen Studien. Ebenso wenig erfüllte ihn andächtiges Staunen über das gewaltige Skelett des Moldywarps. Er funktionierte mechanisch, nichts weiter.
Sham braute Grog – »Mehr Wasser! Nicht so viel Wasser! Mehr Melasse! Nicht verschütten!« – & verleibte sich selbst den ein oder anderen Schluck ein. Er hielt denen den Becher an die Lippen, die mit eingeweideglitschigen Händen nicht zugreifen konnten. Auch Shossunder, der Moses, balancierte Becher, flink & gekonnt, & grüßte Sham mit einem Nicken seltener, herrischer Solidarität. Sham entzündete Feuer, schürte Flammen unter Trankesseln, derweil wurden Haut & Pelz abgeholt, um geschabt & gegerbt zu werden, Fleisch, um es zu pökeln, Speck, um ihn zu räuchern.
Das Universum stank nach Moldywarp: Blut, Urin, Moschus, Exkremente. Im Mondlicht sah alles aus wie mit Teer besudelt, im Schein der Zuglampen wurde dieses Schwarz wieder zu dem Rot des Blutes, das es war. Rot, Schwarz, Rotschwarz, & als gaukelte er einem verwehten Papierfetzen gleich hinaus über das Gleismeer & blickte zurück, sah Sham die Medes wie eine dünne Linie aus Feuern & Lichtern vor sich, hörte das Konzert der Fleischwölfe & Gleisgesänge in der grenzenlosen Weite aus Eis & eisigen Schienensträngen verhallen. Ausgang all dessen war der Mittelpunkt des Universums, in dieser besonderen Nacht der Moldywarp-Schädel. Das erstarrte Zähnefletschen, die Häme der verzerrten Lefzen – als wäre selbst im Tod der mächtige Räuber noch voller Verachtung für die jämmerlichen Kreaturen, die es empörenderweise vermocht hatten, ihn zu überwinden.
»Ahoi!«
Dr. Fremlo stieß ihn an, & Sham zuckte zusammen. Er hatte im Stehen geschlafen & geträumt.
»Entschuldigung«, stammelte er, »ich wollte …« Er überlegte krampfhaft, was er denn gewollt haben könnte.
»Geh & mach dich waagerecht«, befahl Fremlo.
»Ich glaube, Mr. Vurinam möchte …«
»& wann hat Mr. Vurinam sein medizinisches Diplom erworben? Bin ich Arzt & dein Chef? Ich verschreibe eine Dosis Schlaf. Eine zur Nacht, jede Nacht. Stante pede.«
Sham erhob keine Einwände. Dieses eine Mal wenigstens wusste er genau, was er wollte: schlafen, nichts anderes als schlafen. Er kehrte der Hitze den Rücken, dem hohlen Rippengewölbe, das Maulwurf gewesen war, schlurfte durch die schwankenden Korridore zu seinem kleinen heimeligen Winkel an Bord. Eine Koje unter vielen. Durch das Schnarchen & Furzen der Kameraden, die ihre Schicht bereits hinter sich hatten. Die Gesänge der Metzger hinter ihm waren Shams Wiegenlied.
3
»Großartig!«, hatte Voam gesagt, als es ihm gelungen war, für Sham den Job auf der Medes zu ergattern. »Einfach großartig! Du bist kein Kind mehr, du bist alt genug, um dir dein Brot zu verdienen, & es gibt nichts Besseres als den Arztberuf. & wo könntest du umfassender & besser lernen als bei einem Chirurgus auf einem Maulwurfsfänger, na?«
Was ist das für eine Logik?, hatte Sham aufbegehren wollen, aber wie konnte er? Voam yn Soorap, überschwänglich, behaart, fassbäuchig, Shams Vetter oder so ähnlich, jedenfalls mütterlicherseits verwandt durch unentwirrbare Bande, einer der beiden Quasi-Cousins, die Sham großgezogen hatten, war kein Eisenbahner. Voam war Majordomus eines Kapitäns. Die Einzigen, die bei ihm in höherem Ansehen standen als Maulwurfsjäger, waren Mediziner. Kaum verwunderlich angesichts der Tatsache, dass der andere Quasi-Cousin – Troose yn Verba, krumm, hibbelig, zaundürr – Dauergast bei ihnen war. & meistens waren sie auch nett zu ihm, dem unverbesserlichen alten Hypochonder.
Sham konnte die Arbeit, die Troose & Voam ihm verschafft hatten, ebenso wenig zurückweisen, wie er es fertiggebracht hätte, mit Hundekot & Gleismeerdreck an den Schuhen auf den Kleidern der alten Knaben herumzutrampeln. Es war auch nicht so, dass er irgendeine brauchbare Alternative vorzuweisen gehabt hätte, so sehr er sich das Hirn zermarterte. Seit er die Schule verlassen hatte, hatte er schon viel zu lange nichts anderes getan, als Däumchen zu drehen. Letzteres war nebenbei bemerkt auch in der Schule seine Hauptbeschäftigung gewesen.
Sham hegte die feste Überzeugung, dass es auf der Welt etwas gab, für das er sowohl die Neigung besaß als auch das Talent. Umso frustrierender, dass er nicht herausfinden konnte, was es war. Zu vage in seinen Interessen für ein ernsthaftes Studium des einen oder anderen Fachs, zu schüchtern in Gesellschaft, vielleicht auch gezeichnet von einer wenig glücklichen Schulzeit, um es als Kaufmann oder Advokat zu etwas zu bringen, zu jung & zu träge, um sich bei körperlicher Arbeit hervorzutun: Sham hatte sich auf allen möglichen Gebieten versucht & überall versagt. Nun wurden die Optionen knapp. Voam & Troose waren geduldig, aber besorgt.
»Vielleicht«, hatte er mehr als einmal versucht anzumerken, »ich meine, was wäre mit …« Aber jedes Mal wussten seine beiden Wohltäter sofort, worauf er hinauswollte, & legten in untypischer Einigkeit ihr Veto ein.
»Unter gar keinen Umständen«, sagte Voam.
»Kommt nicht infrage«, sagte Troose. »Selbst wenn es hier jemanden gäbe, bei dem du lernen könntest – & du weißt, da ist keiner, nicht in Streggeye! –, es ist gefährlich & es ist nichts Solides. Hast du eine Ahnung, wie viele Habenichtse damit ihr Glück machen wollten & auf die Nase gefallen sind? Man braucht eine gewisse …« Er hatte Sham mit väterlicher Nachsicht gemustert.
»Du bist viel zu …«, sagte Voam.
Zu was?, dachte Sham. Er versuchte auf Voam wütend zu sein, doch erreichte er nur einen Zustand verdrossener Niedergeschlagenheit. Zu weich? Ist es das?
»… viel zu nett«, schloss Troose & strahlte. »Viel zu nett, um als Artefakter zu arbeiten.«
Beseelt von dem Wunsch, ihm einen liebevollen, fürsorglichen Schubs zu geben, der Elternvogel zu sein, der den Nesthocker mit sanfter Gewalt zu seinem ersten, angsterfüllten Flug zwang, hatte Voam seine Beziehungen spielen lassen & ihn auf einem Maulwurfsfänger untergebracht, als Famulus von Dr. Fremlo.
»Nahrung für das Gehirn, Teamarbeit & ein sicherer Broterwerb«, hatte Voam gesagt. »& du kommst endlich von hier fort. Nichts wie hinaus in die weite Welt!« Dabei hatte Voam dem kleinen, klickenden Porträt von Shams Mutter & Vater einen Kuss zugeworfen. Alle drei Sekunden wechselte es in einer Endlosschleife. »Es wird dir Spaß machen!«
Bis jetzt ließ der Spaß auf sich warten. Doch als er am Morgen nach dieser Blutnacht erwachte & von der Pritsche kroch, unter Ächzen & Stöhnen, weil er sich fühlte wie durch die Mangel gedreht & steifbeinig aus dem Abteil stakste & dann draußen stand & die graue Sonne durch die Brodemwolken sah & die kreisenden Gleismöwen & seine Kameraden, die den gesäuberten, abgespritzten Pfeilern des Moldywarp-Skeletts mit Kettensägen zu Leibe rückten, & auch wenn er sich immer noch wie ein Unbefugter – ja bei was eigentlich? – vorkam, fühlte Sham sich gut. Gut.
Nach einem so ergiebigen Fang war die Stimmung an Bord ausgezeichnet. Dramin servierte Talpa zum Frühstück. Sogar er, aschgrau & nur Haut & Knochen, ein Koch, der aussah wie von den Toten auferstanden & der vom ersten Tag an kein Hehl aus seiner Abneigung gegen Sham gemacht hatte, lächelte fast, als er ihm den Napf füllte.
Die Leute pfiffen beim Aufschießen der Taue & Einfetten der Flaschenzüge & Winden. Man spielte Ringewerfen & Backgammony auf den Waggondächern, unbeirrt vom Stampfen des Zuges. Sham zögerte, sich als Mitspieler anzubieten, bei der Erinnerung an seine früheren Versuche im Ringewerfen stieg ihm das Blut ins Gesicht. Er schätzte sich glücklich, dass der ihm verliehene Spitzname – Käpt’n Vorbeiwerfer – schnell in Vergessenheit geraten war.
Fasziniert beobachtete er die Pinguine. Er machte Flachografien von ihnen mit seiner billigen kleinen Kamera. Die flugunfähigen Charmeure zankten & schnäbelten auf den Inselchen, die sie dicht gedrängt bewohnten. Auf Nahrungssuche stürzten sie sich in die Erde zwischen den Gleisen, wühlten mithilfe der großen, schaufelförmigen Schnäbel, ihrer angepassten Krallenfüße & muskulösen Flügel meterlange Gänge & tauchten irgendwo keckernd, mit einem erbeuteten Wurm oder Engerling wieder auf. Sie ihrerseits waren Beute für Erdmännchen, Dachse, räuberische Streifenhörnchenrudel – flinke Jäger, die Sham bewunderte, einige seiner Zugkameraden hingegen mit Netzen einzufangen versuchten.
Die Medes verfolgte einen vielfach gewundenen Kurs. Sehnsüchtig starrte Sham auf jedes Vorkommen von Artefakten, an denen die Manöverer sie vorbeisteuerten. Als könnte das ein oder andere – dieses von Draht umflochtene Rad, jene staubblinde Kühlschranktür oder das glänzende Ding, das aussah wie eine in den Schiefer eines Küstensaums eingebettete Grapefruit, aus der man einen Keil herausgeschnitten hatte – erwachen & etwas tun. War möglich. Kam vor, manchmal. Er glaubte, seine Faszination gut verborgen zu haben, bis er merkte, dass der Erste Offizier & der Chirurgus ihn beobachteten. Mbenday lachte über Shams Erröten, Fremlo lachte nicht.
»Junger Mann.« Der Doktor legte große Geduld an den Tag. »Ist das da …« Mit einem Arm deutete er in Richtung des Schrotthaufens, den sie gerade hinter sich im Staub zurückließen. »… wonach es dich drängt?«
Sham konnte nur die Schultern zucken.
Sie trafen auf eine Gruppe menschengroßer Sternmulle. Zwei davon konnte die Medes erlegen, bevor die Schule entkam. Sham wunderte sich, dass der Anblick dieses Tötens, das Quieken dieser Tiere ihn mehr erschütterte als das Abschlachten des brüllenden Großen Südlichen Moldywarps. Sei’s drum, mehr Fleisch, mehr Pelz. Sham schlich am Tankwagen vorbei, um zu sehen, wie voll die Laderäume waren, um abzuschätzen, wann ungefähr sie einen Hafen anfahren mussten.
Fremlo gab ihm noch mehr Puppen, an denen er lernen sollte, wie der Körper funktionierte, indem er sie auseinandernahm, die Einzelteile beschriftete & wieder zusammensetzte. Die Ergebnisse dieser makabren Operationen inspizierte der Doktor mit unverhohlenem Entsetzen. Fremlo hielt ihm Diagramme vor die Nase, & Sham tat so, als studierte er sie angelegentlich. Fremlo prüfte sein Wissen in den Grundlagen der Medizin & nahm fast schon mit Ehrfurcht Shams phänomenalen Mangel an Begabung zur Kenntnis.
Sham saß an Deck, seine Beine baumelten über der vorbeifliegenden Erde. Er harrte der Erleuchtung. Schon bald nach Beginn der Reise hatte er gewusst, dass er & die Medizin nicht füreinander bestimmt waren. Folglich hatte er versucht, sich für anderes zu begeistern. Probierte Elfenbeinschnitzerei, Tagebuchschreiben, Karikatur. Bemühte sich, die Sprachen ausländischer Kameraden zu lernen. Spickte bei Kartenspielen, um möglicherweise verborgene Fähigkeiten auf diesem Gebiet zu wecken. Alles vergebens.
Nordwärts wurde es milder, die Pflanzen kühner. Die Leute hörten auf zu singen & begannen wieder zu streiten. Die hitzigsten dieser Auseinandersetzungen endeten oft genug in Handgreiflichkeiten. Mehr als einmal musste Sham eilends flüchten, um nicht zwischen die Fronten zu geraten, wenn nach den Worten die Fäuste flogen.
Ich weiß, was wir brauchen, dachte Sham, während gereizte Offiziere den Streithähnen befahlen, gefälligst Vernunft anzunehmen. Er hatte allerlei Zugweisheiten aus zweiter Hand aufgeschnappt, darunter auch, was zu tun wäre, um Spannungen an Bord abzubauen. Wir brauchen Brot & Spiele. Er wusste noch nicht sehr lange, was man sich in diesem Zusammenhang unter Spielen vorzustellen hatte.
Eines Nachmittags, unter schmierigen Wolken, gesellte Sham sich zu einem Kreis johlender Bahner auf einem der Waggondächer. Sie umstanden ein Seilgeviert, in dem zwei mürrisch aussehende Insekten sich feindselig beäugten. Es waren Dieselkäfer, plumpe, schillernde, handgroße Geschöpfe, von Natur aus ungesellig & entsprechend streitsüchtig, wenn dieser Natur nicht Rechnung getragen wurde, deshalb perfekt geeignet für diese hässliche Volksbelustigung. Sie zögerten, offenbar hatten sie keine Lust zu kämpfen. Ihre Besitzer piesackten sie mit glühenden Stöckchen, bis sie widerwillig aufeinander losgingen. Wenn ihre Panzer zusammenstießen, klapperte es, als wären sie aus Plastik.
Es war kurzweilig, vermutete Sham, aber das dauernde Anstacheln der Insekten durch ihre Besitzer war nicht schön anzusehen. In Käfigen, die einige seiner Kameraden in der Hand hielten, entdeckte er einen Mineurleguan mit einem verängstigten Reptilgrinsen sowie ein Erdmännchen & eine Dornenpelzratte. Die Käfer waren nur der Vorkampf. Zum Aufwärmen.
Sham schüttelte den Kopf. Natürlich waren die Käfer nicht weniger unfreiwillige Opfer als Ratten oder Felsenkaninchen, aber auch wenn er sich der Einseitigkeit seiner Säugetier-Solidarität schämte, konnte er sie doch nicht leugnen. Rückwärtsgehend löste er sich aus dem Kreis – & prallte gegen Yashkan Worli. Sham taumelte & rempelte gegen andere Zuschauer, die ihrem Ärger drastisch Luft machten.
»Wo willst du hin?«, rief Yashkan. »Zu zimperlich für so was?«
Nein, dachte Sham. Nur keinen Bock drauf.
»Komm her! Weichei!«, höhnte Yashkan, unterstützt von Valtis Lind & ein paar anderen, die nicht über kleinliche Gemeinheiten erhaben waren. Es hagelte Spottnamen. Sham fühlte sich unangenehm an die Schule erinnert & lief feuerrot an.
»Ist doch nur Spaß, Sham!«, rief Vurinam. »Werd erwachsen! Komm wieder her!«
Aber Sham ging weg, er dachte an die Beleidigungen & die Käfer, die sich sinnlos verstümmelten, & an die verängstigten Tiere, die in ihren Käfigen darauf warteten, dass sie an die Reihe kamen.
Sie passierten einen anderen Maulwurfsfänger, dieselgetrieben wie die Medes, Heimathafen Rockvane, verkündete die Flagge. Die Besatzungen winkten sich im Vorbeifahren zu. »Könnten keinen Maulwurf fangen, selbst wenn ihnen ein lebensmüder Moldywarp in den Schoß springt«, lästerte die Crew der Medes hinter lächelnden Mienen. Rockvane dies & Rockvane das, fuhren sie fort, fantasievolle Schmähungen ihres südlichen Nachbarn.
An dieser Stelle verliefen die Gleise ungünstig für eine Annäherung, für gegenseitige Besuche, den Austausch von Neuigkeiten & Post, deshalb sah Sham mit Verwunderung, dass Gansiffer Brownall, die schweigsame & reich tätowierte Zweite Offizierin, einen Jagddrachen entrollte, wie man ihn in Clarion flog, ihrer kargen, fernen Heimat.
Was hat sie vor?, fragte er sich. Der Käpt’n befestigte einen Brief an dem Drachen. Brownall schickte ihn wie etwas Lebendiges in Schlangenlinien durch die Luft unter dem düsteren Gemenge des Brodems. Zwei, drei Schwünge, & sie ließ ihn auf dem Zug aus Rockvane landen.
Nach wenigen Minuten hissten die Rockvaner einen letzten Wimpel. Sham spähte mit zusammengekniffenen Augen. Er war noch Anfänger auf dem Gebiet des Flaggenalphabets, aber dieses Zeichen kannte er. Auf die Frage des Käpt’n antwortete Rockvane: Bedaure, nein.
4
Es war kalt, aber nicht vergleichbar mit der lebensfeindlichen Kälte der inneren Arktis. Sham studierte das geschäftige Ökosystem des Erdbodens. Nackt aussehende Wurmschlingen durchbrachen die Krume. Kopfgroße Käfer. Füchse & Beutelratten schnürten zwischen Baumwurzeln & Artefakten aus perforiertem Glas & Metall. Nebel sank herab, verschluckte Meile um Meile das Gleis.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!