Dieser Volkszähler - China Miéville - E-Book

Dieser Volkszähler E-Book

China Miéville

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Beschreibung

Auf einem Berg oberhalb des Brückendorfes, in einem abgelegenen Haus, lebt ein Junge mit seinen Eltern. Der Vater ist Schlüsselmacher und wird weithin für seine Kunst gerühmt. Oft steigen die Leute den Berg hinauf und tragen ihr Anliegen vor. Von den Schlüsseln erzählt man sich, dass sie magische Kräfte haben, und niemals sieht der Junge die Kunden seines Vaters ein zweites Mal. Doch dann wird er Zeuge einer grausamen Tat und muss hinunter ins Dorf fliehen. Die Leute dort erwarten ihn bereits und wollen wissen, was geschehen ist. Außer Atem, mit blutigen Händen und zitternd vor Angst erzählt der Junge, seine Mutter habe seinen Vater erstochen. Sicher ist er sich aber nicht. Vielleicht war es auch der Vater, der die Mutter getötet hat … Einmal mehr lotet China Miéville die Grenzen der phantastischen Literatur aus. "Dieser Volkszähler" ist ein virtuos erzähltes, atmosphärisch dichtes Buch, das unsere Wahrnehmung der gegenwärtigen Welt verzerrt, um das zu enthüllen, was uns in ihr verborgen bleibt.

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Seitenzahl: 184

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China Miéville

DieserVolkszähler

Eine Novelle

Aus dem Englischen von Peter Torberg

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »This census-taker« bei Picador, London.

© China Miéville 2016

© Verlagsbuchhandlung Liebeskind 2017

Alle Rechte vorbehalten

Covermotiv: Jarek Blaminsky / Arcangel

Covergestaltung: Sieveking, München

ISBN 978-3-95438-075-6

Wie alle hiesigen, so länglichen, niedrigen Häuser war das Gebäude nicht für einen Zweck, sondern gegen etwas errichtet worden. Hier hatte man gegen den Wald, gegen das Meer, gegen Wind und Wetter, gegen die ganze Welt gebaut. Ihre Häuser bestanden aus Dachbalken, Wänden, Türen und Grimm – als hätte in diesem Teil der Erde Grimm stets zum Handwerkszeug eines Baumeisters gehört und er zu seinem Gesellen gesagt: »Hoffentlich hast du heute genug Grimm mitgebracht.«

JANE GASKELL, Die Länder des Sommers

Ein Junge rannte schreiend einen Bergpfad hinunter. Der Junge war ich. Er streckte die Hände vor sich aus, als hätte er sie in Farbe getaucht, als wolle er ein Bild malen, sie auf ein Blatt Papier drücken, doch er hatte nur Dreck an ihnen. An seinen Händen war kein Blut.

Er war neun, glaube ich, und er rannte so schnell wie noch nie, stolperte und schlingerte, und viele Male sah es so aus, als würde er in das Geröll und Gestrüpp zu beiden Seiten des Pfads stürzen, doch ich hielt mich auf den Beinen und flog in die Schattenseite meines Bergs hinab. Die Luft fühlte sich klamm an, dabei hatte es nicht geregnet. Ich wirbelte eine kalte Staubwolke hinter mir her, kleine Tiere huschten vor mir davon.

Die Leute im Dorf hätten die Wolke gesehen, lange bevor ich dort eintraf, erzählte mir Samma später. Als sie sicher war, dass es sich nicht um ein Wetterphänomen handelte, gesellte sie sich zu jenen, die jenseits der Brücke nach Westen an der Pumpe warteten, wo die letzten Gebäude standen, um zu sehen, was denn da kam. Nach jenem Tag erzählte mir Samma Geschichten, wann immer sie konnte, auch die Geschichte von dem Tag, als ich den Berg herunterkam.

»Ich wusste, dass du es warst«, sagte sie dann. »Der Schmutzteufel kommt vom Berg. ›Das ist der Junge‹, habe ich gesagt. Viele von uns haben das gesagt. Du musst wohl eine Meile weit gerannt sein, während ich zuschaute, du bist gerannt und gerannt, ohne langsamer zu werden. Du bist direkt an den Nägeln vorbeigekommen.« Die Nägel: Mein von ihr übernommener Name für einen Stand toter weißer Büsche. »Vorbei an jeder Felsspalte im Hügel; du musst all die heulenden Teufel gehört haben, die dort drinnen hausen.« Wenn sie so sprach, sah ich sie stumm und drängend an. »Wir haben dich kommen hören, du hast Geräusche gemacht wie eine verletzte Möwe, und ich sagte: ›Das ist, das ist der Junge!‹«

Ich kam herein. Ich folgte dem Pfad, fort von der Stelle, wo der Hang trockener und steiniger wurde und steil abfiel, und rannte auf die Stelle zu, wo die Menge wartete. Ich konnte zwischen den äußersten Mauern Freiflächen sehen, die auf die wiederaufgebaute Brücke des Dorfs zuliefen. Ich weinte so sehr, dass ich würgen musste, rannte laut und verdreckt an der Drahtspinnerei und der Glashütte vorbei, passierte Scheunen und Läden und den Erdboden davor, der mit altem Stroh und den Scherben der Waren bedeckt war, die darin zu Bruch gegangen waren, gelangte auf das Kopfsteinpflaster und den Beton in Sichtweite der Brücke, wo die Dorfbewohner warteten.

Es waren auch Kinder dabei: Waren sie in Begleitung Erwachsener, wurden sie zurückgehalten. Ich machte Geräusche wie ein schreiendes Baby. Ich rang nach Luft.

Ich war der Einzige, der sich rührte, alle anderen starrten meine kleine Gestalt an, die Staub aufwirbelte, bis jemand, ich weiß nicht wer, mir entgegenkam, und das brachte andere, darunter Samma, dazu, dieser Person schamhaft zu folgen.

Sie rannten mit ebenfalls offenen Armen auf mich zu, um mich aufzufangen.

»Schaut doch!«, hörte ich einen Mann sagen. »Himmel, schaut ihn euch an!«

Ich streckte die Hände hoch, die ich für blutig hielt, damit alle sie sehen konnten.

Ich rief: »Meine Mutter hat meinen Vater umgebracht!«

Ich war ein Bergler. Über meinem Zuhause erhob sich ein steiler Hang aus Gras und lockerem Boden, dann stapelten sich Flintplatten zu einem groben Felsenturm, und darüber stand, außer Sicht, schließlich der Gipfel. Kein Pfad führte dort hinauf. Wir lebten so hoch am Berg wie kaum jemand. Unser Haus stand auf gleicher Höhe wie die der wenigen Wetterbeobachter, Eremiten und Hexen, die man unsere Nachbarn hätte nennen können, aber man musste schon ein ganzes Stück gehen, um eine ihrer Behausungen zu sehen; wir besuchten sie nie, und sie uns auch nicht.

Mein Zuhause hatte drei Stockwerke, die mit der Höhe immer unfertiger wurden, so als hätten die Erbauer den Mut verloren, je weiter sie sich vom Boden entfernten. Im Erdgeschoss befanden sich die Küche und die Stube, die Werkstatt meines Vaters, ein Flur und eine hölzerne Stiege. In der Mitte gab es zwei kleine, weniger sorgsam hergerichtete Schlafzimmer, eins für meinen Vater und eins für meine Mutter, und zwischen ihnen eine Kammer, in der ich schlief.

Im obersten Stock war jeder Versuch einer Unterteilung fehlgeschlagen, also gab es nur einen Raum, und man spürte, wie die Luft durch die unfertigen Wände drang und durch die Spalten, wo die Fensterrahmen auf den Putz stießen.

Ich kletterte gern die steile Stiege hinauf und spielte in dem winderfüllten Raum. Das Haus war weiß getüncht oder in einem Ocker gestrichen, der aus der vorhandenen Erde gemischt worden war, doch im Dachboden waren zwei Wände in einem sich wiederholenden Muster tapeziert worden. Die ineinander verwobenen Blumen und Pagoden erstaunten mich. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass meine Mutter oder mein Vater sich die Tapete ausgesucht hatte. Ich entschied, dass die Tapete wohl aus der Zeit vor der Ankunft meiner Eltern stammen musste, was mich dazu brachte, mir über das Haus vor ihrer Zeit Gedanken zu machen, als es noch leer war von ihnen. Bei diesem Gedanken war ich ganz aufgeregt, und mir wurde mulmig.

In der Küche und dort, wo mein Vater arbeitete, gab es Lampen und Maschinen, die mit Strom aus dem Generator betrieben wurden, den wir manchmal anwarfen. In den Schlafzimmern benutzten wir Kerzen. Vor den Fenstern im obersten Stock hingen keine Vorhänge, und jeden Tag wanderte das Licht durch den Raum von einem Ende zum anderen. Nach Jahren in der Sonne war die Tapete verblichen. Ganz unten in einer Ecke, wo ich dachte, dass es geheim bleiben würde, malte ich Tiere rings um Gebäude und zwischen Stängel.

Mein Zuhause stand am Ende des Pfads zwischen Felsen eingezwängt, als würde es sich vor dem Abhang scheuen, der sich davor erstreckte. Zwischen dem Haus und diesem Abhang gab es einen rostigen Zaun, an dem ich stand und die Bergtiere beobachtete – wilde Katzen und Hunde, alles Mischlinge, Klippschliefer, die dürren Nachfahren von entlaufenen Ziegen und Schafen –, die zwischen den Steinformationen und dem Gestrüpp umherhuschten. Es gab Tiere, deren Territorien ich kannte, jene, bei denen ich offenkundig als Eindringling galt, und jene, die neugierig wurden, wenn ich sie öfter aufsuchte – ein wütender grauer Singvogel, der bestimmte Bäume beanspruchte, ein Hund mit rotem Fell, kaum größer als ein Welpe, der sich so bedächtig bewegte wie ein alter Hund.

Von hier aus konnte ich die schwarzen Dächer des Dorfes sehen. Ich trat gegen Steine, die klein genug waren, um durch die Maschen zu fliegen, und schaute zu, wie sie ins Dickicht hüpften oder noch weiter – bis hinunter zum Wasser, stellte ich mir vor, bis zu der Rinne unterhalb der Häuser.

Es handelte sich um ein Dorf, das sich über die Flanken zweier Berge und die Brücke zwischen ihnen verteilte. Wie alle anderen auf diesen beiden Bergen gehörten auch wir zu dieser Gemeinde, dabei lebten wir in einem Haus, das so weit abseits der Straßen lag, wie es gerade noch möglich war, um dazuzuzählen. Wir unterstanden dem Gesetz dieses Dorfes. Als ich an jenem Tag nach unten kam, rannte ich nicht, um das Gesetz zu holen; das Gesetz fand mich.

Die Menschen trösteten mich auf grobschlächtige Weise. »Was hast du gesehen, Junge?«, fragten sie. »Was ist passiert?«

Ich konnte nur weinen.

»Deine Ma hat etwas gemacht?«, fragte mich eine Frau, kniete sich hin und packte mich an den Schultern. »Sie hat deinem Dad etwas angetan? Sag es uns.«

Sie verwirrte mich. Sie wollte, dass ich ihr in die Augen schaute. Es verwirrte mich, was sie sagte, denn ich fand nicht, dass sie beschrieb, was ich gesehen hatte, worauf ich aus Zufall gestoßen war, doch während sie sprach, ging mir auf, dass sie nur wiederholte, was ich gesagt hatte. Der Junge, ich, hatte gesagt, seine Mutter habe seinen Vater getötet.

Und doch, wenn ich darüber nachdenke, was ich an jenem Tag in meinem Haus gesehen habe, fallen mir als Erstes die Hände meiner Mutter ein: ihr ruhiger Gesichtsausdruck, der Anblick, wie sie sich versteift und zusticht, ihre Hände, die schnell ausholen, ein Messer, die geschlossenen Augen meines Vaters, ein kurzer Blick auf seinen Mund, der Mund voller Blut, Blut auf den blassen Blumen an den Wänden, und der Junge muss an all das denken, ich habe keine Wahl, ich kann nicht darum herumdenken, und jedes Mal brauche ich einen Augenblick, um innezuhalten und mir zurechtzulegen, nein, so war es nicht, sicher nicht, das Gesicht der betroffenen Person war nicht zu sehen, war gewiss nicht das Gesicht meines Vaters.

Ich wollte das, was ich gesagt und die Frau wiederholt hatte, richtigstellen, doch ich konnte nur schlucken.

Ich hatte ein rhythmisches Geräusch gehört. Ich war ins oberste Stockwerk des Hauses hinaufgestiegen, zu dem luftigen Raum, und hatte dort Leute angetroffen. Die Frau an der Brücke schaute mich an, ich konzentrierte mich, und ich glaubte nicht länger, dass ich gesehen hatte, wie meine Mutter meinen Vater umgebracht hatte, wie vorher behauptet. Ich kehrte zu dem Augenblick zurück. Ihr Gesicht, das Gesicht meiner Mutter, leer und müde, ja, aber ich hatte es nur kurz gesehen, ganz flüchtig. Und es waren nicht ihre Hände, die ausholten, sondern die meines Vaters.

»Nein«, sagte ich. »Mein Vater. Irgendwer. Meine Mutter.«

Es war mein Vater gewesen, der mir den Rücken zukehrte. Daran dachte ich so gewissenhaft, wie ich bei all meinem Zittern und Schnaufen nur konnte. Er hielt etwas in Händen. An ihr Gesicht konnte ich mich nicht erinnern.

Mein Vater hatte mir den Rücken zugewandt. Nicht meine Mutter. Es war Blut geflossen, Blut, das ich noch immer an meinen Händen wähnte. Ich erinnerte mich daran, es war sehr hell und gleichzeitig dunkel gewesen, weil es gerade erst ans Licht gekommen und das Papier, das es färbte, so ausgeblichen war.

Ich hatte geschrien, bis mein Vater sich umdrehte und mich anschaute. Was ich gesehen hatte: Er keuchte vor Anstrengung.

Er starrte mich an, und ich rannte weg.

An manchen Vormittagen brachte mir meine Mutter Buchstaben und Zahlen bei. Sie besaß nicht viele Bücher, aber sie legte eins dieser Bücher vor mich hin, setzte sich auf die andere Seite des Tischs, deutete wortlos auf bestimmte Wörter und wartete, während ich mich abmühte, sie auszusprechen. Sie verbesserte mich, wenn nötig, und manchmal sagte sie mir ungeduldig vor, sprach Wörter aus, an denen ich gescheitert war. Es handelte sich um eine andere Sprache als jene, in der ich heute schreibe.

Meine Mutter war eine muskulöse Frau; dunkelgraue Haut legte sich auf ihrer Stirn und um ihre Augen herum in Falten. Ihr langes, weiß geflecktes Haar, das sie offen trug, wenn sie nicht grub, umrahmte ihr Gesicht. Ich fand sie schön, doch nach ihrem Tod, wann immer ich jemanden hörte, der mehr als nur oberflächlich über sie sprach, fiel das Wort stark – ein einziges Mal auch attraktiv.

Meine Mutter kümmerte sich hauptsächlich um das wellige Land rings um das Haus. Sie hatte den abschüssigen Garten in scheinbar willkürliche Flecken aufgeteilt und deren Grenzen mit Steinen markiert. Als sie bemerkte, wie sehr diese mich verwirrten, erklärte sie mir, dass sie den Konturen des Bodens folgte.

Zwischen den Beeten sammelte sie angewehte Zweige und Blätter zusammen und trocknete sie, um damit zu heizen oder den Generator in seinem Häuschen zu betreiben, wenn wir Strom brauchten. Sie besaß ein Gartenkleid, in dem sie allerlei Saatgut bei sich trug. Ich saß stumm auf einem der Steine und schaute zu, wie sie in die vielen Taschen griff und Hände voll Samen in die Furchen säte, die sie gezogen hatte. Manchmal lächelte sie kühl über die Sorgen, die ihre willkürlichen Anbaumethoden mir bereiteten.

Einmal stand sie auf, stützte sich auf ihre Hacke, sah mich an und sagte: »Letzte Nacht habe ich geträumt, ich würde hier Müll pflanzen und gießen. Eine ganze Müllkippe anbauen. Wenn ich sage: ›Ich habe geträumt‹, dann meine ich damit, dass ich das tun wollte, und nicht: ›Mir ist das im Schlaf eingefallen.‹«

Meine Mutter baute hässliche Figuren aus Draht und Holz und stellte sie auf, um die Vögel zu verschrecken. Das tat mein Vater auch, seine waren schöner, doch ließen sich die Krähen davon kaum beeindrucken, weshalb meine Mutter und ich oft aus dem Haus eilen, mit den Armen rudern und schreien mussten, damit die großen Vögel eine Weile die Samen in Ruhe ließen, weniger aus Angst denn aus träger Verachtung.

In dieser dünnen staubigen Erde zog meine Mutter Hybriden und Raritäten, dazu Bohnen, Kürbisse und all das. Manches davon aßen wir; anderes verkaufte sie an die Läden bei der Brücke oder im Brückendorf selbst, oder sie tauschte es gegen irgendetwas ein. Für wieder anderes bekam sie weitere Samen, die sie in den Schoß der Erde brachte.

Meistens blieben wir auf unserem Flecken des Hügels, wie alle anderen, die oberhalb des Dorfs lebten. Der Pfad unter uns und all die Furchen, die kreuz und quer von Anhöhe zu Anhöhe führten, verliefen genau so, dass sie anderen Wohnstätten nicht zu nahe kamen. Einige wenige Male, und in späteren Jahren kam es mir so vor, als würde ich das aus einer Art Zwang heraus tun, unartig sein zu wollen, einer Art Pflicht, ging ich weit über verästeltes Terrain und schlich mich nah genug an die Behausung eines anderen Berglers unterhalb von uns heran, um sie aus dem Schutz des Gebüschs heraus zu beobachten, und ich sah gebeugte Frauen, Schwestern, die Schweine in einer Scheune hielten, ich sah den knorrigen Mann auf seiner Anhöhe außerhalb des Blickfelds des zweiten Berges präzise Arbeiten auf seinem Hof ausführen, wo er Messgeräte an alten Maschinen justierte und deren bewegliche Teile schmierte. Diese anderen Häuser ähnelten meinem Zuhause so sehr, dass sich in mir die undeutliche Vermutung regte, es könnte sich um eine Kulisse handeln, wie ich es später nannte, als ich die Worte dafür hatte.

Angeblich wohnte eine heilige Person, Frau oder Mann, in einer Höhle keine Stunde von unserer Haustür entfernt direkt unter dem Gipfel, und ich weiß noch, dass ich einmal einen kurzen Blick auf ein braunes Cape erhaschte, wie ein ausgeschütteltes Laken, doch ob dieses Tuch von knochigen prophetischen Schultern getragen wurde, kann ich nicht sagen. Ich kann nicht einmal mit Bestimmtheit behaupten, das Tuch überhaupt gesehen zu haben.

Seither habe ich echte Asketen kennengelernt, habe mir ihre Selbstgeißelung und ihre Behausungen angeschaut, und ich weiß nun, wie talmihaft das selbst gewählte Exil war, das ich gesehen hatte, falls ich überhaupt etwas gesehen habe, falls dort überhaupt etwas zu sehen war.

Üblicherweise waren die Hinweise auf jene, die in unserer Nähe lebten, der Rauch von ihren Feuern, wenn sie Essen machten oder ihren Müll verbrannten, was wir mit unseren Abfällen nicht taten.

Mein Vater war ein sehr großer, blasser Mann, der ständig erschrocken aussah und sich ruckartig bewegte, als wollte er nicht bei etwas ertappt werden. Er machte Schlüssel. Seine Kunden kamen aus dem Dorf herauf und baten um Dinge, um die Menschen üblicherweise bitten – um Liebe, Geld, darum, etwas zu öffnen, die Zukunft zu erfahren, Tiere zu heilen, Sachen zu reparieren, stärker zu werden, jemanden zu verletzen oder zu retten, zu fliegen –, und er machte ihnen einen Schlüssel dafür.

Bei diesen Transaktionen wurde ich aus dem Haus verbannt, doch meistens schlich ich mich ums Eck und kauerte am Fenster der Werkstatt, um zu lauschen und ab und zu hineinzuspähen. Mehr als einmal ertappte mich meine Mutter, die in ihren Beeten stocherte, die Haare mit einem gelben Schal hochgebunden, das hellste, was ich sie je tragen sah, wie ich unter der Fensterbank kauerte. Nie verbot sie mir zu lauschen.

Die Menschen erzählten meinem Vater stockend von ihren Wünschen, und er machte sich Notizen. Auf grobem braunem Papier skizzierte er mit Bleistift und Tinte die Umrisse der Zinken und Kerben eines Schlüssels und korrigierte die Linien, während seine Kunden weiterredeten. Waren die Besucher gegangen, setzte er die Arbeit fort, zeichnete manchmal stundenlang und stellte die Lieferung fast immer in einer einzigen Sitzung fertig, selbst wenn es hieß, dass er bis Sonnenaufgang zugange war.

Am nächsten Tag dann warf er den Generator an, kehrte zurück ins Haus, pinnte das fertige Bild neben die Werkbank, spannte Metallstücke in seinen Schraubstock ein und schnitt sie mit sorgfältigen, kurzen, nur wenige Sekunden währenden Bewegungen eines kreischenden elektrischen Sägeblatts zu, bei denen das Licht im Erdgeschoss flackerte, oder von Hand mit den straff gespannten Stahldrahtsägen, die ich ebenfalls nicht anrühren durfte, und hielt oft inne, um die Vorlage zu studieren. Trotz seiner dürren Arme war mein Vater stark. Er sägte und feilte.

Hinter der Werkbank bewahrte er Konservengläser mit verschiedenen Staubarten auf. Manche waren ganz dunkel; die meisten hatten viele Schattierungen, von Braun und Schmutziggrau. Er tunkte seine Finger in eins der Gläser und rieb die entstehenden Schlüssel damit ab, polierte sie mit dem Staub und dem Schweiß seines Daumens. Ich habe nie gesehen, dass er einen der Behälter wieder auffüllte: Er verwendete immer nur einen Hauch.

Die Arbeit erschöpfte ihn mehr, als man glauben mag. Hatte er sie beendet, hielt er das fertige Stück in die Höhe, pustete es sauber und betrachtete es sorgsam; der Schlüssel glänzte, und mein Vater war von oben bis unten verdreckt.

Manchmal tauchten jene, die ihn beauftragten, Tage später wieder auf, um zu holen, wofür sie bezahlt hatten, wenn auch meist nicht mit dem Münz- und Papiergeld des Dorfs, davon gab es in unserem Haus selten viel; manchmal stieg er hinunter, um ihnen den Schlüssel zu bringen. Nie sah ich einen Kunden mehr als ein Mal.

Wenn meine Mutter kochte, sprach sie selten. Sie plante wohl ihren Garten, nehme ich an. Dabei suchte sie keinen Blickkontakt, wich meinem Blick aber auch nicht aus. Kochte mein Vater, dann stapfte er in der kleinen Küche herum, ließ mich probieren und lächelte dabei wie ein Mann, der sich daran zu erinnern versucht, wie man kocht. Dann sah er meine Mutter und mich erwartungsvoll an. Sie erwiderte seinen Blick nicht, ich schon, doch ohne ein Wort zu sagen, und er versuchte, uns Fragen zu stellen und Geschichten zu erzählen.

»Es ist besser, hier oben zu leben«, sagte mein Vater zu mir. »Wo die Luft rein und dünn ist, nicht zu stickig. Sie kommt einem nicht in die Quere.«

Das ist nur ein Erinnerungsfetzen. Als er das sagte, gingen wir beide den Pfad hinunter, um eine Besorgung zu erledigen, an die ich mich nicht mehr erinnere. Damals war es mir nicht aufgefallen, aber ich war nicht allzu oft mit ihm allein; hatten wir miteinander zu tun, stand meine Mutter immer in der Nähe. Ansonsten ging ich allein, was sie mir nicht verbot, und auch er ging allein, und dann sah ich ihn manchmal, folgte ihm sogar, aber möglichst ohne mich von ihm sehen zu lassen.

An manchen Tagen zogen größere, kompliziertere Wesen als Vögel durch die dünne Luft über uns hinweg, und sie schwirrten in solcher Höhe umeinander, dass ich sie nicht recht ausmachen konnte. Beobachtete mich mein Vater, wenn diese Wesen herumflogen, dann setzte er wieder dieses Lächeln auf, so als wolle er mir gleich etwas erklären, doch das tat er nie.

Ich bin im steten Wind des Berges aufgewachsen, der mir zuflüsterte und die dunklen Haare aus dem Gesicht wehte. Unter den Geräuschen des Winds lagen gelegentlich die schwachen, von weit her kommenden Rufe der Tiere und das Klackern von Steinschlägen. Manchmal war auch eine Maschine zu hören oder ein entfernter Gewehrschuss.

Ich hatte schon vor dem Mordtag, als sein Gesicht und das meiner Mutter zuckten, Wutanfälle meines Vaters erlebt. Wutanfälle sage ich, dabei war er in diesen Augenblicken reglos und unberührt: Er wirkte abwesend und tief in Gedanken versunken.

Als ich sieben war, tötete er einen Hund, während ich zuschaute. Es war nicht unser Hund. Damals hielten wir keine lebenden Tiere.

Ich befand mich oberhalb des Gartens meiner Mutter in einem knorrigen Baum, dessen Wurzeln sich in die Hügelerde krallten. Ich erinnere mich noch, dass der Tag beißend klar war, und ich erinnere mich an Wesen, die mich ignorierten und am Rand des flachen, offenen Himmels herumtobten. Da war ich also: der Junge, von Blättern umstrichen, der nicht weiß, wo seine Mutter ist, und seinen Vater beobachtet.

Der Mann saß unterhalb auf einer Felsnase und rauchte. Er wusste nicht, dass der Junge ihn beobachtete.

Der kleine rote Hund kam von irgendwo weiter oben angeschlichen. Er hatte wohl wie alle halbwilden Tiere nach der Entwöhnung am Berg vom Stehlen und Betteln gelebt, hatte Glück gehabt und ab und zu etwas erjagt.

Er näherte sich meinem Vater mit zögernder, hoffnungsvoller Unterwürfigkeit. Der Mann rührte sich nicht und hielt die Zigarette halb hoch.

Der Hund kam im Zickzack näher, setzte seine Pfoten dabei vorsichtig zwischen die Steine. Der Mann streckte eine Hand aus, das Tier blieb stehen, doch der Mann rieb Daumen und Finger aneinander, und der kleine Hund schnüffelte und schlich weiter heran. Er leckte die Hand, und der Mann packte ihn am Nacken. Der Hund wehrte sich, aber nicht sehr: Der Mann wusste, wie man einen Hund packen musste, und das Tier geriet nicht in Panik.

Der Mann drückte die Zigarette an einem Stein aus. Er begutachtete den Stein, verschmähte ihn, suchte nach einem besseren. Ein Schauer durchfuhr den zuschauenden Jungen und ließ ihn erzittern. Es war, als ob ihn sein eigenes Herz von innen boxte. Sein Vater suchte.