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Willkommen in der unmöglichen Stadt!
Eine Stadt, eine Welt für sich, ein Moloch: Das ist New Crobuzon, bevölkert von Milliarden Menschen und Mutanten, unterjocht von einem strengen Regime und angefüllt mit den ungezählten Sehnsüchten, Ängsten, Problemen und Kämpfen seiner Bewohner. Als eines Tages ein seltsames Wesen den geheimen Laboren der Stadt entflieht, ahnt niemand, dass dies der Untergang New Crobuzons sein könnte. Auch Isaac Dan dar Grimnebulin ahnt die Gefahr nicht, als er dem Wesen begegnet …
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Seitenzahl: 1175
Das Buch
New Crobuzon ist eine gigantische Megalopolis, eine Stadt ohne Anfang und ohne Ende, ein bunter, lauter, stinkender Moloch. Seit Jahrhunderten regiert ein autoritäres Regime über Milliarden von Menschen, Mutanten, Arbeitern, Sklaven, Wissenschaftlern und Magiern, die die Stadt bevölkern. Einer von ihnen ist der ehemalige Universitätsprofessor Isaac Dan dar Grimnebulin, dessen bis dato unauffälliges Leben eine radikale Wendung nimmt, als eines Tages ein geheimnisvoller Fremder vor seiner Tür steht und ihn um Hilfe bittet. Im Gegenzug will er Isaac fürstlich entlohnen. Isaac nimmt den Auftrag an, nicht ahnend, dass das der Beginn einer Katastrophe ist, die nicht nur sein Leben und das seiner Freunde in Gefahr bringt, sondern ganz New Crobuzon zu zerstören droht.
»Ein Roman wie ein Erdbeben – mit Perdido Street Station hat China Miéville Literaturgeschichte geschrieben.« The Independent
Der Autor
China Miéville wurde 1972 im englischen Norwich geboren und studierte an der Universität Cambridge sowie an der London School of Economics. Er gilt als einer der einflussreichsten Autoren moderner Fantastik, der mit seinen Werken Kritiker wie Leser gleichermaßen begeistert, und wurde für seine Romane bereits mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Arthur C. Clarke Award, dem World Fantasy Award und dem British Fantasy Award. China Miéville lebt und arbeitet in London.
www.heyne-fantastisch.de
twitter.com/HeyneFantasySF
@HeyneFantasySF
Titel der englischen Originalausgabe:
PERDIDO STREET STATION
Neuausgabe 04/2014
Copyright © 2000 by China Miéville
Copyright © 2014 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Eisele Grafikdesign, München
Satz: Schaber Datentechnik, Wels
ISBN 978-3-641-14170-7
Für Emma
»Ich versagte mir sogar, eine Zeit lang, am Fenster des Zimmers stehen zu bleiben, um hinauszuschauen auf die Lichter und die tiefen, hell erleuchteten Straßenschluchten. Das ist eine Art Sterben, so die Verbindung zu der Stadt zu verlieren.«
Philip K. Dick: Die rebellischen Roboter
Nach Steppe und Buschland und einsamen Gehöften nun diese ersten verstreuten Hütten, die auf der Erde kauern. Es ist Nacht, lange schon. Die schäbigen Behausungen, die sich am Flussufer drängen, sind im Dunkeln gleich Pilzen rings um mich emporgesprossen.
Wir schaukeln. Wir rollen in einer tiefen Strömung.
Hinter mir stemmt sich der Mann erschrocken gegen die Ruderpinne und bringt uns zurück in ruhiges Wasser. Lichtschein tanzt, als die Laterne schwingt. Der Mann hat Angst vor mir. Ich beuge mich aus dem Bug des Kahns über das dunkel strömende Wasser.
Über dem öligen Tuckern der Maschine und dem schmeichelnden Seufzen des Flusses wehen leise Geräusche heran, Hausgeräusche. Holz wispert, und der Wind streicht über Schindeln, Mauern und Fußböden dehnen sich in ihre Fugen. Die Handvoll Bauten hat sich vermehrt, hundert-, tausendfach; sie breiten sich vom Ufer weg landeinwärts aus und übersäen die Ebene mit Lichtern.
Sie umringen mich. Sie wachsen. Sie sind höher und massiger, ihre Stimmen lauter: Dächer aus Schiefer, Mauern aus Ziegelstein.
Der Fluss windet und biegt sich und bringt uns dann vor das Angesicht der Stadt. Unversehens ragt sie empor, gigantisch, ein Fremdkörper, der Landschaft aufgezwungen. Der Widerschein ihres Lichtermeers bekleidet die Hänge der Bergumwallung mit der Farbe gerinnenden Blutes. Ihre schmutzigen Türme glühen. Ich fühle mich klein. Ich bin versucht, mich in Ehrfurcht zu neigen vor dieser phantasmagorischen Megalopolis, emporgewuchert aus dem Treibgut der zwei Flüsse, die sich hier vereinen. Sie ist ein immenser Giftkessel, ein Gestank, ein misstönender Posaunenstoß. Fette Schlote speien selbst jetzt, in tiefer Nacht, feurige Rußfahnen in den Himmel. Längst ist es nicht mehr die Strömung, die uns zieht, sondern die Stadt selbst, ihre Masse verschlingt uns. Gedämpfte Rufe, hier und dort die Stimmen von Tieren, obszönes Dröhnen und Stampfen aus den Fabriken, wo riesige Maschinen brunsten. Bahngleise durchziehen die urbane Anatomie wie hervortretende Adern. Rote Ziegel und schwarze Mauern, ungeschlachte Kirchen wie steinzeitliche Relikte, flatternde zerschlissene Markisen, das kopfsteingepflasterte Labyrinth der Alten Stadt, Sackgassen, Abwassergräben, die wie profane Katakomben durch die Erde schneiden, eine Hügellandschaft aus Müll, Schutthalden, Bibliotheken, gemästet mit vergessenen Folianten, heruntergekommene Hospitäler, Häuserblocks turmhoch, Schiffe und Stahlkrallen, die Lasten aus dem Wasser heben.
Wie konnten wir diese Monstrosität nicht kommen sehen? Welche widrige Beschaffenheit des Geländes erlaubt dem geduckten Ungeheuer, wohlverborgen zu lauern und sich unversehens auf den Reisenden zu stürzen?
Es ist zu spät, um zu fliehen.
Der Mann hinter mir spricht mit gedämpfter Stimme auf mich ein, erklärt mir, wo wir sind.
Ich schaue mich nicht nach ihm um.
Dies ist Raven’s Gate, dieser verwahrloste Ameisenhaufen um uns herum. Die schäbigen Baracken lehnen aneinander, als wären sie müde. Der Fluss schmiert Schleim an seine Ziegelufer, Zwingmauern, errichtet, um das Wasser in Schranken zu halten. Ein widerwärtiger Brodem hängt über allem.
(Ich frage mich, wie dies aus der Luft aussehen mag; unmöglich dann für die Stadt, sich zu verbergen, käme man über sie mit dem Wind, sähe man sie auf Meilen und Meilen voraus, wie einen Schmutzfleck, wie ein Stück Aas, von Maden durchwimmelt – ich sollte nicht so denken, aber ich kann jetzt nicht aufhören, ich könnte mich von den Aufwinden der Schlote tragen lassen, hoch über den stolzen Türmen schweben und auf die Erdgebundenen hinunterscheißen, das Chaos reiten, landen, wo es mir beliebt, ich darf nicht so denken, ich darf es nicht, nicht jetzt, nicht dies, noch nicht.)
Hier dann Häuser, die weißlichen Seim ausschwitzen, ein organischer Verputz, der nackte Fassaden überzieht und aus höher gelegenen Fenstern träuft. Nachträglich aufgesetzte Stockwerke bestehen aus dem kalten weißen Unflat, der Häuserlücken füllt und Sackgassen. Die verschachtelte Backsteinlandschaft liegt weich gerundet unter breiten Wellenzungen und Wächten, als wäre darüber Wachs geschmolzen und langsam wieder erstarrend herabgeträuft. Irgendeine fremdartige Lebensform hat sich in diesen Menschenstraßen eingehaust.
Straff gespannte Taue, befestigt mit milchig ausgehärtetem Qualster, ziehen sich über den Fluss. Sie summen wie Basssaiten. Etwas läuft über unseren Köpfen da oben entlang. Der Schiffer räuspert sich schleimig und speit einen Klumpen Rotz ins Wasser.
Der weißliche Klecks zerfließt. Die Front der Häuser mit ihrer wächsernen Ummantelung dünnt aus. Schmale Straßen öffnen sich.
Ein Zug pfeift, als er auf Brückengleisen vor uns den Fluss überquert. Ich schaue ihm nach, süd- und ostwärts, und sehe die kleine Lichterkette verschwinden, aufgesogen von diesem Nachtland, diesem Moloch, der seine Bewohner frisst. Bald werden wir die Fabriken passieren. Kräne ragen aus dem Düster wie magere Stelzvögel. Einige sind in Bewegung, um die Schauerleute, die Nachtschicht, mit Arbeit zu versorgen. Ketten schlenkern Lasten wie nutzlose Glieder, scheinen lebendig, wo Zahnräder ineinandergreifen und Schwungräder sich drehen.
Plumpe, lauernde Schatten kreisen am Himmel.
Ein Dröhnen, nachhallend, als hätte die Stadt einen hohlen Kern. Der schwarze Kahn tuckert durch ein Geschiebe von seinesgleichen, alle schwer beladen mit Koks und Holz und Eisen und Stahl und Glas. Das Wasser hier reflektiert die Sterne durch einen stinkenden Regenbogen aus Verunreinigungen, Abwässern und chymischem Spülicht, der es beschwert und verfremdet.
(Oh, sich über all das zu erheben, um nicht diesen Unrat, diesen Schmutz, diesen Kot zu riechen, um nicht durch diese Kloake in die Stadt zu gelangen, aber ich muss aufhören, ich muss, ich kann nicht weiter, ich muss.)
Der Motor wird gedrosselt. Ich drehe mich um und betrachte den Mann hinter mir, der den Blick abwendet und steuert und sich den Anschein gibt, durch mich hindurchzusehen. Er bringt uns zum Pier, dort hinter dem Lagerschuppen, dessen Überfülle als ein Labyrinth großer Kisten zwischen den Pfosten nach draußen wuchert. Der Schiffer sucht eine Fahrrinne zwischen den anderen Booten. Aus dem Fluss steigen Dächer. Eine Reihe versunkener Häuser, auf der falschen Seite der Mauer gebaut, im Wasser ans Ufer geschmiegt, ihre geteerten schwarzen Ziegel triefen Nässe. Strudel unter uns, das Wasser brodelt. Tote Fische und Frösche, die den Versuch aufgegeben haben, in dieser Jauche zu atmen, quirlen zwischen der flachen Bordwand des Kahns und dem Betonpier aufgeregt im Wellengekabbel. Die Lücke schließt sich. Mein Schiffer springt an Land und macht fest. Vor Erleichterung brabbelt er vor sich hin; er winkt mich drängend von Bord: Geh deiner Wege, und ich steige aus, langsam, wie auf ein Bett aus glühenden Kohlen, und suche mir einen Weg durch Müll und Scherben.
Er ist glücklich mit den Steinen, die ich ihm gegeben habe. Ich sei in Smog Bend, sagt er mir, und ich zwinge mich, den Blick abzuwenden, als er mir die Richtung weist, damit er nicht merkt, dass ich mich nicht auskenne, dass ich fremd bin in der Stadt, dass ich mich fürchte vor diesen düsteren und bedrohlichen Gebäuden, über die ich mich nicht hinausschwingen kann, dass mir übel ist vor Enge und bösen Ahnungen.
Ein Stück nach Süden hin ragen zwei mächtige Pfeiler aus dem Flussbett. Das Tor zu der Alten Stadt, einst grandios, nun pockennarbig und vom Verfall gezeichnet. Die eingemeißelten Ereignisse aus der Stadtgeschichte, die sich als Reliefband um die Obelisken wanden, wurden ausgelöscht von Zeit und giftiger Luft, und nur schartige spiralige Wülste wie Gewinde alter Schrauben sind geblieben. Dahinter eine niedrige Brücke (Drud Crossing, sagt er). Ich ignoriere seine eifrigen Erklärungen und entferne mich durch diese von Ätzkalk gebleichte Zone, vorbei an gähnenden Türöffnungen, die den Trost echter Dunkelheit versprechen und Zuflucht vor dem Gestank des Flusses. Der Schiffer ist nur mehr eine leise Stimme hinter mir, und es ist eine kleine Freude zu wissen, dass ich ihn nie wiedersehen werde.
Es ist nicht kalt. Im Osten verspricht die Stadt sich selbst einen neuen Morgen.
Ich werde den Gleisen der Hochbahn folgen. Ich werde mich in ihrem Schatten halten, wo sie über die Häuser und Türme und Baracken und Büros und Gefängnisse der Stadt hinwegführen; ich werde mich orientieren an den Streben, die sie in der Erde verankern. Ich muss den Weg ins Herz der Stadt finden.
Mein Umhang (schweres Tuch, ungewohnt und schmerzhaft auf der Haut) zerrt an mir, und ich spüre das Gewicht meiner Börse. Das ist es, was mich hier schützt, das und die Illusion, die ich genährt habe, der Ursprung meines Kummers und meiner Schande, des Schmerzes, der mich in diesen riesigen Horst geführt hat, diese aus Gebein und Stein geträumte Stadt, eine Verschwörung von Industrie und Grausamkeit, getränkt mit Vergangenheit und isolierter Macht, diese Wüste jenseits meiner Vorstellungskraft.
New Crobuzon.
ERSTER TEIL
AUFTRÄGE
1
Hoch über dem Marktplatz sprang ein Fenster auf. Ein Korb flog heraus und in weitem Bogen auf die nichtsahnende Menge hinunter. Mitten im Flug tat er einen Hüpfer, kreiselte und senkte sich, gefährlich pendelnd, ruckweise der Erde entgegen. Das Drahtgeflecht hakelte an der rauen Haut des Gebäudes, scharrte über die Mauer und ließ Farbe und Betonstaub niederrieseln.
Sonnenlicht drang als graues Leuchten durch eine ungleichmäßig dicke Wolkendecke. Unter dem tanzenden Korb reihten sich die Buden und Karren wie aussortiertes Gerümpel. Die Stadt stank. Aber heute war Markttag in Aspic Hole, und der penetrante Brodem aus Kloake und Fäulnis, der über New Crobuzon lagerte, wurde in diesen Stunden bereichert um die Aromen von Paprika und frischen Tomaten, heißem Öl und Fisch und Zimt, Pökelfleisch, Bananen und Zwiebeln.
Die Viktualienstände beanspruchten die gesamte quirlige Länge der Shadrach Street. Selchit Pass, eine Gasse aus vereinzelten Feigenbäumen und bröckelndem Beton ein paar Schritte weiter, war Büchern und Handschriften und Gemälden vorbehalten. Im Süden ergossen sich Töpferwaren die Straße nach Barrackham hinunter; Maschinenteile gab es im Westen, Spielzeug in der einen Quergasse, Kleidung zwischen zwei anderen, und ein reiches Angebot der vielfältigsten anderen Waren füllte sämtliche Durchgänge, Torbogen und Nischen. Die Reihen der diversen Handelsgüter trafen sich mehr oder minder genau in Aspic Hole wie die Speichen eines vielfach gebrochenen Rades.
Dort, in Aspic Hole selbst, waren alle Unterscheidungen aufgehoben. Im Schatten alter Mauern und einsturzgefährdeter Türme wurde Alteisen feilgehalten, angeschlagenes Steingutgeschirr und primitive Tonornamente. Stockfleckige Scharteken. Antiquitäten, Sex, Flohpulver. Zwischen den Buden stapften zischende Konstrukte herum. Bettler bramarbasierten in leer stehenden Gebäuden. Angehörige fremder Rassen erstanden merkwürdige Dinge. Aspic Bazaar: ein grelles Gemisch von Handel, Wandel und Alfanzerei. Hier regierte der Kommerz: Der Käufer sei auf der Hut!
Der Händler unter dem niedersinkenden Korb blickte auf in fahles Sonnenlicht und eine Wolke Ziegelstaub. Er rieb sich die Augen. Er griff nach dem abgewetzten Ding über seinem Kopf und zog an der Schnur, woran es befestigt war, bis sie schlaff wurde. In dem Korb lagen ein kupferner Schekel und ein Blatt Papier mit sorgfältig gezeichneten, verschnörkelten Lettern. Der Händler kratzte sich an der Nase, während er den Zettel studierte. Er kramte in seinen aufgehäuften Waren, legte Eier und Obst und Wurzelgemüse in den Korb und schaute zwischendurch immer wieder auf die Liste. Bei einem Posten stutzte er, las zweimal, grinste und schnitt ein Stück Schweinefleisch ab. Zu guter Letzt steckte er den Schekel in die Tasche und zählte Wechselgeld ab, überschlug kurz seine Lieferkosten und tat endlich vier Heller zu den Lebensmitteln.
Er wischte sich die Hände an der Hose ab und überlegte einen Moment, dann kritzelte er mit einem Stummel Holzkohle ein paar Worte auf den Einkaufszettel und warf ihn zu den Münzen.
Er zog dreimal an der Schnur, und der Korb begann seine zuckelnde Reise in die Höhe. Vom Stimmengetöse getragen, stieg er über die Dächer benachbarter, niedrigerer Häuser, scheuchte die in dem leeren Stockwerk beheimateten Dohlen auf und zeichnete eine neue Schlängelspur zu den vielen bereits vorhandenen an die Mauer, bevor er wieder in dem Fenster verschwand, aus dem er zum Vorschein gekommen war.
Isaac Dan dar Grimnebulin begriff allmählich, dass er träumte. Zu seinem maßlosen Erstaunen hatte er sich wieder als Dozent an der Universität bestallt gefunden, wo er vor einer großen Tafel auf und ab marschierte, die mit fahrigen Darstellungen von Hebeln und Kräften und Spannungen übersät war. Elementare Materielle Wissenschaft. Isaac schaute betrübt auf die Reihen seiner Schüler, als dieser schmierige Bastard Vermishank den Kopf zur Tür hereinsteckte.
»Ich kann diese Klasse nicht unterrichten«, flüsterte Isaac laut. »Der Lärm da draußen …« Er zeigte auf das Fenster.
»Schon in Ordnung.« Vermishank war verständnisvoll und widerlich. »Zeit fürs Frühstück«, sagte er. »Das wird Sie von dem Krach ablenken.« Auf diese absurde Bemerkung hin warf Isaac ungeheuer erleichtert den Schlaf von sich ab. Die lärmende Profanität des Basars und die Küchengerüche begleiteten ihn in den neuen Tag.
Er blieb mit geschlossenen Augen breit auf dem Bett liegen, hörte Lin durchs Zimmer gehen und spürte das leichte Schwingen der Dielen unter ihren Schritten. Die Dachkammer war erfüllt von beißendem Rauch. Isaac lief das Wasser im Mund zusammen.
Lin klatschte zweimal in die Hände. Sie merkte, wenn Isaac wach war. Vielleicht daran, dass er den Mund zuklappte, dachte er und gluckste mit geschlossenen Augen in sich hinein.
»Och, nur noch ein Viertelstündchen«, wimmerte er und kuschelte sich ein wie ein Kind. Lin klatschte noch einmal, verachtungsvoll, und entfernte sich.
Ächzend rollte Isaac sich herum.
»Zankteufel!«, jammerte er hinter ihr her. »Beißzange! Furie! Schon gut, schon gut, du gewinnst, du … äh … Virago, du Feuer spuckendes …« Er rieb sich den Kopf und setzte sich einfältig grinsend auf. Lin antwortete, ohne sich umzudrehen, mit einer obszönen Geste.
Sie stand mit dem Rücken zu ihm nackt am Herd und wich eben jetzt tänzelnd zurück, als heißes Fett aus der Pfanne spritzte. Die Decke rutschte von der Wölbung von Isaacs Bauch. Er war ein Luftschiff, groß und fest im Fleisch und stark. Üppig sprießendes graues Haar bedeckte seinen Körper.
Lin war unbehaart. Unter ihrer roten Haut zeichneten sich die Muskelstränge ab, jeder einzelne deutlich definiert. Sie war ein anatomischer Atlas. Isaac betrachtete sie mit lustvollem Vergnügen.
Sein Hintern juckte. Er langte unter die Decke und kratzte sich, schamlos und genießerisch wie ein Hund. Etwas zerplatzte unter seinem Fingernagel, und er zog die Hand hervor, um nachzusehen. Ein winziges, halb zerquetschtes Würmchen wedelte hilflos an seiner Fingerspitze. Es war ein Refflick, ein harmloser kleiner Parasit der Khepri. Meine Säfte müssen für das Viechlein ziemlich verwirrend gewesen sein, dachte Isaac und befreite sich mit einem Fingerschnippen.
»Refflick, Lin«, sagte er. »Badezeit.«
Lin stampfte gereizt mit dem Fuß auf.
New Crobuzon war eine Brutstätte für Krankheiten, ein Seuchenpfuhl; Parasiten, Infektionen und Gerüchte ließen sich nicht an der Ausbreitung hindern. Ein monatliches chymisches Bad war für die Khepri unverzichtbare Prophylaxe, wenn sie von Juckreiz und Ausschlag verschont bleiben wollten.
Lin ließ den Inhalt der Pfanne auf einen Teller gleiten und stellte ihn hin, ihrem eigenen Frühstück gegenüber. Sie setzte sich und winkte Isaac, an den Tisch zu kommen. Er rutschte aus dem Bett, kam schlurfend heran und ließ sich, möglicher Splitter eingedenk, vorsichtig auf dem kleinen Stuhl nieder.
Er und Lin saßen sich nackt an dem einfachen Holztisch gegenüber. Isaac war sich des Szenarios bewusst, wie ein unbeteiligter Dritter es sehen würde. Es gäbe ein schönes, ein seltsames Bild, dachte er. Eine Dachkammer, Staubkörnchen im Licht des kleinen Fensters, Bücher und Blätter und Gemälde ordentlich gestapelt neben billigen Möbeln aus Holz. Ein dunkelhäutiger Mann, groß und nackt und umfangreich, Messer und Gabel in der Hand, unnatürlich regungslos einer Khepri gegenübersitzend, deren graziler Frauenkörper im Schatten lag, mit dem chitingepanzerten Kopf en profil.
Über die Teller hinweg schauten sie sich einen Moment an. Lin zeigte: Guten Morgen, Liebster. Dann begann sie zu essen, ohne den Blick von ihm abzuwenden.
Wenn sie aß, manifestierte sich Lins Andersartigkeit am deutlichsten, ihre gemeinsamen Mahlzeiten waren ein Prüfstein und eine Bestätigung. Während Isaac sie beobachtete, fühlte er die vertraute Dreierfolge von Emotionen: Ekel, augenblicklich überwunden, Stolz auf das Überwinden, schuldbewusstes Verlangen.
Licht glitzerte in Lins Facettenaugen. Ihre Kopfbeine bebten. Sie nahm eine halbe Tomate, ergriff sie mit ihren Mandibeln und ließ die Hände sinken, während ihre Mundwerkzeuge die Speisen zerkauten, die ihre äußeren Kiefer festhielten.
Isaac schaute zu, wie der große, schillernde Skarabäus, den seine Liebste als Kopf trug, das Frühstück verzehrte.
Er schaute zu, wie sie schluckte, sah die Kehle sich wölben, wo der gerippte Käferbauch nahtlos in den menschlichen Hals überging – nicht, dass sie diese Beschreibung akzeptiert hätte. Menschen haben Leib, Beine und Hände der Khepri und den Kopf eines rasierten Affen, hatte sie einmal zu ihm gesagt.
Er lächelte, ließ das Stück Bratenfleisch vor seinem Mund baumeln, schlürfte es mit der Zunge ein und wischte die fettigen Finger an der Tischkante ab. Er lächelte sie an. Sie wedelte mit den Kopfbeinen und signalisierte ihm: Mein kleines Monster.
Ich bin pervers, dachte Isaac, und sie ist es ebenfalls.
Unterhaltungen beim Frühstück verliefen zumeist einseitig: Lin hatte, während sie aß, die Hände frei, um Zeichen zu geben, doch Isaacs Versuche, gleichzeitig zu reden und zu essen, erbrachten lediglich unverständliche Lautäußerungen und Krümelfontänen. Stattdessen lasen sie; Lin eine Künstlerzeitung, Isaac alles, was sich in Reichweite befand. Zwischen einzelnen Bissen griff er wahllos nach Büchern und Blättern und merkte, dass er Lins Einkaufszettel studierte. Der Posten ein Fingerbreit Schweinefleisch war eingekreist, und unter ihrer exquisiten Schönschrift stand eckig hingekritzelt die Frage: Haben wir Besuch? Endlich ein heißes Würstchen für meinen Appetithappen!!!
Isaac schwenkte den Zettel hin und her. »Was erdreistet sich der alte Schmutzfink?«, raunzte er und versprühte Halbzerkautes. Seine Entrüstung war belustigt, aber dennoch echt.
Lin las und zuckte die Schultern.
Weiß, dass ich kein Fleisch esse. Weiß, ich habe einen Gast zum Frühstück. Zweideutigkeit von »Würstchen«.
»Recht herzlichen Dank, Liebste, das habe ich verstanden. Woher weiß er, dass du Vegetarierin bist? Gönnt ihr euch öfter so ein witziges Geplänkel?«
Lin starrte ihn einen Moment an, ohne zu antworten.
Weiß es, weil ich kein Fleisch kaufe. Sie schüttelte den Kopf über die dumme Frage. Keine Sorge, Geplänkel nur auf Papier. Weiß nicht, dass ich Kerfe bin.
Ihre absichtliche Verwendung des Schimpfworts ärgerte Isaac. »Verdammt, ich wollte nicht andeuten …«
Lins kippelnde Handbewegung war das Äquivalent einer hochgezogenen Augenbraue. Isaac heulte erbost. »Gottschiet, Lin! Nicht alles, was ich sage, hat mit Angst vor Entdeckung zu tun!«
Isaac und Lin waren seit fast zwei Jahren ein Paar. Sie hatten von Anfang an vermieden, allzu genau über die Regeln ihrer Beziehung nachzudenken, aber je länger sie zusammen waren, desto schwieriger wurde es, diese Strategie der Verdrängung aufrechtzuerhalten. Ungestellte Fragen stiegen an die Oberfläche. Unschuldige Bemerkungen und schiefe Blicke Dritter, ein zu langes Beisammenstehen in der Öffentlichkeit – die Notiz eines Kaufmanns –, alles gemahnte daran, dass sie in gewisser Weise ein Geheimnis lebten. Alles wurde dadurch kompliziert.
Sie hatten nie ausdrücklich gesagt: Wir sind ein Liebespaar. Deshalb hatten sie auch nie ausdrücklich sagen müssen: Wir werden nicht allen von unserer Beziehung erzählen, vor einigen werden wir sie geheim halten. Doch in stillschweigendem Einverständnis taten sie genau das.
Seit einiger Zeit gab Lin immer wieder zu verstehen, mit schnippischen und beißenden Bemerkungen, dass Isaacs Weigerung, sich zu ihr zu bekennen, im besten Fall Feigheit sei, schlimmstenfalls bigott. Dieser Mangel an Verständnis ärgerte ihn. Schließlich hatte er seine engeren Freunde in die Art ihrer Beziehung eingeweiht, genau wie Lin die ihren. Und für sie war alles viel, viel einfacher.
Sie war Künstlerin. Ihr Kreis waren die Libertinisten, die Mäzene und die Mitläufer, Bohemiens und Schmarotzer, Poeten und Kritiker und künstlerisch legitimierte Junkies. Sie ergötzten sich am Skandalösen und dem Outré. In den Teestuben und Bars von Salacus Fields waren Lins Eskapaden – genussvoll angedeutet, nie geleugnet, nie präzisiert – das Thema anzüglicher Plaudereien und Gerüchte. Ihr Liebesleben war Avantgarde, ein Art-Happening wie Concrete Music in der vergangenen Saison oder ’Snot Art! im Jahr davor.
Und ja, Isaac verstand sich auf das Spiel. Er war bekannt in dieser Welt, aus Zeiten lange vor seinem Verhältnis mit Lin. Immerhin war er der wissenschaftliche Renegat, der unangepasste Denker, der einer lukrativen Professur den Rücken gekehrt hatte, um sich Experimenten zu widmen, die für die beschränkten Geister an der Universität zu extravagant und spektakulär waren. Was scherten ihn Konventionen? Er schlief mit wem oder was ihm beliebte, basta!
Derart war sein Image in Salacus Fields, wo seine Beziehung zu Lin ein offenes Geheimnis war, wo er es genoss, nicht Versteck spielen zu müssen, wo er ihr in den Bars den Arm um die Schultern legte und ihr Pikanterien zuflüsterte, während sie Zuckerkaffee aus einem Schwamm saugte. Das war seine Version, und sie entsprach wenigstens zur Hälfte der Wahrheit.
Isaac hatte vor zehn Jahren die Universität verlassen, richtig, aber nur, weil er zu seiner Bestürzung einsehen musste, dass er nicht zum Lehrer taugte.
Er hatte in die ihm zugewandten verwirrten Gesichter geblickt, dem hektischen Kritzeln der überforderten Studenten gelauscht und begriffen, dass er mit einem Verstand, der allein Lust und Laune gehorchend durch die Korridore der Theorie koppheisterte, zwar selbst lernen konnte, das Wissen aber nicht weiterzugeben vermochte. Er hatte beschämt sein Haupt verhüllt und die Flucht ergriffen.
Als weitere Abweichung von der Fama handelte es sich bei seinem Dekan, dem alterslosen Unsympathen Vermishank, nicht um einen stumpfsinnigen Epigonen, sondern um einen Biothaumaturgen von hohen Graden, der Isaacs Forschungen weniger deshalb einen Riegel vorgeschoben hatte, weil sie unorthodox waren, sondern weil sie nirgends hinführten. Isaac konnte brillant sein, aber ihm fehlte Disziplin. Vermishank hatte ihn zappeln lassen wie einen Fisch an der Angel, bis er darum bettelte, als freischaffender Mitarbeiter tätig sein zu dürfen, für ein Butterbrot, aber mit beschränktem Zugang zu den Forschungseinrichtungen der Universität.
Und das – dieser bescheidene Posten! – war der Grund für die Zurückhaltung Isaacs, was sein Liebesleben anging.
Dieser Tage war seine Beziehung zur Universität nur mehr eine Pro-forma-Angelegenheit. Im Lauf von zehn Jahren hatte er sich nach und nach ein eigenes, bestens ausgestattetes Labor zusammenstibitzt; seine Einkünfte stammten größtenteils aus den dubiosen Aufträgen von New Crobuzons weniger respektierlichen Bürgern, deren Bedarf an raffinierten wissenschaftlichen Tüfteleien ihn immer wieder in Erstaunen versetzte.
Doch Isaacs Forschungen – über all die Jahre hinweg unverändert in ihren Zielen – konnten nicht in einem Vakuum gedeihen. Er musste publizieren. Er musste debattieren. Er musste argumentieren, an Konferenzen teilnehmen – als der rebellische Sohn. Ein Renegat zu sein brachte durchaus Vorteile mit sich.
Jedoch kokettierte die Akademie nicht nur mit ihrer konservativen Haltung. Erst seit zwanzig Jahren waren xenomorphe Studenten als Doktoranden zugelassen. Sich offen zu einer Spezies-überschreitenden Liaison zu bekennen, war der sicherste Weg, sich ins akademische Aus zu manövrieren – und nicht zu vergleichen mit dem Böse-Buben-Image, das er bewusst vor sich hertrug. Was er fürchtete, war nicht so sehr, dass die Herausgeber der Journale und die Komitees und die Verleger von ihm und Lin erfahren könnten. Er fürchtete, man könnte ihn dabei ertappen, dass er sich nicht genügend Mühe gab, diese Mesalliance geheim zu halten. Solange er sich der angemessenen Diskretion befleißigte, konnte man ihm nicht vorwerfen, sich gesellschaftlich unmöglich gemacht zu haben.
Was Lin partout nicht einsehen wollte.
Du versteckst uns, damit du Artikel für Leute schreiben kannst, die du verachtest, hatte sie ihm einmal nach einer Liebesnacht zu verstehen gegeben.
In Phasen der Missstimmung fragte Isaac sich, was sie wohl tun würde, wenn die Kunstwelt drohte, über sie ein Scherbengericht abzuhalten.
An diesem Morgen konnte das Liebespaar den aufkeimenden Streit ersticken, mit Scherzen und Entschuldigungen und Schmeicheleien und Lust. Isaac lächelte Lin an, als er sich in sein Hemd kämpfte und ihre Kopfbeine sinnlich wedelten.
»Was hast du heute für Pläne?«, fragte er.
Gehe nach Kinken. Brauche Färberbeeren. Gehe zu Ausstellung in Howl Barrow. Arbeite heute Nacht, fügte sie bedeutungsvoll hinzu.
»Dann steht zu vermuten, dass ich dich eine Zeit lang nicht zu Gesicht bekommen werde?« Isaac grinste. Lin schüttelte den Kopf. Isaac zählte an den Fingern Tage ab. »Hm … wie wäre es mit Abendessen im Glock’ und Gockel am – warte mal – am Schontag? Um acht Uhr?«
Lin überlegte. Sie hielt seine Hände, während sie nachdachte.
Großartig, gab sie ihm zu verstehen. Sie ließ offen, ob sie das Essen meinte oder Isaac.
Sie versenkten die Teller und Töpfe in dem Eimer mit kaltem Wasser in der Ecke und ließen sie einweichen. Als Lin ihre Notizen und Skizzen sammelte, um zu gehen, zog Isaac sie sanft zu sich aufs Bett. Er küsste ihre warme, rote Haut. Sie drehte sich in seinen Armen, stützte sich auf einen Ellenbogen, und während ihre Kopfbeine sich spreizten, teilte sich langsam der dunkle Rubin ihres Rückenpanzers. Aus dem Schatten der beiden weit geöffneten, leicht vibrierenden Chitinschalen entfalteten sich ihre wunderschönen, nutzlosen kleinen Käferflügel.
Sie zog seine Hand heran, forderte ihn auf, die zerbrechlichen Gebilde zu streicheln, vollkommen preisgegeben, unvergleichliche Geste des Vertrauens und der Liebe bei den Khepri.
Die Luft zwischen ihnen knisterte. Isaacs Schwanz wurde steif.
Er strich mit den Fingerspitzen an den verzweigten Adern der leise bebenden Flügel entlang, beobachtete, wie das hindurchscheinende Licht sich in Perlmuttglanz verwandelte.
Mit der anderen Hand schob er ihren Rock hoch, ließ die Finger an ihrem Schenkel hinaufgleiten. Ihre Beine öffneten sich um seine Hand und schlossen sich, klemmten sie ein. Er raunte unzüchtige und liebevolle Aufforderungen.
Über ihnen wanderte die Sonne am Himmel hinauf, sandte Schatten des Fensterkreuzes und ruhelos ziehender Wolken durchs Zimmer. Die Liebenden merkten nichts davon, wie die Zeit verging.
2
Es wurde elf, bevor sie sich voneinander lösten. Nach einem Blick auf seine Taschenuhr stolperte Isaac durchs Zimmer und suchte seine Kleidungsstücke zusammen, in Gedanken schon bei der Arbeit. Lin ersparte ihnen das peinliche Hin und Her, das unweigerlich entbrannte, wenn sie zusammen das Haus verließen. Sie beugte sich vor und streichelte mit den Fühlern Isaacs Rücken, was ihm eine Gänsehaut verursachte. Dann ging sie aus der Tür, während er sich noch mit seinen Stiefeln abmühte.
Ihre Wohnung lag im neunten Stock. Lin stieg die Treppe hinunter, vorbei an der einsturzgefährdeten achten Etage, der siebten, mit dem Teppich aus Vogelkot und dem leisen Dohlengeplapper; vorbei an der alten Dame im sechsten Stock, die nie herauskam, und weiter nach unten, vorbei an kleinen Taschendieben und Stahlarbeitern und Botenmädchen und Messerschleifern.
Die Haustür befand sich auf der Aspic Hole abgewandten Seite des Gebäudes. Lin trat in eine stille Gasse hinaus, ein bloßer Durchgang zu den Ständen des Basars.
Sie wandte sich in die dem Stimmengewirr und dem Schacher entgegengesetzte Richtung und schlug den Weg zu den Gärten von Sobek Croix ein. An ihrem Tor warteten immer reihenweise Droschken. Sie wusste, einige der Fahrer (meistens die Remade) waren so tolerant oder verzweifelt, dass sie Khepri als Kundschaft akzeptierten.
Je näher sie dem Rand des Viertels kam, desto schäbiger wurde die Gegend. In Richtung Süd-Westen ging es jetzt leicht bergan, die Baumwipfel von Sobek Croix wuchsen wie Rauchwolken über die Firste der verwahrlosten Behausungen ringsum. Dahinter erhob sich die gedrungene Hochhaussilhouette von Ketch Heath.
Lins gewölbte Facettenaugen sahen die Stadt als gebrochene visuelle Kakophonie. Eine Million winzige Teile des Ganzen, jedes winzige Hexagon Vermittler präziser Farben und noch präziserer Linien, empfindlich für die geringfügigsten Helligkeitsunterschiede, aber weniger geeignet für die Wahrnehmung kleinerer Einzelheiten – solange sie sich nicht so angestrengt konzentrierte, dass es schmerzte. In jedem einzelnen Segment waren die toten Schuppen abblätternder Mauern für sie unsichtbar, Architektur reduziert auf Farbausschnitte. Trotzdem erzählten diese Mosaiksteine eine komplexe Geschichte. Jedes visuelle Fragment, jedes Teilchen, jede Form, jede Farbabstufung unterschied sich von der Umgebung in subtilen Nuancen, die Lin Aufschluss über den Zustand der gesamten Struktur vermittelten. Zusätzlich schmeckte sie Chymikalien in der Luft, konnte sagen, wie viele Angehörige welcher Rasse in welchem Gebäude lebten; die Fähigkeit, Schwingungen exakt zu registrieren und zu interpretieren, half ihr, sich in einem vollen Raum zu unterhalten oder zu spüren, wenn oben an der Hochbahn ein Zug entlangfuhr.
Lin hatte Isaac zu beschreiben versucht, wie sie die Stadt wahrnahm.
Ich sehe ebenso deutlich wie du, deutlicher. Für dich ist das Bild undifferenziert. In einer Ecke ein Elendsviertel, in einer anderen ein Zug mit glänzenden Kolben, in der nächsten eine grell geschminkte Frau unter einem alten, verwitterten Luftschiff – das alles musst du auf einmal verarbeiten. Chaos! Verrät dir nichts, widerspricht sich selbst, verändert seine Aussage. Fürmich besitzt jedes winzige Teilchen Integrität, jedes minimal verschieden vom anderen, bis alle Variationen erfasst sind, additiv und rational.
Isaacs Faszination hielt anderthalb Wochen an. Er machte, wie für ihn typisch, seitenweise Notizen, vertiefte sich in Bücher über die visuelle Wahrnehmung von Insekten und unterwarf Lin ermüdenden Experimenten in Weitsehen und Tiefenwahrnehmung und Lesen. Letzteres beeindruckte ihn am stärksten, da er aus Erfahrung wusste, dass es ihr nicht leichtfiel; sie musste sich konzentrieren wie ein Mensch mit stark eingeschränktem Sehvermögen.
Sein Interesse war bald wieder abgeflaut. Der menschliche Verstand war unfähig, diese Art des Sehens zu erfassen.
Lin wanderte durch das Gewimmel der Gauner und Tagediebe von Aspic, die ausschwärmten, um ein paar Schekel zu ergattern, mit Stehlen oder Betteln oder Verramschen oder dem Durchwühlen der Abfallhaufen, die sich in Abständen am Straßenrand türmten. Kinder schleppten rätselhafte Gebilde aus zusammengeschraubten Maschinenteilen. Gelegentlich schritten naserümpfend »bessere« Herrschaften fürbass, auf dem Weg nach irgendwo anders.
Lins Pantoletten waren bespritzt mit dem organischen Unrat der Straße, reiche Nahrungsquelle für die scheuen Geschöpfe, die aus Abwasserrohren lugten. Die Häuser links und rechts waren hoch, mit flachem Dach, Bretterstege überbrückten die Schluchten dazwischen. Fluchtwege, Abkürzungen: das Straßennetz der Dächerwelt über New Crobuzon.
Nur sehr wenige Kinder riefen ihr Schimpfnamen hinterher. Man war hier an Xenomorphe gewöhnt. Lin schmeckte die kosmopolitische Zusammensetzung des Viertels, die Ausdünstungen einer Vielzahl von Spezies, von denen sie einige zu identifizieren vermochte. Da war der Moschusgeruch anderer Khepri, die schale Bilge der Vodyanoi, und irgendwo das fruchtige Aroma von Kakteen.
Lin erreichte den gepflasterten Boulevard rund um Sobek Croix. Eine lange Reihe Droschken warteten entlang des eisernen Zauns, für jeden Geschmack und Anspruch etwas: zweirädrig, vierrädrig, bespannt mit Pferden, hochmütigen Pteravögeln, mit dampfschnaufenden Konstrukten auf Gleisketten und einige sogar mit Remade – unglücklichen Männern und Frauen, die sowohl Kutscher waren als auch Kutsche.
Lin blieb stehen und winkte. Zu ihrer Erleichterung trieb gleich der vorderste Kutscher seinen störrisch wirkenden Ptera heran.
»Wohin?« Der Mann beugte sich vor und las die ausführlichen Informationen, die sie auf ihren Notizblock kritzelte. »Klaro«, sagte er und bedeutete ihr mit einer Kopfbewegung einzusteigen.
Die Droschke war ein vorn offener Zweisitzer, der Lin während der Fahrt einen Ausblick auf den südlichen Teil der Stadt ermöglichte. Der wippende, wiegende Lauf des Ptera übertrug sich durch die Räder als ein angenehmes Schaukeln auf den Wagen. Sie lehnte sich zurück und überlas ihre Anweisungen für den Fahrer.
Isaac wäre dagegen. Sehr dagegen.
Lin brauchte Färberbeeren, und sie fuhr deswegen nach Kinken – wie sie gesagt hatte. Und einer ihrer Freunde, Cornfed Daihat, veranstaltete tatsächlich eine Vernissage in Howl Barrow.
Doch ohne sie.
Sie hatte schon mit Cornfed gesprochen und ihn gebeten, ihre Anwesenheit zu bestätigen, sollte Isaac ihn fragen (höchst unwahrscheinlich, aber sie wollte sichergehen). Cornfed war entzückt gewesen, schleuderte dramatisch die weiße Haarmähne aus dem Gesicht und beschwor die ewige Verdammnis auf sich herab, sollte ihm auch nur ein Sterbenswort entschlüpfen. Er dachte natürlich, sie hätte noch einen zweiten Liebhaber und betrachtete es als Privileg, Teil dieser neuen Wendung ihres bereits skandalösen Liebeslebens zu sein.
Lin konnte nicht zu seiner Ausstellung kommen. Sie hatte einen anderen Termin.
Die Droschke näherte sich dem Fluss. Lin schwankte, als die hölzernen Räder über ein neues Muster aus Pflastersteinen holperten. Sie waren in die Shadrach Street eingebogen. Der Markt lag jetzt südlich von ihnen; sie befanden sich oberhalb des Punktes, wo Gemüse und Schellfisch und überreifes Obst den Abschluss bildeten.
Voraus blähte sich feist der Flyside-Milizturm über den niedrigen Häuserzeilen. Ein massiger, schmutziger, klobiger Vierkant, plump und ungeschlacht trotz seiner 35 Stockwerke. Schmale Fenster wie Schießscharten durchsetzten das Mauerwerk, die dunklen Scheiben entspiegelt, blind. Der Betonputz des Turms war fleckig und bröckelte. Drei Meilen weiter nördlich konnte Lin ein noch höheres Bauwerk erspähen: das Hauptquartier der Miliz, der Spike, der im Herzen der Stadt martialisch aus der Erde stach.
Lin reckte den Hals. Ein halb gefülltes Luftschiff schwappte obszön über die Dachkanten des Flyside-Turms. Es wogte und wallte und wälzte sich wie ein sterbender Wal. Lin konnte das Summen der Motoren spüren, die sich bemühten, es in die stumpfgrauen Wolken zu heben.
Ein neues Geräusch näherte sich, ein durchdringendes Sirren überlagerte das sonore Brummen des Luftschiffs. Irgendwo ganz nah vibrierte ein Stützpfeiler, und eine Milizgondel schoss nordwärts in halsbrecherischem Tempo auf den Turm zu.
Hoch, hoch oben flog sie dahin, der Gleistrosse folgend, die von Norden nach Süden durch die Spitze des Turms führte wie ein Draht durch das Öhr einer gigantischen Nadel. Die Gondel prallte gegen die Puffer, wurde schlagartig abgebremst und kam zum Halten. Personen stiegen aus, aber die Droschke fuhr weiter, bevor Lin Einzelheiten erkennen konnte.
Zum zweiten Mal an diesem Tag schwelgte sie in den fruchtigen Ausdünstungen der Kaktusleute, als der Ptera in Richtung des Gewächshauses von Riverskin trabte. Vertrieben aus diesem klösterlichen Sanktuarium (die geschweiften, kunstvoll gestalteten Seiten der steilen Glaskuppel funkelten im Osten, im Zentrum des Viertels), verachtet von ihren Eltern, lehnten Cliquen von Kaktusteens an verrammelten Gebäuden und billigen Plakatwänden. Sie spielten mit Messern. In ihr Stachelkleid waren aggressive Muster rasiert, die sattgrüne Haut furchten Narben bizarrer Selbstverstümmelung.
Sie beäugten die Droschke ohne eine Spur von Interesse.
Abrupt ging es steil abwärts, hinunter ins Flusstal, wo die Shadrach Street sich unter anderen Namen verzweigte. Lin und ihrem Fahrer bot sich ein ungehinderter Ausblick auf die grauen, schneefleckigen Schroffen der Bergkette, die in kalter Großartigkeit westlich der Stadt aufragte.
Vor ihnen strömte der Tar einher.
Gedämpfte Schreie und das Wummern von Maschinen tönten aus dunklen Fensterhöhlen in der gemauerten Uferbefestigung, einige davon unterhalb der Hochwassermarke: Verliese und Folterkammern und Werkstätten nebst ihren Bastardhybriden, den Korrekturfabriken, wo aus Verurteilten Remade wurden. Lastkähne wühlten sich mit hustendem Motor durch das schwarze Wasser.
Die Pfeiler der Nabob Bridge kamen in Sicht. Und dahinter, Schindeldächer hochgezogen wie frierende Schultern, bröcklige Mauern vor dem Einsturz bewahrt von Strebepfeilern und Käfermörtel, ballte sich unter der Glocke eines unverwechselbaren Gestanks das Chaos namens Kinken.
In der Alten Stadt jenseits des Flusses waren die Straßen schmaler, düsterer. Der Ptera stelzte widerwillig vorbei an Häusern mit dem spezifischen Überzug aus dem hart gewordenen Exkret der Larve des Mörtelkäfers. Khepri krabbelten aus Fenstern und Türen der umgestalteten Häuser; sie bildeten hier die Mehrheit, dies war ihr Viertel. Überall sah man ihre Frauenleiber, ihre Insektenköpfe. Sie standen in grottenähnlichen Hauseingängen zusammen und naschten an Früchten.
Sogar der Droschkenfahrer konnte ihre Gespräche schmecken: Die Luft war erfüllt von der feinen Säure chymischer Kommunikation.
Ein organisches Etwas barst schmatzend unter den Rädern. Ein Männchen wahrscheinlich, dachte Lin schaudernd und hatte das Bild der hirnlosen Kriecher vor Augen, die in Kinken scharenweise aus Löchern und Ritzen quollen. Weg mit Schaden!
Vor einem niedrigen Torbogen, von dem Stalaktiten aus Käfermuzin herabwuchsen, scheute der Ptera und weigerte sich weiterzugehen. Lin tippte den Kutscher an, der an den Zügeln riss. Sie warf rasch ein paar Worte auf ihren Block und hielt ihn hoch.
Vogel unruhig. Warte hier, in fünf Minuten zurück.
Er nickte dankbar und streckte die Hand aus, um ihr beim Aussteigen zu helfen; dann bemühte er sich wieder, seinen störrischen Vogel in die Hand zu bekommen.
Lin stand nach wenigen Schritten auf Kinkens Marktplatz. Das weißliche Muzin, das von den Dächern troff, hatte die Straßenschilder an den Ecken des Platzes ausgespart, aber der Name, der darauf stand – Aldelion Place –, war seit Langem nicht mehr in Gebrauch. Auch die wenigen Menschen und sonstigen Nicht-Khepri, die im Viertel lebten, gebrauchten den neueren Khepri-Namen, übersetzt aus dem Zischen und chlorigen Rülpser der Ursprungssprache: Platz der Statuen.
Eine große freie Fläche, begrenzt von baufälligen, etliche hundert Jahre alten Häusern. Die krummschiefe Architektur duckte sich im Schatten der wuchtigen grauen Masse eines weiteren Milizturms im Norden. Dächer winkelten unglaublich steil und niedrig; Fenster waren schmutzig und mit obskuren Mustern bemalt. Sie konnte das leise therapeutische Summen von Ammenkhepri in ihren Stationen hören. Süßer Rauch waberte über der Menge: Khepri, überwiegend, doch vereinzelt auch Angehörige anderer Rassen, die gekommen waren, um die Statuen zu besichtigen. Diese beherrschten den Platz: viereinhalb Meter hohe Figuren von Tieren und Pflanzen und monströsen Kreaturen, teils wirklich, teils der Fantasie entsprungen, ausgeführt in leuchtend buntem Khepri-Spei.
Sie repräsentierten viele Stunden gemeinschaftlicher Arbeit. Tagelang hatten Khepri-Frauen in Gruppen Rücken an Rücken gestanden, Paste und Färberbeeren gekaut, verdaut und dann durch die Drüsen an der Hinterseite ihrer Käferköpfe das zähe (und irreführend benannte) Khepri-Spei ausgeschieden, das an der Luft etwa innerhalb einer Stunde zu glatter, spröder, opalisierender Brillanz aushärtete.
Für Lin repräsentierten die Statuen Hingabe und Gemeinsinn und verkümmerte Kreativität, die sich aus einem Fundus albern-heroischer Großartigkeit bediente. Das war der Grund, weshalb sie ihre Kunst allein lebte und aß und spie.
Lin ging an den Obst- und Gemüseläden vorbei, an den handgemalten Schildern, die in ungelenken Lettern Mörtellarven zum Verleih anboten, und den Kunsttauschzentren mit allen Utensilien für den Khepri-Sekretkünstler.
Andere Khepri starrten sie an. Sie trug einen langen bunten Rock im Stil von Salacus Fields: Menschenmode, nicht die traditionellen weitgebauschten Pantalons dieser Ghettobewohner. Lin war gebrandmarkt. Sie war eine Ausgestoßene. Hatte ihre Schwestern verlassen, ihren Clan.
Verdammt richtig, dachte Lin und schwenkte trotzig ihren grünen Rock.
Sie kannte die Speihändlerin, und sie begrüßten sich höflich mit einer kurzen Berührung der Fühlerspitzen.
Lin musterte die Regale. Das Innere des Ladens war mit Larvenmörtel ausgekleidet, der sich sorgfältiger als üblich über die Wände kräuselte und die Ecken abrundete. Die Speiwaren reihten sich im Schein von Gaslampen auf Regalen, die wie Knochen aus dem organischen Putz ragten. Die Fenster waren geschmackvoll mit dem Saft verschiedener Färberbeeren bestrichen und sperrten das Tageslicht aus.
Lin eröffnete die Verhandlungen, schnalzte, gestikulierte mit den Fühlern und versprühte kleine Duftsignale. Sie übermittelte ihren Wunsch nach Scharlachbeeren, Cyanbeeren, Schwarzbeeren, Opalbeeren und Purpurbeeren. Sie schloss mit einem Hauch der Bewunderung für die hohe Qualität der Waren der Händlerin.
Lin nahm ihre Einkäufe und machte sich hastig auf den Rückweg.
Die in Kinken herrschende Atmosphäre frömmelnden Gemeinsinns verursachte ihr Übelkeit.
Die Droschke wartete, sie sprang hinein, zeigte nach Nordosten und drängte den Kutscher zur Eile.
Redwing Schwarm, Catskull Clan, dachte sie benommen. Ihr selbstgerechten Priesterinnen des Großen Ehedem, ich erinnere mich an alles! Euer endloses Geschwafel von Gemeinschaft und dem großen Khepri-Schwarm, während die »Schwestern« drüben in Creekside nach vergessenen Kartoffeln graben. Was seid ihr denn schon, umgeben von Fremden, die euch Kerfen schimpfen, eure Kunstwerke billig kaufen und euch bei den Lebensmittelpreisen bluten lassen. Aber weil es andere gibt, die noch weniger haben, ernennt ihr euch selbst zu Bewahrern des Khepri-Erbes. Ich bin draußen. Ich ziehe mich an, wie ich will. Meine Kunst gehört mir.
Sie atmete leichter, als der Geruch und der Larvenmörtel hinter ihr zurückblieben und die einzigen Khepri unter den Passanten Ausgestoßene waren wie sie.
Die Droschke rollte unter den Arkaden der Spit Bazaar Station hindurch, als oben gerade ein Zug entlangheulte wie ein dampfbetriebenes, trotziges Riesenkind. Er war unterwegs in das Herz der Alten Stadt. Abergläubische Vorsicht veranlasste Lin, die Droschke in Richtung Barguest Bridge zu dirigieren. Ein Umweg, aber die günstiger gelegene Brücke über den Canker, Bruder des Tar, war die in Brock Marsh, dem Viertel der Alten Stadt, das wie ein Kuchenstück im Winkel der sich zum Gross Tar vereinigenden Flüsse gelegen war und wo Isaac, wie viele andere, sein Laboratorium hatte.
Zwar bestand nicht die geringste Gefahr, von ihm entdeckt zu werden, der tief im Labyrinth seiner zweifelhaften Experimente steckte, wo, bedingt durch die Natur seiner Forschungen, selbst der Architektur nicht immer zu trauen war. Doch um keinen Gedanken an die entfernte Möglichkeit verschwenden zu müssen, ließ sie den Kutscher zur Gidd Station fahren, wo das Gleis der Dexter Line nach Osten strebte und auf immer höher werdenden Stelzen scheinbar himmelwärts.
Den Gleisen folgen!, schrieb sie, und also ging die Fahrt durch die breiten Avenuen von West Gidd, auf der altehrwürdigen und eindrucksvollen Barguest Bridge über den Canker, den reineren, kälteren Fluss, der von den Bezhek Peaks herunterkam. Hinter der Brücke ließ sie anhalten und zahlte, was der Kutscher forderte, großzügig aufgerundet. Das letzte Stück wollte sie zu Fuß gehen, allein, um ihre Spuren zu verwischen.
Sie machte sich eilig auf den Weg zum Ort ihrer Verabredung im Schatten der Rippen, der Bonetown Claws im Viertel der Diebe. Hinter ihr war für einen Moment der Himmel sehr voll: Ein Aerostat brummte in der Ferne, umtanzt von winzigen Punkten, geflügelten Gestalten, die sich in seinem Kielwasser tummelten wie Delfine um einen Wal, während im Vordergrund ein weiterer Zug dahinschoss – unterwegs in das Zentrum von New Crobuzon, den Knoten architektonischen Gewebes, wo die Lebensadern der Stadt sich verknüpften, wo die Gleistrossen der Miliz von dem Spike ausgehend sternförmig ihr Netz spannten und die fünf großen Bahnlinien der Stadt an ihrem Dreh- und Angelpunkt zusammenliefen, dem düster gescheckten Bollwerk aus rußgeschwärztem Backstein und rauem Beton und Holz und Stahl und Stein, dem mit vielen Mäulern gähnenden Kolossalbau im vulgären Herzen der Stadt: Perdido Street Station.
3
Isaac saßen im Zug ein kleines Mädchen und ihr Vater gegenüber, Letzterer ein ehemals »besserer« Herr in einem Bowler und einem Jackett aus zweiter Hand. Isaac schnitt furchteinflößende Grimassen, wann immer die Kleine zu ihm hinschaute.
Ihr Vater sprach im Flüsterton mit ihr und unterhielt sie mit Taschenspielereien. Er gab ihr einen Kieselstein in die Hand und spuckte darauf. Der Stein verwandelte sich in einen Frosch. Das Mädchen quiekte vor Entzücken über die glitschige Kreatur und warf Isaac einen schüchternen Blick zu. Er riss Mund und Augen weit auf und mimte Erstaunen, während er sich von seinem Platz erhob. Sly Station. Das Kind schaute ihm nach, als er die Tür öffnete und den Zug verließ. Er stieg die Treppe zur Straße hinunter und schlängelte sich durch das Gedränge in Richtung Brock Marsh.
In den engen, winkligen Gassen des Scientific Quarter, des ältesten Viertels der Alten Stadt, gab es nur wenige Droschken oder Tragtiere, dafür Passanten aller Spezies, dazu Bäckereien und Wäschereien und Zunfthäuser, sämtliche Einrichtungen, deren die Bürger einer Gemeinde bedurften. Es gab Schänken und Geschäfte und sogar einen Milizturm, einen kleinen, untersetzten an der äußersten Spitze von Brock Marsh, wo der Canker und der Tar sich einander vermählten. Die Plakate an den verwitterten Mauern warben für dieselben Tanzhallen, warnten vor demselben Ende der Welt, forderten Unterstützung für dieselben politischen Parteien wie überall in der Stadt, doch trotz all der scheinbaren Normalität lag hier eine fühlbare Spannung in der Luft, eine fiebrige Erwartung.
Dachse – traditionelle Familiare, weil man ihnen eine gewisse Immunität gegenüber den potenziell gefährlichen Harmonien der arkanen Wissenschaften zuschrieb – watschelten mit Einkaufszetteln zwischen den Zähnen vorbei und zwängten ihre birnenförmigen Leiber durch spezielle Klappen in den Ladentüren. Über den Schaufenstern mit ihren dicken Glasscheiben lagen Dachkammern. Alte Lagerhäuser am Wasser waren umgebaut worden. Vergessene Keller brüteten unter den Schreinen minderer Gottheiten. Dort und in allen anderen architektonischen Nischen gingen die Bewohner von Brock Marsh ihrem Gewerbe nach: Physiker, Chimärologen, Biophilosophen und Teratologen, Chymiker, Nekrochymiker, Mathematiker, Schwarzkünstler, Metallurgen, Vodyanoi-Schamanen und solche wie Isaac, deren Forschungen nicht ohne Weiteres in eine der zahllosen wissenschaftlichen Schubladen einzuordnen waren.
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