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Sie sammelt die Geschichten anderer ... ... doch hat sie den Mut, sich ihrer eigenen Geschichte zu stellen? Ein warmherziger Roman über die lebensverändernde Kraft von Geschichten Putzfrau Janice kann sich gar nicht mehr daran erinnern, wann sie ihre Sammlung begonnen hat. Doch irgendwann fiel ihr auf, dass die Leute ihr gerne ihre Geschichten erzählen, während sie in deren Wohnzimmern Staub wischt oder ihre Kühlschränke abtaut. Manche davon sind lustig, manche fesselnd, ein paar sind melancholisch und wieder andere lebensbejahend. Sorgfältig bewahrt Janice all diese Geschichten in einer Bibliothek in ihrem Kopf auf und hütet sie, weil sie selbst keine Geschichte zu erzählen hat. Bis sie auf die gewitzte Mrs. B trifft. Die trickreiche Neunzigjährige weiß, dass mehr hinter Janice steckt. Auch sie ist Heldin einer eigenen Geschichte – oder etwa nicht? - Der Überraschungsbestseller und Publikumsliebling aus Großbritannien - Für Leserinnen und Leser von Carsten Henn, Rachel Joyce und Lori Nelson Spielman »Humorvoll, weise und bewegend, mit liebenswerten und unvergesslichen Charakteren.« Hazel Prior »Klug, lustig, bezaubernd – ein ganz besonderes Buch!« Katie Fforde"
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Hat sie den Mut‚ sich ihrer eigenen Geschichte zu stellen?
Putzfrau Janice kann sich nicht mehr daran erinnern, wann sie ihre Sammlung begonnen hat. Doch irgendwann fiel ihr auf, dass die Leute ihr gerne ihre Geschichten erzählen, während sie Staub wischt oder Kühlschränke abtaut. Sorgfältig bewahrt Janice all diese Erzählungen des Lebens auf und hütet sie, weil sie glaubt, dass sie selbst keine Geschichte zu erzählen hat. Bis sie auf die gewitzte Mrs B trifft. Die trickreiche Neunzigjährige weiß, dass mehr in Janice steckt. Sie ist die Heldin ihrer eigenen Geschichte – oder etwa nicht?
Sally Page
Roman
Aus dem Englischen von Carolin Müller
Für meinen Vater,
mit all meiner Liebe
Jeder hat eine Geschichte zu erzählen.
Aber was, wenn man keine eigene Geschichte hat? Was dann?
Wenn man Janice ist, sammelt man die Geschichten anderer Menschen.
~
Sie hat sich einmal die Dankesrede einer berühmten englischen Schauspielerin bei einer Oscar-Verleihung angesehen. Darin erzählte diese von ihrem früheren Leben als Reinigungskraft und dass sie als junge Schauspielanwärterin manchmal vor dem Spiegel in fremden Badezimmern stand und den WC-Reiniger wie eine Oscar-Statue hochhielt.
Janice fragt sich, was wohl aus der Person geworden wäre, wenn sie es als Schauspielerin nicht geschafft hätte. Wäre sie dann noch immer eine Putzfrau, wie sie selbst? Sie sind beide ungefähr gleich alt – Ende vierzig –, und sie findet, dass sie sich sogar ein bisschen ähnlich sehen. Na ja (sie muss lächeln), so ähnlich vielleicht auch wieder nicht, aber sie sind beide eher klein, was wohl eine leicht untersetzte Zukunft erahnen lässt. Sie fragt sich, ob diese Schauspielerin wohl auch eine Geschichtensammlerin geworden wäre.
Sie kann sich gar nicht mehr so genau erinnern, womit ihre Sammlung angefangen hat. Vielleicht war es der flüchtig erhaschte Blick auf ein Leben, während sie durch das Umland von Cambridge zur Arbeit fuhr? Oder ein Gesprächsfetzen, den sie beim Putzen eines Waschbeckens aufschnappte? Doch irgendwann fiel ihr auf, dass die Leute ihr gerne ihre Geschichten erzählten, während sie in Wohnzimmern Staub wischte oder Kühlschränke abtaute. Vielleicht hatten sie das auch schon früher getan, aber nun ist es anders, die Geschichten strecken sich ihr geradezu entgegen, und sie sammelt sie ein. Sie ist wie ein aufnahmebereites Gefäß. Während sie sich die Geschichten anhört, bestätigt sie mit einem kleinen Nicken, was ihr klar geworden ist: dass sie für viele einfach ein Aufnahmebehälter ist, in dem sie bequem ihre Vertraulichkeiten abladen können. Oft sind die Geschichten unerwartet, manchmal sind sie lustig und fesselnd. Manchmal von Bedauern durchdrungen und manchmal lebensbejahend. Sie glaubt, dass die Menschen möglicherweise mit ihr reden, weil sie an ihre Geschichten glaubt. Sie erfreut sich an den unerwarteten Wendungen und verschlingt ihre Übertreibungen. Abends zu Hause bei ihrem Mann, der sie eher mit Vorträgen überschüttet, lässt sie ihre Lieblingsgeschichten dann noch einmal Revue passieren und taucht nacheinander in jede einzelne davon ein.
Der Montag hat eine ganz bestimmte Reihenfolge: Er beginnt mit Lachen und endet mit Traurigkeit. Wie zwei ungleiche Buchstützen fassen diese Stimmungen ihren Montag ein. Sie hat es absichtlich so arrangiert. Denn die Aussicht auf Lachen hilft ihr, aus dem Bett zu kommen, und stärkt sie für das, was später kommt.
Janice hat festgestellt, dass eine gute Reinigungskraft ihre Arbeitstage und Stunden selbst bestimmen kann – und, was sehr wichtig für ihre Balance am Montag ist, auch die Reihenfolge ihrer Aufträge. Jeder weiß, dass zuverlässige Putzhilfen schwer zu finden sind, und eine überraschende Anzahl von Leuten in Cambridge scheinen herausgefunden zu haben, dass Janice außergewöhnlich gut in ihrem Job ist. Was die Auszeichnung »außergewöhnlich« betrifft, die sie aufgeschnappt hat, als eine ihrer Auftraggeberinnen eine Freundin zum Kaffee dahatte, ist sie sich nicht so sicher. Sie weiß, dass sie keine außergewöhnliche Frau ist. Aber ist sie eine gute Putzfrau? Ja, sie glaubt, dass sie das ist. Auf jeden Fall hat sie genug Übung darin. Sie hofft bloß, dass das nicht das Resümee ihres Lebens sein wird: »Sie konnte gut putzen.«
Als sie aus dem Bus aussteigt, nickt sie dem Fahrer zu, um sich von diesem immer öfter wiederkehrenden Gedanken abzulenken. Er nickt zurück, und sie beschleicht der flüchtige Eindruck, dass er noch etwas sagen wird, doch dann schließen sich die Türen mit einem lauten Seufzen.
Nachdem der Bus abgefahren ist, wird ihr Blick frei auf eine lange, begrünte Allee mit frei stehenden Häusern. Einige Fenster der Häuser glänzen im Sonnenlicht, andere liegen im Schatten und wirken finster. Sie stellt sich vor, dass sich hinter all diesen Fenstern Geschichten verbergen, aber heute interessiert sie sich nur für eine davon. Es ist die Geschichte des Mannes, der in dem weitläufigen edwardianischen Anwesen an der Ecke wohnt: Geordie Bowman. Sie glaubt nicht, dass ihre anderen Kunden Geordie je persönlich kennengelernt haben, und sie weiß, dass es unwahrscheinlich ist, dass sie ihn durch sie kennenlernen werden (so sollte die Welt nach Janice’ Meinung nämlich nicht funktionieren). Aber natürlich haben sie schon von Geordie Bowman gehört. Jeder hat schon von Geordie Bowman gehört.
Geordie lebt seit vierzig Jahren in diesem Haus. Zuerst hatte er darin nur ein Zimmer zur Untermiete, denn die Mieten in Cambridge waren wesentlich günstiger als in London, wo er arbeitete. Als er schließlich heiratete, erwarb er das Haus von seiner Vermieterin. Doch er und seine Frau brachten es nicht übers Herz, die bestehenden Mieter hinauszuwerfen, also lebte seine wachsende Familie dort zusammen mit einer bunten Mischung aus Malern, Akademikern und Studenten, bis diese, einer nach dem anderen, aus freien Stücken auszogen. Dann begann jedes Mal der Kampf um das frei gewordene Zimmer.
»John, also, der war der Gerissenste«, erinnert sich Geordie oft mit Stolz. »Er räumte einfach sein Zeug rein, bevor sie überhaupt mit dem Zusammenpacken fertig waren.«
John ist Geordies Ältester, der mittlerweile mit seiner eigenen Familie in Yorkshire wohnt. Der restliche Nachwuchs von Geordie lebt in der ganzen Welt verstreut, besucht ihn jedoch, wann immer es geht. Seine geliebte Frau Annie ist bereits vor Jahren verstorben, aber seither hat sich im Haus nichts verändert. Jede Woche gießt Janice ihre Pflanzen – von denen einige mittlerweile so groß geworden sind wie kleine Sträucher – und wischt den Staub von der Sammlung amerikanischer Romane. Geordie ermuntert Janice immer wieder, sich diese Bücher auszuleihen, und hin und wieder nimmt sie sich Harper Lee oder Mark Twain mit nach Hause, als Ergänzung zu ihrer Wohlfühl-Lektüre.
Geordie öffnet bereits die Tür, noch bevor sie den Schlüssel herausholen kann.
»Wie heißt es so schön? Timing ist alles«, ruft er ihr dröhnend entgegen. Geordie ist von stattlicher Statur, und seine Stimme passt dazu. »Kommen Sie herein, und wir trinken erst einmal Kaffee.«
Das ist ihr Stichwort, auf das sie starken Kaffee für beide zubereitet, mit viel heißer Milch, so wie Geordie ihn mag und genau so, wie Annie ihn immer gemacht hat. Janice stört es nicht. Die meiste Zeit kümmert sich Geordie um sich selbst (wenn er sich nicht gerade in London, im Ausland oder im Pub aufhält), und sie glaubt, dass Annie es gutheißen würde, wenn sie ihn ab und zu verwöhnt.
Geordies Geschichte ist eine ihrer liebsten. Sie erinnert Janice an die unglaubliche innere Stärke, die Menschen haben können. Es geht darin sicher auch darum, seine Talente zu nutzen, aber damit möchte sie sich nicht näher befassen. Denn das wäre zu nah an den Bibelgeschichten ihrer Kindheit und erinnert sie an ihren eigenen Mangel an Talent. Also schiebt sie diesen Gedanken beiseite und konzentriert sich lieber auf die innere Stärke, wie sie von dem Jungen, der später einmal Geordie Bowman werden sollte, demonstriert wurde.
Geordie wuchs (wenig überraschend bei dem Vornamen!) in Newcastle auf. Sie glaubt, dass sein Name eigentlich John oder womöglich Jimmy lautet, ist sich jedoch nicht sicher; mit der Zeit wurde er einfach »Geordie«. Er lebte in den Straßen bei den Docks, wo sein Vater arbeitete. Sie hatten einen Hund, den sein Vater liebte (mehr als seinen Sohn), und einen Barschrank in Form einer Gondel, der der ganze Stolz der Familie war (bis zur Erfindung von Plasmabildschirmen). Mit vierzehn Jahren war Geordie eines Abends in den Straßen von Newcastle unterwegs. Der Hund der Familie hatte den Nachbarn gebissen, und Geordies Vater wollte Blut sehen – das des Nachbarn. Da von Vernunft und Logik keine Rede mehr sein konnte, hatte sich Geordie durch die Hintertür davongemacht. Die Nacht war kalt, es lag Schnee in den Straßen, und Geordie hatte nur eine leichte Jacke an. Trotzdem zog es ihn nicht nach Hause, also bog er, anstatt nach rechts zu den Docks hinunterzugehen, links in eine Gasse ein und schlich sich durch eine Seitentür ins Rathaus von Newcastle.
Im Konzertsaal erklomm er eine Galerie, wo es warm war und er wahrscheinlich nicht entdeckt werden würde. Und dort hockte er, versteckt hinter einem Scheinwerfer (zusätzliche Wärme), und verputzte eine Tafel Schokolade, die er am Kiosk geklaut hatte, als der Gesang einsetzte. Der erste, sich aufschwingende Ton bohrte sich Geordie wie ein Speer in die Brust und ließ ihn erstarren. Oper war ihm kein Begriff, geschweige denn dass er jemals eine gehört hatte, und doch sprach ihn die Musik direkt an. Später, in einem Fernsehinterview, sagte Geordie einmal, dass man, wenn man ihn nach seinem Tode aufschneiden würde, wohl die Partitur von La Bohème um sein Herz gewickelt finden würde.
Danach kehrte er für ein paar Tage oder Wochen – er merkte kaum, wie lange es war – nach Hause zurück. In der Zeit schmiedete er einen Plan. Da er im Nordosten des Landes noch nie von einer Oper gehört hatte, ging er davon aus, dass dies nicht der richtige Ort dafür war. Es musste London sein. Dort war die Oper doch sicher zu Hause? Schließlich war es die Heimat von allem, was vornehm war. Er musste also nach London. Aber ganz ohne Geld kam eine Fahrt mit dem Zug oder Bus nicht in-frage. Also kam er zu dem Schluss, dass er laufen musste. Und genau das tat er dann auch. Er packte so viel Essen ein, wie in seinen Rucksack passte, zusammen mit einer aus der Gondelbar geklauten Flasche, und machte sich zu Fuß auf den Weg in Richtung Süden. Unterwegs lernte er einen Landstreicher kennen, der ihn weite Teile des Weges begleitete. Der Landstreicher brachte ihm Dinge bei, die ihm in der Stadt nützlich sein könnten, und zeigte ihm, wie er seine Kleidung auf der Reise sauber halten konnte. Dazu gehörte, dass er saubere Kleidung von einer Wäscheleine nahm und die gestohlenen Kleidungsstücke durch die schmutzigen ersetzte, die er getragen hatte. Und dies wurde dann bei jeder geeigneten Wäscheleine wiederholt.
In London klapperte Geordie die verschiedenen Konzerthäuser ab (die Namen hatte ihm der Landstreicher genannt), und schließlich ergatterte er einen Job in der Requisite. Und der Rest ist Geschichte.
Janice’ Mann Mike hat Geordie noch nie getroffen. Doch das hindert ihn nicht daran, im Pub von ihm zu sprechen, als wäre er ein alter Freund. In der Öffentlichkeit widerspricht Janice ihm nicht – nicht, dass Mike es ihr danken würde. In seiner Vorstellung hat er sich schon oft mit Geordie unterhalten. Wenn er über den weltberühmten Tenor spricht (»Der Lieblingssänger der Queen, weißte«), hält sie sich an dem Gedanken fest, dass die beiden Männer sich nie und nimmer treffen werden. Von Zeit zu Zeit, wenn Mike »mal austreten« muss und sie (mal wieder) die Rechnung bezahlen lässt, denkt sie daran, wie Geordie ihr eine ihrer Lieblingsarien vorsingt, während sie den Ofen putzt. Doch in letzter Zeit ist Geordies Gesang lauter als zuvor, und das macht ihr langsam Sorgen, weil ihr außerdem aufgefallen ist, dass sie manchmal laut rufen muss, damit er sie hört, und dass er einiges, was sie sagt, gar nicht mitzubekommen scheint.
Nach dem Kaffee kann Geordie nicht widerstehen, ihr durchs Haus zu folgen. Er lungert unschlüssig in der Tür herum, während sie den Holzofen säubert und anschließend wieder Holzscheite hineinschichtet. Es scheint, als müsse man ihn ermutigen. Es überrascht einen, dass ein stattlicher Mann wie er so schüchtern ist und ungern mit der Sprache herausrückt.
»Waren Sie mal wieder unterwegs?«, erkundigt sich Janice, in der Hoffnung, dass ihm das auf die Sprünge hilft und er ihr mitteilt, was er ihr ganz offensichtlich erzählen will.
Sie trifft sofort ins Schwarze, und er sieht sie strahlend an. »Nur ein bisschen innerhalb von London. Aber da trifft man vielleicht auf Idioten.«
»Das kann ich mir vorstellen.« Sie hofft, dass das genug Ermutigung ist.
Ist es.
»Ich bin mit der U-Bahn gefahren, und da war mal wieder so ein richtiger Knallkopf unterwegs. Es war voll, ja, aber nicht zu schlimm. Wissen Sie, wir haben alle das Beste draus gemacht. Und dieser feine Pinkel drängelt sich noch im letzten Moment, bevor die Tür zugeht, in den Wagen und fängt an rumzustänkern …«
Nun setzt Geordie zu einer ziemlich treffenden Imitation des feinen Pinkels an und bringt Janice damit zum Grinsen. Sie hatte recht behalten; sie wusste, dass bei Geordie der beste Ort war, ihren Tag, ihre Woche zu beginnen.
Geordies feiner Pinkel ist jetzt so richtig in Fahrt. »Los jetzt. Einfach ein bisschen aufrücken! Ich bin überzeugt, da ist noch jede Menge Platz, wenn die Leute einfach ein bisschen nach hinten durchgehen würden. Da ist noch viel Platz. Wirklich! Los, nutzen Sie bitte den gesamten Zug!«
Geordie hält kurz inne, um sich zu vergewissern, dass er ihre Aufmerksamkeit hat.
»In dem Moment kam von weiter hinten im Waggon eine Stimme. Von einem anderen Burschen, einem Londoner, würde ich sagen. Egal, auf jeden Fall ruft der: ›Kumpel. Reiß das Maul noch ein bisschen weiter auf, dann passen da bestimmt noch ein paar Leute rein!‹«
Janice muss laut lachen.
»Das hat ihn zum Schweigen gebracht.« Geordie ist hocherfreut, sie so erheitert zu haben.
Sie lässt sich nicht zum Narren halten. Sie weiß genau, dass es Geordie war, der das in der U-Bahn gerufen hat. Er ist derjenige, der dem feinen Pinkel den Wind aus den Segeln genommen hat. Er ist zu bescheiden, um es direkt zu sagen, aber sie weiß es. Sie kann fast hören, wie seine Stimme durch den Waggon dröhnt und daraufhin anerkennendes Gelächter um ihn herum ausbricht.
Zufrieden mit ihrer Reaktion überlässt er sie ihrer weiteren Arbeit. Sie greift nach ihrem Staubtuch. Vielleicht sollte sie sich einfach damit begnügen, Menschen wie Geordie zu treffen. Viele der Leute, für die sie putzt, bringen etwas Besonderes in ihr Leben, und Janice hofft, dass sie auf irgendeine Weise auch einen kleinen Beitrag zu deren Leben leistet. Bei der Hälfte eines Bücherregals hält sie mit ihrem Staubtuch inne. Die Wahrheit ist, dass sie nicht recht davon überzeugt ist, und ein beklommenes Gefühl beschleicht sie. Es sind die Geschichten anderer Leute. Wenn sie darin überhaupt eine Rolle spielt, dann nur eine kleine, eine Statistenrolle. Sie muss wieder an die berühmte Schauspielerin denken und versucht, sie sich in Geordies Musikzimmer vorzustellen, mit erhobenem Staubwedel vor den Regalen voll mit Geordies Partituren. Würde die Schauspielerin sich damit zufriedengeben? Würde sie sich damit abfinden? Sie fährt mit dem Staubwischen fort und geniert sich dafür, sich diese Frage überhaupt gestellt zu haben.
Janice sieht Geordie noch einmal, als sie zu einem frühen Mittagessen aufbricht, um sich danach zu ihrer nächsten Arbeitsstelle zu begeben. Draußen ist es grau, und sie kann spüren, wie die kühle Februarluft durch den Türspalt dringt. Geordie hilft ihr in den Mantel. »Danke, den werde ich brauchen. Es wird immer kälter draußen.«
»Sie sollten kürzertreten, wenn sie sich erkältet haben«, rät er.
»Nein, mir geht es gut«, versucht sie es erneut, diesmal lauter. »Es ist bloß kalt heute.«
Er reicht ihr ihren Schal. »Also dann, bis nächste Woche, und kurieren Sie sich aus.«
Sie gibt es auf.
»Ich fühle mich schon besser«, beteuert sie vollkommen wahrheitsgemäß.
Als er die Tür hinter ihr schließt, fragt sie sich, ob die Geschichte des Lebens eher eine tragische Komödie oder eine komische Tragödie ist.
»Logisch, in allen Bibliotheken gibt es Geister. Jeder weiß doch, dass Geister gerne lesen.«
Der junge Mann, der die Treppe der Bibliothek hinunterkommt, redet ernst auf seine Begleiterin ein – ein Mädchen von etwa fünfundzwanzig Jahren. Janice wünschte, sie hätte Zeit, den beiden zu folgen, um mehr von ihrem Gespräch mitzubekommen und über die Geister zu erfahren. Er klingt so vollkommen überzeugt von dem, was er sagt, als würde er seiner Freundin erzählen, dass es Vögel oben in der Luft gibt und Wolken am Himmel. Janice ist fasziniert von dem Gedanken an die Geister in der Bibliothek und fragt sich, ob sie heute wohl welche entdecken wird. In ihrer Mittagspause schaut sie oft kurz in der Bibliothek vorbei, um ein Buch zurückzubringen und heimlich an einem Tisch ganz hinten zwischen den Regalen ihr Sandwich zu essen.
Aber heute sind da keine Geister, sondern die beiden Schwestern, denn die zwei Bibliothekarinnen können nur Geschwister sein. Sie haben denselben speziellen rötlichen Haarton – erdbeerblond mit einem Hauch Kupfer. Eine der beiden trägt ihr Haar schulterlang, nach unten hin leicht gelockt; die andere hat einen langen, etwas seitlich sitzenden Zopf. Das erinnert Janice an ein kleines Mädchen, auch wenn diese Schwester bestimmt schon an die fünfzig sein muss. Janice findet, dass es ihr steht, und es gefällt ihr, wie sie bunte Fäden in ihren Zopf geflochten hat. Janice weiß wenig über die zwei, außer dass sie tatsächlich Geschwister sind und es insgesamt vier Schwestern gibt. Die jüngere der Schwestern (die mit den offenen Haaren) hat einmal zu ihr gesagt: »Mum hat vier von uns bekommen. Dad hat es nie zu einem Jungen für sich gebracht.« Daraufhin fügte ihre ältere Schwester noch mit Nachdruck hinzu: »Vier! Können Sie sich das vorstellen? Der arme Mann. Ein Haus voller Frauen.« Dann fuhr die Jüngere damit fort zu erklären, dass sich alle Schwestern sehr nahestünden und sich auffallend ähnlich sähen. »Natürlich«, betonte die Ältere, »sind wir trotzdem alle sehr verschieden.« Ihre Schwester nickte. »Ja, wir nennen uns Brainy, Beauty, Bossy und Baby.« Beide lachten. »Ein Familienscherz«, erklärte die Ältere. »Ja, ein Familienscherz«, wiederholte die andere und lächelte ihre Schwester an.
Janice denkt an ihre eigene Schwester und versucht sich vorzustellen, wie sie zusammenarbeiten, in einer Bibliothek in Cambridge, und Bücher sortieren. Sie weiß, dass es nur ein Hirngespinst ist – Tausende von Kilometern und unausgesprochene Erinnerungen trennen sie –, doch manchmal kramt sie diese Fantasievorstellung hervor, so wie sie auch manche Geschichten immer wieder hervorholt. Die Bibliotheksschwestern haben keine Ahnung, dass auch Janice eine Schwester hat, aber sie wissen, dass sie Bücher liebt, und sie unterhalten sich mit ihr über ihre Lieblinge. Die Schwestern sind nicht der Überzeugung, dass man in einer Bibliothek leise sein muss. »Nun, selbstverständlich wollen Menschen, die Bücher lieben, auch über sie sprechen«, hat die jüngere der beiden Schwestern einmal gesagt.
Janice hat herauszufinden versucht, wer von beiden welche Schwester ist, will aber aus Angst, sich zu irren, nicht nachfragen. Sie für ihren Teil denkt, dass die Jüngere Beauty sein muss und die Ältere Brainy oder vielleicht auch Bossy. Sie hat schon erlebt, wie sie zur Schließzeit die Bibliothek in weniger als zwei Minuten leer bekommen hat.
Heute begrüßen sie beide im Chor. »Janice, Ihr Buch ist da!«
Janice liest gerade alte Lieblingsbücher noch einmal und hat ein Exemplar von Stella Gibbons’ Cold Comfort Farm bestellt.
Sie nimmt das Buch dankend entgegen und fragt dann: »Haben Sie jemals daran gedacht, dass es in dieser Bibliothek vielleicht Geister geben könnte?« Schon während sie es sagt, fühlt sie sich albern und fragt sich, wie der junge Mann bloß so selbstsicher darüber sprechen konnte.
Die ältere Schwester lehnt sich etwas weiter über den Tresen. »Also, komisch, dass Sie das fragen. Sie sind schon die Zweite heute, die ich davon reden höre, dass es in der Bibliothek spukt.«
Ah, der junge Mann. »Und, ist das so? Ich meine, spukt es wirklich?«
Sie scheinen es ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Die ältere Schwester sagt: »Na ja, ich weiß nicht. Auch wenn es mir manchmal schon so vorgekommen ist, als hätten die Bücher ein Eigenleben. Doch ich glaube, das ist nur der alte Mr Banks, der nie etwas dahin zurückstellt, wo er es herausgenommen hat.« Die Jüngere überdenkt einen Moment lang die Worte ihrer Schwester. »Aber natürlich weiß jeder, dass Geister gerne lesen. Also vielleicht …«
Doch bevor Janice eine weitere Frage stellen kann – wie »Woher wissen Sie das?« oder vielleicht »Warum scheinen das alle zu wissen, nur ich nicht?« oder auch »Haben Sie das bloß den jungen Mann heute sagen hören?« –, werden sie von einer Schar junger Mütter mit Kleinkindern unterbrochen, die die Aufmerksamkeit der Schwestern in Beschlag nehmen.
Also nimmt Janice ihre Gedanken, ihr Exemplar von Cold Comfort Farm und ihr Käsesandwich mit zu dem versteckten Tisch ganz hinten zwischen den Regalen.
Dort sitzt sie eine Weile mit dem ungeöffneten Buch vor sich und denkt über die Frage nach, ob die Geschichten von Menschen durch den Platz, den sie innerhalb ihrer Familie einnehmen, bestimmt werden. Wenn dem so wäre, was bedeutet das dann für sie selbst? Sie hat keine Lust, diesem Gedanken weiter nachzugehen, und stellt sich stattdessen lieber einen Geist vor, der nach Feierabend in den Bücherregalen herumstöbert. Sie findet diesen Gedanken eher beruhigend als beängstigend – ein Geist, der Bücher mag, kann so schlecht nicht sein. Und dieser tröstliche Gedanke erleichtert sie. Die Wahrheit ist, dass Janice sich zu viele Sorgen macht. Und die Liste der Dinge, um die sie sich sorgt, scheint mit jedem Tag länger zu werden. Sie macht sich Sorgen über den Zustand der Meere, über Plastiktüten, die Klimakrise, Flüchtlinge, politische Unruhen, die extreme Rechte, Linksextreme, Menschen, die zur Tafel müssen, um ihre Kinder ernähren zu können, Dieselfahrzeuge oder die Frage, ob sie nicht mehr recyceln müsste. Ob sie weniger Fleisch essen sollte. Sie macht sich Sorgen um den Zustand des Gesundheitssystems, prekäre Arbeitsbedingungen und darüber, warum heutzutage viele Leute, die sie kennt, weder Kranken- noch Urlaubsgeld bekommen. Sie ist zutiefst besorgt über all die Menschen, die in unsicheren Mietverhältnissen leben oder bei den Eltern wohnen, bis sie fast vierzig sind. Und sie fragt sich, warum jemand einen anderen Menschen im Internet beschimpft oder auf der Straße anschreit, nur weil er eine andere Hautfarbe hat.
Früher hat sie gerne die Zeitung gelesen und immer Spaß am Kreuzworträtsel darin gehabt. Jetzt checkt sie jeden Morgen nur noch kurz das Weltgeschehen auf ihrem Tablet, für den Fall, dass es irgendwo ein Erdbeben gegeben hat oder ein hochrangiges Mitglied der königlichen Familie gestorben ist. Aber sie kann nicht weiterlesen. Denn mit jeder Nachricht wird die Liste ihrer Sorgen länger, und die Sorgen sickern auch in ihr restliches Leben. Anstatt sich mit neuen und spannenden Büchern aus der Bibliothek zu beschäftigen, liest sie lieber alte Klassiker und vertraute Lieblingsbücher: Austen, Hardy, Trollope, Thackeray und Fitzgerald.
Sie schlägt Cold Comfort Farm auf, bereit, in der launigen Vertrautheit der Geschichte zu versinken. Und außerdem hat sie hier eine Heldin, mit der sie sich wirklich identifizieren kann: Flora Poste ist eine Frau, die es schätzt, wenn alles seine Ordnung hat, so wie Janice.
~
Eine halbe Stunde später verlässt Janice die Bibliothek durch denselben Eingang wie der junge Mann, der an Geister glaubt. Sie ist unterwegs zu ihrer nächsten Arbeitsstelle – bei Dr. Huang –, bevor sie schließlich noch den letzten Job des Tages antreten muss. Sie ist bereits auf halbem Weg die Treppe hinunter, als sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine vertraute Gestalt sieht. Der hochgewachsene Mann hat einen unverkennbar wogenden Gang. Er schwingt beim Gehen von einem Fußballen auf den anderen. Es überrascht sie immer wieder, dass ihr Mann Mike ein ausgesprochen schlechter Tänzer ist, wo er doch beim Gehen so einen beschwingten Rhythmus an den Tag legt. Aber was macht er hier? Sie schaut auf ihre Uhr. Er müsste schon seit Stunden bei der Arbeit sein. Als er wieder aus ihrem Blickfeld verschwunden ist, erleichtert es Janice kaum, dass sie ihren Mann nicht auch noch auf ihre Sorgen-Liste setzen muss. Er steht darauf bereits ganz oben.
Es ist fast vier Uhr nachmittags, als Janice bei ihrem letzten Montagsjob ankommt: Traurigkeit. Lachen zum Tagesbeginn und Kummer zum Abschluss. Die Doppelhaushälfte aus rotem Backstein liegt etwas von der Straße zurückgesetzt und ist breit und gedrungen, als hätte das Haus einst beschlossen, sich hier hinzukauern und sich nicht mehr vom Fleck zu rühren. Die schlichte Fassade täuscht; wie alle anderen Häuser der Straße wurde es nach hinten ausgebaut; helle Küchen und Esszimmer erstrecken sich lang gezogen in die parallelen Gärten hinein.
Auf den Dachböden entlang der Straße befinden sich mittlerweile Arbeitszimmer, Spielzimmer, Gästezimmer – und im Falle dieses Hauses Janice’ persönliches Lieblingszimmer, das ihrer Ansicht nach auch der Mittelpunkt einer Geschichte sein könnte: Fionas Geschichte.
Als sie die Tür öffnet, weiß Janice sofort, dass Fiona und ihr Sohn nicht zu Hause sind. Ein leeres Haus hat einen ganz eigenen Klang. Es fühlt sich nicht nur so an, als wären die Bewohner fort, sondern als hätte sich das Haus selbst in irgendeiner Weise verschlossen, sich woandershin zurückgezogen. Die Stille ist so absolut, dass sie sie hören kann. Das ist ihr bereits früher bei anderen Häusern so gegangen. Ein Haus am Weihnachtsmorgen kann geräuschlos sein – aber nicht vollkommen. Das Haus schläft eindeutig nicht (anders als seine Bewohner), sondern atmet ganz sachte, und von den Wänden kann sie fast die Bitte um »nur noch fünf Minuten« hören, bevor der große Ansturm beginnt. Auch ein Haus am Morgen einer Beerdigung hat einen bestimmten Klang – oder vielleicht ist es auch ein Gefühl, da ist sie sich nie ganz sicher: angespannt, abwartend, beständig. Vor zwei Jahren hat sie das auch hier gespürt. Es war der Tag, an dem Fiona ihren Mann beerdigte. Das letzte Mal, dass sich Adam von seinem Vater verabschiedet hat.
Auf dem Tisch im Flur liegt eine Nachricht von Fiona.
Musste mit Adam zum Kieferorthopäden (wieder Probleme mit der Zahnspange!).
Geld liegt auf dem Küchentisch.
Janice atmet erleichtert aus und fühlt sich dann direkt schuldig. Sie mag Fiona und freut sich auf eine Kaffeepause mit ihr im Arbeitszimmer, aber manchmal hofft Janice auch darauf, dass Fiona nicht zu Hause ist. Bei genauerer Betrachtung gibt es dafür drei Gründe. Erstens weiß sie, dass sie schneller mit dem Saubermachen fertig ist, wenn Fiona nicht da ist. Zweitens – und daher rühren auch ihre Schuldgefühle – möchte sie gerne der Traurigkeit entgehen, die sie bei der freundlichen Frau mittleren Alters spürt, wenn sie ihr gegenübersitzt und an dem Kaffee nippt, den sie ihnen gerade aus der hellroten Kaffeekanne eingeschenkt hat. Die Wahrheit ist, dass sie sich Sorgen um Fiona macht (noch ein Punkt auf ihrer Liste). Aber natürlich hat Fionas Leben nichts mit ihr zu tun. Janice ist bloß eine Putzfrau, worauf ihr Mann Mike sie ständig hinweist.
Nachdem sie den größten Teil ihrer Arbeit erledigt hat, kann sie auch den dritten Grund benennen, warum sie froh ist, dass Fiona nicht da ist. Denn so kann sie ungestört längere Zeit in ihrem Lieblingszimmer in diesem Haus verbringen – dem langen, niedrigen Raum unterm Dach. Natürlich putzt sie dort ganz normal weiter (da hat sich Janice strikte Regeln gesetzt), aber sie denkt dabei auch über Fionas Geschichte nach.
Im Dachgeschoss steht ein Puppenhaus auf einem breiten Tisch, auf dem sich früher eine Spielzeugeisenbahn befunden hat – die Spuren der Schienen sind noch auf dem grünen Filz zu sehen. Es ist ein großes Haus im Regency-Stil mit drei Stockwerken und – wie in Fionas Haus – zusätzlichen Räumen unterm Dach. Doch im Erdgeschoss befindet sich statt Esszimmer, Küche und Speisekammer ein Ladenlokal. Wohnbereich oben, Geschäftsräume unten. Fiona hat mit Blattgoldfarbe ein elegantes Miniaturschild für das Geschäft entworfen: Bestattungen Jebediah Jury. Janice hat keine Ahnung, woher der Name kommt, aber sie muss zugeben, dass er gut klingt.
Sie setzt sich vor das Puppenhaus und öffnet die Vorderseite. Die meisten Zimmer sind bereits komplett; Perfektion in Miniatur. Schlafzimmer, ein Salon, ein Kinderzimmer und Janice’ Lieblingsraum: eine wunderschön gestaltete Küche im Landhausstil mit halb ausgerolltem Teig auf dem Tisch neben einer Schale mit stecknadelkopfgroßen Pflaumen. Und seit letzter Woche ist noch etwas hinzugekommen. Fiona hat eines der Badezimmer vollendet. Die Tapete mit blau-weißem Paisley-Muster passt wunderbar zu den Mahagonimöbeln und der Löwentatzen-Badewanne. Janice streicht den winzigen dunkelblauen Badvorleger glatt, der über einem Miniatur-Handtuchhalter hängt. Und sie entdeckt noch eine Neuerung. Unten im Hinterzimmer hat Fiona einen Sarg platziert – aus Walnussholz und mit winzigen Messingbeschlägen. Janice glaubt nicht, dass man so etwas irgendwo für Puppenhäuser kaufen kann. Warum auch, wo die meisten Leute doch nach kleinen Kommödchen, Klavieren oder Hundekörbchen suchen? Nein, sie weiß, dass Fiona ihn selbst gemacht haben muss. Sie betrachtet ihn stirnrunzelnd und weiß nicht recht, was sie davon halten soll.
Als ihr Mann verstarb, arbeitete Fiona noch als Buchhalterin in einer Anwaltskanzlei. Doch bereits zwei Monate nach seinem Tod hatte sie dann ihren Job aufgegeben und begann eine Umschulung zur Bestatterin. Bei einer Tasse Kaffee erklärte sie Janice einmal, dass sie sich schon immer dafür interessiert, es aber nie laut ausgesprochen hätte, weil sie dachte, die Leute würden es für seltsam halten.
Janice findet es ganz und gar nicht seltsam. Sie weiß, dass es großartige Magazine und Online-Ratgeber gibt, wenn Leute heiraten. Jeder gibt einem ungefragt Ratschläge, ob man will oder nicht. Aber wenn jemand stirbt, dann findet man sich oft allein in einer Welt voller befangenem Schweigen wieder. Janice hilft manchmal einer Freundin aus, die ein Catering-Unternehmen hat, und über die Jahre ist ihr aufgefallen, dass sie sich freiwillig für die Trauerfeiern meldet und die Hochzeiten eher meidet. Bei einer Beerdigung sind die Menschen oft verloren, nicht nur in ihrer Trauer, sondern – typisch englisch – oft auch in ihrer Angst, etwas Falsches zu sagen oder zu tun. Da ist dann ein freundliches Wort vom »Personal« oft sehr willkommen. Also, ja, sie kann recht gut verstehen, warum Fiona Bestatterin werden wollte.
Fiona arbeitete zunächst als Teil- und dann als Vollzeitkraft in einem Bestattungsunternehmen und absolvierte die erforderliche Ausbildung zur Bestatterin, und Janice hat keinen Grund zu der Annahme, dass sie ihre Entscheidung bisher bereut hätte. Aber noch ein Sarg? Stapeln sich da nicht schon genug im Hinterzimmer des Miniatur-Ladengeschäfts? Inzwischen hat Fiona eine Reihe von Lehrgängen gemacht und sich von der Leichenbestatterin hin zu einer nicht-religiösen Trauerrednerin entwickelt. Auch das kann Janice verstehen – das Bedürfnis, Ordnung zu schaffen und Sicherheit zu bieten, wenn man auf keine religiösen Rituale zurückgreifen kann. Sie kennt Leute – Atheisten –, die nur deshalb ein religiöses Begräbnis bekommen haben, weil die Familie nicht recht wusste, welche Möglichkeiten sonst zur Verfügung standen, und sich deshalb an die etablierten Gebräuche hielt.
Janice holt ein langes, dünnes Röhrchen aus der Tasche ihrer Schürze und zieht daraus einen Metalldraht hervor, an dem eine Reihe winziger grüner Federn befestigt ist. (Fiona ist nicht die Einzige, die gut basteln kann.) Dann macht sie sich daran, alle Zimmer nacheinander abzustauben, und bewundert die Detailverliebtheit, mit der jedes davon gestaltet worden ist. Hilft die Erschaffung dieser Miniaturwelt Fiona dabei, ihrer eigenen Welt einen Sinn zu geben? Sie bezweifelt es.
Aber Janice denkt sehr wohl, dass Fionas neuer Job ihr geholfen hat, und sie weiß, dass Fiona schon einige Trauernde mit viel Einfühlungsvermögen durch den Schock und den Kummer, der mit dem Verlust einhergeht, begleitet hat. Und es ist auch Fionas neuer Arbeit zu verdanken gewesen, dass Janice sie nach dem Tod ihres Mannes zum ersten Mal wieder lachen hörte.
Sie tranken zusammen in Fionas Arbeitszimmer Kaffee. Fiona hatte es sich in ihrem Tweedrock mit angezogenen Beinen auf dem niedrigen Ledersessel bequem gemacht. Sie trug einen blassgrünen Pulli, und Janice fand, dass ihr nur noch das Kollar fehlte, damit sie dem Bild einer Landpfarrerin entsprach. Vielleicht ist das auch der Grund, warum die Hinterbliebenen sich durch sie so getröstet fühlen? Fiona hatte die Brille hoch in ihren aschblonden Bob geschoben und die Stapel von Notizen auf ihrem Schoß beiseitegelegt. Dann erklärte sie, dass dies ihre vielen Versuche waren, eine Grabrede für einen Mann zu schreiben, der anscheinend von niemandem, der ihn gekannt hatte, wirklich gemocht worden war.
»Sie wären erstaunt«, sagte sie und blickte zu Janice auf, »wie viele Familien die Grabrede mir überlassen.«
»Vielleicht haben sie bloß Angst, öffentlich zu sprechen?«, gab Janice vorsichtig zu bedenken. Janice weiß, dass sie sich nicht nur zu viele Sorgen macht, sondern auch ein schüchterner Mensch ist.
»Das scheint sie aber nicht davon abzuhalten, in der Öffentlichkeit herumzubrüllen und handgreiflich zu werden«, erwiderte Fiona lächelnd.
Janice nickte. Das hatte sie bei den Trauerempfängen auch schon beobachten können. Für einen schüchternen Menschen ist sie ziemlich gut darin, tätliche Auseinandersetzungen zu beenden.
»Wie finden Sie das?«, sagte Fiona und nahm das oberste Blatt ihrer Notizen in die Hand. »Er war ein Mann seiner Generation.«
»Hm, weiß nicht.«
»Er war ein authentischer Charakter?«, schlug Fiona unschlüssig vor.
Janice dachte nach. »Wie wäre es mit …«, sie hielt einen Moment lang inne und blickte aus dem Fenster. »Er war ein Mann, der von denen, die ihn am besten kannten, nicht vergessen werden wird.«
Als sie Fionas Lachen hörte, wandte Janice ihr schnell wieder das Gesicht zu. Es war das erste Mal seit Monaten, dass sie sie lachen hörte. Sie hatte das Gefühl, gleich losheulen zu müssen.
»Verdammt gut«, sagte Fiona schließlich grinsend.
Nachdem Janice das außergewöhnliche Puppenhaus fertig abgestaubt hat, schließt sie es wieder. Sie will, dass dieses schöne Sammlerstück Fionas Geschichte verkörpert. Als Allegorie für eine neue, unerwartete Richtung, die letztendlich zu Heilung und Wiederbelebung führt. Das wäre eine Geschichte, die sie gern in ihrer Sammlung hätte. Aber sie ist sich immer weniger sicher, dass Fionas Geschichte ein gutes Ende nehmen wird. Denn darin verbirgt sich eine dunkle Seite – eine große, unausgesprochene Frage, von der Janice glaubt, dass sie unvorsichtigerweise ignoriert wird. Irgendetwas lauert da. Das beunruhigt sie und lässt sie an ihre eigene Kindheit denken, und wenn es einen Ort gibt, an den sie sich nicht zurückwünscht, dann dorthin.
Während Janice an der Haltestelle wartet, überlegt sie, ob es wieder der Busfahrer von heute Morgen sein wird. Sie wird das Gefühl nicht los, dass etwas ungesagt geblieben ist, in diesem Bruchteil einer Sekunde, bevor die Türen sich seufzend schlossen. Sie stellt sich vor, wie der Fahrer mit den Türen mitseufzte. Was hat er ihr sagen wollen? Als der Bus schließlich kommt und sie einsteigt, muss sie beinahe lachen. Sie fragt sich, ob irgendjemand da oben (was auch immer das heißen mag) sich über sie lustig macht. Denn der Busfahrer an diesem Abend ist ein Mann Anfang dreißig und ein richtiger Koloss – mehr Muskelmasse als Fett, vermutet sie. Er hat eine Glatze, einen gewaltigen Bart und Tätowierungen am Nacken und am Hals. Er sieht aus wie einer von den Hells Angels. Der Fahrer heute Morgen wirkte dagegen eher wie ein Erdkundelehrer.
Erst nachdem sie sich hingesetzt hat, merkt sie, wie müde sie eigentlich ist, und einen Moment lang zieht sie in Erwägung, ihre geschwollenen Füße aus den Schuhen zu befreien. Das Problem ist, dass es schwierig sein kann, sie dann wieder anzuziehen. Also lässt sie sich stattdessen mit ihrem ganzen Gewicht in den Sitz sinken und entspannt ihren Körper so, dass er mit den Bewegungen des Busses mitschwingt. Sie verscheucht alle Gedanken aus ihrem Kopf und verfolgt träge die Gespräche um sie herum. Sie lauscht jedoch nicht, sondern lässt sich einfach von den Worten berieseln. Gelegentlich greift ihr Verstand etwas auf. Manchmal führen diese Gesprächsfäden wie lose Enden zu nichts, aber wenn sie Glück hat, kann sie einem Strang folgen und erhascht einen verheißungsvollen Einblick in eine Geschichte. Die Fahrt vom Stadtzentrum von Cambridge bis zu dem Dorf, in dem sie wohnt, dauert nur eine halbe Stunde, also ist es normalerweise an ihr, die Lücken in den Geschichten anschließend mit ihrer Fantasie zu füllen. Das tut sie ausgesprochen gerne – und es beschäftigt sie, während sie von der Bushaltestelle nach Hause läuft. Allerdings achtet sie sehr streng darauf, wo sie diese Geschichten aufbewahrt: Sie werden in ihrem Kopf irgendwo zwischen Roman und Sachbuch abgespeichert.
Für die heutige Fahrt macht sie sich keine großen Hoffnungen. Der Bus ist nur halb voll, und im Augenblick herrscht bloß leises Gemurmel. Nicht dass sie behaupten könnte, sie hätte einen sechsten Sinn dafür, wo es eine Geschichte zu entdecken gibt – das ist das Schöne am Geschichtensammeln, man kann fast überall das Unerwartete finden. Sie muss an die gebrechliche ältere Dame im Waschsalon denken, wo Janice die Bettdecke einer Kundin gewaschen hat. Wie sich herausstellte, war die Dame einmal Stewardess auf dem ersten kommerziellen Flug von London nach New York gewesen, und während sie sorgfältig ihre Satinlaken zusammenfaltete, erzählte sie Janice vom Moment dieser besonderen Landung. »Wissen Sie, PANAM hat damals Werbung geschaltet, in der es hieß, dass sie als Erste den Rekord brechen würden, aber mein Chef bei BOAC hatte mir eine Woche vorher im Vertrauen gesagt, dass sie ihnen zuvorkommen würden, und mich gefragt, ob ich bei der Crew dabei sein wollte. Sie können sich vorstellen, was ich geantwortet habe.« Janice erinnert sich, wie die Frau ihre unscheinbare Steppjacke zurechtzupfte. Für den Bruchteil einer Sekunde machte sie eine Geste, als wolle sie mit der Hand den Sitz ihrer Kappe überprüfen. Doch stattdessen schob sie sich eine graue Haarsträhne hinters Ohr und fuhr fort. »Also, wir Mädels sahen immer sehr schick aus. Unsere Uniformen wirkten zwar militärischer als die der heutigen Stewardessen. Aber, oho, an dem Tag haben wir wirklich alle Register gezogen. Ich weiß sogar noch, wie der Farbton des Lippenstifts hieß, den ich trug: ›Dashing Delight‹. Das fand ich recht passend. Tja, und was soll ich sagen, wir haben es geschafft. Und als wir gelandet waren und aus dem Flugzeug stiegen, buhte uns die PANAM-Belegschaft aus. Doch das war uns egal. Ich lief über die Landebahn, als wäre ich eins achtzig groß.« Die Frau blickte strahlend zu ihr hoch, und Janice versuchte, sich genau dasselbe triumphierende Lächeln auf ihrem jüngeren Gesicht vorzustellen. Später half sie der Dame, ihre Laken zum Auto zu tragen, und das war das letzte Mal, dass Janice sie sah. Aber sie besitzt noch immer ihre Geschichte. Sie holt sie gerne an Tagen heraus, an denen sie sich selbst kein Lächeln abringen kann. Das Lächeln der Frau war so strahlend gewesen, dass es auch einen größeren Raum als den winzigen Waschsalon in einer kleinen Gasse von Cambridge zum Leuchten gebracht hätte. Oder etwas noch viel Größeres, zum Beispiel ein Flugzeug. Und so ist es Janice’ Ansicht nach wahrscheinlich auch gewesen. Sie sieht ihr eigenes Spiegelbild im regennassen Busfenster und kann den Anflug eines Lächelns auf ihrem Gesicht erkennen. Ja, eine gute Geschichte. Und auch ein Appell – Janice glaubt zwar nicht, dass sie daran extra erinnert werden muss, aber es schadet ja nicht, es noch einmal zu wiederholen: Man sollte ältere Menschen niemals unterschätzen.
Plötzlich schnappt sie einen Unterhaltungsstrang auf. Sie kann es gar nicht überhören, denn der Mann spricht sehr laut. Zwei junge Menschen. Eher Freunde als ein Liebespaar, denkt sie.
Er: »Kennst du Banana Jack Daniels?«
Sie: »Klingt ja eklig!«
Er: »Ist es auch. Ich kann gar nicht genug von dem Zeug bekommen.«
Und das war’s. Es scheint, als würde es hier enden, und sie hat keine Lust, das Gespräch weiter zu verfolgen.
Hinter sich hört sie ein paar Frauen reden. Mit gesenkter Stimme, bürgerlich. Sympathische Frauen, stellt sie sich vor. Freundinnen.
»Ich lief über den Parkplatz beim Theater, und da war er.«
»Wer?«
»Du weißt schon … der Schauspieler. Er ist gerade überall.«
»Hugh Bonneville?«
Gut geraten, denkt Janice, bei so wenig Information.
»Nein, nicht der. Er war neulich im Observer. Das müsst ihr doch gesehen haben.«
»Warum sollten wir?«
»Bill Nighy?«
»Nein, der auch nicht. Er ist schwarz.«
»Bill Nighy ist doch nicht schwarz! Ach, du meinst den Mann auf dem Parkplatz. Idris Elba?«
Das wäre auch Janice’ erste Vermutung gewesen.
»Nein, älter, er war in diesem Film mit …«, und hier erwähnt die Frau die Schauspielerin, die mal geputzt hat, und für den Bruchteil einer Sekunde glaubt Janice, die Frauen wüssten, dass sie ihnen zuhört. Sie rutscht leicht nervös auf ihrem Sitz herum.
»Oh, die mag ich …«
Dann reden die Frauen über die berühmte Schauspielerin. Janice kann es ihnen nicht verübeln; sie ist wirklich eine sehr gute Schauspielerin. Aber dieses Thema will Janice gerade nicht vertiefen, also konzentriert sie sich wieder auf die Regentropfen am Fenster. Und da sieht sie sie.
Erst ist es bloß ihre Spiegelung. Janice dreht sachte den Kopf, damit sie sie aus dem Augenwinkel beobachten kann. Sie ist ihr vorhin schon kurz aufgefallen, weil sie steht, obwohl noch viele Sitzplätze frei sind. Es ist eine junge Frau, vermutlich Ende zwanzig, groß und gertenschlank. Sie trägt ein gestreiftes Wollkleid und eine lange, darauf abgestimmte Strickjacke in Dunkelgrün- und Goldtönen. Ihre schwarze Strumpfhose ist eine Nuance dunkler als die Haut ihrer Hände, aber genauso dunkel wie ihre Haare. Sie steht ganz still da, die Augen halb geschlossen. Reglos – aber nicht ganz. Sie hat ein Bein weiter vorgeschoben als das andere, und Janice sieht, wie sie die Muskeln darin leicht anspannt. Auch ihr Kopf rührt sich, nur ein kleines bisschen. Winzige Bewegungen vor und zurück. Da bemerkt Janice auch die Kopfhörer, die fast komplett in ihren Korkenzieherlocken versteckt sind. Plötzlich schnellt der Arm der jungen Frau in einer leichten Wellenbewegung nach außen. Es ist eine anmutige, freudige Bewegung, und Janice fragt sich, ob sie eine Tänzerin ist. Dann verschwindet der Arm wieder an ihrer Seite, aber die anderen winzig kleinen Bewegungen gehen weiter.
Janice fragt sich, was die junge Frau wohl hört. Sie würde viel dafür geben, die Musik zu hören, die einen Arm dazu bringt, herauszuschnellen und von allein zu tanzen. Früher hat sie das Tanzen geliebt. Sie hatte zwar nie die Statur einer Tänzerin, aber wenn sie bestimmte Lieder hörte, dann sang ihr Körper einfach mit. Dann spannten sich ihre Muskeln an, ihre Zehen wippten, und sie wusste, dass sie, ganz gleich, wie sie für andere aussehen mochte, vollkommen im Einklang mit der Musik war. In diesen herrlichen, kostbaren Momenten, in denen sich ihre Hüften im Rhythmus wiegten und sich ihre Arme von den Seiten lösten, war es ihr wirklich vollkommen egal, was die anderen im Raum oder sogar auf der Welt von ihr dachten. Wenn sie tanzt, ist sie eine Löwin.
Als ihre Bushaltestelle näher kommt, steht sie widerstrebend auf. Nur ungern verlässt sie die junge Frau, doch in diesem Augenblick, in diesem Leben ist sie viel zu wenig Löwin und zu sehr scheues Mäuschen, als dass sie die Tänzerin aus ihrer Träumerei reißen und nach dem Lied fragen würde. Als Janice auf den Bürgersteig tritt, hört sie die Bustüren hinter sich seufzen, und in dem Moment zwischen dem letzten Schnaufen und dem Geräusch, wenn sie sich bebend schließen, hört sie eine Stimme. Erwartungsvoll dreht sie sich um.
»Schönen Abend noch«, ruft ihr der tätowierte Busfahrer fröhlich hinterher.
Während sie nach Hause geht, kommt Janice der Gedanke, dass sich die Götter vielleicht wirklich über sie lustig machen.
Es gibt Tage, an denen Janice denkt, dass sie zwei Hände brauchen wird, damit sie es durch die Tür ihrer kleinen Doppelhaushälfte schafft. Eine an jeder Seite des Türrahmens, um ihren widerstrebenden Körper über die Schwelle zu ziehen. Und wenn ihr Mann schon auf sie einredet, bevor sie auch nur einen Fuß über die Stufe gesetzt hat, benötigt sie auch noch alle Kraft ihrer beiden Arme, um sich nach vorne zu bewegen. Sie fragt sich, ob eines Tages wohl ein kräftiger Stoß in den Rücken nötig sein wird, um sie zum Eintreten zu bewegen. Sie weiß, dass sie keinen ausgestreckten Arm, keine helfende Hand von ihrem Mann erwarten kann. Sie erlaubt sich nicht, auf die leise Stimme zu hören, die ihr manchmal ins Ohr flüstert: »Warum machst du nicht auf dem Absatz kehrt und gehst den Weg einfach wieder zurück?« Aus irgendeinem Grund hat die flüsternde Stimme einen irischen Akzent. Sie glaubt, dass es vielleicht mit der Freundlichkeit von Schwester Bernadette zu tun hat – eine der wenigen Nonnen, die sie je getroffen hat, die der Idee der Nächstenliebe tatsächlich etwas abgewinnen können.
An diesem Abend ist es jedoch ruhig, als sie die Tür öffnet, und das macht es leichter, über die Schwelle zu kommen. Es ist zwar nicht die absolute Stille eines leeren Hauses, aber die gedämpfte Ruhe eines Hauses, in dem jemand schläft. Sie findet ihren Mann Mike auf dem Sofa vor, schlafend und mit nach hinten gesunkenem Kopf. Er hat die Füße auf dem Couchtisch abgelegt und eine halb volle Schale Chips auf dem Bauch. Sie kehrt zurück in den Flur, streift ihre Schuhe ab, bewegt die Zehen und geht in die Küche. Sie weiß, was das Erste sein wird, was er nach dem Aufwachen sagen wird. »Was gibt’s zum Abendessen?« Er fragt das nicht mit nörgelnder oder fordernder Stimme, sondern in einem fröhlichen Tonfall, der nahelegt, dass sie ja beide in einem Boot sitzen. Aber davon lässt sie sich schon lange nicht mehr täuschen.
Als er schließlich mit verschlafenem Blick in der Tür erscheint, ist sie überrascht – wirklich vollkommen überrascht –, dass er sie fragt, wie ihr Tag war. Das lenkt sie von den Sorgen ab, die sie sich macht, weil sie ihn heute vor der Bibliothek gesehen hat, als er längst bei der Arbeit hätte sein sollen. Als sie beginnt, ihren Tag zu schildern, fragt sie sich, warum er sich ausgerechnet heute nach ihrer Arbeit erkundigt. Und dann kommt es. Er fängt an zu reden, bevor sie auch nur ihren Satz zu Ende gesprochen hat, was sie zu der Erkenntnis bringt, dass er ihr gar nicht richtig zugehört hat. Sie fasst es nicht, dass sie nach all der Zeit immer noch darauf hereinfällt, dass es ihr leicht ums Herz wurde, als er Interesse an ihr zeigte.
»Es ist gut, dass du deine Arbeit magst.«
Hat sie das gesagt?
»Gut, dass du so viele Kunden hast. Oh, was gibt’s eigentlich zum Abendessen?«, er lächelt sie an.
»Shepherd’s Pie.«
Sie hatte kurz überlegt, noch Pfannkuchen zum Nachtisch zu machen. Das war ihr in dem Moment in den Sinn gekommen, als er sie nach ihrem Tag fragte.
»Kein Nachtisch heute?« Er ist ein kräftiger Mann mit einer Schwäche für Süßes, und seine Mutter hat immer fantastische Nachspeisen gemacht, woran er sie oftmals erinnert.
»Im Kühlschrank ist noch Joghurt.«
Ihr ist bewusst, dass das eine erbärmliche Form der Rebellion ist.
»Du meintest, es wäre gut, dass ich eine Arbeit habe, die mir gefällt?«, hakt sie nach. Sie fragt sich, warum sie ihm hilft. Vielleicht nur, um es hinter sich zu bringen.
»Ja, also, Jan, die Wahrheit ist …«
Jetzt kommt es, zusammen mit dem Kosenamen, den sie hasst …
»Ich weiß nicht, wie lange ich diesen Job noch machen kann.«
Und da ist sie: die Geschichte ihres Mannes.
In den dreißig Jahren, die sie Mike nun schon kennt, hatte er achtundzwanzig verschiedene Jobs. Wenn sie eines von Mike behaupten kann – und vielleicht ist es das, was sie immer wieder durch diese Tür kommen lässt –, dann die Tatsache, dass er keine Arbeit scheut. Die achtundzwanzig Jobs, die er bisher hatte, waren bemerkenswert unterschiedlich. Er war Verkäufer, Gesundheitsberater, Fahrer, Fitnesstrainer, Barkeeper, Pförtner in einem Krankenhaus und jetzt Pförtner an einer der größten Universitäten von Cambridge. Er hat für kleine Betriebe gearbeitet, für große Firmen und als Selbstständiger. In unterschiedlichen Phasen ihrer Ehe stand so ziemlich alles vom BMW bis hin zum gebrauchten Lieferwagen in ihrer Einfahrt. Einen Sommer lang war es sogar mal ein Eiswagen gewesen. Mike hat auch Traktoren gefahren und Gabelstapler, sie aber glücklicherweise nie mit nach Hause gebracht. In seinen unterschiedlichen Funktionen schlenderte er mit leichtfüßigem Gang durch Läden, Fabriken, Lagerhallen, Bäckereien, Bildungseinrichtungen und Kliniken und trug allen seine nützlichen Ratschläge an. Er hat sogar eine Zeit lang als Finanzberater gearbeitet – eine Tatsache, deren Ironie Janice nicht verborgen blieb.
Mike ist ein sympathischer Mann. Er hat Sinn für Humor und drängt anderen seine Ideen nicht sofort auf. Janice glaubt, das ist einer der Gründe, warum er bei der Suche nach neuen Jobs so erfolgreich ist. Mike kann sehr gewinnend sein und die Gründe für seine abwechslungsreiche Karriere plausibel wirken lassen. Doch sie ist sich auch sicher, dass einige Arbeitgeber ihn aus einer Art Mitleid eingestellt haben. Von ein oder zwei Chefinnen weiß sie, dass sie in ihm einfach einen unverstandenen Mann sahen. Trotz seiner wachsenden Wampe und seiner erschlaffenden Wangen ist Mike immer noch einigermaßen attraktiv.
Aber alle seine Arbeitgeber müssen mit der Zeit feststellen, dass Mike viel mehr weiß als sie. Die ersten paar Wochen verlaufen meist ganz gut. Manchmal klappt es auch ein paar Monate lang. Doch schon nach einiger Zeit fällt ihnen auf, dass Mike sie korrigiert. Anfangs ist es nur ein kleiner Tipp hier und da, aber schon bald hat Mike jemanden herausgegriffen, der seinen Job seiner Meinung nach unfassbar schlecht macht, worauf er sich bemüßigt fühlt, dort anzusetzen. Er macht sich voller Leidenschaft daran und spricht vom Wohle der ganzen Firma. Er benennt offen die Probleme und hat des Öfteren auch schon erreicht, dass die betreffende Person aus ihrer Funktion entfernt wurde. Was für ihn allerdings immer nur ein Startschuss ist.
Mit der Zeit – und das kann eine Weile dauern – fangen sich seine Arbeitgeber an zu fragen, woher dieser Mann so viel Zeit nimmt, andere zu beurteilen. Er kommt oft zu spät, und wenn er für eine dringende Aufgabe wie eine pünktliche Lieferung gebraucht wird, dann fehlt er auf unerklärliche Weise. (Sie sieht ihn wieder vor ihrem geistigen Auge, wie er mitten am Tag an der Bibliothek vorbeischlendert, obwohl er eigentlich im Pförtnerhäuschen sitzen sollte.) Dann schleichen sich langsam Zweifel ein. Janice versteht diese Übergangsphase besser als die meisten. Als sie noch frisch verheiratet waren, durchlebte sie jeden Job mit Mike. Sie fühlte mit ihm, wenn er die Probleme anging, ärgerte sich über seine Kollegen, die ihn hängen ließen, war wütend auf seine Chefs, die seine Bemühungen nicht zu schätzen wussten. Erst als ihm bei seinem vierten Job gekündigt wurde, hatte sie einen beunruhigend erhellenden Geistesblitz: Vielleicht lag es gar nicht an den anderen, sondern an Mike.
Im Laufe der Jahre hat sich Mikes Timing zwar verbessert, und er springt ab, bevor man ihn rauswirft. Für Janice war dieses Timing jedoch oft genug ziemlich unpassend – während der Schwangerschaft mit ihrem Sohn oder als sie gerade eine Hypothek aufgenommen hatten oder jetzt, wo sie … wo sie was eigentlich? Sie hat keine Ahnung. Aber sie weiß, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt ist, um ihr zu erzählen, was mit der Universitätsverwaltung nicht stimmt. Vor allem nicht, wenn sie die flüsternde Stimme von Schwester Bernadette im Ohr hat.
Janice lässt Mike in die neueste Tirade darüber einstimmen, wer schuld ist und warum er eine neue Herausforderung braucht. Sie hört einfach nicht mehr zu. Sie fragt sich, was genau die Geschichte ihres Mannes ist. Ist er einfach der Mann der tausend Jobs? Ist er ein Walter Mitty? Jedenfalls hat seine Welt, soweit sie das beurteilen kann, wenig Ähnlichkeit mit der von anderen. Oder steckt etwas Ernsteres dahinter? Ist es die Geschichte eines Fantasten? Eines Hypnotiseurs? Denn sosehr sie auch versucht, sich von der Welt zu lösen, die er für sich geschaffen hat, sie kann sich des Gefühls nicht erwehren, dass auch ein Teil von ihr mit ihm darin verkeilt ist. Er hält zwar nicht ihre Hand, aber sie ist sich ziemlich sicher, dass er das Ende ihres Mantels fest in seiner dicken Faust hält und nicht mehr loslassen wird. Wenn sie sich fragt, ob sie vor dieser Faust Angst hat, kennt sie die Antwort. Mike ist kein Mann, den man körperlich fürchten muss. Dafür ist er zu groß und zu langsam. Sie weiß, dass es die kleinen, sehnigen Männer sind, vor denen man sich wirklich in Acht nehmen muss.
Als das Abendessen beendet ist und Mike ihr das Aufräumen überlassen hat und zu Bett gegangen ist (»Es macht dir doch nichts aus, Jan? Ich muss über vieles nachdenken …«), schließt sie die Küchentür und starrt eine Weile aus dem Fenster auf die identischen, sichelförmig aufgereihten Häuser und das Grün dahinter. Sie fragt sich, wo die junge Frau aus dem Bus jetzt sein mag und zu was sie wohl tanzt. Sie würde gerne in der Küche Musik hören, während sie aufräumt, aber sie möchte Mike keinen Anlass geben, herunterzukommen und sich zu beschweren. Dann erinnert sie sich an die Kopfhörer, die Simon seinem Vater zu Weihnachten geschenkt hat. Ihr Sohn ist jetzt achtundzwanzig und arbeitet im Londoner Bankenviertel … was genau, weiß sie nicht. Er hat schon seit vielen Jahren nicht mehr wirklich Zeit mit ihnen verbracht. Ein Grundstock des Königreichs, das Mike für sich konstruiert hat, war, dass sein einziger Sohn auf eine Privatschule gehen würde – und zwar auf eine, die anderen Leuten ein Begriff war.
»Du kannst ihm doch nicht die besten Voraussetzungen verwehren, Jan.«
»Du willst doch nicht, dass er ausbaden muss, dass wir« – damit meinte er sie – »nicht alles getan haben, was wir konnten.«
Das war der Anfang ihrer Karriere als Putzfrau gewesen. Sonst hatte sie wenig zu bieten, und jede Hoffnung auf ein Studium, um ihre Chancen zu verbessern, hatte sich schon früh zerschlagen.
»Der Junge muss an erster Stelle stehen, Jan. Und da es in meinem Job nicht so läuft, wie ich wollte … das ist wirklich der größte Haufen Stümper, der mir je untergekommen ist. Also, was ich dem Vorstand erzählen könnte, darüber, was da alles schiefläuft …«
Die Ironie daran ist, dass ihr top ausgebildeter Sohn jetzt nur noch wenig mit ihr oder Mike zu tun haben will. Mit seinem Vater vielleicht deswegen, weil er ihn durchschaut hat. Und mit ihr, fürchtet Janice, weil sie zugelassen hat, dass er aufs Internat geschickt wurde. Besuche von Simon sind selten, und vor ein paar Jahren hörte er sogar damit auf, ihnen Geschenke zu machen, und ließ ihnen stattdessen einfach einen Scheck zukommen. Es war ein großzügiger Scheck, aber sie zerriss ihn in winzige Stücke, bevor sie ihn tief in den Papiermüll stopfte. Vielleicht hatte er gemerkt, dass der Scheck nie eingelöst wurde, denn seither schenkt er ihnen Kaufhaus-Gutscheine. Die sind einfach zu verschicken, und er muss nie erfahren, ob sie eingelöst werden. Sie hat ihren von diesem Weihnachten noch in ihrer Handtasche, doch sie erinnert sich, dass ihr Mann seinen für ein Paar teure Kopfhörer verwendet hat.
»Seht euch das an, Jungs«, prahlte er vor seinen Freunden im Pub. »Ist das nicht ein tolles Teil von unserem Simon? Er kauft immer nur das Beste.«
Während Janice nach Mikes Kopfhörern sucht, fragt sie sich, ob sie aus Mitleid oder eher aus Sühne dafür, dass sie kooperiert hatte, als Simon aufs Internat geschickt wurde, weiterhin mit einem Mann zusammenlebt, den sie nicht mehr liebt und nicht einmal besonders mag.
~
Mr Mukherjee (der einst in der indischen U21-Mannschaft Kricket gespielt hat) bleibt stehen, um auf seinen Hund Booma zu warten. Er wendet höflich seinen Blick von der hockenden Kreatur neben ihm ab und beobachtet durch das erleuchtete Küchenfenster, wie seine Nachbarin Janice herumtänzelt. Sie dreht sich auf der Stelle, und ein Arm schlängelt sich in einem Bogen über ihren Kopf. Ihre rhythmischen Bewegungen haben etwas Wunderschönes an sich, was Mr Mukherjee keineswegs überrascht. Er überlegt, ob er vielleicht diskret wegschauen sollte, aber der kleine tanzende Kopf und die Schultern (das ist alles, was er erkennen kann) sind einfach zu faszinierend, und so steht er auf der Wiese in der kalten Winterluft und lächelt.
Eine gute Putzfrau kann sich im Großen und Ganzen aussuchen, für wen sie arbeitet. Janice mag alle Leute, für die sie sauber macht, mit einer bemerkenswerten Ausnahme.
Das große moderne Haus vor ihr ist v-förmig gebaut und besteht aus aneinandergefügten Betonblöcken. Arrogant erstreckt es sich auf einem Grundstück, das einst Teil des Geländes eines der moderneren Colleges war. Das Haus erinnert sie an einen großen Mann, der breitbeinig dasitzt und mehr Platz einnimmt, als nötig oder höflich wäre. Als sie die mit brasilianischem Schiefer gepflasterte Einfahrt entlanggeht, spürt sie eine Mischung aus Angst und Vorfreude.
Die Tür wird ihr von der Hausbesitzerin selbst geöffnet (einen Schlüssel darf sie hier nicht haben). Vor ihr steht eine gut aussehende Frau um die fünfzig. Sie trägt eine ihrer eigenen Kreationen, einen königsblauen Frack voller Schlitze aus harnfarbenen Messing-Reißverschlüssen. Hinter diesen Schlitzen erkennt Janice Seidenstoff, bedruckt mit Neon-Pferdeköpfen. Jede Woche trägt sie einen anderen Frack, und Janice hat herausgefunden, dass sie einige dieser Modelle bei privaten Verkaufsveranstaltungen in den Häusern von Freundinnen anbietet. Wenn sie nicht gerade ihre Fracks verkauft, dann setzt sie sich gern für karitative Zwecke ein. Ihr Engagement besteht anscheinend hauptsächlich darin, die Mitarbeiter verschiedener Wohlfahrtsorganisationen in ihrem Haus zu versammeln und ihnen ihr erworbenes Wissen zur Verfügung zu stellen. »Den Wert davon kann man gar nicht beziffern. Er geht bestimmt in die Tausende.« Hin und wieder spendet sie auch einen Frack für wohltätige Zwecke. Da ist Janice immer gerne dabei, allein um die Gesichter der Spendensammler zu sehen, die sie um sich geschart hat.
Die Frau hat natürlich einen Namen, aber für Janice ist sie einfach Mrs YeahYeahYeah. Denn das sagt sie ständig, wenn sie telefoniert, mit Freunden spricht oder wenn sie ihre Weisheiten mit den Mitarbeitern ihres Wohltätigkeitsvereins des Monats teilt. Sie geht davon aus, dass die Frau eigentlich einfach nur »Ja« meint, vielleicht sogar »Yeah«, aber einmal reicht Mrs YeahYeahYeah einfach nicht.
Der Ehemann von Mrs YeahYeahYeah arbeitet ebenfalls von zu Hause aus. Janice glaubt, dass er ein großes Tier in der Finanzbranche gewesen ist und einen Teil seines Geldes für den Bau des architektonischen Ungetüms ausgegeben hat, das sie jetzt ihr Zuhause nennen. Es ist ein Gebäude voller großer Räume und glänzender leerer Oberflächen – darüber kann sie sich kaum beschweren. Zwar gibt es viel Fläche, aber die ist sehr leicht zu reinigen. Hinten befindet sich ein großer Würfel, den der Ehemann als Büro nutzt. Doch immer wenn Janice versucht, sich in diesen Bereich vorzuwagen, um dort zu putzen (wie von Mrs YeahYeahYeah angewiesen), winkt ihr Mann mit einem Papier/Ordner/Finger ab und bellt, ohne aufzublicken: »Nein, nein! Nicht jetzt.« Also ist Mrs YeahYeahYeah verheiratet mit Mr NoNoNotNow. Janice fragt sich, ob der Ehemann der Grund dafür ist, dass die beiden nie Kinder bekommen haben.
Mrs YeahYeahYeah bezahlt Janice gut für ihre Arbeit. Sie schnauzt nicht grundlos herum oder hinterlässt ekelhaft verschmutzte Pfannen/Toiletten/Badezimmer/Backöfen. Doch sie hat zwei Todsünden begangen, die Janice ihr nicht verzeihen kann. In der Küche befindet sich eines der wenigen Dinge, die offen herumstehen dürfen: eine hochmoderne italienische Kaffeemaschine. Ein echtes Prachtexemplar. Janice darf sie auseinandernehmen und alle Teile reinigen, aber sie wurde noch nie zu einer Tasse daraus eingeladen. Im Schrank über der Maschine steht eine Dose Instantkaffee der Tesco-Eigenmarke, die nur für Janice bestimmt ist. Soweit sie sagen kann (und sie hat es überprüft), ist dies das Einzige, was Mrs YeahYeahYeah je bei Tesco gekauft hat.
Die zweite Todsünde besteht darin, dass sie Janice »Mrs P« nennt. Janice kann sich nicht erinnern, ihr das je zugestanden zu haben – aber sie hätte auch nie den Mut aufgebracht, sich das zu verbitten. Und nun ist es dafür auch viel zu spät. Ganz gleich, was Janice in Gedanken von Mrs YeahYeahYeah halten mag, sie ist viel zu schüchtern, um ihr irgendetwas in dieser Richtung ins Gesicht zu sagen.
Deshalb hat Mrs YeahYeahYeah auch keine Geschichte. Aus Prinzip interessiert sich Janice nicht mehr für ihre Arbeitgeberin als unbedingt nötig und lässt sie schon gar nicht in die heiß geliebte Bibliothek in ihrem Kopf. Sie gesteht ihr lediglich einen Vorfall zu, der zwar bei Weitem keine Geschichte darstellt, der jedoch das, was Mrs YeahYeahYeah für sie ausmacht, auf den Punkt bringt.