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Kiew 1031: Prinzessin Elisabeth sehnt sich nach Abenteuern – statt sich der Stickerei zu widmen, galoppiert sie lieber mit ihren Brüdern über die Felder. Und als der stattliche und kriegerische Wikingerprinz von Norwegen, Harald Hardrada, den Hof ihres Vaters besucht, ist es Liebe auf den ersten Blick. Harald entführt sie über die Weiten des Meeres in den hohen Norden und in ein aufregendes Leben. Doch ein noch viel größeres Abenteuer steht dem Paar bevor, als Haralds Flotte die englische Küste ansteuert, um die Insel zu erobern. Aber er ist nicht der Einzige, der seinen Anspruch auf den Thron geltend machen will ...
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Seitenzahl: 738
Buch
Ukraine 1031: Elisabeth, Prinzessin von Kiew, verlebt eine glückliche Kindheit mit ihren zahlreichen Geschwistern und liebevollen Eltern – eine glückliche, aber langweilige Kindheit. Denn Elisabeth sehnt sich nach Abenteuern – galoppiert lieber mit ihren Brüdern über die Felder und spürt den Wind in ihren Haaren, als sich wie ihre braven Schwestern der Stickerei und dem Gebet zu widmen. Und als der stattliche Wikingerkrieger und Prinz von Norwegen Harald Hardrada den Hof ihres Vaters besucht, scheint Elisabeths Traum zum Greifen nah. Denn die beiden sind aus dem gleichen ehrgeizigen und freiheitsliebenden Holz geschnitzt und verlieben sich Hals über Kopf ineinander. Fortan bietet Harald seiner großen Liebe ein aufregendes Leben, das sie über die Weiten des Meeres in den hohen Norden bis nach Island führt. Und schließlich zieht es das schillernde Paar an die englische Küste, denn der König von Norwegen will seinen Anspruch auf Englands Thron geltend machen …
Weitere Informationen zu Joanna Courtney
sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.
Joanna Courtney
Das goldene Meer
Historischer Roman
Aus dem Englischenvon Nicole Hölsken
Für Emily, Rory, Hannah und Alec,
die besten Kinder der Welt.
PROLOG
Manchmal, wenn sie die Augen schließt, kann Elisabeth es immer noch spüren– das überwältigende, ungestüme Gefühl, es mit der ganzen Welt aufzunehmen – und wünscht sich sehnlichst, es wieder zum Leben zu erwecken. Sogar noch durch den dichten Nebel der vielen Jahre, die hinter ihr liegen, spürt sie die Wogen durch die dünne Wand ihres winzigen Kanus, das Funkeln der Gischt in ihren Augen, den warmen Lufthauch auf ihrem Gesicht. Und vor allem spürt sie das Brausen ihres jungen Herzens, als sie damals – endlich – den rauschenden Dnepr bezwang.
Es war ein wunderschöner Tag für das Große Stromschnellenrennen in Kiew. Die Mauern der Stadt, hoch oben auf den Klippen, funkelten im grellen Licht und schienen sich ihr zuzuneigen, sie anzuspornen oder vielleicht auch darauf zu warten, dass sie kenterte. Die im Sonnenlicht nur schemenhaft erkennbaren Gesichter der Menge lehnten sich über die Böschung, allesamt mit großen Augen und offenen Mündern. Ihre anfeuernden Rufe wurden von der leichten Brise verweht. Und dann das Blau des Wassers: das endlose, trügerische, prächtige Blau des Wassers– das sie bezwingen wollte.
Mädchen waren bei dem Rennen nicht zugelassen. Zu gefährlich, sagten sie. Aber sie hatte gewusst, wie töricht das war. Sie war mutig genug, um mitzufahren, und geschickt genug sowieso. Wie oft hatte sie sich mit ihrem Bruder Wladimir schon beim ersten Morgenlicht aus dem Palast gestohlen, wenn der Rest des königlichen Haushalts noch in den Federbetten schnarchte und die Augen der Wachen auf den Mauern noch zu verschlafen waren, um ihre schlanken Gestalten zu entdecken, die im Morgennebel die Stufen hinabschlichen! Sie hatte gewusst, woran man den grimmigen Abwärtssog eines Strudels erkannte, den dunklen Schatten eines Felsens, der zu dicht unter der Oberfläche lauerte, den gespenstischen Schimmer einer Sandbank. Sie hatte gewusst, wie sie die richtige Strömung fand, die sie trug, schnell und sicher, bis hin zu dem großen Tau zwischen den Haupttribünen auf der unteren Ebene, das die Ziellinie markierte. Sie hatte das alles gewusst und war entschlossen gewesen, die Strecke zu meistern.
Bei der Erinnerung an den Ruck schaudert Elisabeth sogar jetzt noch, nachdem die Jahre und der Verstand sie gelehrt haben, wie wenig solch ein winziger Erfolg zählt. Die schmerzvolle Erinnerung an die dunkle Wolke des Fangnetzes lässt sie zusammenzucken. Sie weiß noch, wie seine klebrigen, gierigen Finger sie emporschleuderten und zurückzerrten, sie von ihrem Boot herunterrissen, das nun führerlos durch die Wassermassen kreiste, taumelte und an den Felsen zerschellte, in einem Splitterregen durch die Luft wirbelte und der Menge der Zuschauer einen kollektiven Aufschrei des Entsetzens abrang.
»Wie könnt ihr es wagen?«, schrie sie ihren Geiselnehmern zu und kämpfte gegen die Klauen des Netzes ebenso an wie gegen die ungeheure, tiefe Demütigung. »Wie könnt ihr es wagen, mich aufzuhalten?«
Aber die armen Wachmänner warfen einen Blick flussabwärts auf den Großfürsten, ihren Vater, der mit finsterer, zorngeröteter Miene inmitten der prächtigsten Tribüne stand, und sagten nur: »Wie könnten wir es wagen, Euch weiterfahren zu lassen?«
Später, als einer von ihnen– der jüngere– ihr eine Mahlzeit in ihr Schlafgemach schmuggelte, in das sie mit Schimpf und Schande eingesperrt worden war, formulierte dieser die Frage erneut: »Wie könnt Ihr es wagen, Prinzessin? Wie könnt Ihr es wagen, auf den Stromschnellen zu reiten?«
Elisabeth zuckte nur mit den Schultern. Es war keine Mutprobe für sie gewesen, keine Laune, kein Schrei nach Aufmerksamkeit oder Lob. Sondern vielmehr ein tiefes Bedürfnis, ein brennendes Verlangen– wie ein Juckreiz tief in ihrer Seele.
»Ich wollte ein Abenteuer«, erklärte sie ihm, und er schüttelte verzagt den Kopf und schob ihr die gestohlene Suppe und das Bier zu. Dann sagte er: »Beim nächsten Mal, Prinzessin, sucht das Abenteuer doch bitte, wenn jemand anders Wache hat.«
Da musste sie lächeln. Sie lächelte die ganze lange, hungrig verbrachte Nacht über und auch während der darauffolgenden einsamen Tage ihrer Gefangenschaft. Sie lächelte, weil er vom »nächsten Mal« gesprochen hatte, und das war genug.
TEIL EINS
KAPITEL 1
Kiew, April 1031
Erzähl uns eine Geschichte, Mama – bitte.«
Elisabeth lächelte über Annas Bitte. Manchmal waren kleine Schwestern durchaus nützlich. Mit ihren zwölf Jahren fand sie sich viel zu alt, um um eine Gutenachtgeschichte zu bitten, aber sie hörte trotzdem gern zu – besonders wenn ihre Mutter sie erzählte. Denn Ingrid berichtete vom Norden, von den Ländern jenseits des Warägermeeres, wo die Berge das ganze Jahr über eisbedeckt waren, die Sonne im Mittsommer niemals unterging, und wo in den weitläufigen Wäldern noch immer Trolle ihr Unwesen trieben. Ingrid wusste davon, weil sie dort geboren worden war, als Prinzessin von Schweden. Dann war sie mit König Olav von Norwegen verlobt worden, bis ihr Vater beschlossen hatte, dass Großfürst Jaroslaw von Kiew die lukrativere Partie war, und sie nach Süden schaffte.
»Wünschst du dir manchmal, nach Norwegen gegangen zu sein, Mama?«, hatte Elisabeth sie einmal gefragt.
»Natürlich nicht, Lily«, hatte Ingrid lachend geantwortet. »Ich bin glücklich hier in Kiew – wie könnte man das nicht sein? Es ist eine prächtige Stadt mit einer glorreichen Zukunft, und es gibt keinen Ort in ganz Norwegen, der so großartig oder so fortschrittlich wäre wie Kiew.«
Sie hatte so sicher geklungen. Und doch war Elisabeth überzeugt gewesen, in der Stimme ihrer Mutter ein winziges, wehmütiges Zögern zu hören, das so klang, als sei sie auch heute noch von dem Land im Norden fasziniert, welches beinahe ihre Bestimmung geworden wäre.
Jetzt lehnte sich Elisabeth in dem großen Fenstersitz auf der Hofseite der großen, steinernen Halle zurück, in der das elegante Frauengemach und die Kemenaten untergebracht waren, und versuchte, nicht zu eifrig dreinzublicken, während ihre Mutter die fünfjährige Anna und die zweijährige Agatha in ihre gedrechselten Kinderbettchen legte und sich anschickte, ihnen eine Geschichte zu erzählen.
»Es war einmal ein großer König«, begann Ingrid mit einem Lächeln, »den nannte man Harald Schönhaar, denn er hatte das hellste, leuchtendste Haar, das man je gesehen hatte, und jedermann behauptete, dass es so strahlend hell sei wie Christus’ Heiligenschein.«
»Nur«, unterbrach Elisabeth sie, »dass damals alle Heiden waren. Wie konnten sie das also behaupten?«
Ingrid warf ihr einen scharfen Blick zu. »Du hast recht, Lily«, räumte sie ein, »aber seitdem sagen es viele.«
»Viele, die ihn gar nicht wirklich gesehen haben?«
»Wahrscheinlich.«
Ingrid warf Hedda einen kurzen Blick zu, der fülligen Amme, die in der Ecke saß und ihre Tochter stillte. Die kleine Greta würde sechs Monate alt sein, wenn Ingrids nächstes Kind zur Welt kam, und Hedda würde dann nicht mehr ihr eigenes Kind mit Milch versorgen, sondern den neuen Prinzen oder die neue Prinzessin, so wie sie all die anderen gestillt hatte. Wladimir pflegte sie als »königliche Kuh« zu bezeichnen, aber nur wenn er außer Hörweite war, denn ihr Schlag war ebenso heftig wie ihre Milch üppig. Elisabeth sah, wie Hedda ihrer Mutter zulächelte, als sie geduldig und tief einatmete.
»Na gut«, sagte sie bedächtig, »alle behaupteten also, dass es schimmerte wie Thors Hammer.«
»Aber der war doch aus Eisen, oder?«
»Elisabeth!«
Elisabeth schnaubte und wandte den Blick ab. Helles Haar jeglicher Art war bei ihr ein wunder Punkt. Ingrids Haar hatte sogar jetzt noch, da sie die Dreißig überschritten hatte, die Farbe überreifen Korns. Ihr Gemahl, der Großfürst Jaroslaw, liebte es, wenn sie es an Feiertagen offen trug, und schlang es sich um die Finger, strich darüber, als sei es gesponnenes Gold. Er nannte Ingrid seinen »Sonnenschein« und ermutigte Gesandte aus fernen Ländern häufig, ähnliche Metaphern zu erfinden. Mehr als einmal hatte Elisabeth bis zum Überdruss miterleben müssen, wie sie einander mit Worten zu überbieten suchten, bis sogar Ingrid selbst von ihren Lobeshymnen in Verlegenheit geriet.
Zwei von Elisabeths Schwestern, Anastasia und Anna, hatten die hellen Locken ihrer Mutter geerbt, und insbesondere die neunjährige Anastasia verbrachte viele Stunden damit, die ihren zu bürsten und zu frisieren, bis Elisabeth den Drang verspürte, ihr das Haar mit ihrem Essmesser abzuschneiden. Als sie noch jünger gewesen war, hatte sie es einmal gewagt, ihr im Schlaf ein paar Strähnen abzuschneiden. Sie hatte sie sich eigentlich nur ans Gesicht halten wollen, um sich im kupfernen Spiegel zu betrachten, aber dann war so viel Wind darum gemacht worden, dass sie ihren kostbaren Schatz von der großen Stadtmauer in die dunklen Kiefern darunter hatte werfen müssen. Wochenlang hatte sie den Verlust betrauert, und seither grollte sie Anastasia umso mehr.
Elisabeth hatte nicht einen Faden Gold in ihrem eigenen Haar. Es umrahmte ihr Gesicht nicht mit seinem leuchtenden Schein, sondern lag schwarz wie ein Mitternachtsschatten auf ihrer olivenfarbenen Haut. Ihr Vater nannte sie seine »schöne kleine Slawin« und betonte stets, dass sie sein ureigenstes Rus-Kind war. Aber dennoch sehnte sich Elisabeth nach nordischem Gold und trug ihre dunklen Locken sooft wie möglich bedeckt.
Und nicht nur ihr Haar unterschied sie von ihren eingebildeten kleinen Schwestern. Sie war klein – Anastasia war bereits größer als sie – und so schmal wie ein Bauernkind, aber wie viele Gänge sie bei Tisch auch verspeiste, sie schien nicht zuzunehmen und würde niemals auch nur annähernd die weichen, anziehenden Rundungen ihrer Mutter entwickeln. Sie war kantig, mit Ellbogen so scharf wie Speerspitzen, Knien so knubbelig wie Waldpilze, und zeigte nicht die geringsten Anzeichen für Brüste oder gar Hüften.
»Vielleicht bist du ja ein Junge, Lily«, neckte ihr ältester Bruder Wladimir sie häufig.
»Ich bin ein besserer Junge als du, Wlad«, konterte sie dann und bemühte sich, ihn bei jeglichem Spiel zu schlagen. Aber wenn die Öllampen verloschen waren und sie allein im Bett lag, wollten ihr seine Worte einfach nicht aus dem Kopf gehen.
»Ich bin kein Junge«, murmelte sie dann grimmig in ihr Gänsedaunenkissen, aber die leise Stimme in ihrem Kopf wollte nicht verstummen: »Vielleicht bist du auch nicht wirklich ein Mädchen.«
»Dieser König Harald also hatte einen spätgeborenen Sohn«, fuhr Ingrid fort. »Er trug den Namen Håkon, und weil sein Vater befürchtete, dass dessen ältere Brüder ihm seine Stellung streitig machen wollten, schickte er ihn nach England, um ihn dort von seinem Freund, König Æthelstan, aufziehen zu lassen. Dort wuchs er zu einem guten Christen heran.«
Sie sah ihre älteste Tochter scharf an, aber in diesem Augenblick hüpfte die zweijährige Agatha in ihrem Bett auf und ab und rief: »England, England.«
Elisabeth lächelte ihrer jüngsten Schwester zu, die – genau wie sie selbst – mit dunklem Haar geschlagen war und dazu noch über wilde Locken verfügte. Agatha hatte den Namen des Landes der Angelsachsen erst vergangene Woche gelernt und war offenbar ganz fasziniert davon. An Jaroslaws Hof befand sich ein verlorener englischer Königssohn namens Edward – einer jener Myriaden von Exilanten, die ihr Vater gern beherbergte –, und zu jedermanns größter Belustigung folgte Agatha dem armen jungen Mann auf Schritt und Tritt wie ein Schoßhund. Aber Elisabeth lachte nicht darüber. England wurde ebenso wie Norwegen und Dänemark von König Knut dem Großen regiert, dem Herrscher des Nordens, und dem Vernehmen nach war das Land ein kostbares Juwel. Agatha war also zu Recht davon fasziniert.
»Warum gewährst du all diesen Exilanten Unterschlupf, Vater?«, hatte Elisabeth Jaroslaw einmal gefragt. »Warum nimmst du all diese verlorenen Prinzen bei dir auf?«
»Warum?« Jaroslaw hatte ein liebevolles Lachen von sich gegeben. »Nur ein Narr täte das nicht. Diese ›verlorenen Prinzen‹ sind nur vorübergehend verloren, Lily. Wenn sie sich selbst wiederfinden – wenn sie ihren Thron und ihr Königreich wiedererlangen –, denk doch nur, was sie dann wert sind. Wie dankbar werden sie dem Mann sein, der sie in all ihrer Not nicht im Stich ließ? Und was bringt die Dankbarkeit?«
Sie hatte nachgedacht. »Geld, Vater?«
Wieder dieses Lachen – breit, nachsichtig. »Letztlich ja – aber zunächst einmal, liebe Tochter: Allianzen. Und Allianzen bedeuten Schutz, Handel, Eheschließungen. Deine liebe Mutter hat mir zwar Söhne geschenkt, die nach mir regieren, aber sie hat mir auch Töchter geschenkt. Und durch Töchter, Lily, kann ich meinen Einfluss über die gesamte bekannte Welt ausdehnen. Und wenn du bei deiner Handarbeitsstunde überhaupt einmal aufgepasst haben solltest, wirst du wissen, dass jede Näharbeit mit kleinen Stichen beginnt.«
»Deine Exilanten sind also Stiche, Vater?«
»Genau! Kleine Stiche, zugegeben, und manche hinterlassen vielleicht keine Spuren. Aber möglicherweise sind auch solche dabei, die bestehen bleiben und uns in das Gewebe der riesigen Königreiche jenseits des Landes der Rus einnähen.«
Elisabeth konnte die ehrgeizigen Worte ihres Vaters fast jetzt noch vernehmen, konnte sie in ihrem behaglichen Schlafgemach widerhallen hören, und sie wandte sich um und blickte sehnsüchtig aus dem Fenster auf einen großen Hof unter ihr. Der Brunnen inmitten des fürstlichen Kremls plätscherte unbeteiligt auf das ihn umgebende Mosaik. Die großen bronzenen Pferde, die ihr Großvater einst aus dem Krieg heimgebracht hatte, bewachten die vier Wege, die nach draußen führten. Stolz bäumten sie sich auf, wobei ihre vergoldeten Rücken die letzten Strahlen des Sonnenlichtes einfingen, so dass sie rosig schimmerten. Zu ihrer Rechten erglühte die Kirche der Heiligen Mutter Gottes, denn das Licht Hunderter Kerzen flackerte durch die farbigen Fenster und trotzte der herannahenden Dämmerung.
Die Choralgesänge wehten durch die offenen Kirchentüren hinaus, aber Elisabeth wusste, dass die Abendmesse bald vorbei sein würde, so dass Jaroslaws Druschina – sein höfischer Haushalt – hinausströmen und zur Halle hinüberwandern würde, die ihrem eigenen Gemach gegenüberlag, um dort zu Abend zu essen. Wenn sie sich gut benahm, so hatte ihre Mutter verkündet, würde sie sich den Höflingen anschließen dürfen, und sie hatte voller Vorfreude ihr bestes Gewand übergestreift. Sie hatte die Näherin überredet, das Kleid ein wenig auszupolstern, um ihre spitzen Knochen zu verbergen, und beim Blick in den Spiegel war sie beinahe zufrieden gewesen.
Die leuchtend rote Wolle brachte ihre verhasste olivenfarbene Haut gut zur Geltung, und die Perlen am Ausschnitt ihres gefalteten, leinenen Untergewandes setzten einen hellen Akzent. Nicht so sehr, wie es bei blondem Haar der Fall gewesen wäre, aber genug, dass ein winziges Lächeln ihre Mundwinkel umspielte. Jetzt juckte es sie in den Füßen, die Treppenstufen hinunterzulaufen und dem stickigen Frauengemach zu entkommen, und sie steckte einen Finger in ihre kalbsledernen Stiefel, die rot gefärbt worden waren, damit sie zu ihrem Kleid passten, als könne sie den Drang fortkratzen.
»Geduld, Elisabeth«, sagte Ingrid leise, unterbrach ihre Geschichte und schenkte ihrer ältesten Tochter ein Lächeln.
»Elisabeth ist nicht geduldig«, bemerkte Anastasia spitz. »Sie kann nicht eine Minute lang still sitzen.«
Elisabeth warf ihrer sittsamen Schwester einen wütenden Blick zu. Nur weil es Anastasia gefiel, unermüdlich Elfenbeinnadeln in elegante Stoffstücke zu stecken, hielt sie sich für etwas Besseres. Sie tat es nur, weil sie hübschere Kleider als Elisabeth haben wollte, aber wenn das der Preis war, dann zahlte sie ihn gern. Anna war genauso: Sie saß stets über ihren Buchstaben, obwohl sie noch keine sechs Jahre alt war, probierte besondere Farben und Schriften aus, als ob der Schreibtisch ihre ganze Welt sei und diese nicht draußen vor dem Fenster nur darauf wartete, erkundet zu werden. Elisabeth konnte das nicht verstehen. Nur wenn sie ihre kostbare Fidel spielte, vermochte sie still zu sitzen, denn dann konnte zumindest ihr Geist frei umhertanzen, auf dem Heben und Senken der Noten dahinreiten wie ein Vogel am Himmel oder ein Seiltänzer bei einem Fest – oder wie ein Junge auf den Stromschnellen. Elisabeth drängte die plötzlichen, wütenden Tränen zurück.
»Erzähl uns von den Trollen, Mama«, schlug sie mit barscher Stimme vor. »Den Trollen, die in Spiegeln wohnen und herausspringen, um den kleinen Mädchen, die sich zu lange darin anschauen, in die Nase zu beißen.«
Agatha kicherte, aber Anastasia sprang sofort auf und flog quer durch das Gemach, um ihrer Schwester mit wütenden Krallen die Worte aus der Kehle zu kratzen. Elisabeth war trotz ihrer schlanken Gestalt stark und hielt sie mit Leichtigkeit um Armeslänge von sich fort, während sie trat und spuckte.
»Mädchen!« Wütend zog Ingrid sie auseinander. »Ihr könnt unmöglich am Abendessen teilnehmen, wenn ihr euch so benehmt wie jetzt.«
Elisabeth riss sich los. »Sie hat sich auf mich gestürzt«, protestierte sie.
»Nur weil sie gemein zu mir war«, rief Anastasia und stolzierte in ihre Ecke neben dem Spiegel zurück.
»Wie kommst du darauf, dass ich von dir gesprochen habe, Stasia?«, rief Elisabeth ihr hinterher.
»Mädchen!«, schimpfte Ingrid erneut. »Ehrlich. Wie soll ich so nur jemals heiratsfähige Frauen aus euch machen?«
Elisabeth schnaubte und wandte sich wieder dem Fenster zu. Noch mehr Gerede von Eheschließungen – »Allianzen«. Wie die großartigen Pläne ihres Vaters auch aussehen mochten, sie konnte sich einfach nicht vorstellen, eine Braut zu sein. Der arme Bräutigam würde für seine Mühen keine allzu große Gegenleistung bekommen. Anastasia jedoch wirkte tödlich verlegen.
»Es tut mir leid, Mama. Aber sie war so gemein.«
»Eine Prinzessin sollte über derlei Sticheleien erhaben sein, Stasia.«
»Du hast recht, Mama. Und das werde ich. Ob ich einen ganz wunderbaren Gemahl bekomme, was meinst du?«
Elisabeth verdrehte die Augen und sah zu dem sich verdunkelnden Himmel jenseits des Gemachs empor. Ihr zukünftiger Ehemann war Anastasias Lieblingsthema.
»Ich bin sicher, dein Vater wird dir einen würdigen Prinzen aussuchen«, versicherte Ingrid ihr.
»Wie deiner für dich?«
»Ja, Stasia. Ich hatte großes Glück.«
»Aber du hättest doch einen König heiraten sollen, oder nicht?«
»König Olav von Norwegen«, stimmte Elisabeth zu – sie liebte es, wenn ihre Mutter davon sprach. »Aber als ihr Vater sie nach Kiew schickte, heiratete Olav ihre Schwester.«
»Astrid«, ergänzte Ingrid. »Ja, Gott segne sie. Denn nun, da Olav tot ist, ist sie wieder in Schweden bei unserem Bruder.«
Elisabeth beugte sich vor – derlei Geschichten gefielen ihr besser als das Gerede vom Heiraten. König Olav von Norwegen war im vergangenen Jahr in Kiew gewesen, und sein jüngerer Sohn Magnus – Astrids Stiefsohn – befand sich als ein weiterer von Jaroslaws Schoß-Exilanten hier am Hof. Ein Großteil von Jaroslaws Truppen hatte Olav nach Norwegen zurückbegleitet, nur um in der Schlacht von Stiklestad vernichtend geschlagen zu werden. Ein paar waren nach Hause gehumpelt, hatten dunkel etwas von bösen Mächten gemunkelt, aber die meisten waren entweder auf dem Schlachtfeld gestorben oder in Knuts Dienste getreten. Elisabeth hatte versucht, mehr darüber herauszufinden, aber die Männer waren ungewöhnlich wortkarg geblieben.
»Sicher«, sagte Anastasia und legte den hübschen Kopf schief, »wird Tante Astrid wieder heiraten?«
»Vielleicht«, stimmte Ingrid zu und tat Elisabeths protestierendes Stöhnen mit einer Handbewegung ab.
»Das muss sie. Wenn sie doch schon einmal Königin war, will sie doch sicher unbedingt wieder Königin werden? Ich jedenfalls würde das ganz sicher. Oh, ich fände es so wunderbar, einen König zu heiraten und ihm Söhne zu schenken, damit auch sie Könige werden.«
»Das wäre sicher schön«, pflichtete Ingrid ihr bei.
Elisabeth stöhnte erneut, diesmal lauter.
»Was?«, fragte Anastasia.
»Ist das alles, was du dir für dich selbst wünschst – Könige in die Welt zu setzen?«
»Das ist doch ein hehres Ziel. Was wünschst du dir denn, Lily? Was könnte so viel besser sein?«
Elisabeth starrte ihre Schwester an, und die Worte ihres Vaters über »das Gewebe der riesigen Königreiche« kamen ihr wieder in den Sinn. Anastasia hatte solch ein begrenztes Bild!
»Ich wäre gern Königin«, bekannte sie. »Eine Königin aus eigener Kraft, die ihrem Mann bei den Regierungsgeschäften hilft und das Volk so formt, wie Mutter dazu beiträgt, das Land der Rus zu formen.«
Anastasia verzog angewidert das Gesicht, aber Ingrid kam zu Elisabeth herüber und legte ihr den Arm um die Schultern.
»Danke, dass du so eine hohe Meinung von mir hast, Lily, obwohl ich sie sicher nicht verdiene. Ich bin doch schließlich ständig im Kindbett.«
Sie tätschelte sich den Bauch, der sich neuerdings wieder beträchtlich wölbte, da sie das zehnte Kind unter dem Herzen trug.
»Du tust deine Pflicht«, meinte Anastasia. »Vater ist sehr stolz auf all seine Erben.«
»In der Tat«, stimmte Ingrid leichthin zu, »obwohl ich mir manchmal wünschte, er würde ein paar Kinder auch irgendwelchen Konkubinen machen, wie sein Vater es getan hat.«
»Mutter!« Anastasia war so schockiert, dass Elisabeth am liebsten laut losgelacht hätte. Aber in diesem Moment konnten sie unten den Bischof von Kiew in seiner kostbaren zeremoniellen Robe aus der Kirche treten sehen, gefolgt von seinem Chor, und sie wusste, dass die Stunde zum Abendessen beinahe gekommen war. Sie konnte sich weitere Streitigkeiten jetzt nicht leisten.
»Du bist eine gute Christin, Mama«, sagte sie, so sittsam sie es vermochte.
Ingrid sah sie an, und zu Elisabeths großer Überraschung zwinkerte sie ihr verstohlen zu, bevor sie sich mit einem milden »Das sind wir doch alle, meine Tochter. Gehen wir also hinunter zum Essen?« zur Tür wandte.
Die kleineren Mädchen krähten protestierend, als Hedda sich in ihrer Ecke erhob.
»Du hast uns noch nicht von den Trollen erzählt«, bettelte Anna. »Leben sie wirklich im Spiegel?«
Anastasia, die eilig nochmals ihr Spiegelbild gemustert hatte, zuckte zurück, und Ingrid warf Elisabeth einen scharfen Blick zu.
»Nein, Anna«, zwang Elisabeth sich zu antworten. »Sie leben tief in den Wäldern.«
»Auch in unseren Wäldern?« Angstvoll blickte Anna zum Fenster hinüber. Kiew stand auf einem hohen, freien Plateau, aber die Abhänge hinter seinen dicken Mauern waren dicht mit Kiefern bewachsen.
»Nicht in unseren«, antwortete Elisabeth. »Trolle leben in Norwegen, und in jedem Winter graben sie sich tief unter die Bäume ein, um dem Eis zu entgehen und sich vom Saft der Wurzeln zu ernähren, bis sie so fett sind, dass sie sich zweiteilen und doppelt so viele im Frühjahr wieder hervorkommen.«
»Wirklich?«, fragte die kleine Agatha.
»Ich weiß es nicht«, bekannte Elisabeth und küsste sie auf die dunklen Locken. »Aber eines Tages werde ich nach Norwegen reisen, um es für dich herauszufinden.«
»Nach Norwegen? Nein, Lily, das ist zu weit weg.«
»Nicht für mich – und für dich auch nicht, Kleines. Du könntest mit mir kommen und von dort aus nach deinem kostbaren England übersetzen.«
Agathas Augen wurden so groß wie Monde. »Könnte ich das, Lily? Wirklich?«
Ingrid kam eilig herbei, stieß Elisabeth energisch beiseite, deckte ihre jüngste Tochter zu und gab ein knappes »Wir werden sehen« von sich. Ein lautes Pochen am Südtor schnitt ihr jedes weitere Wort ab.
Es wurde eindeutig mit einem schweren Gegenstand daran geklopft, oder – wahrscheinlicher – mit einem Schwertknauf. Das Geräusch hallte im großfürstlichen Hof wie Donnergrollen wider. Die Mädchen, sogar die kleineren, stürmten sogleich ans Fenster und kletterten hinaus auf den überdachten Holzgang dahinter. Ingrid und Hedda versuchten sie aufzuhalten, aber vergebens. Alle anderen taten es ihnen gleich – Bedienstete, Mägde und Kindermädchen tauchten aus den Wohnquartieren über den drei großen Hallen auf, die zusammen mit der Kirche an der vierten Seite das Zentrum des Kremls bildeten. Die Frauengemächer befanden sich an der äußersten Westseite, und Elisabeth sah zu der hoch aufragenden südlichen Halle hinüber, wo ihre Brüder ebenfalls eifrig auf den Balkon kletterten, um zu den großen Kremltoren am Ende zu gelangen. Sie waren alle dort: Wladimir, Ivan, Stefan, Viktor und Igor – allesamt mit weizenblondem Haar –, und sie drängelten, um den besten Blick zu erhaschen.
»Kannst du etwas sehen?«, rief Elisabeth Wladimir zu, der als Ältester jetzt den besten Aussichtspunkt ergattert hatte.
Er beugte sich direkt über das Tor, schüttelte jedoch den Kopf. Die Besucher, wer immer sie auch sein mochten, mussten dicht vor den äußersten Mauern stehen und wurden von den großen Türmen verborgen. Die Wachen debattierten wütend mit ihnen. Und nun schritt der Großfürst, Elisabeths Vater, zur Kirche hinaus und den hölzernen Pfad entlang, um das Kommando zu übernehmen.
»Wer besucht Kiew zu dieser Stunde?«, verlangte er zu wissen. Sein Körper war unter seinem langen, kunstvoll bestickten Umhang genauso schlank wie Elisabeths, aber seine Stimme klang dennoch machtvoll.
Die Antwort der Wachen war zu ihrer Enttäuschung zu leise, aber auf ein Zeichen von Jaroslaw hin wandten sie sich um, um das große Tor hinabzukurbeln, und die Männer wurden sichtbar. Drei Anführer ritten auf energisch ausschreitenden Pferden hinein, gefolgt von einem Trupp aus etwa fünfzig Soldaten.
»Waräger«, keuchte Ingrid an Elisabeths Seite.
Elisabeths Herzschlag beschleunigte sich. Waräger – Elitesoldaten der Wikinger aus den Nordlanden. Ihre scharfen Augen richteten sich auf die drei an der Spitze der Prozession, die sich nun aus den Sätteln schwangen, um sich tief vor dem Großfürst zu verbeugen.
»Wer ist das?«, flüsterte Anastasia und deutete mit bebendem Finger auf den Mann in der Mitte.
Alle drei Männer hatten breite, muskulöse Schultern. Ihre Arme waren dick wie die von kampferprobten Kriegern, und der mittlere war so groß, dass sein Kopf – den helleres und leuchtenderes Haar zierte, als Elisabeths neidische Augen je erblickt hatten – sogar nun, da er kniete, fast auf einer Höhe mit dem ihres Vaters war.
»Das ist Harald Schönhaar persönlich«, keuchte Anna.
»Unsinn«, erwiderte Elisabeth, »er ist schon vor vielen Jahren gestorben.« Aber dennoch drückte sie sich noch etwas dichter an ihre Mutter, als der Mann das Wort ergriff. Seine Stimme – trotz der fremden Worte einer nordischen Sprache, die älter war als ihre eigene – war so klar und fließend, dass sie den gesamten Hof erfüllte und bis hinauf auf die Brüstung drang.
»Meinen Gruß, Großfürst. Wir kommen in Frieden und suchen Asyl. Wir sind Exilanten aus Norwegen, wo mein Bruder, der heilige König Olav, heimtückisch im Kampf erschlagen wurde. Dies ist Ulf Ospaksson, dies Halldor Snorrason, und ich bin Harald Sigurdsson, Prinz von Norwegen.«
»Prinz Harald!«, rief Anastasia begeistert.
»Von Norwegen«, betonte Elisabeth. Das hier war nicht der Harald aus den Geschichten ihrer Mutter. Aber dennoch pochte ihr Herz noch schneller, als sie sich Ingrid zuwandte. Vielleicht würde sie jetzt mehr über die üble Schlacht und die Geschicke des Nordens erfahren, der sie so sehr faszinierte. »Bitte, Mutter«, bat sie. »Können wir jetzt nach unten gehen?«
KAPITEL 2
Elisabeth betrat die Große Halle hinter ihrer Mutter, ausnahmsweise einmal dankbar, dass sie Anastasia an ihrer Seite hatte. Der riesige Saal – etwa fünfzig Schritte lang – war überfüllt und stickig, denn die gesamte Druschina des Großfürsten drängte sich hier zusammen, um einen Blick auf die Besucher zu erhaschen. Die Halle war das Herz von Jaroslaws Palast. Normalerweise war sie von zahllosen Lichtern erleuchtet, die sich im Mosaikboden und den Fresken an den gekälkten Wänden widerspiegelten, aber heute war sie so dicht bevölkert, dass die Fensteröffnungen sich verdunkelt hatten, als ob die nahende Nacht bereits angebrochen wäre.
Diener eilten umher, um die Öllampen an den seitlichen Säulen und auf den Ständern zu entzünden, aber die Menge stand ihnen im Weg und verdunkelte das Licht jener Flammen, die bereits brannten. Gerade als Elisabeth eintrat, entstand ein Handgemenge in der Ecke, denn irgendein unbedeutender Graf kletterte auf einen Hocker, um die Myriaden von Köpfen besser überblicken zu können. Doch er prallte mit einem anderen zusammen, der das Gleiche vorgehabt hatte, so dass beide auf einen Diener stürzten, der eine brennende Kerze in der Hand hielt. Ein Umhang fing Feuer, und mit einem Schreckensschrei und dem Knistern schwelender Wolle stürzte sein Besitzer auf den Ausgang zu. Schnell bildete die Menge eine Gasse für ihn, und er tauchte im Brunnen ab.
»Versucht, euch das Lachen zu verkneifen, Mädchen«, murmelte Ingrid und presste die Lippen fest aufeinander, um ihre eigene Belustigung zurückzuhalten.
Doch jetzt waren sie auch von den Höflingen bemerkt worden, die ihnen ehrerbietig Platz machten, um sie hindurchzulassen. Elisabeth zwang sich, den Kopf zu heben, und widerstand dem Impuls, ihren Kopfputz dichter über ihr widerspenstiges rabenschwarzes Haar zu ziehen. Sie folgte ihrer Mutter so ruhig und elegant, wie sie es vermochte, mitten durch die Halle bis hin zu Jaroslaws riesigem Marmorthron am Kopfende.
»Ah, meine Geliebte, meine Ingrid. Du zierst uns mit deiner güldenen Anwesenheit.«
Jaroslaw sprang vom Podest und streckte seiner Frau die Hand entgegen. Elisabeth sah zu, fasziniert wie immer von dem offiziellen Gehabe ihrer Eltern. Jaroslaw behandelte Ingrid stets, als ob sie das Kostbarste auf der Welt sei. Jetzt geleitete er sie behutsam zu ihrem Stuhl an seiner Seite, obwohl sie sowohl größer als auch breiter war als er – insbesondere angesichts ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft.
Alles, was der Großfürst tat – vom Essen über die Verkündung von Gesetzen bis hin zum Abgang auf die Latrinen, geschah mit großer, extravaganter Geste, die seinen Untertanen sein Selbstvertrauen und seine Größe vor Augen führen sollte. Aber Ingrid schien er aufrichtig zu lieben, und sie ihn. Anastasia bemerkte häufig seufzend, wie wunderschön das war. Elisabeth war sich dessen nicht ganz so sicher, aber es fühlte sich auf jeden Fall richtig an, beruhigend – als ob eine so starke Verbindung an der Spitze des Volkes auch dem Land selbst Stärke verlieh.
Nun schlich sie zu Wladimir hinüber – dem Einzigen der Prinzen, dem es gestattet war, am Abendessen teilzunehmen –, während Jaroslaw seiner Frau die Besucher vorstellte und diese sich verbeugten. Es war ein seltsames Trio. Der erste, Ulf Ospaksson, war groß, wenn auch nicht so groß wie sein Prinz. Eine wilde, lockige Mähne fiel bis zu einem ebensolchen Bart herab, den er vergeblich unter dem Kinn zu einem Zopf zu flechten versucht hatte. Durch dieses buschige Gewirr konnte man seinen Mund kaum erkennen, außer wenn er lachte, was er häufig zu tun schien. Dann öffnete er sich wie eine rosafarbene Höhle und enthüllte makellose weiße Zähne. Seine Augen hingegen waren groß und dunkelbraun wie die Erde, und sie schienen alles gleichzeitig zu erfassen.
Der zweite Mann, Halldor Snorrason, war ein vierschrötiger, stämmiger Mann – fast so breit, wie er groß war. Sein Kopf kauerte auf massiven Schultern, so dass er weniger wie ein Mensch als vielmehr wie eine der byzantinischen Schildkröten wirkte, die Wladimir in einem Wasserbecken in seinem Schlafgemach hielt. Er war älter als die anderen beiden, und sein Haar wuchs nur spärlich auf dem Oberkopf, so dass es aussah, als ob seine Stirn, die niedrig über den buschigen Augenbrauen saß, die Flucht auf seinen Oberkopf angetreten hätte. Sein übriges Haar hatte er mit einem Lederband im Nacken zusammengefasst, und sein langer Bart war ordentlich gekämmt und mit zwei identischen Bändern zu einer gabelartigen Konstruktion zusammengebunden. Seine Tunika war beinahe schwarz, ein ungewöhnlich dunkler Farbton für die sonst so farbenfroh gekleideten Wikinger. Die Nähte waren mit auffälligen Goldfäden bestickt. Elisabeth fand, dass er der seltsamste Mann war, den sie je gesehen hatte, und wandte erst den Blick ab, als Prinz Harald vor ihn trat.
Sie atmete scharf ein. Aus der Nähe war Harald Sigurdsson sogar noch bemerkenswerter als aus der Ferne. Obwohl er offensichtlich nur wenige Jahre älter war als sie selbst, war er fast einen Kopf größer als sämtliche anderen Männer in Kiews großer Halle. Sein makelloses Haar war so blond, dass es fast weiß zu sein schien. Seine Haut war glatt rasiert bis auf einen langen, gepflegten Schnauzbart, und von der Lippe bis hin zur Augenbraue erstreckte sich eine große Narbe, die in Elisabeths Augen die bleiche Klarheit seiner restlichen Haut nur noch mehr hervorzuheben schien. Fasziniert trat sie einen Schritt nach vorn, so dass ihr Vater sie bemerkte.
»Ah ja – meine älteste Tochter. Dies, Harald, ist Prinzessin Elisabeth. Komm vor, meine Liebe.«
Elisabeth versuchte, sich zu sammeln, als sie auf das Podest stieg, aber ihr Kleid verfing sich in der bestickten Spitze ihres Stiefels. Einen schrecklichen Augenblick lang glaubte sie hinzufallen, aber da streckte Harald die Hand aus. Ihre Finger fanden die seinen, und er zog sie sicher an seine Seite.
»Habt Dank, edler Herr.«
»Es war mir eine Ehre, Prinzessin. Und das ist Eure Schwester?«
Elisabeth war gezwungen, ihm zu versichern, dass Anastasia in der Tat ihre Schwester war, und kochte innerlich vor Zorn, als Harald ihre Hand losließ, um Anastasia ebenfalls nach vorn zu ziehen.
»Ihr seid zu freundlich«, lächelte Anastasia einfältig und schlug die jugendlichen Wimpern zu dem norwegischen Prinzen auf. Aber sobald sie sicher stand, ließ Harald ihre Hand wieder los und wandte sich erneut an Elisabeth.
»Euer Vater ist sehr gnädig, uns zu empfangen.«
Seine Sprache ähnelte zwar der ihren, hatte aber einen weichen Akzent, bei dem Elisabeth wunderbare Bilder von den schneebedeckten Kiefernwäldern des Nordens und den messerscharfen Fjorden vor Augen hatte, die ihre Mutter so oft heraufbeschworen hatte. Sie warf einen Blick auf Jaroslaw, der sich gerade angeregt mit Ulf unterhielt.
»Er liebt Besucher«, sagte sie zu Harald, wobei sie ihre Worte mit Bedacht wählte, »besonders solch ehrenwerte.«
»Oh, was das angeht, so fürchte ich, dass ich ohne jegliche Ehre an Euren Hof komme, denn ich bin vor einer Schlacht geflohen.«
Elisabeth sah, wie Haralds blassgrauer Blick sich trübte. Seine Augen wirkten wie Gletscher, die unter der Oberfläche dahintrieben, und sie war begierig darauf, mehr zu erfahren. Er wirkte nicht wie ein Feigling, warum also war er geflohen? Sie musterte ihn eingehend und erinnerte sich daran, wie sie, als sie jünger und weniger vorsichtig mit ihren Fragen gewesen war, Jaroslaw über die verlorenen Prinzen befragt hatte.
»Aber Vater«, hatte sie gesagt. »Sind sie denn nicht aus einem bestimmten Grund ›verloren‹?«
»Wie meinst du das, meine Tochter?«
»Sind es nicht allesamt schwache Männer, weil sie überhaupt verloren gingen?«
Jaroslaw war sein ständig bereitwilliges Lachen im Halse stecken geblieben, und er hatte Elisabeth dichter zu sich herangezogen.
»Vielleicht, Lily. Es ist möglich, ja, aber die Welt ist ein so unwirtlicher Ort. Männer werden mit so vielem konfrontiert, insbesondere junge Männer. Das Rad der Fortuna, mein liebes Kind, dreht sich erbarmungslos. Es kann dich in den Abgrund stürzen, wenn du es am wenigsten erwartest, und die Mutigsten sind diejenigen, die dennoch festhalten – am Leben und an der Hoffnung – und die sich immer noch daran festhalten, wenn sie es wieder nach oben dreht.«
»Und wenn ein Mann ihnen dabei hilft, daran festzuhalten …?«
»Dann sind sie ihm für den Rest ihres Lebens etwas schuldig. Ja.«
Elisabeth hatte geschluckt – beunruhigt. »Musstest du dich schon einmal daran festhalten, Vater?«, hatte sie nervös gefragt, und wieder hatte er gelächelt.
»Sehr oft, Lily. Und dir wird es nicht anders ergehen.«
»Ich werde mich festklammern?«
»Das wirst du. Ich weiß es.«
Sie hatte seither über diese Worte immer wieder nachgedacht und um die Kraft gebetet zu beweisen, dass ihr Vater recht hatte. Aber nun hatte sie das Gefühl, geradewegs in das Gesicht eines Mannes zu blicken, der diese Erfahrung tatsächlich gemacht hatte, und das faszinierte sie. Bevor sie jedoch noch mehr Fragen stellen konnte, hatte er sich wieder an Jaroslaw gewandt.
»Wir werden Euch nicht zur Last fallen, Sire«, sagte er ernst zu ihm. »Wir sind Krieger und bereit, Euch jeglichen Dienst zu erweisen, den Ihr für angemessen haltet.«
»Das bezweifle ich nicht«, stimmte Jaroslaw leichthin zu. »Mein kleines Reich wurde ausnahmslos mit Hilfe der Waräger errichtet. Soldaten aus dem Norden haben mich noch nie im Stich gelassen. Und außerdem glaube ich, dass Ihr Verwandte hier am Hof habt. Wladimir!«
Er bedeutete seinem ältesten Sohn mit einer Handbewegung, seinem Befehl zu folgen, und pflichtschuldigst wandte sich Wladimir um, um nach dem jungen Magnus zu suchen. Elisabeth seufzte. Der siebenjährige Prinz von Norwegen war der jüngste der momentanen Exilanten am Hof ihres Vaters, und ihrer Ansicht nach auch der langweiligste. Er war still und fleißig und schien sich an seinem Schreibtisch oder im Betstuhl wohler zu fühlen als draußen an der frischen Luft, sogar wenn die Sonne schien. Jaroslaw hatte Elisabeth berichtet, dass er ein »bewunderungswürdiges Beispiel an Frömmigkeit« sei, was sie nicht bezweifelte, aber diesem Beispiel gedachte sie keineswegs zu folgen.
Sie bevorzugte den englischen Prinzen Edward. Denn obwohl auch er eher still war, ritt er gerne und sprach lieber über die Bibel, statt sich in ihr zu vergraben. Sie hatte schon viele lebhafte Diskussionen geführt – mit ihm und seinem Exilkameraden, Andreas von Ungarn, einem umgänglichen, gutaussehenden jungen Mann, der erst kürzlich zum Christentum konvertiert und voller Eifer war. Edward hing an Andreas’ Lippen, und Elisabeth wünschte sich, er möge erkennen, dass seine eigenen Überlegungen, wenn sie auch nicht ganz so glühend zum Ausdruck gebracht wurden wie die von Andreas, erheblich durchdachter und tiefschürfender waren. Sie hatte schon häufiger versucht, mit ihm über England zu reden, aber er war bereits als kleines Kind von dort fortgeschafft worden auf der Flucht vor dem siegreichen König Knut. Daher wusste er weniger als sie selbst von seinem Geburtsland.
Jetzt beobachtete sie, wie Edward den kleinen Magnus nach vorn schob. Wladimir ergriff seine Hand und zog ihn kurzerhand hinüber, damit er seinen gerade angekommenen Onkel begrüßen konnte. Prinz Harald beugte sich herab, um Magnus die Hand zu schütteln, und sprach leise zu ihm – wahrscheinlich über seinen verstorbenen Vater –, und Elisabeth hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen. Der arme Junge war mit nur fünf Jahren gezwungen gewesen, aus seiner Heimat zu fliehen. Er war von seiner Stiefmutter, Königin Astrid – Ingrids Schwester –, die mit ihrer Sippe in Schweden Unterschlupf gefunden hatte, getrennt worden. Und nun hatte er auch noch seinen Vater verloren und damit jegliche Chance, jemals wieder nach Hause zurückzukehren. Doch als sie noch darüber nachsann, hörte sie, wie Harald zu Magnus sagte:
»Wir werden Norwegen zurückerobern, das verspreche ich dir. Wir werden es für unsere Dynastie wieder einnehmen, wie es nur recht und billig ist.«
»Wie?«, fragte Magnus mit weit aufgerissenen Augen und beinahe zitternd.
»Wie? Nun ja, mit Gewalt – Gewalt und Recht.«
»Und mit Gottes Segen?«
»Auch das, Magnus. Aber Gott lächelt auf diejenigen herab, die ihr Glück selbst suchen, besonders im Kampf.«
»Tut er das? Sagt Christus denn nicht, dass wir Friedensstifter sein müssen?«
»Das ist wahr. Aber wie, meinst du, können wir Norwegen den Frieden bringen, ohne dafür zu sorgen, dass es von einem gerechten König regiert wird? Wir müssen Krieg führen, um Frieden zu stiften – erkennst du das? Wir müssen selbst dafür sorgen, dass Licht in die Dunkelheit kommt – denn glaubst du nicht, Magnus, dass Gott nicht schon genug zu tun hat, ohne auch noch unsere Schlachten für uns zu schlagen? Nein, wir müssen für unser eigenes Schicksal kämpfen. Und wenn wir das tun, wird er uns mit seiner Gunst belohnen.«
»Oh.«
Magnus runzelte die Stirn, und Elisabeth konnte sich jetzt schon ausmalen, wie er morgen wieder über seinen Büchern brüten würde. Sie lächelte und rückte näher.
»Dann werdet Ihr Soldaten benötigen, Prinz Harald.«
Er blickte auf. »Das werde ich, Prinzessin. Viele. Knut regiert Norwegen, Dänemark und England. Er hat also eine furchterregende Streitmacht zur Verfügung. Ich brauche mit Sicherheit Soldaten, und dafür werde ich Gold benötigen. Um sich selbst oder ihre Angehörigen zu schützen, verlangen Männer keine Entlohnung, aber angreifen werden sie nur selten, ohne dass man sie bezahlt. Ich muss daher Gold und Schätze sammeln, wenn ich mein Königreich zurückerobern will.«
»Unser Königreich«, sagte Magnus hinter ihm, aber keiner von beiden schenkte ihm Beachtung.
»Und wo wollt Ihr derlei Reichtümer auftreiben?«, fragte Elisabeth.
Harald sah sie geradewegs an, seine grauen Augen hell und klar und goldgesprenkelt im flackernden Kerzenlicht.
»Wie alle guten Waräger, so werde auch ich sie durch das Schwert gewinnen. In meinen Adern fließt Meerwasser, Prinzessin, und ich reise, wohin das Segel mich trägt. Ich werde für Euren Vater kämpfen, wenn er mich lässt, und überdies für jeden anderen Grafen oder König. Ich werde meinen Lohn entgegennehmen und Reichtümer anhäufen.«
Elisabeth blickte fasziniert zu ihm empor. Dieser Mann klammerte sich nicht einfach nur fest am Rad der Fortuna, sondern er versuchte, es aus eigener Kraft zu drehen. Die meisten der Exilanten ihres Vaters schienen damit zufrieden zu sein, an seinem Hof herumzusitzen und bei einem Becher vom besten Wein ihres Gastgebers von ihrer Rückkehr an die Macht zu träumen, aber dieser Mann war beseelt von einer ruhelosen Energie und Zielstrebigkeit, die ihre Neugier anstachelte.
»Und was werdet Ihr mit diesen ›Reichtümern‹ dann anfangen?«, fragte sie.
»Anfangen?«
»Wo werdet Ihr Euren Schatz aufbewahren, verehrter Prinz, damit er sicher ist, bis Ihr ihn braucht?«
Er legte nachdenklich den Kopf zur Seite. »So weit habe ich noch nicht gedacht«, bekannte er. »Ich werde einen sicheren Ort brauchen.«
»Mein Vater hat große Schatzkammern im Norden, in Nowgorod. Sie werden Tag und Nacht von seinen besten Männern bewacht.«
»Ihr glaubt, dass ich eine solche Schatzkammer benötige?«
»In der Tat. Er hat einige übrig. Ich könnte Euretwegen mit ihm reden.«
»Das könntet Ihr?«
»Natürlich. Ich bin seine älteste Tochter.«
Elisabeth richtete sich zur vollen Größe auf, obwohl sie kaum wusste, was sie da sagte und warum – außer dass dieser Mann so leidenschaftlich im Hinblick auf sein verlorenes Vaterland sprach, dass sie ihm unbedingt helfen wollte, so gut sie konnte.
»Das wäre sehr freundlich. Ich schwöre, dass ich sie so schnell wie möglich füllen werde. Ich werde jeden Tag, den Gott mir gewährt, dafür kämpfen.«
Elisabeth lächelte. »Doch sicher nicht jeden Tag? Schließlich müsst Ihr Euch auch ausruhen. Und nebenbei bemerkt, müsst Ihr Euch vor mir auch nicht rechtfertigen.«
»Oh, aber das sollte ich, wenn Ihr die Hüterin meines Schatzes sein werdet.«
»Ich? Oh Prinz, ich meinte doch nicht …«
»Nennt mich Harald, bitte. Den Titel Prinz habe ich nicht verdient. Noch nicht.«
Bei diesen Worten schüttelte Elisabeth jedoch den Kopf. »So funktioniert das nicht. Ein Mann muss seinen Titel nicht verdienen, denn er ist sein Geburtsrecht, und er trägt ihn viel mehr zu Ehren seiner Vorfahren als zu seiner eigenen.«
Harald blinzelte. »Wohl gesprochen, Prinzessin. Aber er sollte ihm doch sicher gerecht werden?«
»Ich bin sicher, das werdet Ihr, Harald.«
»Das Gold wird es Euch beweisen, Prinzessin.«
»Elisabeth.«
Sie errötete, als er sich tief vor ihr verbeugte, aber Gott sei Dank ertönte in diesem Augenblick der polierte Gong hinter ihnen und rief die Druschina zu Tisch, und sie konnte ihm entkommen – wenn auch nicht für lange.
»Harald, Ihr werdet zur Rechten meiner Gemahlin Platz nehmen.« Jaroslaw geleitete seinen Gast auf den bevorzugten Platz. »Meine Töchter werden Euch und Euren guten Männern Gesellschaft leisten. Nein, nein, keine Widerrede. Ihr seid mein hochverehrter Gast, welches Blatt das Schicksal Euch auch zugespielt haben mag, und Ihr werdet an unserem Tisch sitzen.«
Die drei Männer verbeugten sich tief und traten zu ihren Stühlen. Elisabeth schlüpfte zwischen Harald und Halldor. Anastasia und Ulf saßen daneben. Sie warf ihrer Schwester einen Blick zu, und ausnahmsweise waren sie sich einmal einig: Sie konnten es vor Freude kaum fassen. Normalerweise hatten sie Glück, wenn sie inmitten der Halle einen Platz fanden, aber am heutigen Abend waren sie irgendwie an die Seite ihres Vaters geraten, und Elisabeth war entschlossen, das Beste daraus zu machen.
Während die Mahlzeit voranschritt und der erste Gang aus gewürztem Flussfisch einer gehaltvollen Wildpastete mit Waldpilzen wich, war Elisabeth beinahe schwindlig von der Anstrengung, sich auf das Durcheinander von Unterhaltungen in ihrer Umgebung zu konzentrieren. Sie hatte ihre Pastete kaum angerührt, war aber immer noch nicht hungrig, als die Dienerschaft wieder abräumte und nun einen Spieß mit einem Wildschwein von der Herdstelle in der Mitte hob, ihn in der Halle vor der versammelten Menge herumtrug, bevor sie ihn auf einen goldenen Eichentisch legte, um den Braten anzuschneiden.
Zu ihrer Linken waren ihre Mutter und Harald tief ins Gespräch vertieft über Menschen, die Elisabeth lediglich aus Ingrids Erzählungen kannte. Sie war begierig, mehr zu erfahren, fürchtete aber, nur ihre eigene Unwissenheit zur Schau zu stellen, also wandte sie sich an Halldor zu ihrer Rechten, der sich bis zu diesem Zeitpunkt in seiner Mahlzeit förmlich vergraben hatte.
»Stammt Ihr ebenfalls aus Norwegen, werter Jarl?«, fragte sie höflich.
Halldor schüttelte seinen lustigen, kahl werdenden Kopf. »Nein, Prinzessin, ich bin weder Jarl noch Norweger. Ich stamme aus Island.«
»Aus Island?« Das erklärte seine Sprache – die kehliger klang als Prinz Haralds, wenn auch auf seltsame Weise melodisch. »Ist das nicht sehr weit weg?«
»Nicht so weit, solange man unter starkem Segel fährt. Mein guter Freund Ulf stammt ebenfalls von dort.«
Sein »guter Freund« beugte sich herüber, wobei seine dunklen Locken wild wippten. »Was sagt er über mich?«, fragte er. Seine Stimme klang ähnlich wie Halldors, obwohl sie höher war und stets einen belustigten Unterton zu haben schien. »Welche verleumderischen Geschichten verbreitet Halldor, Prinzessin?«
»Eigentlich keine«, antwortete Elisabeth. »Er hat mir lediglich berichtet, dass Ihr beide aus Island stammt.«
»Oh, nun gut, so viel ist wahr – obwohl die Ähnlichkeiten da schon aufhören, nicht wahr, Hal?«
»Ihr seid beide Soldaten«, widersprach Elisabeth.
»Das ist wahr«, stimmte Halldor zu. »Beide Waräger, haben beide dem jungen Harald den Treueeid geleistet, sind beide vor Knut, dem Herrscher über das Nordische Großreich, geflüchtet, der uns nach dem Leben trachtet – wir haben viel gemeinsam, Ulf, mein Freund.«
Ulf schenkte ihm ein schiefes Lächeln. »Ja, ja, aber ich bin nicht zur Hälfte ein Troll.«
Elisabeth keuchte. »Ihr seid zur Hälfte Troll?«, fragte sie Halldor.
Der gedrungene Mann runzelte die Stirn. »Glaubt Ihr das im Ernst?«
Elisabeths Herz machte einen Satz, als ihr klar wurde, wie töricht sie war, denn nun lachte Ulf sein riesiges rosafarbenes Lachen.
»Ich würde es mir wünschen«, antwortete sie also schnell. »Denn meine Mutter hat mir allerlei wunderbare Dinge von Trollen erzählt.«
»Wie zum Beispiel, dass sie Kinder essen?«, schlug Ulf fröhlich vor. »Und dass sie sich in Höhlen verstecken, sich nur nachts zeigen und sehr, sehr hässlich sind?« Er lachte erneut und schlug Halldor auf den Rücken.
Elisabeth fühlte sich noch schlechter, aber Halldor schien das nicht zu kümmern.
»Oder vielleicht, dass ihr Haar so wild ist, dass man schwören könnte, dass ihnen das Gehirn ausgefallen ist«, feuerte er nun zurück.
Anastasias blonder Schopf fuhr zwischen den Männern hin und her. Sie war sich offenbar nicht sicher, ob sie entsetzt oder amüsiert sein sollte.
»Gibt es Trolle denn wirklich?«, fragte sie jetzt.
Ulf bemerkte ihren furchtsamen Blick und schüttelte freundlich den Kopf. »Nein, Mädchen. Nur in Geschichten.«
»Und deshalb sind sie tatsächlich real«, konterte Halldor sofort. »Soll ich eine davon erzählen?«
Elisabeth hörte, wie Ulf stöhnte, aber Anastasia nickte eifrig. Halldor lehnte sich also auf seiner Bank zurück, reckte den Hals auf seinen stämmigen Schultern und hob die Augenbrauen, so dass seine haselnussbraunen Augen aufleuchteten wie Sommersonnenschein.
»Einmal bin ich einem Troll begegnet. Da war ich noch ein Junge etwa in Eurem Alter, Prinzessin Anastasia.«
»Wirklich? Wo? Wo, edler Herr?«
»Im Wald natürlich. Ich jagte Vögel mit meiner neuen Schleuder und geriet zu tief hinein, hinter das sonnenbeschienene Gehölz am Rand und tief die Pfade hinab, bis jene Pfade nicht mehr waren als lediglich die schwachen Abdrücke weniger mutiger Füße. Die Bäume breiteten ihre Zweige über meinem Kopf aus und pflückten an meinem Haar. Sie streckten die Wurzeln aus, um meine Füße zu fangen, und Kletterpflanzen griffen wie Schlangen von den Borken aus nach mir, begierig, ihre Reißzähne in meinem Fleisch zu versenken.«
Seine Hände bewegten sich jetzt, warfen Schatten in der durchräucherten Luft, untermalten die Bilder, die seine kehlige Stimme erschuf, und unwillkürlich war Elisabeth ganz gefangen – weit weg von dem Geschwätz Kiews, sondern vielmehr mit Halldor auf einem dunklen, verborgenen Pfad.
»Der Troll?«, flüsterte sie.
»Ah, der Troll! Er befand sich in einem Wurzelgewirr am Fuße einer riesigen Eiche. Zuerst entdeckte ich seine Augen – groß wie der Herbstmond, und genauso gelb –, und sie folgten mir, spürten mir nach, wie ich den Weg entlangstolperte, hielten sich bereit …«
»Bereit, sich auf Euch zu stürzen?«, fragte Anastasia mit ganz hoher Stimme.
»Das glaubte ich, Kind, aber nein – bereit davonzulaufen. Er fürchtete sich vor mir, versteht Ihr? Sie sind ruhige Kreaturen, diese Trolle, und am glücklichsten, wenn man ihnen ihre komischen, kleinen Eigenheiten und ihre Ruhe lässt. Nur wenn sie in die Enge getrieben werden, schlagen sie zu.«
»Aber Ihr triebt ihn nicht in die Enge, Halldor?«
»Nein, Mädchen. Ich rannte schreiend davon, und er rannte schreiend davon. Ich stolperte über eine Wurzel, und er, leichtfüßiger als ich auf seinen winzigen Zehen, sprang über mich hinweg und stürmte geradewegs eine riesige Kiefer empor, wobei seine langen Nägel eine Kratzspur auf der dünnen Borke hinterließen. Und dann war er verschwunden.«
»Verschwunden«, hauchte Anastasia begeistert.
Elisabeth löste sich aus dem Bann seiner Geschichte und blickte Halldor skeptisch an. »Das habt Ihr erfunden«, rief sie anklagend.
Er lächelte. »Vielleicht ja, vielleicht nein. Aber solange es dauerte, war es wirklich, oder nicht?«
Harald wandte sich zu ihnen um. »Spinnt Halldor mal wieder Seemannsgarn?«, fragte er Ulf.
»Ich fürchte schon«, stimmte Ulf zu, aber Anastasia hatte nichts zu bemängeln.
»Das war eine spannende Geschichte«, meinte sie energisch, und Elisabeth war froh darüber.
»Er weiß gut zu erzählen«, stimmte sie zu.
»Das ist wahr«, antwortete Harald. »Eine gute Geschichte erweckt den alten Hal hier auf eine Weise zum Leben, für die die meisten Männer zehn Hörner mit Bier benötigen.«
»Dann ist er ein glücklicher Mann«, sagte Elisabeth.
Harald dachte nach. »Darauf möchte ich wetten, Prinzessin. In Ringerike, wo ich aufwuchs …«
»In Norwegen?«
»Ja, in Norwegen. Im Süden, genau über dem großen Fjord. Dort schätzt man Geschichten sehr, ebenso wie die Kunst. Meine Mutter berichtete mir immer, dass Poesie nur die Wirklichkeit in leuchtenderen Farben abbildet. Genau wie die Malerei.«
»Lügen, meint Ihr«, blaffte Ulf.
»Halbwahrheiten«, räumte Harald ein, »aber die bessere Hälfte. Oh, komm schon, Ulf, unsere Geschichten sind alles, was wir der Welt hinterlassen werden, nachdem wir zu Staub zerfallen sind. Sicherlich sollten wir sie dann doch so gut machen, wie wir können?«
»Durch unsere Taten«, stimmte Ulf barsch zu. »Aber nicht mit fantasievollen Worten.«
»Aber ›fantasievolle‹ Worte verherrlichen unsere Taten.« Nun wandte sich Harald an Elisabeth. »Ulf ist ein eher praktischer Mensch«, sagte er.
»Und Ihr?«
»Ich strebe nicht danach, mein Leben durch Worte zu erschaffen, aber ich habe nichts daran auszusetzen, es durch sie zu ehren. Die Poesie ist eine hohe Kunst.«
»Eine hohe Kunst, die einen in der Schlacht nicht am Leben hält«, grummelte Ulf.
»Nein«, stimmte Harald zu, »aber eine, die die Erinnerung an dich wachhält, nachdem die Schlacht vorüber ist.«
Ulf grunzte erneut, lächelte aber, und Elisabeth hatte das Gefühl, dass dies eine Debatte war, die sie schon viele Male geführt hatten und die sie noch viele Male führen würden.
»Nun ja, ich mag eine gute Geschichte, die gut erzählt wird«, wagte sie zu bekräftigen.
»Dann sollt Ihr eine haben, Prinzessin. Hal – berichte der Versammlung von Stiklestad.«
»Nein!«, protestierte Ulf. »Nein, Harald, wir haben verloren.«
»Wir kämpften, obwohl unsere Chancen gering waren«, räumte Harald ein, »und ausnahmsweise wurden wir besiegt. Aber wir sind am Leben, um wieder in den Kampf zu ziehen, obwohl mein Bruder, Gott sei seiner Seele gnädig, nicht mehr unter uns weilt, ebenso wie sein Banner. Der Feind riss es nieder. Aber eines Tages werden wir ein neues aufstellen, und bis dahin hat die Geschichte es verdient, erzählt zu werden, um uns an unsere Pflicht zu erinnern und sein Andenken zu ehren. Möchtet Ihr von unserer Schlacht hören, Großfürst?«
»Mit Freuden«, stimmte Jaroslaw zu. »Das gibt unseren Mägen Gelegenheit, Raum für das Gebäck zu schaffen. Bitte, mein Jarl …«
Halldor erhob sich. »Ich bin kein Jarl, Sire«, sagte er leise.
»Das vielleicht nicht«, erwiderte Jaroslaw, »aber wenn Ihr uns eine gute Geschichte erzählt, mache ich Euch zum Grafen.«
Halldor warf ihm einen ungläubigen Blick zu, aber als die Menschen in der Großen Halle verstummten und alle Augen sich ihm zuwandten, richtete er sich stolz auf. Elisabeth sah erneut, wie er sich von dem vierschrötigen Soldaten mit den verzerrten Zügen in einen Dichter mit beseeltem Antlitz verwandelte. Sie schob ihren halb gegessenen Wildschweinbraten von sich und konzentrierte sich auf diesen seltsamen Isländer, als er seine Geschichte begann.
»Im Morgengrauen erreichten wir den Gipfel des Kjølen-Gebirges«, begann Halldor. »König Olav ritt an der Spitze, sein Banner wehte hoch über seinem Haupt, darauf sein goldener Drache, der tollkühn brüllte. Er ritt auf den Gebirgskamm hinauf, blickte über das weitläufige Tal und breitete die Arme aus. ›Seht her‹, rief er uns, seinen Männern, zu. ›Seht jene Kiefern, wie sie stolz in den Himmel emporragen, und diese Flüsse, die dem Ozean entgegendonnern, und diesen See, der so still daliegt, dass er die Wolken einfängt – dort vor uns liegt Norwegen. Es ist herrlich, und nun ist es an uns, es zurückzuerobern.‹ Da ritten wir neben ihn auf den Gebirgskamm, und vor uns lag in der Tat Norwegen. Hinter uns standen viertausend Mann, gerüstet und bereit, für ihren rechtmäßigen König in den Kampf zu ziehen. ›Wir werden es zurückerobern!‹, riefen wir in die frische Morgenluft hinaus, und unsere Stimmen schienen aus dem Tal widerzuhallen, als ob sie sich in einem ersten Ansturm auf den Usurpator stürzen wollten.
Oh, unsere Herzen waren stark, ebenso wie unsere Arme, und das Recht war auf unserer Seite – denn Olav war der wahre König, in dessen Adern das alte Ynglinger-Blut floss –, aber wir waren, Gott sei es geklagt, nicht stark an Zahl. Denn der Feind, der Usurpator, als wir ihn auf der großen Ebene bei Stiklestad einige Stunden später trafen, hatte etwa zehntausend Soldaten des Teufels persönlich im Rücken, und wir wussten bereits, als wir sie sahen, dass es ein harter Kampf werden würde – und dennoch wichen wir keinen Schritt.
Die Sonne hatte den Zenit bereits überschritten, als die Hörner erklangen und wir die erste Angriffswelle begannen. Obwohl wir so wenige waren, gelang es uns, immer wieder einen Keil in die feindlichen Truppen zu treiben. Wir versenkten unsere Speere tief in die Herzen der Männer in vorderster Linie, warfen sie in die dahinterliegenden Reihen zurück, so dass diese vor Furcht erzitterten und zurückwichen. Der Sieg schien unser zu sein, und Norwegen wieder an König Olav zurückzufallen. Aber dann …«
Halldor hielt inne, und Elisabeth spürte, wie alle in der Großen Halle den Atem anhielten.
»Zauberei«, flüsterte er in die Stille hinein.
Manche keuchten, ein paar stießen leise Schreie aus, die schnell wieder verstummten. Die nächsten von Halldors altnordischen Worten gingen im Raunen der Menge unter, aber sein Ton war unmissverständlich, und Elisabeth konnte den Blick nicht von ihm abwenden, als er die Hände erhob.
»Knut schickte einen schwarz bemantelten Teufel über die Sonne. Wir sahen, wie der Schatten die gesegnete Scheibe überquerte, so dass sich eine falsche Nacht über das Schlachtfeld herabsenkte, Fingerbreit um Fingerbreit, bis sie uns verschlang, und wir, die wir das Gelände nicht so gut kannten wie unsere Feinde, waren verloren.« Halldor senkte wieder die Stimme. »Es war eine Niederlage, Ihr edlen Damen und Herren – eine schändliche Niederlage, denn nun schickten sie zusätzliche Truppen, die uns, getarnt durch ihren höllischen Schatten, aus dem Hinterhalt überfielen. Und uns armen Unschuldigen blieb kein Ausweg, außer uns den Weg freizuschneiden – und das taten wir. Aber in der Dunkelheit kämpfte jeder Mann nur für sich, und so kann man keine Schlacht gewinnen. Wir versuchten, unseren teuren König zu retten, aber sie folgten dem Gold seines Drachenbanners bis zum Letzten, hieben es in Fetzen … und dann schnitten sie ihn uns aus den Armen.«
Halldor schob seinen breiten Ärmel zurück, um eine leuchtende Wunde zu enthüllen, die ihm vom Handgelenk fast bis zum Ellbogen hinaufreichte. Die Menschen in der Halle schnappten erneut nach Luft.
»Es waren drei«, fuhr er mit jetzt festerer Stimme fort. »Ihren prachtvollen Rüstungen nach zu urteilen hohe Jarle, obwohl ich sie in der Dunkelheit kaum sehen konnte. Einer hieb ihm in den Schenkel.« Halldor stürzte mit einem Mal vor, bis zum Rand des Podests, und diejenigen, die ihm am nächsten standen, wichen zurück. Er schlich um die Kante herum, dann stieß er mit einem Mal seinen Arm in die Höhe. »Einer rammte einen Speer unter sein Kettenhemd, und der Letzte …« – nun packte er den jungen Wladimir, der am Ende des hohen Tisches saß, und vollführte eine dramatische Geste an seinem Hals – »… durchschnitt ihm die geheiligte Kehle.«
Gehorsam ließ sich Wladimir auf die Bank sinken, als habe man ihn erschlagen. Jemand kicherte leise, doch aller Augen ruhten immer noch unverwandt auf Halldor, als dieser zur Mitte des Podests zurückkehrte.
»Nun war er fort«, berichtete Halldor der Halle, und seine Stimme klang nun zwischen den hohen bemalten Mauern wider und schwang sich hinauf bis zur erhabenen Wölbung des Daches und den hölzernen Brüstungen über ihnen. »König Olav war fort, und unsere Sache mit ihm. Uns blieb keine Wahl: Wir mussten fliehen, um unsere Körper und unsere Seelen vor Vergeltung zu schützen.«
Seine Stimme schwoll beim Wort Vergeltung zu einem wahren Donnergrollen an. Bei diesem Ende schenkte die Kiewer Gesellschaft dem Erzähler tosenden Applaus. Jaroslaw erhob sich, klatschte, und alle stimmten mit ein, bis es schien, als ob sogar die auf den Fresken abgebildeten Helden applaudierten.
»Ihr werdet zum Grafen ernannt, Halldor«, verkündete Jaroslaw. »Ich werde es morgen bei Hofe verkünden.«
Elisabeth sah, wie Halldor glühte. Die Röte breitete sich über seine pockennarbigen Wangen aus und schoss seine zerdrückte Nase hinauf und über seinen Schädel, während er in sich zusammensank, bescheiden abwinkte und sich wieder auf die Bank kauerte.
»Und all das ist wahr, Prinzessin«, sagte er zu Elisabeth. »Gott ist mein Zeuge.«
Jetzt verstand Elisabeth, warum niemand von diesem schlimmen Tag hatte reden wollen.
»Knut rief die Nacht aufs Schlachtfeld herab?«, flüsterte sie.
»Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, obwohl ich keine Ahnung habe, wie er das angestellt haben mag.«
»Und das ist der Grund«, warf Harald ein, dessen eigenes heiteres Gesicht bei der Erinnerung an jene düstere Schlacht ernst geworden war, »warum wir eine sehr große Streitmacht benötigen, um Norwegen seinen diebischen Fingern wieder zu entreißen.«
Elisabeth nickte bedächtig. »Ihr werdet es schaffen, das weiß ich. Ihr werdet Norwegen zurückerobern.«
»Das werde ich. Und ich werde ihm auch Dänemark und England nehmen.«
»England?«
»Warum nicht? Mit dem Segelschiff liegt es nur ein bis zwei Tagesreisen von unseren Westküsten entfernt.«