Das purpurne Herz - Joanna Courtney - E-Book
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Das purpurne Herz E-Book

Joanna Courtney

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Beschreibung

England 1055: König Edward hat dem Land keinen Erben geschenkt, und die Zukunft des Reichs ist unsicherer als jemals zuvor. Edyth, Tochter des mächtigen Earl of Mercia, träumt trotzdem von der großen Liebe bei Hofe. Doch als sie mitsamt ihrer Familie nach Wales verbannt wird, scheinen all ihre Hoffnungen dahin. Bis der charismatische Griffin, König der Waliser, sein Herz an die hübsche junge Angelsächsin verliert. Doch ihre Liebe hat einen Preis: Mit Edyths Krönung, steht sie plötzlich auf der feindlichen Seite in der bitteren Fehde zwischen England und Wales. Und als ein altes Versprechen England ins Verderben zu stürzen droht, muss Edyth eine folgenschwere Entscheidung treffen ...

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Buch

England 1055: König Edward, der Bekenner, hat dem Land noch immer keinen Erben geschenkt, und die Zukunft des Königreiches ist unsicherer als jemals zuvor. In einer Zeit, in der Ehen politische Bündnisse sind, träumt die junge Hofdame Edyth, Tochter des mächtigen Earl of Mercia, trotzdem von der großen Liebe. Als ihre Familie verbannt wird und ins Exil nach Wales geht, scheinen all ihre Hoffnungen für die Zukunft plötzlich dahin. Bis der charismatische Griffin, König der Waliser, sein Herz an die hübsche, ungestüme Angelsächsin verliert. Doch ihre Liebe hat einen Preis: Als Edyth gekrönt wird, steht sie plötzlich einem feindlich gesinnten England gegenüber. Nur Harold Godwinson und seine Frau Svana halten weiterhin zu ihr. Und als König Edward stirbt und ein altes Versprechen England ins Verderben zu stoßen droht, muss Edyth eine folgenschwere Entscheidung treffen. Denn auf der anderen Seite des Kanals schart William, der Herzog der Normandie, ein gewaltiges Heer um sich, um seinen Anspruch auf den Thron geltend zu machen ...

Autorin

Joanna Courtney verbrachte schon als Kind unzählige Stunden damit, ihre Geschwister mit erfundenen Geschichten zu unterhalten. An der Cambridge University kombinierte sie ihre Leidenschaft für Literatur und Geschichte und studierte mittelalterliche Literatur. Seitdem hat sie über zweihundert Geschichten und Fortsetzungsromane für Frauenzeitschriften geschrieben, die auch im BBC Radio ausgestrahlt wurden. Sie hat einige Belletristik-Preise gewonnen, bei einem preisgekrönten Theaterstück Regie geführt und unterrichtet Kreatives Schreiben im ganzen Land. Joanna lebt mit ihrem Mann und vier Kindern in Derbyshire. »Das purpurne Herz« ist ihr erster Roman und der Beginn einer historischen Trilogie.

Joanna Courtney

Das purpurne Herz

Historischer Roman

Aus dem Englischenvon Nicole Hölsken

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die englische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »The Chosen Queen«bei Pan Books, an imprint of Pan Macmillan, London

Copyright © der Originalausgabe 2015 by Joanna Courtney

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München

Covermotive: FinePic®, München

Redaktion: Eva Wagner

MR · Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-19726-1 V003

www.goldmann-verlag.de

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Für meinen Mann Stuart,der immer an mich geglaubt hat

PROLOG

Manchmal, wenn sie ihre Augen schließt und sich jene Nacht vorstellt, kann Edyth nicht sagen, wo die Erinnerung aufhört und der Traum beginnt. Sie fragt sich, ob sie damals verzaubert wurde. Sie war immerhin erst acht Jahre alt, und ihr Geist bewegte sich immer wieder in Fantasiewelten, aber etwas an dieser Nacht, die sich unter einer Million Sterne im Schein des Feuers abspielte, fühlt sich auch heute noch so verlässlich an, so real, als ob ihr Geist nicht benebelt, sondern zum ersten Mal richtig klar gewesen wäre.

An diesem Tag sah Harold wie ein König aus. Sogar in der einfachen Kluft des Bräutigams in dunkelstem Grün wirkte er wie ein Mitglied des Königshauses, als er voranschritt, um Lady Svanas Hand zu nehmen. Nirgendwo gab es eine Spur von Gold, nur Blumen; keine Bischöfe, nur einen lächelnden Mönch in sackartigem Gewand und mit bloßen Füßen. Es gab keinen Ehevertrag, keine förmlichen Gebete, keinen Austausch von Ländereien oder kostbaren Brautgeschenken, nur zwei ineinander verschlungene Hände, die zwei Menschen für ein Jahr und einen Tag aneinander banden.

»Länger nicht?«, hatte Edyth gefragt. Die Ehe währte schließlich ewig, das wusste jeder – murrte darüber, scherzte darüber, akzeptierte es.

»Nur wenn wir es wollen«, hatte Lady Svana damals zu ihr gesagt. »Unsere Ehe ist eine Herzensangelegenheit, keine vor dem Gesetz. Wenn wir aufhören, einander zu lieben, ist sie vorüber.« Edyth hatte wohl schockiert ausgesehen, denn Svana hatte gelacht und gesagt: »Keine Angst, diese Verbindung wird bis zum Tode andauern – aber Liebe braucht Freiheit.«

Diese Worte hört Edyth auch jetzt noch, wie die Melodien der Fiedler, die damals die ganze Nacht über erklangen: »Liebe braucht Freiheit.« Und sie tauchen ihre Erinnerung in tausend wundervolle Farben. Es gab ein großes Gelage – an langen Tischen, die auf dem Rasen aufgestellt worden waren. Als die Sonne untergegangen war, hatte man Myriaden von Laternen an den Bäumen angezündet, und die Menschen hatten getanzt. Die Gäste waren im Rausch des Maientanzes um ein riesiges Feuer herumgewirbelt, das sie in taumelnde Schatten verwandelt und Funken der Freude in den Nachthimmel entsandt hatte, bis schließlich die Morgenröte den Himmel entzündete und alles vorüber war.

Am nächsten Tag war Edyth wie betäubt umhergewandert. Ihr Vater hatte verächtlich geklungen, womit er seinen schmerzenden Kopf und jegliche Erinnerung an den Mann, der er für kurze Zeit gewesen war, zu verschleiern suchte – ein Mann, der mit seiner Frau unter dem Sternenhimmel getanzt hatte, seine Tochter auf den breiten Schultern und seine Söhne ausgelassen um ihn herumspringend. Vielleicht war auch er verzaubert gewesen? Wenn ja, dann war der Zauber mit dem Licht des Tages verschwunden.

»Lächerliches heidnisches Zeug«, hatte er gemurmelt. »Was würde der Papst dazu sagen?«

Edyth war das gleichgültig gewesen. Sie hatte den Papst nie kennengelernt, der in weiter Ferne in irgendeiner geheimnisvollen Stadt jenseits des Meeres lebte. Aber Earl Harold war hier, und obwohl er im Königlichen Rat eine hohe Position bekleidete, in dem es um wirre Regeln und Debatten ging, war er es zufrieden, mit bloßem Haupt auf einem Hügel zu stehen und aus Liebe zu heiraten.

»Dieser Narr«, hatte ihre Mutter gesagt. »Was für Verbindungen hat sie denn? Welchen Einfluss kann sie geltend machen? Welchen Nutzen hat sie für ihn?«

Edyth hatte geschwiegen, aber ihr war es so vorgekommen, als glühe Harold von innen, wenn er mit der Frau zusammen war, an die er sich durch diese heidnische Hochzeit gebunden hatte, und dass es jenes Glühen war – viel eher als Gold oder Ländereien oder sein Titel –, das die Menschen in seinen Bann zog. »Liebe braucht Freiheit«, hatte Svana gesagt, und Edith hatte diese Worte seitdem immer im Herzen bewahrt. Das war ihr Ideal gewesen, für immer verwoben mit dem Schein des Feuers und dem Duft des Grases, und nun, da sie kurz davor war, ebenfalls zur Frau zu erblühen, ersehnte sie auch für sich selbst solch eine Leidenschaft.

TEIL EINS

KAPITEL EINS

Westminster, März 1055

Die Dämmerung schlich über die wirbelnden Strudel der Themse hinweg und rief die Männer und Frauen aus König Edwards England in ihre Betten. In der Großen Halle Westminsters jedoch hörte ihr niemand zu, am wenigsten aber Edyth Alfgarsdottir. Das Klappern von Tellern und Klapptischen kündete vom Abbau, denn der formelle Teil des Mittfasten-Mahls war vorüber, und zum ersten Mal durfte sie bleiben, bis die Gesellschaft sich müde getanzt hatte. In ihrem Magen rumorte die Vorfreude, und sie drückte sich an eine Säule, fuhr mit den Fingern nervös den Spuren der komplizierten Schnitzereien im Holz nach, während sie jede wunderbare Einzelheit des Hofes in sich aufnahm, der vollkommen außer Rand und Band war.

Die königliche Halle war alt und beinahe so baufällig wie die Abteikirche dahinter, aber heute Abend ergossen sich die letzten Strahlen der Frühlingssonne in den riesigen Raum und ließen ihn erstrahlen. Das Licht fiel zu beiden Seiten durch die geöffneten Türen, sammelte sich um die kleinen Fensteröffnungen und kroch durch die Ritzen des Strohdachs über ihr. Es fing sich in der Goldverzierung der kunstvoll bemalten Schilde an den Wänden und tanzte auf dem üppigen Schmuck, der Englands reichste Männer und Frauen zierte, so dass es Edyth schien, als funkele der ganze Saal vor nebulösen Versprechungen.

Lebhaftes Geplauder wirbelte so schnell in die Luft empor wie der Rauch aus der Feuerstelle inmitten des Raumes. Die förmlichen Verbeugungen und Begrüßungen waren vorüber. Man hakte einander freundschaftlich unter und lachte miteinander. Ladys zupften sittsam an dicken, maisgelben Zöpfen oder an ihrem Kopfputz, den sie diskret zurückschoben, um ihre hübschen Haarsträhnen zu zeigen. Die Männer verstauten ihre Essmesser in ihren reich verzierten Ledergürteln, strichen sich das Haar zurück und fuhren sich mit schwieligen Ritterhänden über ihre Schnurrbärte. Edyth hielt Ausschau nach einer Gruppe, der sie sich anschließen konnte, aber die Menschen brandeten ruhelos umher, so schnell wie Mäuse in einer Scheune, und sie wagte es nicht, jemanden anzusprechen.

Betreten schaute sie sich um und blickte zur Wand der Großen Halle hinüber, wo die Älteren und Gebrechlichen, deren Glieder zu geschwollen waren, zu verbogen oder von Schwertern versehrt, um sie länger auf den Beinen zu halten, auf harten, hölzernen Bänken kauerten und sehnsüchtig durch die geöffneten Tore der niedrig stehenden Sonne entgegensahen. Diese hing tief über der Themse, die gleich hinter der Halle dahinfloss, und schon bald würde sie im dunklen Wasser versinken. Dann konnten die Versehrten und die Kinder sich in ihre Betten zurückziehen. Doch hier in der Halle würde man die Binsenkerzen an den mit Teppichen verhangenen Wänden entzünden, damit das Fest weitergehen konnte, und sie, Edyth, würde diesmal daran teilnehmen dürfen.

Tief sog sie die Luft ein, die schwer war vom Duft geräucherten Fleischs und gewürzten Apfel-Honig-Weins, und zwang sich, einen Schritt auf die mittige Feuerstelle zuzumachen. Die Überbleibsel des Hirsches, den man über dem Feuer herabgesenkt hatte, damit er knusprig wurde, spuckten Fett, weshalb man darum herum ein gutes Stück freigelassen hatte. Durch den Wirbel aus Rauch und Licht entdeckte Edyth ihre Freunde, die sie eifrig zu sich herüberwinkten. Instinktiv ging sie auf sie zu, duckte sich aber dann und wischte sich eine winzige Ascheflocke aus dem Auge. Sie war heute Abend nicht in der Stimmung für Geplauder. Sie hatte sich so viele Jahre danach gesehnt, Teil des spätabendlichen, höfischen Lebens zu werden – aber nun, da sie hier war, war sie nervös und ruhelos und hatte für den üblichen Klatsch und Tratsch nicht viel übrig. Vielleicht hatte die Stimmung ihres Vaters auf sie abgefärbt – am darauffolgenden Tag sollte der Große Rat tagen, und er war den ganzen Tag über nervös wie ein Falke ohne Haube gewesen –, vielleicht lag diese Ruhelosigkeit aber auch nur an ihr selbst.

»Möchtet Ihr tanzen?«

Edyth zuckte zusammen und starrte den Mann an, der sich tief vor ihr verbeugte. Der juwelenbesetzte Saum seiner eleganten blauen Tunika funkelte im tanzenden Licht. Er richtete sich auf, streckte ihr gebieterisch die Hand entgegen, und das Blitzen seiner bernsteinfarbenen Augen ließ die königliche Halle zu zuckenden Schatten verblassen.

»Mit Euch?«, stammelte Edyth.

Er ließ seinen Blick zum Schein über die zechende Menge schweifen und richtete ihn dann wieder auf sie.

»Ich pflege schöne Frauen nicht zu fragen, ob sie mit anderen Männern tanzen wollen.«

Edyth errötete und blickte sich schuldbewusst um. Lord Tostig of Hereford gehörte zur Godwinson-Familie, die im Süden Englands besonders einflussreich war, weshalb ihr Vater, Earl Alfgar, sie mit grimmiger Inbrunst hasste. Der Umgang mit einem von ihnen war in seinen Augen gleichbedeutend mit Hochverrat. Sie zögerte.

»Möchtet Ihr nicht tanzen?« Torr zog seine Hand ein Stück zurück, und instinktiv streckte Edyth die ihre aus, um sie zu ergreifen. »Also doch? Hervorragend. Ich bin kein schlechter Tänzer, ich werde Euch schon nicht auf die Füße treten.«

»Es sind wohl kaum meine Füße, um die ich besorgt bin«, gab sie zurück, und er lachte.

»Glaubt nicht alles, was Ihr bei Hofe hört, Lady Edyth.«

Edyth errötete erneut und sah zu der mit Binsen bestreuten Tanzfläche hinüber. Lord Tostig war allgemein bekannt als Torr oder Tower, ein Spitzname, über den in den Frauengemächern häufig gekichert wurde. Er stand in dem Ruf, die schönsten Frauen bei Hof ebenso wirkungsvoll zu jagen, wie er Wildschweine jagte. Jagte er nun sie – Edyth?

»Wenn ich auch nur die Hälfte davon glauben würde«, brachte sie mühsam hervor, »hätte ich allen Grund, vorsichtig zu sein, nicht wahr?«

Er lachte wieder. »Das könnte sein. Aber Vorsicht, Lady Edyth, wird häufig überbewertet. Sollen wir also?«

Seine üppig beringten Finger packten fest zu, als er sie durch die Menge der Gäste um das Feuer herum und zum hinteren Teil der Halle führte. Die Spielleute saßen auf einem erhöhten Podium und stimmten ihre Instrumente, die Diener räumten die duftenden Binsen vom Boden weg, und überall lockten junge Männer ihre Partnerinnen auf die Tanzfläche.

Edyth spürte das kokette Schwatzen um sich herum wie ein gleichmäßiges Summen mehr, als dass sie es hörte, und sah sich um. Sie entdeckte ihre Freundinnen, die sich anstießen und auf sie deuteten. Sie schluckte und straffte die Schultern. Niemand sollte ihr Recht infrage stellen, mit den anderen zu tanzen. Der enge Schnitt ihres kostbaren, tief rostroten Gewandes brachte ihre üppigen Kurven zur Geltung, die schmeichelnden, weiten Ärmel enthüllten ihre schlanken Arme. Das Kleid war ebenso prachtvoll wie die Roben der anderen Hofdamen, und dennoch war sie sich ihrer Stellung unter ihnen noch unsicher. Lord Torr hingegen schien nichts Seltsames an der Wahl seiner Tanzpartnerin zu finden und führte sie voller Selbstverständlichkeit in die Mitte der Tänzer.

»Vertraut mir«, wisperte er, und seine Lippen streiften ihr Ohr.

Edyth schluckte. Vertrauen war das Letzte, was der junge Lord erweckte, obwohl sie nicht genau wusste, wieso. Sie stellte fest, dass die Mysterien erwachsener Beziehungen ärgerlich schwer zu durchschauen waren. Sie hatte versucht, ihren älteren Bruder Brodie darüber auszufragen, als er Met aus dem Fass ihres Vaters gestohlen hatte. Er war tiefrot angelaufen und hatte verkündet, dass sie das in ihrer Hochzeitsnacht herausfinden würde. Aber sie war erst vierzehn; ihre Hochzeitsnacht würde noch drei oder vier Jahre auf sich warten lassen, und sie wollte es jetzt wissen.

Sie hatte nicht gewagt, ihre Mutter zu fragen. Die schmallippige Lady Meghan hätte nur das geantwortet, was sie so oft sagte: dass diese Frage sich für Edyth nicht schickte, und dass die anderen Mädchen nur erfundene Geschichten und Halbwahrheiten erzählten. Lord Torr, das war ihr instinktiv klar, würde all ihre Fragen beantworten, wenn sie es wünschte, aber plötzlich erschien ihr das Wissen darum gefährlich. Sie versuchte erneut, ihm ihre Hand zu entziehen, aber die Musikanten spielten bereits auf, und der Tanz begann. Die sechzehn Paare sahen zum anführenden Paar herüber – Torrs jüngerem Bruder Lord Garth und seiner Schwester, Königin Aldyth –, um deren Tanzschritte zu imitieren, und eine Zeitlang war Edyth gezwungen, sich zu konzentrieren. Lord Torr jedoch entpuppte sich tatsächlich, wie angekündigt, als guter Tänzer und beherrschte die Schritte alsbald mühelos.

»Also, Lady Edyth«, sagte er, während er sie selbstsicher über die Tanzfläche führte, »seid Ihr bereit für das, was der morgige Tag bringen wird?«

Edyth zuckte zusammen. Morgen sollte im Königlichen Rat ein neuer Earl of Northumbria gewählt werden, und ihr Vater, momentan Earl des bescheidenen East Anglia, war fest entschlossen, selbst dazu ernannt zu werden. Seine Nervosität machte ihn aufbrausend und reizbar und erinnerte sie jetzt an den Verrat, den sie mit der Wahl ihres Tanzpartners begangen hatte. Nervös blickte Edyth sich nach ihm um. Noch bewegte sie sich im Schutz der Menge, aber wie lange noch? Torr zog sie dichter zu sich heran.

»Nur Gott weiß, was der morgige Tag bringen wird, Mylord«, antwortete sie atemlos.

Er gluckste. »Sehr gut, Lady Edyth. Earl Alfgar hat durchaus eine Politikerin aus Euch gemacht.«

»Mein Vater ist ein Edelmann.«

»Aber ist er auch ein weiser Mann?«

»Mylord?«

Wieder dieses Glucksen.

»Ihr müsst darauf nicht antworten. Auch mir würde es nicht gefallen, wenn meine Sprösslinge sich über mich oder meine Frau äußern würden.« Er lächelte leichthin, schien nichts Seltsames daran zu finden, über die schlanke und vornehme Judith von Flandern zu sprechen, während seine Finger leise die ihren liebkosten. »Und schließlich trachten wir alle danach weiterzukommen. Ich für meinen Teil hinke ewig meinem glattzüngigen älteren Bruder hinterher.«

»Earl Harold?« Edyth runzelte die Stirn. Seit seiner Feenhochzeit hatte sie an dem liebenswürdigen Earl Harold of Wessex einen gewissen Gefallen gefunden. Sie hatte beim Kronzeremoniell bei Hof gesehen, wie die Männer ihm an den Lippen hingen, wie sie zu ihm aufblickten. Auch die Frauen zog er in Scharen an. Obwohl er immer höflich war, hatte sie nie erlebt, dass er eine von ihnen umgarnte, wie Torr es eindeutig jetzt mit ihr versuchte. Earl Harolds Gunst gehörte auch nach jahrelanger Handfasting-Ehe seiner schlanken, ätherischen Frau, und Edyth liebte es, sie zusammen zu sehen, wenn Lady Svana ihn bei Hof begleitete.

Die Lady mit dem sanften Gesicht lächelte ihr häufig zu, winkte manchmal sogar, aber da ihr Vater ständig über die Godwinsons wetterte, hatte Edyth es nie gewagt, sich ihr zu nähern, sondern sie nur aus der Ferne bewundert. Aber sogar Earl Alfgar hatte Harold widerwillig als »besten der Godwin-Sippe« bezeichnet, also beurteilte Torr seinen Bruder doch offenbar falsch? Aber sein Blick war umwölkt gewesen, seine Schritte waren langsamer geworden, und da sie ebenfalls unter der Gängelei ihres eigenen älteren Bruders gelitten hatte, tat er ihr plötzlich leid.

»Vielleicht wird East Anglia morgen ja Euch gewährt?«, schlug sie vor, als sie mitten im Tanz innehielten, und zu ihrer Freude funkelten seine Augen jetzt lebhaft.

»Glaubt Ihr?« Sie nickte eifrig, und er lächelte, ein bedächtiges, listiges Lächeln. »Aber ist das nicht die Grafschaft Eures Vaters, Mylady? Will er sich denn anderweitig orientieren?«

Edyth drehte sich der Magen um. Jetzt saß sie in der Falle. »Nein! Ich meine, wer weiß? Vielleicht, im Laufe der Zeit, so Gott will …«

Verwirrt blickte sie sich in der überfüllten Halle um. Eine schöne Politikerin war sie! Plötzlich entdeckte sie ihren Vater, der ihr Gott sei Dank den breiten Rücken zuwandte, während er sich am Feuer ernst mit ein paar Männern unterhielt. Ihr wurde heiß, als ob sie den Flammen zu nah gekommen sei, und sie hoffte inständig, dass er nicht hersah, ehe der Tanz sie wieder in die entgegengesetzte Richtung geführt hatte. Gott sei Dank wirbelte Torr sie davon.

»Sorgt Euch nicht, Edyth, diese Unterhaltung ist nur für unsere Ohren bestimmt. Ist es nicht eine Schande, dass Earl Wards Sohn Osbeorn im Kampf getötet wurde und das Erbe seiner Grafschaft nicht antreten konnte?«

»In der Tat«, pflichtete sie ihm bei, dankbar, dass er das Thema gewechselt hatte. Es war der Tod des legendären Kriegers aus dem Norden, Earl Ward of Northumbria, der den Rat zusammengeführt hatte, um seinen Nachfolger zu wählen. »Durch die Hand der Schotten zu sterben, ist ein schreckliches Schicksal.«

»Eine schreckliche Notwendigkeit, wie ich fürchte.«

»Eine Notwendigkeit, Mylord?«

»König Edward ist versessen darauf, dass der junge Prinz Malcolm gegenüber dem Verräter Macbeth seinen Anspruch auf den Thron geltend macht. Und da Earl Ward ihn in seinem Exil unter seine Fittiche genommen hat, waren er und Osbeorn auf einen Kampf erpicht. Es ist ein Glück, dass Lord Malcolm von Engländern aufgezogen wurde, findet Ihr nicht auch? Ein Verbündeter jenseits der Grenze ist für die Krone von denkbar größtem Wert, wisst Ihr, und natürlich für den neuen Earl of Northumbria, wer immer das sein wird.« Er schob sie von sich, aber seine Finger ließen sie keinen Augenblick lang los, und kaum war sie aus der Reihe der Tanzenden ausgeschert, zog er sie wieder zu sich heran. »Ich kenne Lord Malcolm gut. Auch ich war Knappe bei Earl Ward, weshalb ich viele Jahre bei ihm gelebt habe. Ein kluger junger Mann, der gern verhandelt – mit den richtigen Leuten.«

Seine Worte kamen Edyth vor wie Schlangen, die gefährlich nah um ihre Füße züngelten, zu schlüpfrig, um sie zu fassen zu bekommen. Jetzt bereute sie es, ihre Freundinnen gemieden zu haben. Der Tanz wurde schneller und schneller, und während Torr sie geschickt herumwirbelte, nahm sie aus den Augenwinkeln den Rausch der Lichter wahr, die sich wie in einem Nebel verdichteten, weil sie sich in den glänzend polierten Erhebungen der überall hängenden Schilde spiegelten.

»Ich könnte Euch ihm vorstellen, wenn Ihr wollt«, schnurrte Torr. »Er ist ein recht gutaussehender Mann, dieser Lord Malcolm, von guter Statur, und er sucht sicher eine Frau.«

»Ich denke, ich kann darauf vertrauen, dass mein Vater mir einen passenden Mann aussucht, vielen Dank.«

»Natürlich, natürlich. Aber Ihr seid für England ein wichtiges Gut, Lady Edyth. Kennt Euer Vater Malcolm ebenso gut wie ich? Er ist kurz davor, seinen Thron wieder für sich zu beanspruchen, sehr kurz davor. Ihr könntet Königin von Schottland werden, Edyth. Ich wette, das würde Euch gefallen. Ihr würdet Euch dafür erkenntlich zeigen, nicht wahr?«

Er ließ seine Hand von ihrer Taille hinabgleiten und umfing die üppige Kurve ihres Gesäßes. Edyth spürte ein erregtes Vibrieren zwischen den Beinen und hasste sich selbst dafür.

»Lieber wäre ich Königin von England«, erwiderte sie steif und entzog sich ihm.

»Woher wollt Ihr das wissen? Ich glaube, dafür seid Ihr etwas zu spät dran.«

»Ich meinte nicht …«

»Die Nichte meiner Gemahlin hat Euch bereits aus dem Rennen geworfen.«

Edyth blieb schockiert stehen. »Lady Matilda? Aber sie ist mit William, dem Herzog der Normandie, vermählt, nicht wahr?«

»In der Tat. Herzog William, dem der Thron Englands versprochen wurde.«

»Unsinn.« Die Überraschung ließ sie unverblümt reagieren, und sie biss sich auf die Zunge, aber Torr lachte nur.

Dann beugte er sich näher zu ihr herab, so dass sein Mund dicht an ihrem Ohr lag. »Es ist wahr, Edyth. Als er nach England kam, wurde ihm die Krone versprochen. Er war hier. Vor vier Jahren, im Jahre 1051 zur Christmette. Erinnert Ihr Euch nicht?«

Edyth trat unbehaglich von einem Bein aufs andere, während die anderen Tänzer um sie herumwirbelten. Sie war damals noch jung gewesen, erst zehn Jahre alt, aber sie erinnerte sich dennoch. Es war eine seltsame Weihnachtszeit gewesen, steif und förmlich. Die Normannen mit den spitzen Nasen hatten die Stimmung der sonst so ausgelassen feiernden Sachsen gedämpft. Aber hatte es tatsächlich eine Zusicherung auf den Thron gegeben? So ganz ohne Zeremonie?

»Ihr erinnert Euch«, drängte Torr und musterte sie. »Ich nicht. Denn ich war nicht anwesend. Keiner von meiner Familie war dort. Wir waren im Exil.« Er schüttelte den Kopf. »Von verbitterten Männern in die Verbannung geschickt.« Er fuhr ihr mit einem Finger über die Wange, und sogleich stand ihre Haut in Flammen. »Im Exil schwindet jede Hoffnung dahin, Edyth, denn man ist fern von allem, was man kennt und liebt. Kein Wunder, dass Malcolm für Schottland kämpfen wollte.«

Edyth blinzelte. Diese ganze Unterhaltung wand sich noch immer wie eine Natter um sie herum, und sie hatte das Gefühl, von ihr verschlungen zu werden.

»Herzog William ist im Augenblick für niemanden von Interesse«, brachte sie mühsam hervor, als Torr sie wieder in die Menge der Tanzenden dirigierte. »Was immer gesagt wurde, es ist Vergangenheit. Niemand hält ihn für König Edwards Erben.«

Torr lächelte – ein bedächtiges, laszives Lächeln, das ihr durch Mark und Bein ging. »Herzog William schon. Und sagt mir: Wer sonst käme für den Thron in Frage? Harald Hardrada, der König der Wikinger, vielleicht? Und bestimmt niemand von der vielgepriesenen englischen Linie des Cerdic-Clans. Der König hat keine Kinder, Edyth, noch nicht einmal Neffen. Nur einen entfernten Vetter, der im tiefsten Ungarn festsitzt. Wenn Edward stirbt, ist England weit offen – sehr weit offen!«

Edyth riss sich los, verließ die Tanzfläche und stieg auf die Strohballen am Rand.

»Solche Reden solltet Ihr nicht führen, Mylord. Es ist nicht richtig. Der König wird nicht sterben, und selbst wenn er es tut, werden wir an seiner Stelle keinen normannischen Fürsten inthronisieren. Das würde niemand zulassen.«

»Natürlich nicht.« Er folgte ihr so dicht, dass sie gegen die Holzwand zurückwich und spürte, wie ihr Kopf gegen die Kante eines Schildes stieß. Sie hob die Hand, um den Schmerz ebenso fernzuhalten wie ihren Tanzpartner, aber Lord Torr ließ sich so leicht nicht abweisen. »Leise, Liebste«, sagte er sanft. »Ihr wollt doch nicht, dass Euer Vater hört, dass Ihr solche Reden führt?« Leicht legte er ihr einen Finger auf die Lippen. »Sorgt Euch nicht. Lassen wir die Politik fallen und denken wir mehr ans … Vergnügen.«

Mit der Fingerspitze berührte er Edyth’ Zunge, und die Berührung entzündete ein tiefes Feuer irgendwo, unbehaglich tief unten in ihr. Sie bemühte sich, es einzuordnen, aber solange er so dicht vor ihr stand, konnte sie keinen klaren Gedanken fassen. Hier an der Wand war es erheblich dunkler als auf der Tanzfläche, und da die dort herumwirbelnden Tänzer sie von den anderen trennten, waren sie hier fast allein.

»Man sagte mir, dass Vergnügen«, stieß sie mit ärgerlicherweise heiserer Stimme hervor, »etwas sehr Flüchtiges ist.«

Er lehnte eine Hand gegen die Wand über ihr, drängte seine Hüften gegen die ihren. »Vielleicht habt Ihr recht, Edyth. Sicher ist es besser, die Liebe zu finden – die wahre Liebe.«

»Wie Earl Harold und Lady Svana?«

»Wie Harold und seine kleine Heidenfrau, ja, aber mein Bruder ist nun einmal der standhafte Typ. Er ist von Natur aus loyal, verantwortungs- und pflichtbewusst und all die anderen langweiligen Dinge.«

Unwillkürlich musste Edyth kichern. »So etwas dürft Ihr nicht sagen – Ihr seid ein Lord.«

»Vorläufig.« Torrs Augen glitten kurz über seine Schulter zu der überfüllten Halle zurück, dann richteten sie sich wieder auf sie. »Aber Ihr politisiert schon wieder, und das ist reine Verschwendung. Was wäre das Leben ohne Vergnügen, Edyth Alfgarsdottir?«

Seine bernsteinfarbenen Augen tauchten in die ihren ein, und Edyth spürte, wie sie magisch von ihm angezogen wurde. Ihr schwindelte. Sie fühlte sich so benommen, als ob sie immer noch tanzte, und so blind wie in tiefster Nacht. Aber dann hörte sie ein leises Knurren, und voller Schrecken wurde ihr klar, dass ihr allzu leicht erregbarer Vater in der Nähe war. Sie riss sich los und trat mit festem Schritt zur Seite.

»Ich habe schon viel zu viel von Eurer Zeit beansprucht, Mylord«, sagte sie mit einem Knicks. »Eure Gemahlin wird Euch sicherlich schon vermissen, und mein Vater sucht nach mir.«

Einen Augenblick lang sah Lord Torr ärgerlich aus, und die Hitze in Edyth’ Eingeweiden gefror zu Eis, aber dann gluckste er.

»Ihr seid eine pflichtbewusste Tochter, Lady Edyth, das ist gut. Ihr werdet Eurem Vater morgen eine Stütze sein müssen.«

»Was meint Ihr damit?«, fragte sie. Alfgar drängte sich zwischen den Tänzern hindurch und war fast bei ihnen. »Was meint Ihr damit, Mylord?«

Aber mit einer tiefen Verbeugung und einem boshaften Augenzwinkern verschwand Torr und ließ Edyth allein, als ihr Vater mit der Wucht eines Wikingerschiffes auf sie zugesegelt kam, ihren Arm packte und sie zur Seite riss.

»Was um aller Welt treibst du hier, junge Lady?«

»Tanzen, Vater«, stammelte sie und versuchte, sich seinem Griff zu entwinden.

»Tanzen? Dich wie ein Wildfang aufführen, meinst du wohl – und dazu noch mit ihm.«

Alfgars Gesicht war weinrot, und er fuhr sich mit einer Geste durchs Haar, die sie nur zu gut kannte; es bedeutete, dass sein feuriges Temperament kurz vor dem Ausbruch stand.

»Lord Torr war sehr höflich«, sagte sie nervös.

Alfgar spie ins Stroh. »Darauf möchte ich wetten, und ich weiß auch, wieso.«

Edyth öffnete den Mund, um zu protestieren, aber dann beherrschte sie sich ausnahmsweise. »Warum, Vater?«, fragte sie stattdessen mit weit aufgerissenen Augen.

»Warum?« Alfgar wirkte verblüfft, doch dann wurde sein Gesicht noch roter. Seine Stimme wurde leise. »Das soll dich nicht kümmern. Halte dich nur fern von ihm. Nun, was hat er zu dir über Northumbria gesagt?«

»Northumbria?«, stotterte sie. »Nicht viel.«

»Nicht viel? Was hat das zu bedeuten? Er hat etwas gesagt. Erzähl es mir!«

Edyth spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Ihre wunderschönen, bernsteinbesetzten Fibeln lasteten schwer auf ihren Schultern, und ihre Augen brannten vom Rauch des Feuers und dem Geruch nach Honigwein im schweren Atem ihres Vaters. Sie suchte verzweifelt nach einer Antwort, fand aber lediglich Schlangenhaut – geflüsterte Andeutungen von Erbschaft und Exil.

»Er hat nur gesagt, dass ich dich morgen unterstützen muss.«

»Mich unterstützen? Was hat das zu bedeuten? Was will er damit andeuten?«

»Ich weiß es nicht, Vater, ehrlich.«

Und jetzt flossen die Tränen doch. Wütend wischte sie sie weg, aber es reichte. Ihr Vater lockerte den Griff um ihren Arm.

»Ach, aber, aber, Edie, nicht weinen. Es tut mir leid. Du bist noch jung, noch ein Mädchen – was umso mehr Grund ist, dass dieser Ochse von einem Torr dich nicht …«

»Nein, bin … bin ich nicht, Vater.«

Er sah sich nach ihrer Mutter um. Er würde sie wie ein kleines Kind zu Bett schicken, und das wollte sie unbedingt vermeiden. Sie schluckte die Tränen herunter, straffte Schultern und Nacken. »Ich glaube, wir müssen ihn im Auge behalten, Vater. Dabei kann ich dir helfen.«

Er schüttelte nachsichtig den Kopf, aber er musterte sie eindringlich. Jetzt hatte sie seine Aufmerksamkeit.

»Du weißt nicht, worauf du dich da einlassen würdest, Kind.«

Das stimmte, aber es hatte keinen Zweck, ihm jetzt beizupflichten. »Ich kann es schaffen, Vater. Für dich kann ich alles schaffen.«

Sie lächelte zu ihm auf, und er nahm sie mit einem leisen Lachen in die Arme, erstickte sie mit einer Mischung aus Wolle, Met und Schweiß.

»Ich könnte doch mit dir tanzen, Vater?«, schlug sie liebenswürdig vor.

»Oh nein!« Wie sie es erwartet hatte, wich Alfgar zurück. »Nein, dein alter Herr ist mittlerweile viel zu steif zum Tanzen, Edyth. Such dir jemand Jüngeren, aber nicht – nicht, hörst du? – einen Godwinson.«

»Ja, Vater.«

Sie machte eine knappe Verbeugung und floh. Der Rest des Abends gehörte ihr; um das Morgen wollte sie sich jetzt keine Gedanken machen.

KAPITEL ZWEI

E dyth griff nach dem nächsten Ast und verfluchte ihre weiten Röcke, weil sie sie behinderten. In diesem Tempo würde sie zu spät zur Ratsversammlung kommen. Sie kletterte höher in den Baum hinauf, dann hielt sie inne, um schuldbewusst durch die Zweige zurück zum Lager König Edwards in Westminster zu blicken, das wenig mehr als hundert Schritte entfernt auf Thorney Island lag. Die Menschen drängten sich auf der hölzernen Brücke über dem brodelnden Tyburn, denn alle wollten rechtzeitig ankommen, um Zeuge des großen Ereignisses zu sein. Pferde scharrten unter ihren ungeduldigen Reitern, Fuhrwerkkutscher schubsten einander, weil jeder vorn stehen wollte. Die Luft vibrierte vor kaum unterdrückter Aggression. Zur Rechten wälzte sich, unbeeindruckt von dem Treiben, die breite Themse vorbei, unbehelligt wegen ihrer gefährlichen Strudel. Auf den Weiden Chelseas zur Linken hingegen wimmelte es von schlammverschmutzten Dienern. Wenigstens sah niemand zu ihr hinüber, und so richtete sie ihr Augenmerk wieder auf den Wald.

Sie war gerade hinter ihrer Familie vom Markt in Chelsea zurückgekehrt, als sie gesehen hatte, wie Lord Torr mit einer Dienstmagd in die Büsche schlüpfte. Nach dem Zusammentreffen des vergangenen Abends war ihre Neugier geweckt, weshalb sie den beiden kurzerhand gefolgt war. Kurz hatte sie das ungleiche Paar aus den Augen verloren, aber nun kamen Geräusche von der anderen Seite des Brombeergestrüpps – ein heiseres Keuchen, das sie gern verstanden hätte –, und sie hatte sich auf einen Baum geschwungen, um sie besser beobachten zu können.

Schuldbewusst blickte Edyth wieder zum königlichen Lager zurück, wo die farbenprächtigen Dächer der Pavillonzelte über dem Palisadenzaun hervorlugten. Die Flaggen aller großen Familien des Landes wehten stolz in der leichten Brise und verspotteten jene, die noch nicht drinnen waren. Edyth schauderte, als sie das schwarz-goldene Banner ihres Vaters entdeckte. Bis zur Ratsversammlung würde es noch etwas dauern, aber er schritt wahrscheinlich schon jetzt ruhelos auf und ab wie ein Bär im Käfig. Sie musste sich sputen. Sie griff nach einem flechtenbewachsenen Ast, hievte ihren schlanken Körper weiter nach oben, und da entdeckte sie sie plötzlich.

»Oh!« Sie schlug sich die Hand auf den Mund, um einen überraschten Aufschrei zu unterdrücken, und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. Es war so ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Das Mädchen kniete, seine derben, braunen Röcke waren hochgeschoben, so dass ihre intimste Weiblichkeit zu sehen war, während Torr, seine Hose auf den Knöcheln, sie grob nach hinten zerrte.

Edyth beobachtete, wie er eine Hand ausstreckte und das Haar des Mädchens packte, so dass sie sich aufbäumte und seinen Namen schrie, und diesmal konnte Edyth ein Keuchen nicht unterdrücken.

Torr sah auf. Er entdeckte sie sofort, doch statt sich eilig zu verstecken, blickte er ihr unverwandt in die Augen. Einen langen Augenblick war sie wie gelähmt, dann riss sie sich von dem Anblick los und begann mit dem Abstieg, halb kletternd, halb fallend durch die dichten Zweige der Eiche.

Ihr Haar und ihre Röcke verfingen sich im Geäst, aber sie wagte es nicht anzuhalten. Sie musste fort von hier. Als sie fast schon unten war, rutschte sie aus und fiel. Sie schrie auf, als der Boden auf sie zukam, aber in letzter Minute fingen zwei starke Arme sie auf und setzten sie sanft zu Boden. Entsetzt bei der Vorstellung, dass es womöglich Lord Torr war, der sie festhielt, versuchte sie, sich zu befreien.

»Ganz ruhig. Ihr seid in Sicherheit.«

Seine Stimme war leise und sanft, und Edyth wagte einen Blick auf sein Gesicht.

»Oh, Gott sei Dank.«

Es war nicht der dunkeläugige Torr, sondern sein Bruder, Earl Harold.

Er sah sie so freundlich an, dass sie ihm am liebsten in die Arme gesunken wäre, aber sie erinnerte sich gerade noch rechtzeitig an das Missfallen ihres Vaters und zog sich zurück.

»Geht es Euch gut, Lady Edyth?«, fragte Harold. »Ihr seid weiß wie ein Laken.«

»Ich … ich bin gefallen.«

»Das habe ich gesehen, und ich bin nicht überrascht. Ihr kamt so geschwind herunter wie ein Jagdhund, der hinter seiner Beute her ist.«

»Ich komme zu spät zur Ratsversammlung«, sagte Edyth schwach. »Mutter wird mich umbringen.«

»Spätestens, wenn sie Euer Kleid sieht. Was hattet Ihr denn dort oben zu suchen?«

Edyth zerrte kläglich an den Rissen ihres wollenen Obergewandes herum, während ihre Gedanken sich überschlugen. »Ich glaubte, einen Falken gesehen zu haben.«

»Tatsächlich? Wo?« Harold war sofort hellwach, suchte die Bäume ab, und Edyth fluchte im Stillen.

»Ich habe mich geirrt. Es war nur … ein Rotkehlchen.«

»Ihr habt ein Rotkehlchen mit einem Falken verwechselt? Kommt schon, Lady Edyth, angesichts der ausgezeichneten Falknerei Eures Vaters kann ich das kaum glauben. Was hattet Ihr wirklich im Sinn?«

Edyth blickte unbehaglich auf die Bäume. Jemand kam auf sie zu, dessen war sie sich sicher.

»Ich muss zurück«, sagte sie verzweifelt und wandte sich zur Straße, die zum königlichen Lager führte.

In diesem Augenblick jedoch teilten sich die Büsche vor ihnen, und Harold hielt Edyth an der Schulter fest, als die Dienstmagd auftauchte, die immer noch ihre Kleider glattstrich. Das arme Mädchen starrte das prächtig gekleidete Paar an, ihre Augen weiteten sich vor Schreck, dann machte sie einen hastigen Knicks, wandte sich um und rannte davon.

»Also ein Falke, junge Lady«, sagte Harold düster zu Edyth. »Kommt mit, wir kehren besser zu Eurer Mutter zurück.«

»Nein, bitte …«

Aber Harold packte ihre Schulter umso fester, und Edyth war gezwungen, ihm nach Westminster zu folgen.

»Earl Harold«, bat sie, »bitte erzählt es nicht meiner Mutter. Ich hörte Geräusche. Ich war nur … neugierig.«

»Neugierig? Darauf möchte ich wetten. Und habt Ihr herausgefunden, was Ihr wissen wolltet?«

Edyth errötete, als vor ihrem geistigen Auge Lord Torrs nacktes Gesäß und – noch beängstigender – der Blick in seinen Wolfsaugen erschien, nachdem er sie entdeckt hatte. Das Bild prickelte in ihr mit einer übelkeitverursachenden Mischung aus Erregung und Widerwillen.

»Ich …«, fing sie an. Harolds Finger vergruben sich in ihrer Schulter, und ihr Knie schmerzte – anscheinend hatte sie es sich bei ihrem Sturz an einem Ast gestoßen. Ihr drehte sich der Magen, und plötzlich hätte sie sich am liebsten nur noch im Bett verkrochen und versteckt. »Ich …«, hob sie erneut an, brachte aber keinen Ton mehr heraus.

Harold blieb stehen und hielt Edyth fest. Sie blickte auf die unebene Straße, fixierte die Spuren der Karren in dem verzweifelten Versuch, die Tränen zurückzuhalten.

»Es tut mir leid«, stammelte sie.

»Ihr seid schockiert.« Er hielt ihr ein Leinentuch hin, und sie ergriff es dankbar, wischte sich ihre dummen, ständig feuchten Augen. »Keine Sorge. Alles wird gut.«

Seine Stimme war freundlich, und sie hätte ihm fast geglaubt, als sie hinter sich ein übermütiges Pfeifen und näher kommende Schritte hörte. Ihr ganzer Körper verspannte sich, ihre Haut kribbelte.

»Oh nein«, sagte Harold, und es war eher ein Knurren. »Nicht du? Sie hat ausgerechnet dich gesehen?«

Edyth verbarg ihr Gesicht in dem Leinentuch, aber auch so konnte sie Lord Torrs heiße Präsenz spüren, als er vorbeischlenderte, so dicht, dass er sie fast gestreift hätte. Ihr Körper pulsierte, und sie biss sich heftig auf die Lippe, kämpfte gegen das Gefühl an.

»Wir unterhalten uns später«, hörte sie Harold sagen.

»Ich freue mich schon darauf«, kam die gelassene Antwort, und dann war er Gott sei Dank verschwunden.

Stille senkte sich herab, nur unterbrochen vom Pulsieren des eigenen Blutes in ihren Ohren. Dann hörte sie Harold seufzen.

»Ich glaube«, sagte er, während er das Leinen aus ihren Fingern löste und ihr seinen starken Arm darbot, »wir gehen jetzt besser zu Svana.«

Edyth starrte nervös auf den weichen, mit Baumwollstoff verhangenen Eingang, der mit eleganten Goldfäden durchzogen war, so dass er in der tiefstehenden Märzsonne zu schimmern schien. Sie hatte Lady Svanas Lächeln und Winken immer gemocht, aber solange ihr Vater als knurrender Wächter an ihrer Seite stand, hatte sie es seit jener Feenhochzeit vor langer Zeit nie gewagt, mit ihr zu reden. Sie hatte gehört, dass sie eine Zauberin sei – eine Meisterin der überlieferten Magie, wie man sie im Osten des Landes kannte. Die Ladys in den Frauengemächern erzählten sich, dass sie ihre Ländereien in East Anglia von einem alten Zauberergeschlecht geerbt habe und dass sie große Geheimnisse kenne. Sie flüsterten, dass sie hundert Jahre alt sei, aber ihre Jugend und Schönheit mit Tränken und Zaubersprüchen erhalte, und dass sie immer nur ein paar Wochen bei Hofe weilen könne, bevor sie wieder zu ihrem wahren Ich zusammenschrumpfte. Sie behaupteten, dass sie Harold verzaubert habe, auf dass er sie liebe, und dass sie ihre Leibesfrucht beliebig beeinflussen könne und – und das war am schlimmsten – dass sie diese verblüffenden Geheimnisse nicht mit anderen Frauen teilte.

Edyth war erleichtert, dass ihre Mutter, Lady Meghan, das alles für Unsinn hielt, aber Earl Alfgar murmelte immer noch etwas von »heidnischen Neigungen«. Auch wenn er East Anglia seit drei Jahren regierte, hatte er nicht zugelassen, dass seine Familie nach der damaligen Hochzeit, die Edyth immer noch in ihrem Herzen wog, Svana noch einmal besuchte. Viele Male war sie bis zur Grenze von Svanas Ländereien in Nazeing geritten, hatte dort nach Zeichen für irgendwelche Zauber Ausschau gehalten, aber nie hatte sie mehr entdeckt als Schafe und Schweine und Arbeiter auf den Feldern – obwohl sie fröhlicher zu pfeifen schienen als die meisten anderen.

Ihr Herz pochte heftig, und sie blickte sich im königlichen Lager um, das nur so wimmelte von Menschen. Diejenigen, die gespannt auf der Brücke gewartet hatten, waren wie geschlagene Butter zurückgewichen, als Earl Harold sich näherte, und sie war sich an seinem Arm wie eine richtige Lady vorgekommen. Drinnen jedoch herrschte wüstes Gedränge, denn Diener stellten Pavillons für Nachzügler auf, und ihre edlen Herren warteten ungeduldig darauf hineinzugelangen, um sich ihrer von der Reise beschmutzten Kleider zu entledigen und in ihre feinen Gewänder, die sie zur Ratsversammlung trugen, zu schlüpfen. Niemand würde es bemerken, ob sie mit Earl Harold hineinging, oder – in der Tat – wieder herauskam.

Erst gestern Abend hatte Brodie ihr berichtet, dass er auf seiner Rückkehr von der Großen Halle gesehen hatte, wie ebendieser Pavillon in seltsamem Licht erstrahlte. Edyth hatte ihn verspottet. Wenn er ein Bier in der Hand hielt, war er ohnehin nicht ernst zu nehmen, und außerdem erfand er immer wieder irgendwelche Geschichten, um sie zu erschrecken. Aber jetzt kamen ihr all diese Erzählungen plötzlich wieder in den Sinn und verhärteten sich zu einem schmerzhaften Klumpen der Angst in ihrer Kehle.

»Vielleicht«, stammelte sie mühsam, »wäre es besser, wenn ich in meinen eigenen Pavillon zurückkehrte?«

Harold neigte den Kopf zur Seite und lächelte leichthin. »Wenn Euch das lieber wäre. Ich werde Euch hinbringen.«

»Nein! Ich meine: Nein danke, Mylord. Ich schaffe das selbst.«

Er sah auf sie herab, nicht grausam, sondern mit steinharter Entschlossenheit. »Ihr wisst, dass ich das nicht zulassen kann. Wir müssen über das, was Euch heute zugestoßen ist, sprechen, und wir können das entweder dort mit Euren Eltern tun …« – er deutete über das Lager hinweg auf das gedrungene, schwarz-weiß-goldene Zelt – »… oder hier, mit meiner Frau.«

Edyth betrachtete sein Zelt erneut. War Lady Svana wirklich darin? Sie erinnerte sich noch immer an ihre kurze Unterhaltung bei der Hochzeit, aber das war ein ganz besonderer Tag gewesen, ein freier Tag. Würde sie sich trauen, auch hier bei Hof mit ihr zu reden? Aber andererseits: Konnte sie es wagen, sich der lautstarken Enttäuschung ihrer Eltern zu stellen? Und das so kurz vor dem großen Moment ihres Vaters?

»Das dachte ich mir«, sagte Harold lächelnd. Er ging zum Zelteingang und nickte dem wachhabenden jungen Diener zu. »Morgen, Avery.«

»Guten Morgen, Mylord, Mylady.«

Sein Leibeigener machte eine tiefe Verbeugung, schlug die Zeltplane zurück, und Harold tauchte darin ab. Edyth zögerte nervös. Ob es drinnen heidnische Bilder gab? Knochen? Vielleicht sogar Runen? Man erzählte sich, dass man sich, wenn man nicht wusste, was man tat, selbst verfluchen konnte, indem man sie las. Während der Hochzeit hatte es keine derartigen Schrecken gegeben, aber vielleicht war sie ja verzaubert gewesen. Harold steckte den Kopf heraus.

»Kommt, Edyth, und schnell, bevor Euer Vater Euch entdeckt.«

Er zwinkerte, und wie betäubt zwang Edyth ihre Füße, sie hineinzutragen. Sie wagte kaum einen Blick, aber als sie schließlich doch den Kopf hob, staunte sie erleichtert. Die rot-goldenen Zeltwände waren mit blassgelber Gaze verhangen und mit eleganten Wandteppichen geschmückt, auf denen nichts Heidnischeres zu sehen war als Blumen und Bäume. Auf dem Boden lagen Felle, die sich durch die dünnen Sohlen ihrer Stiefel weich anfühlten, und die spärlichen Möbel bestanden aus einfachem, hellem Holz.

Eine Öllampe hing von der Mittelstrebe herab. Sie war von blassgrünem Glas umgeben, das schimmernde Muster auf das Leinen der Zeltwände malte. Das Öl war offensichtlich mit Kräutern versetzt worden, denn die Luft hier drinnen duftete nach den eher derben Gerüchen im Zeltlager frisch und süß. In nichts ähnelte diese Behausung dem dunklen Pavillon ihrer eigenen Familie – der mit schweren Teppichen, Schilden und Waffen geschmückt war –, und Edyth blickte sich staunend um, bis ihre Augen auf ihre Gastgeberin fielen und ihr plötzlich vor Nervosität ganz flau wurde.

Lady Svana hatte sich aus ihrem Sessel erhoben. Sie war einen Kopf größer als Edyth. Sie trug ein fließendes Gewand in lichtem Frühlingsgrün, das an der Taille mit einem einfachen Band aus Bernsteinperlen zusammengehalten wurde. Ihr Haar – von der Farbe reifer Haselnüsse – trug sie offen wie eine Magd. Edyth versank in einem tiefen Knicks, aber Lady Svana ergriff ihre Hand und zog sie in einer einzigen leichten Bewegung nach oben und zu sich heran. Edyth nahm ihren Geruch wahr – nach Lavendel, Rosmarin und Gras – und sog ihn tief ein.

»Ihr seid Lady Edyth, nicht wahr?«, sagte die Gastgeberin mit sanfter, aber vollkommen menschlicher Stimme. »Wie schön, dass wir einander endlich richtig vorgestellt werden.«

Edyth versuchte zu lächeln, aber ihre Mundwinkel zitterten.

»Aber Ihr seht bedrückt aus, meine Liebe«, fuhr Svana fort. »Kommt, setzt Euch zu mir.«

Sie deutete auf einen wunderschönen Sessel aus geflochtener Weide, der mit weichem Schafsfell ausgelegt war, aber Edyth blickte von der fast weißen Wolle auf ihr zerrissenes, von der Baumrinde fleckiges Gewand und schüttelte den Kopf.

»Besser nicht, Mylady.«

»Warum zieht Ihr dieses Kleid nicht einfach aus, wenn Ihr Euch darin nicht wohlfühlt?«

Edyth geriet in Panik. Fingen so diese heidnischen Rituale an? War sie dem Kochtopf entgangen, um jetzt ins Feuer geworfen zu werden?

»Dahinter.« Lady Svana faltete einen laubgesägten Paravent auseinander. »Ihr könnt mein Nachtgewand tragen, und meine Magd kann die kleinen Risse nähen, während wir uns unterhalten.«

Edyth holte tief Luft und blickte auf ihren zerrissenen Rock hinab. »Kleine Risse?«

»Große, dicke Löcher, wenn Euch das lieber ist, meine Liebe. Aber jedenfalls wird die Ratsversammlung bald eröffnet, und Ihr werdet weniger Ärger mit Euren Eltern bekommen, wenn sie geflickt sind. Elaine näht sehr sorgfältig.«

Eine ältere Frau mit grauem Haar und freundlichen Augen kam hervor und nickte selbstbewusst. Edyth betrachtete ihre mitgenommenen Röcke und stellte sich Meghans Zorn vor, wenn sie bei dem wichtigsten Ereignis in der politischen Karriere ihres Vaters in diesem Aufzug erschien.

»Ich möchte Euch keine Mühe machen«, antwortete sie.

»Es macht keine Mühe, Mädel«, sagte Elaine. »Ich habe viele Risse dieser Art in den Kleidern meiner Herrin geflickt, als sie in Eurem Alter war, und die meisten davon ohne das Wissen ihrer lieben Mutter. Ihr seid auf einen Baum geklettert, was? Nun, nicht so schlimm, oder? Wenn Ihr nur …«

Sie deutete auf den Paravent, und Edyth, die nicht weiter protestieren wollte, schlüpfte dahinter und zog das Kleid aus. Es war eines ihrer besseren Gewänder aus dunkelgrüner Wolle, die ihre Mutter einem flämischen Händler für ein »hübsches Sümmchen« abgekauft hatte. Sie konnte sich also vorstellen, welchen Ärger sie mit Lady Meghan bekommen würde, wenn sie die Bescherung sah. Kleinlaut reichte sie es Elaine heraus und erhielt im Gegenzug eine leichte Robe aus weichem, fliederfarbenem Stoff. Soweit sie sehen konnte, wurde das Gewand nicht, wie normalerweise, über den Kopf gezogen, sondern von hinten angezogen, hüllte sie ein und wurde mit einem seidenen Band zusammengehalten. Es war viel zu lang, und sie musste es in den Händen zusammenraffen, um einen Schritt zu wagen, aber es fühlte sich wunderbar an.

»Es ist wunderschön«, sagte sie zu Svana, als sie wieder hervorkam. Ihre Scheu hatte sie durch die Freude über dieses Kleidungsstück ganz vergessen. »Was ist das für ein Stoff?«

»Osmanische Seide. Harold hat es mir von seinen letzten Reisen mitgebracht. Er hat Schuldgefühle, wenn er so lange weg ist, deshalb bringt er mir immer schöne Geschenke mit, um es wiedergutzumachen.«

»Und um sicherzugehen, dass sie mich zurücknimmt«, fügte Harold hinzu, schlang den Arm um Svanas schmale Taille und küsste sie. »Ich fürchte stets, dass sie meiner überdrüssig wird.«

»Aber das wird sie nie«, erwiderte Svana sanft.

Ihre Blicke trafen sich, und sie lächelten einander zu. In Edyth’ Kopf sangen wieder die ewigen Worte »Liebe braucht Freiheit«, aber nach dem, was sie heute Morgen gesehen hatte, kam ihr dieser Gedanke nicht mehr ganz so einfach vor. Ihr Leben lang hatte ihre Mutter von dem wunderbaren Mann gesprochen, der ihr wie ein wunderbares Geschenk irgendwann in den Schoß fallen würde, aber jetzt war ihr klar geworden, was das beinhaltete – nicht nur Große Hallen und schöne Gewänder und edle Pferde, sondern das gutturale, nackte Ritual des Ehebetts. Unbehaglich trat sie von einem Fuß auf den anderen, und Svana löste sich schnell von Harold und drückte sie mit festem Griff in einen Sessel.

»Ihr seht immer noch blass aus«, sagte sie. »Etwas warmer Wein wird Euch helfen. Harold!«

Harold nickte, und sehr zu Edyth’ Verwunderung schritt er zu einem Seitentisch, goss Wein aus einem Krug in einen Kelch und schlenderte damit davon, wahrscheinlich, um ihn über einer der Kohlenpfannen im Zeltlager zu erhitzen.

»Aber … aber er ist ein Earl«, protestierte Edyth.

»Er ist ein Mann, Edyth. Er muss sich nützlich fühlen.«

Edyth dachte über diese neue Information nach. Mussten Männer sich tatsächlich so fühlen? Trieb sie das dazu, dass sie …?

»Edyth? Meine Liebe? Was habt Ihr von Eurem Baum aus beobachtet?«

Svana musterte ihr Gesicht, aber nicht wie ihre Mutter, wenn sie nach Schmutzflecken oder einem verräterisch schuldbewussten Gesichtsausdruck fahndete, sondern voller aufrichtiger Sorge. Doch Edyth fühlte sich noch immer unbehaglich.

»Nichts.«

Svana zog eine fein geschwungene Augenbraue in die Höhe. »Ihr vertraut mir nicht.«

Das war keine Anklage, aber Edyth sehnte sich danach, sich die Gunst dieser Frau zu verdienen, und die Versuchung, zu antworten, war groß. Sie sah sich um. Harold war immer noch nicht da. Avery stand vor dem Zelteingang, und Elaine beugte ihren grauen Kopf über die Nadel. Sie waren so allein, wie es bei Hofe nur möglich war.

»Da war ein Mann«, stieß sie hervor.

»Ein bestimmter Mann?«

»Lord Torr.« Sie errötete heftig, als sie das sagte; sogar sein Name klang jetzt schamlos.

»Oh. Oh, ich verstehe.«

»Tatsächlich?«

»Ich nehme an, er war nicht allein?« Edyth schüttelte den Kopf. »Mit einem Mädchen vielleicht? Waren sie nackt, Edyth?«

Sie sagte es so schlicht, dass Edyth vor Überraschung direkt antwortete. »Irgendwie schon. Er hatte keine Hose an, und seine Tunika war hochgeschoben, und sie … sie …«

»Hatte die Röcke bis zur Taille hochgeschoben?«

»Ja«, pflichtete Edyth bei, und ihre Kehle fühlte sich so trocken an, dass sie es kaum herausbrachte. »Aber sie war … Sie war …« Sie schloss die Augen und zwang sich, es auszusprechen, »... auf den Knien.«

Sie suchte weiter nach Worten, aber Svana rettete sie.

»Und Ihr wollt jetzt vielleicht wissen, ob das normal ist?« Edyth nickte stumm, aber Svana schien in keiner Weise verlegen zu sein. »Normal ist ein Wort, das uns so viele Grenzen auferlegt, nicht wahr? Und der menschliche Körper ist so wunderbar grenzenlos. Ein Mann und eine Frau können sich auf jede Weise lieben, die sie wollen.«

»Ja?«

»Natürlich, solange sie es wirklich wollen – und zwar beide. Lasst nie zu, dass ein Mann irgendetwas mit Euch tut, das Ihr nicht wollt, Edyth.«

»Auch dann nicht, wenn er mein Gemahl ist?«

»Ganz besonders nicht, wenn er Euer Gemahl ist!«

Svanas Stimme klang jetzt spielerisch, und Edyth blickte auf und entdeckte, dass Harold mit ihrem Wein wieder ins Zelt gekommen war. Sie spürte, wie Hitze ihren ganzen Körper durchflutete, und streckte die zitternde Hand nach dem Kelch aus, den er ihr entgegenhielt. Seit Jahren hatte ihre Mutter ihr eingeschärft, dass eine Frau ihrem Mann in jeder Hinsicht zu gehorchen hatte; sie wäre entsetzt gewesen, wenn sie Svanas Worte gehört hätte. Edyth blickte schuldbewusst zum Zelteingang hinüber, aber als Harold lachte, sah sie ihn an.

»Lasst Euch von ihr keine Flausen in den Kopf setzen«, sagte er leichthin und umfing erneut Svanas Taille, als ob seine Hände magisch und ohne sein Zutun von ihr angezogen würden. »Sie kommt aus dem Osten und glaubt deswegen, dass sie machen kann, was sie will.«

Er blickte auf seine Frau herab, und Edyth bemerkte, dass seine Augen sich verdunkelten, wie sie es bei Lord Torr im Wald ebenfalls gesehen hatte. Sie spürte, wie ihr neues Wissen und Bewusstsein sich hinter ihren Augen sammelte, schwer und quälend, und rieb sich über die Stirn, als könne sie es wegwischen. Svana beugte sich sofort zu ihr vor.

»Seid Ihr müde, meine Liebe?«

»Nein!«

»Verwirrt?«

»Ein wenig.«

»So soll es auch sein. Erwachsen zu werden braucht Zeit.«

Edith nippte an ihrem Wein. »Ich glaube, das Mädchen war bereit dazu.«

»Dann ist alles gut«, sagte Svana fest.

»Auch, wenn sie nicht verheiratet sind?«

»Besser, man ist verheiratet.«

»Wie Ihr beide?«

»Genau.«

»Aber Ihr seid doch nicht richtig verheiratet, oder?«

Das hatte ihr Vater ihr bestimmt hundert Mal versichert, aber ihre Worte schienen Svana wie Pfeile zu treffen.

»›Richtiger‹, als jeder Priester es zu tun vermag«, erwiderte sie spitz.

Edyth zuckte entsetzt zusammen, und Harold machte einen hastigen Schritt vor. »Eine Handfasting-Heirat verbindet zwei Herzen, Edyth. Das ist doch sicherlich mehr wert als das Aushandeln von Eheverträgen über Ländereien und auch mehr als der kirchliche Segen?«

»Ja«, stammelte sie und sah hilflos an ihm vorbei zu Svana hin, deren biegsamer Körper ganz steif war. »Ja, ja, ich verstehe. Es tut mir leid. Es tut mir so leid. Ich wollte nicht …«

Aber so schnell, wie sich Svana angespannt hatte, erholte sie sich auch wieder, schüttelte den wie auch immer gearteten Zorn, der sie in seinen Fängen gehalten hatte, sichtbar ab.

»Nein, Edyth, mir tut es leid. Handfasting-Ehen sind ein Brauch meiner Leute, und ich vergesse immer, dass andere sie vollkommen anders bewerten als wir. Ich bitte Euch nur um das eine: Verlasst Euch niemals auf das Urteil anderer, wenn Ihr zur Frau heranwachst. Versteht Ihr?«

Edyth nickte; sie war sich peinlich bewusst, dass die meisten ihrer Ansichten – wenn es überhaupt Ansichten waren – eher die ihres Vaters als ihre eigenen waren. Earl Alfgar hatte seine Meinung immer frei heraus geäußert, und nie hatte sie auch nur in Erwägung gezogen, sie infrage zu stellen. Aber wenn seine Ansichten eine liebreizende Lady wie Svana verletzen konnten, dann war es jetzt höchste Zeit, einmal darüber nachzudenken.

»Sorgt Euch nicht«, sagte Svana, die ihren Gesichtsausdruck sah. »Euch bleibt noch viel Zeit. Ah, Elaine, danke.«

Edyth beugte sich dankbar über das geflickte Gewand und musterte es ungläubig – der kostbare Stoff war beinahe so gut wie neu. Sie blickte auf Elaines Finger, dann wieder auf ihr Kleid.

»Kannst du zaubern?«, fragte sie unsicher.

»Nein, Mädel.« Elaine lachte. »Ich habe nur ein bisschen Übung.«

Sanft legte Svana ihre Hand auf Edyth’ Arm. »Es gibt keine Zauberei, wisst Ihr, Edyth – egal was gesagt wird –, außer vielleicht den Zauber, den wir selbst wirken. Soll ich Euch helfen, Euer Gewand überzustreifen?«

»Ich schaffe es allein, danke.«

Edyth drängte sich hinter den Paravent. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie zögerte, Svanas sinnliches Gewand auszuziehen, aber im Zeltlager erklang schon die scheppernde Kirchenglocke und rief die Menschen zur Ratsversammlung. Ihre Mutter würde wütend sein, wenn sie nicht anwesend war. Ihr Vater ebenfalls. Schnell zog sie sich um und faltete Svanas seidenglattes Gewand so sorgfältig wie möglich zusammen.

»Ich muss gehen.«

»In der Tat. Danke, dass Ihr uns einen Besuch abgestattet habt.«

Aus Svanas Mund klang es, als habe es sich nur um einen Höflichkeitsbesuch gehandelt, wofür Edyth dankbar war, aber Harold …? Sie sah zu ihm hinüber. Er war nicht besonders groß, aber er hielt die Schultern gerade und schien durch seinen gebieterischen Blick an Größe zu gewinnen. Sie nahm an, dass er als gutaussehend galt. Seine Augen waren von einem verblüffenden Mitternachtsblau, sein sandfarbenes Haar war wild gelockt, und seine Arme so kräftig und lang, dass sie wirkten, als könne er eine Frau zweimal umschlingen. Wie er wohl aussehen mochte, wenn er …? Sie schüttelte den unzüchtigen Gedanken ab. Sie konnte nicht herumlaufen und sich bei jedem beliebigen Mann diese Frage stellen, nur weil sie Zeuge einer solchen Szene geworden war.

»Werdet Ihr es meiner Mutter erzählen?«, fragte sie nervös.

Harold sah Svana an, und Edyth bemerkte, dass sie den Kopf schüttelte. Sie hielt den Atem an.

»Diesmal noch nicht«, bestätigte Harold. »Aber Edyth, gebt auf Euch Acht. Das nächste Mal fallt Ihr womöglich noch tiefer.«

Sie erinnerte sich an Torrs herausfordernden Blick und wusste, was er meinte. Sie schüttelte den Kopf, um die gefährlichen Erinnerungen loszuwerden, die sich dort festgesetzt hatten.

Sie verabschiedete sich von Harold und Svana und trat vorsichtig vors Zelt. Sofort entdeckte sie den schwarzen Mantel ihres Vaters auf einem der unebenen Pfade zwischen den Pavillons. Mit pochendem Herzen schlüpfte sie zur Seite, damit er sie nicht sah, und umrundete ein paar kleinere Zelte, um dann hinter ihm hervorzukommen.

»Vater.«

»Edyth, das wurde auch Zeit! Deine Mutter gackert bereits wie ein Zwerghuhn. Wo in Gottes Namen bist du gewesen?«

Edyth blickte zu ihm auf. Sie hatte ihren Vater bislang noch nie belogen, hatte es nie müssen. Oft genug war sie ein Opfer seiner Temperamentsausbrüche gewesen, aber im Großen und Ganzen war er zwar streng zu ihren drei Brüdern, bei ihr aber immer nachsichtig gewesen. Doch jetzt … Sie kramte in ihrer Tasche, die Gott sei Dank immer noch an ihrem Gürtel hing, und holte die Bänder heraus, die sie auf dem Markt gekauft hatte. Mit unschuldigem Gesicht hielt sie sie ihm entgegen. Einen Augenblick lang wirkte er misstrauisch, dann grinste er.

»Also wirklich, Edie, mein Liebes, nur du kannst dich so lange mit ein paar Bändern aufhalten! Aber trotzdem …« Er beugte sich vor, und ein fast kindliches Lächeln umspielte seine Lippen. »Wir müssen heute alle unser Bestes geben.«

Er tätschelte seine Tunika, eine neue in teurem Dunkelblau, die über seinem Bauch heller wurde. Dann deutete er mit einem verzagten Nicken auf die passenden Bänder an seiner Hose.

»Du siehst sehr gut aus, Vater«, versicherte Edyth.

»Danke, Edie, und ich bin überzeugt, dass deine Bänder dich ebenfalls kleiden werden; als Tochter des zukünftigen Earl of Northumbria solltest du so gut wie möglich aussehen.«

»Vater …!«

»Pst, ist nur eine Formalität, nichts weiter. Ehe du dichs versiehst, wird jedermann es wissen. Aber jetzt komm, ich führe dich in den Witan – deine Mutter wartet schon seit Ewigkeiten auf der Bank, und ich muss mich den Ratsmitgliedern anschließen.«

Er richtete sich auf, und sein Gesicht war von feierlichem Ernst. Dann bot er ihr seinen Arm dar. Edyth nahm ihn vorsichtig. Ob er spürte, dass sie noch vor Kurzem am Arm des Earl of Wessex einhergeschritten war? Aber Alfgar schien nichts zu bemerken. Und während die Großen und Mächtigen Englands sich zum Regierungsspektakel versammelten, konnte Edyth diese unbehagliche Vorstellung für sich behalten.

KAPITEL DREI

Edyth! Endlich! Hast du keinen Sinn für Höflichkeit? Wo im Namen aller Heiligen hast du nur gesteckt?«

»Tut mir leid«, murmelte Edyth. »Ich habe die Zeit vergessen.«

Ihre Mutter, Lady Meghan, saß auf einer der vorderen Bänke. Prächtig angetan mit einem neuen Gewand und einer dreireihigen Bernsteinkette, schäumte sie vor selbstgerechtem Zorn. Edyth umrundete sie und schlüpfte zwischen ihre beiden jüngeren Brüder. Ihre Wangen brannten, als sie das Grinsen der hinter ihnen sitzenden Menschen sah.

»Du warst sehr ungezogen, Edie«