Das Haus der Seidenblüten - Liz Trenow - E-Book

Das Haus der Seidenblüten E-Book

Liz Trenow

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Beschreibung

Eine talentierte junge Frau, ein einzigartiger Seidenstoff und eine geheime Liebe in dramatischen Zeiten

England 1760. Das Leben der jungen Anna Butterfield ändert sich grundlegend, als sie vom idyllischen Suffolk zur Familie ihres Onkels nach London zieht. Kurz nach ihrer Ankunft begegnet sie dem französischen Seidenweber Henri und wird hineingezogen in die faszinierende Welt des Seidenhandels. Henri arbeitet an seinem Meisterstück, während Anna sich danach sehnt, Künstlerin zu werden, anstatt einen reichen Anwalt zu heiraten wie von ihrer Familie gewünscht. Henri erkennt, dass Annas Blütenzeichnungen ihnen beiden die Chance auf Unabhängigkeit schenken könnten. Doch sein Leben als Einwanderer wird täglich gefährlicher, bis die dramatischen Zeiten ihn und Anna für immer auseinanderzureißen drohen.

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Seitenzahl: 504

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Buch

Anna Butterfield ist 18, als sie im Juli 1760 alleine nach London reist, um dort im Haus ihres Onkels Joseph Sadler, eines wohlhabenden Stoffhändlers, zu leben. Die junge Frau soll kurz nach dem Tod ihrer Mutter angemessen »unter die Haube gebracht« werden. Als ihre Kutsche bei ihrer Ankunft unerwartet in eine Demonstration von Arbeitern gerät und Anna, überwältigt vom Lärm, den Gerüchen der Stadt und der schieren Masse an Menschen, ohnmächtig wird, eilt ihr ein junger Mann zu Hilfe. Henri ist ein französischer Seidenweber, der als Kind mit seiner Familie vor der Hugenottenverfolgung nach England geflohen ist. Annas Londoner Verwandte stehen den Einwanderern ablehnend gegenüber, doch durch Zufall begegnen die beiden sich wieder. Henri arbeitet an seinem Meisterstück, während Anna sich danach sehnt, Künstlerin zu werden, anstatt einen reichen Anwalt zu heiraten, wie von ihrer Familie gewünscht. Ihre Blütenzeichnungen begeistern Henri und seinen Meister, und Henri erkennt, dass sie ihnen beiden die Chance auf Unabhängigkeit schenken könnten. Doch als ein Skandal die Familie Sadler erschüttert und Henri hineingezogen wird in die Protestbewegung der unzufriedenen Arbeiter, scheint sich das Schicksal gegen sie zu stellen …

Autorin

Liz Trenow wuchs in der Nähe einer Seidenspinnerei auf, die auch heute noch in Betrieb ist und sie zu ihrem ersten Roman »Das Kastanienhaus« inspirierte. Obwohl ihre Familie seit über dreihundert Jahren im Seidengeschäft tätig ist, entschied Liz Trenow sich für einen anderen Beruf. Sie arbeitete viele Jahre als Journalistin für nationale und internationale Zeitungen sowie für den Hörfunk und das Fernsehen, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete.

Von Liz Trenow bereits erschienen

Das Kastanienhaus · Die vergessenen Worte

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Liz Trenow

Das

Haus der

Seiden-

blüten

Roman

Deutsch von Andrea Brandl

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »The Silk Weaver« bei Pan Books, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © Liz Trenow 2017

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2018 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Ulrike Nikel

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: Steve Peet/Arcangel Images;

www.buerosued.de

AF · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-20811-0V001

www.blanvalet.de

Meinen beiden wunderbaren Töchtern Becky und Polly

Prolog

Anna lehnt den Kopf an das Kissen und fährt mit dem Zeigefinger über die Stängel der Maßliebchen und die sanft geneigten Köpfe der Glockenblumen. Wenngleich die Stickerei verschlissen ist und an einigen Stellen lose Fäden hervorschauen, hat das Seidengarn sich seinen Glanz bewahrt, und wenn es im Sonnenlicht schimmert, entfaltet das in verschiedenen Farben gehaltene Bild seine ganze Pracht.

»Maßliebchen und Glockenblumen«, singt das Mädchen eine Zeile aus einem Kinderlied. »Maßliebchen und Glockenblumen wachsen in unserem Garten, wachsen in unserem Garten.«

Zusammen mit ihrer Mama, die an einer neuen Stickerei arbeitet, sitzt Anna auf der alten Chaiselongue im Wohnzimmererker des Pfarrhauses und langweilt sich. Viel lieber wäre sie jetzt draußen, aber das geht nicht, weil ihre Mutter neuerdings so schnell Rückenschmerzen bekommt.

Das liegt an ihrem Bauch, sagt sie. Und wirklich ist der mittlerweile so groß und rund, dass sie den Stickrahmen ein ganzes Stück weiter von sich weghalten muss. Sie bekomme einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester, heißt es, doch Anna vermag sich beim besten Willen nicht vorzustellen, dass sich in dieser Kugel tatsächlich ein Baby befinden soll.

Und sie ist missmutig, weil sie deswegen nicht mehr gemeinsam wie sonst durch die Heide oder das Marschland streifen können, wo sie wilde Blumen gesammelt hat, um sie anschließend zu Hause zu pressen. Gleiches gilt für die Gartenarbeit, die Anna so liebt. Es macht ihr einen Riesenspaß, mit den Händen kleine Kuhlen in die dunkle Erde zu graben und dann winzige Samen hineinzustreuen, aus denen im kommenden Jahr Blumen entstehen sollen.

Was für sie genauso unvorstellbar ist wie die Sache mit dem Geschwisterchen, wenngleich ihre Mama hoch und heilig versichert, dass es stimmt.

»Wart’s einfach ab, mein Schatz«, pflegt sie ihre Tochter zu vertrösten. »Hab ein wenig Geduld, du wirst schon sehen.«

Obwohl sie erst fünf Jahre alt ist, kennt Anna bereits zahlreiche Wildblumen und Gartenpflanzen beim Namen. Am leichtesten fällt es ihr, sich jene zu merken, die vor ihrem inneren Auge ein Bild erstehen lassen und ihr wie selbstverständlich über die Lippen gehen: Jungfer im Grünen, Löwenmäulchen, Fingerhut, Glockenblume, Vergissmeinnicht, Goldlack, Sonnenhut. Echte Zungenbrecher sind hingegen für ein kleines Mädchen wie sie Chrysantheme, Rhododendron, Gerbera, Affodill.

Erneut wendet sie ihre Aufmerksamkeit dem Kissen zu.

Wie verschieden die beiden Blumen sind, denkt sie. Das kecke kleine Maßliebchen hat ein offenes Gesicht, und ein Kranz aus winzigen weißen Blüten umrahmt das gelbe Näschen. Die hütchenförmigen Glockenblumen wiederum lassen ihre Köpfe hängen, als wäre der Stiel, der sie trägt, nicht stark genug für diese Last.

»Welche Blume würdest du lieber sein?«, fragt sie ihre Mutter. »Ein Maßliebchen oder eine Glockenblume?«

»Eine Glockenblume, weil sie so schön duftet.«

»Ich wäre lieber ein fröhliches Maßliebchen als eine traurige Glockenblume«, gibt Anna zurück. »Außerdem blühen Maßliebchen den ganzen Sommer lang, die Glockenblumen nur ein paar Wochen im Jahr.« Wieder summt sie ihr kleines Lied und wippt mit den Füßen, bevor sie hinzufügt: »Wann zeigst du mir, wie man solche Blumen stickt?«

»Setz dich aufrecht hin, dann zeige ich es dir«, schlägt die Mutter vor. »Beginnen wir mit dem Stiel, das ist ein einfacher Kettenstich.«

Sogleich rückt Anna näher, und ihre Mama steckt ihr die Nadel zwischen Daumen und Zeigefinger und führt sie mit ihrer rechten Hand, während sie gleichzeitig mit der linken dem Kind hilft, den Rahmen richtig zu halten. Als Erstes durchstößt die Nadel das Leinen und zieht den grünen Seidenfaden mit sich, um dann wie von Zauberhand von hinten genau neben dem vorherigen Einstich wieder an die Oberfläche zu kommen. Sie wiederholen das Ganze ein zweites und ein drittes Mal, und Anna sieht, wie der Stiel vor ihren Augen langsam zu wachsen beginnt.

Als sie aber darauf beharrt, es ohne die lenkende Hand der Mutter zu versuchen, geht alles schief. Die Nadel widersetzt sich den ungeübten kindlichen Fingern, der Faden gleitet aus dem Öhr, und verärgert wirft Anna den Rahmen auf den Boden.

»Ich hasse Nähen«, schimpft sie. »Können wir nicht lieber was malen?«

In diesem Augenblick erstarrt ihre Mutter, und ein heftiges Keuchen dringt aus ihrer Kehle.

»Lauf rüber zur Kirche und hol deinen Vater«, stößt sie mit zusammengebissenen Zähnen hervor. »Schnell. Ich glaube, das Baby kommt.«

Noch Jahre später wird Anna an diesen Tag und an die mehr oder minder belanglose Unterhaltung zurückdenken.

Vielleicht, weil es das letzte Mal war, dass sie ihre Mutter ganz für sich allein hatte, bevor Jane auf die Welt kam. Doch am deutlichsten – so, als wäre es gestern gewesen – sollte sie sich an das Kissen mit den gestickten Blumen erinnern, an die seidenen Fäden, die so prächtig in der Sonne schimmerten.

London 1760

Kapitel 1

Es gibt mannigfaltige kleine Gefälligkeiten, die ein echter Gentleman einer allein reisenden Lady erweisen kann, welche sie durchaus mit der gebotenen Schicklichkeit annehmen darf. Bedanken Sie sich höflich, doch vermeiden Sie es tunlichst, sich auf jedwede Avancen einzulassen.

Über die Umgangsformen der feinen Dame

Die Kutsche hielt abrupt an, und einen Moment lang gab sich Anna der Vorstellung hin, dass sie an ihrem Reiseziel angekommen seien.

Aber irgendetwas stimmte nicht. Von Weitem drangen kehlige Männerstimmen an ihr Ohr, das Gekreische von Frauen. Durch das Fenster war nichts zu sehen, und niemand kam, um die Tür zu öffnen. Ihre vier Mitreisenden schwiegen, wichen den Blicken der anderen aus. Bloß die leisen Seufzer, die irritierten Reaktionen – ein ungeduldiges Scharren mit den Füßen, ein nervöses Trommeln mit den Fingern – verrieten Anna, dass es sich um einen außerplanmäßigen Halt handeln musste.

Ein paar Minuten verstrichen. Dann räusperte sich der Gentleman ihr gegenüber, ein eher unauffälliger Herr, und klopfte barsch mit seinem Stock an die Kutschendecke. Keine Antwort. Er lehnte sich aus dem Fenster und blickte nach oben.

»Kutscher! Weshalb halten wir hier?«

»Es geht gleich weiter, Sir.« Die Worte klangen nicht sehr überzeugt.

Sie warteten noch ein Weilchen, bis der Gentleman ein leises Schnauben von sich gab, seinen Sohn anwies, bei den Damen zu bleiben, und ausstieg. Anna hörte, wie er ein paar Worte mit dem Kutscher wechselte. Als er fünf Minuten später wieder einstieg, war er so rot im Gesicht, dass zu befürchten bestand, er würde in der nächsten Sekunde einen cholerischen Anfall bekommen.

»Kein Anlass zur Sorge, meine Damen«, sagte er mit vorgetäuschter Ruhe. »Ich würde vorschlagen, dass Sie einfach die Vorhänge zuziehen.«

In diesem Moment begann die Kutsche zu ruckeln, erst rückwärts, dann seitwärts, und zwar so abrupt, dass die Fahrgäste hin und her geschleudert wurden wie Butter in einem Fass. Offensichtlich versuchte der Kutscher zu wenden, ein fast unmögliches Unterfangen auf einer so schmalen Straße, selbst wenn sie gepflastert war und man keine Angst zu haben brauchte, in einem Schlammloch zu versinken.

Gleichzeitig wurden die Rufe draußen lauter – es klang, als würden die Leute irgendetwas skandieren, zornig und zudem bedrohlich. Zudem wurden Steine geworfen, von denen einige die Kutsche trafen und womöglich sogar die Pferde, denn eins gab wiehernd einen Schmerzenslaut von sich. Als der Tumult schließlich noch näher an sie heranrückte, hörte Anna ein einzelnes Wort heraus, das unablässig wiederholt wurde. Brot!

Es schockierte sie, wie Furcht einflößend ein ganz normaler, völlig alltäglicher Begriff sein konnte, wenn er drohend von Aberdutzenden wutentbrannter Menschen gebrüllt wurde.

Mittlerweile bemühte sich der Kutscher, seine verängstigten Gäule unter Kontrolle zu bringen, und rief ihnen lautstark Kommandos zu. In der Kutsche breitete sich angespanntes Schweigen aus. Die beiden Gentlemen blickten starr vor sich hin, die reservierte Lady senkte den Kopf, die Augen wie zum Gebet geschlossen.

Obwohl sie keine Miene verzog und gefasst zu wirken versuchte, schlug Anna das Herz bis zum Hals. Ihre Knöchel traten weiß hervor, während sie sich an den Haltegriff neben dem Kutschenfenster klammerte. Sie fragte sich, ob derartige Vorkommnisse in der Großstadt gang und gäbe waren. Nun ja, sie hatte von Demonstrationen und entfesselten Menschenmengen gehört, aber niemals damit gerechnet, selbst mit so etwas konfrontiert zu werden.

Jedenfalls war sie heilfroh, als sich die Kutsche wieder in Bewegung setzte und die Pferde über das Straßenpflaster davonjagten, als wäre der Leibhaftige hinter ihnen her.

»Was war das denn für ein Lärm, Sir?«, erkundigte sich die Lady schwer atmend. »War unsere Kutsche etwa der Anlass für den Tumult?«

»Keine Angst, Madam«, erwiderte der Gentleman. »Es bestand keinerlei Gefahr, die Straße war lediglich gesperrt, sodass unser Kutscher eine andere Route nach London hinein nehmen muss.«

Anna glaubte ihm kein Wort, wenngleich sich die hektische Röte in seinem Gesicht verflüchtigt hatte.

»Warum haben die Leute um Himmels willen ständig nach Brot gerufen?«, warf sie ein. »Und gegen wen richtete sich ihr Zorn überhaupt?«

»Es ist nicht an uns, darüber zu mutmaßen«, beschied sie der Gentleman von oben herab, bevor er sich erneut in Schweigen hüllte.

Auch sonst äußerte sich niemand, und so herrschte eine düstere Stille, während die Kutsche weiter über die Straße holperte.

Allmählich begann sich Anna wegen der Verzögerung Sorgen zu machen. Cousin William wollte sie am Red Lyon abholen, doch wie sollte sie ihn benachrichtigen, dass sie über eine Stunde später kommen würde? Hinzu kam, dass sie hungrig war. Seit dem Frühstück hatte sie nichts außer einer Scheibe Brot und einem kleinen Stück Käse gegessen, und ihr Magen knurrte bereits so laut, dass sie befürchtete, ihre Mitreisenden könnten es trotz des Geratters der Räder hören.

Endlich hielt das Gefährt an, und der Kutscher rief: »Spitalfields Red Lyon, Miss Butterfield.«

Mit steifen Gliedern kletterte Anna aus dem Wagen, schnell reichte der Kutscher ihr das Gepäck herunter, rief ihr ein fröhliches Lebewohl zu und trieb erneut die Pferde an. Und kurz darauf bog die Kutsche, in der sie sich wenigstens einigermaßen sicher und geborgen gefühlt hatte, um die nächste Ecke und entschwand ihrem Blick.

Mutterseelenallein stand Anna auf einer fremden Straße in einer fremden, riesigen Stadt und kam sich schrecklich verloren vor.

Ein schier endloser Strom von Menschen wogte um sie und ihre Taschen herum. Manche spazierten zu zweit oder dritt in Gespräche vertieft vorbei, während andere, die offensichtlich eilige Botengänge erledigen mussten, sich ungeduldig zwischen den einzelnen Gruppen hindurchzwängten. Besonders fasziniert war Anna von den Straßenhändlern, die sich im Wettstreit um die Kunden gewaltig ins Zeug legten.

»Rosmarin! Kauft meinen Rosmarin! Ein Bund Wohlgeruch für einen Viertelpenny«, lockte eine Frau, wedelte mit einem Bund duftender Kräuter und hielt ihn den Passanten unter die Nase, während ein anderer ganz normale Birnen anpries, als wären sie seltene Kostbarkeiten: »Birnen frisch vom Baum, Birnen wie gemalt! Birnen, reif und saftig, für Kuchen ideal!«

Natürlich gab es in Annas Heimatort gleichfalls Straßenhändler, die in regelmäßigen Abstanden vorbeikamen und ihre Waren feilboten, aber die ließen es gemütlich angehen, hielten gerne ein Schwätzchen mit den Dorfbewohnern und tauschten Neuigkeiten aus: Wer war wo gestorben, wer hatte geheiratet, wer Kinder bekommen, und wie stand es um die Ernte. In der Stadt hingegen hielt man offenbar nichts von einem kleinen Plausch – hier ging es ums Geschäftemachen und um klingende Münze.

Und was es nicht alles zu kaufen gab: Kisten und Körbe, Bürsten und Besen, Lederpantoffeln, Streichhölzer, Töpfe und Tiegel, Holzlöffel und Muskatreiben, Fußmatten, Vogelmiere und Kreuzkraut als Vogelfutter, Austern, Heringe, Zwiebeln, Erdbeeren, Rhabarber, alle erdenklichen Obst- und Gemüsesorten sowie ofenfrisches Brot, gebackene Kartoffeln und Fleischpasteten, deren verführerischer Duft ihren Magen noch mehr knurren ließ.

Abgesehen von den Händlern und ein paar Bettlern schenkte niemand Anna auch nur die geringste Beachtung. Auf dem Land wäre einer allein reisenden Frau im Nu Hilfe angeboten worden. Hier dagegen schien sie unsichtbar zu sein oder kein Mensch aus Fleisch und Blut, sondern eine Statue, die lästigerweise ständig im Weg war.

Ich könnte mich in Luft auflösen, schoss es ihr durch den Kopf, und niemand würde etwas bemerken.

Es war ein seltsames Gefühl, beängstigend und befreiend zugleich.

Und der Lärm! Schwer zu sagen, wer mehr Krach verursachte: die rumpelnden Pferdewagen oder die Menschen, die einander zu überschreien versuchten, und das noch in verschiedenen Dialekten und Sprachen. Unwillkürlich kam ihr die in der Bibel beschriebene Sprachverwirrung in den Sinn – und obwohl es sich dabei wie bei so vielem in der Heiligen Schrift sicher bloß um eine Allegorie handelte, vermochte sie sich lebhaft vorzustellen, wie es damals in Babel ausgesehen haben könnte, als plötzlich alle mit verschiedenen Zungen redeten.

Suchend schaute Anna sich um. Auf der anderen Seite des Platzes hatten sich Männer vor dem Red Lyon versammelt, Bierkrüge in den Händen, obwohl es nicht einmal dämmerte. Raues Lachen drang zu ihr herüber.

Rasch wandte sie sich ab und richtete den Blick stattdessen auf eine gewölbeartige Halle voller Tische und Stände. Eindeutig ein richtiger Markt, nicht so einer wie im heimischen Halesworth, der nur gelegentlich stattfand und zudem winzig war. Dort gab es gerade mal zwei Dutzend Stände, selbst an Michaeli, hier mussten es über hundert sein. Und wenngleich die Händler bereits zusammengepackt und die Stände verlassen hatten, wehte der Geruch von Gemüse und Kräutern, Fischabfällen und faulendem Fleisch bis auf die Straße heraus.

Anna starrte auf die große Uhr über dem Halleneingang und sah auf dem rissigen Zifferblatt Minute um Minute verstreichen. Ihre Brust war wie zugeschnürt, und das lag nicht allein an dem engen Korsett. Hunger und Durst taten ein Übriges, und allmählich wurde ihr leicht schwummerig. Unbehaglich trat sie von einem Fuß auf den anderen und schickte ein Stoßgebet gen Himmel, dass William bald auftauchen möge.

Vergeblich, denn er kam nicht.

Irgendwann begann sich alles um sie herum zu drehen, und ihr wurde ganz schwarz vor Augen. Als sich der Nebel etwas lichtete, fand sie sich auf dem Pflaster liegend wieder. Undeutlich registrierte sie, dass jemand neben ihr kniete und ihren Kopf leicht anhob, während eine zweite Person ihr mit einem Hut Luft zufächelte. Sie brauchte ein paar Sekunden, bis sie die Situation voll erfasste.

»Du liebe Güte.« Verwirrt versuchte sie sich aufzurichten. »Es tut mir schrecklich leid, Ihnen Umstände zu machen …«

»Keine Sorge, machen wir doch gerne«, erwiderte der junge Mann, der ihren Kopf hielt, und sagte etwas zu seinem Begleiter.

Sie verfolgte, wie er sich entfernte und kurz darauf mit einem Becher Wasser zurückkam, den er ihr reichte. Dankbar trank sie einen Schluck.

»Wo wohnen Sie denn?«, erkundigte sich der andere jetzt. »Bei Ihrer Familie? Oder bei einer Bekannten?«

»Ich bin gerade angekommen und muss zu meinem Onkel am Spital Square.« Langsam kehrten ihre Lebensgeister zurück. »Joseph Sadler heißt er. Mein Cousin William sollte mich eigentlich hier abholen.«

Mittlerweile stand eine Traube von Menschen um sie herum, die sie neugierig angafften. Dennoch empfand Anna keinerlei Angst – ihr Helfer, der nach wie vor ihren Kopf stützte, vermittelte ihr seltsamerweise das Gefühl, sicher und beschützt zu sein. Interessiert musterte sie ihn. Als Erstes fiel ihr auf, dass er sorgfältig rasiert war und seine dunkelbraunen Augen sie an frische, glänzende Kastanien denken ließen. Zwar trug er keine Perücke wie unter honorigen britischen Bürgern üblich, aber seine Haare waren ordentlich zusammengebunden, und seine Stimme klang sanft, seine Sprache war wohlmoduliert, indes etwas fremdartig. Ein merkwürdiger, jedoch nicht unangenehmer Geruch ging von ihm aus, den sie nicht einordnen konnte: süßlich und zugleich erdig.

Inzwischen ging es Anna deutlich besser, und sie versuchte aufzustehen – allein schon deshalb, weil sie nicht wollte, dass ihr Cousin sie lang hingestreckt auf dem Straßenpflaster vorfand. Kaum hatten die beiden jungen Männer ihr aufgeholfen, als William tatsächlich auf der Bildfläche erschien.

»Platz da! Lasst mich durch!«, rief er gebieterisch und bahnte sich ungehalten seinen Weg durch die Menge.

Dann stand er vor ihr: hochgewachsen und schmalgesichtig, eine gepuderte Perücke auf dem Kopf. Seine Miene verfinsterte sich, als er die beiden jungen Männer erblickte, die Anna noch stützten.

»Wie könnt ihr es wagen! Nehmt auf der Stelle eure ungewaschenen Finger von der jungen Dame«, blaffte er sie an, und sogleich landete seine geballte Faust im Gesicht des ersten Jungen, der einen Schmerzenslaut von sich gab und zurücktaumelte.

Nicht lange und er holte erneut aus, schickte den zweiten Burschen mit einem Kinnhaken zu Boden.

»Geht mir gefälligst aus den Augen, ihr Kohlköppe«, fügte er drohend hinzu und trat, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, mit den Stiefeln nach ihnen. »Sollte ich euch noch mal dabei erwischen, wie ihr eine englische Lady anfasst, hänge ich euch an euren Schmutzfüßen auf, verstanden?«

»Sei bitte nicht so unfreundlich, Cousin«, flüsterte Anna schockiert. »Die beiden haben mir schließlich geholfen. Ich bin ohnmächtig geworden wegen der Hitze …«

»Dreckskerle«, knurrte er und wies einen Mann mit einem Handwagen barsch an, Annas Gepäck aufzuladen. »Das hättest du unter keinen Umständen zulassen dürfen«, ließ er daraufhin sie seine Missbilligung spüren. »Nun ja, du wirst hoffentlich noch lernen, wie man sich als junge Dame in der Großstadt zu verhalten hat.«

»Ja, bestimmt«, erwiderte Anna beschwichtigend, um kein Öl ins Feuer zu gießen.

Der Cousin indes war nicht zu besänftigen. »Komm schon, Anna Butterfield. Wir warten seit Stunden auf dich«, schimpfte er ungehalten und zerrte sie so grob hinter sich her, dass sie kaum mit ihm Schritt zu halten vermochte. »Außerdem verstehe ich gar nicht«, mäkelte er weiter, »warum du uns nicht Bescheid gegeben hast, dass sich deine Ankunft verzögert – dann wäre es nämlich gar nicht erst zu diesen Scherereien gekommen. Und das Abendessen hätte nicht kalt werden müssen.«

Glücklicherweise war es nicht weit vom Red Lyon zum Spital Square, und sie erreichten binnen Kurzem zu Fuß das Haus des Onkels, in dessen Parterre sich ein großer Laden befand, dessen prächtige Glastür von zwei Erkern flankiert und von einem Säulenportal überdacht wurde. Auf einem Schild prangte in eleganter goldener Schrift der Firmenname: Joseph Sadler & Sohn, Tuchhändler und Hoflieferant.

Der Eingang zu den Wohnräumen hingegen befand sich auf der Seite, wo sie erst einen langen, dunklen Korridor entlanggingen und dann eine Treppe hinaufstiegen. Dort wartete bereits der Onkel auf sie.

Er begrüßte sie mit einem förmlichen Händedruck und einem Lächeln, das nahezu sofort wieder verflog, als wäre sie ein ebenso unerwarteter wie unerwünschter Gast.

Joseph Sadler war zweifellos eine Respekt einflößende Erscheinung, groß und beleibt, ein Mann, der selbst zu Hause Perücke, Stehkragen und Gehrock trug und über dessen mächtigem Bauch sich eine bestickte Seidenweste spannte. In jüngeren Jahren war er vermutlich ein gut aussehender Mann gewesen, aber das gute Leben hatte seinen Tribut gefordert. Seine bärtigen Wangen hingen schlaff herab und zitterten wie die Kehllappen eines Truthahns.

»Herzlich willkommen, liebe Nichte«, bequemte er sich zu sagen. »Ich hoffe, du wirst dich bei uns wohlfühlen.«

Mit einer weit ausholenden Geste bat er sie in das opulent möblierte Speisezimmer mit einem glänzend polierten Tisch in der Mitte, der fürs Abendessen gedeckt war und auf dem das Silberbesteck im Kerzenlicht schimmerte.

Anna machte einen kleinen Knicks. »Vielen Dank für die Gastfreundschaft, Onkel.«

Im Gegensatz zu ihrem Ehemann schien Tante Sarah ständig zu lächeln und küsste die Nichte überschwänglich auf die Wangen.

»Du siehst mitgenommen aus, Kind«, stellte sie fest und trat einen Schritt zurück, um sie näher in Augenschein zu nehmen. »Und deine Kleider …« Sie stieß einen leisen Seufzer aus und wandte das Gesicht ab, als könnte sie den Anblick nicht ertragen. »Nun denn. Jetzt iss erst einmal zu Abend, und dann ruhst du dich aus. Um deine Garderobe können wir uns später kümmern.«

Sie hatte die gleiche Stimme wie ihr Vater, dachte Anna, mit jenem leichten Lispeln, das offenbar in der Familie lag. Möglichst unauffällig musterte sie die jüngere Schwester des Pfarrers, versuchte Ähnlichkeiten festzustellen, was gar nicht so einfach war. Die Lippen vielleicht oder die Augenbrauen? Von der Statur her glichen sie sich jedenfalls nicht. Sarah war rundlich und viel kleiner als ihr Vater, von dem sie die langen Glieder und kantigen Züge geerbt hatte – Merkmale, die einer Frau nicht eben zum Vorteil gereichten, wie sie wusste.

Inzwischen war auch ihre Cousine Elizabeth hereingekommen und machte einen formvollendeten Knicks.

»Nenn mich einfach Lizzie. Ich hab mir schon immer eine ältere Schwester gewünscht«, lispelte sie, was bei ihr ganz bezaubernd klang. »Brüder sind nämlich zu gar nichts nütze«, schob sie mit einem giftigen Blick auf William nach, dessen Miene daraufhin noch misslauniger wurde, sofern das überhaupt möglich war.

Lizzie musste so um die vierzehn Jahre alt sein. Ein hübsches kleines Ding, sechs Jahre jünger als ihr Bruder, vier Jahre jünger als Anna. Sie ähnelte ihrer Mutter, war allerdings graziler. Ihr rundliches, weiches Gesicht wurde von kastanienbraunen Locken umrahmt, die bis auf den Rücken ihres cremefarbenen Spitzenkleids fielen.

Soweit Anna wusste, hatte es noch mehr Kinder gegeben, die alle früh gestorben waren.

Sie erinnerte sich, dass ihr Vater oftmals seufzend die Briefe seiner Schwester gelesen hatte: »Ein weiteres Kind, das vor der Zeit zu Gott gegangen ist. Arme Sarah – könnte sie bloß an einem Ort mit besserer Luft leben.«

In der Kirche bat er dann den Herrn, die toten Kinder in seine himmlische Obhut zu nehmen. Jedenfalls schloss Anna als kleines Mädchen aus seinen traurigen Gebeten, dass allein die Tatsache, Kinder zu bekommen, schrecklich sein musste, vielleicht das Schrecklichste auf der ganzen Welt, und sie begann irgendwann zu grübeln, wie und ob es überhaupt möglich war, diesem Schicksal zu entgehen.

Nach der allgemeinen Begrüßung nahm man am Tisch Platz, und der Hausherr füllte die Gläser mit einer Flüssigkeit, die die Farbe reifer Pflaumen hatte. Ein »Claret« sei das, sagte er und brachte einen Toast »auf die Ankunft unserer lieben Cousine« aus.

Vorsichtig nippte Anna daraufhin an dem unbekannten Getränk, das deutlich stärker war als der Messwein zu Hause und deutlich besser schmeckte. Köstlich, fand Anna, nahm noch einen Schluck und noch einen, bis sie sich irgendwann rundum entspannt fühlte.

Leider trübte Tante Sarah das wohlige Gefühl, indem sie ein trauriges Thema anschnitt.

»Ihr Armen habt ja in den letzten Monaten viel durchgemacht«, murmelte sie mit Grabesstimme, während sie gleichzeitig unbekümmert die Fleischplatte herumreichte. »Ich hoffe, die liebe Fanny musste während ihrer letzten Wochen nicht allzu sehr leiden.«

Sofort stand Anna wieder das Bild ihrer von Kissen gestützten Mutter vor Augen, wie sie geisterhaft blass und bis auf die Knochen abgemagert heftig nach Luft rang und verzweifelt versuchte, die krampfartigen Hustenanfälle zu unterdrücken, die ihren Körper immer wieder schüttelten. Wegen der Verschleimung der Atemwege hatte sie am Ende nicht einmal mehr richtig schlucken und folglich kaum Essen zu sich nehmen können.

Es war ein langer Leidensweg gewesen, wenngleich es zwischendurch immer wieder Hoffnung gab – nur verflüchtigte sie sich meist ebenso schnell, wie sie gekommen war. Nicht zuletzt für Anna eine schwere Zeit, da sie sich neben der Krankenpflege zusätzlich um den Haushalt und die jüngere Schwester Jane kümmern und dem Vater bei der Gemeindearbeit zur Hand gehen musste.

Das alles hatte ihr so viel abverlangt, dass ihr kaum Zeit geblieben war, sich Gedanken über die bevorstehende Tragödie zu machen. Als sie schließlich eintrat, hatte sich Jane ins Bett verzogen und geweint, tagelang, wochenlang. Nichts vermochte sie zu trösten außer den Süßigkeiten, mit denen sie sich tagsüber vollstopfte, und den Umarmungen der großen Schwester, wenn sie sich nachts aneinanderkuschelten.

Und was den Vater betraf: Zwar hatte Anna ihn ein- oder zweimal mitten in der Nacht heftig schluchzen gehört, doch er wollte keinen Beistand, wünschte mit seiner Trauer allein zu sein, fand und suchte, wie sie vermutete, Trost in seinem Glauben.

Anna selbst hielt erstaunlicherweise durch wie ein Fels in der Brandung.

Sie hatte damit gerechnet, dass die Verzweiflung sie übermannen werde, sobald ihr das Ausmaß des Verlusts richtig zu Bewusstsein käme, aber der Zusammenbruch blieb aus. Sie stand jeden Tag auf, erledigte ihre Aufgaben, bereitete die Mahlzeiten zu und zwang sich zu einem Lächeln, wenn die Leute beteuerten, wie tapfer sie sei.

In ihrem tiefsten Innern hingegen fühlte sie sich leer und gleichgültig, als würde sie schlafwandelnd durch eine öde, tief verschneite Landschaft taumeln, jeder Schritt schmerzhaft und anstrengend. Die ganze Welt schien ausschließlich aus Grautönen zu bestehen, Geräusche hallten dumpf und hohl in ihren Ohren wider. Manchmal kam es ihr vor, als wäre sie zusammen mit ihrer Mutter gestorben.

Entschlossen verdrängte sie jetzt die schmerzhaften Erinnerungen, um ihrer Tante endlich zu antworten.

»Danke für deine Anteilnahme, sie ist friedlich eingeschlafen.«

Eine Lüge, weshalb sie die Finger heimlich kreuzte – eine Angewohnheit aus ihrer Kindheit, mit der sie sich vor Gottes Zorn zu schützen versuchte, wenn sie gegen eines seiner Gebote verstieß. Allerdings hatte die Mutter nach Eintritt des Todes erstaunlicherweise wirklich völlig friedlich ausgesehen, und insofern enthielt ihre Behauptung wenigstens ein Körnchen Wahrheit.

»Und mein lieber Bruder Theo? Wie wird er mit seinem Verlust fertig?«

»Sein Glaube spendet ihm großen Trost, liebe Tante«, antwortete Anna wiederum nicht ehrlich, denn inzwischen war ihr klar geworden, dass der Vater mehr und mehr an seinem Glauben zu zweifeln begann.

»Was muss das für ein grausamer Gott sein, der Trost verspricht, nachdem er einem das Liebste genommen hat?«, wandte Joseph ein.

»Jedem das Seine«, murmelte Sarah.

»Gott ist durchaus ein interessantes Konstrukt.« Williams Augen funkelten provozierend, und ein boshaftes Lächeln spielte um seine schmalen Lippen. »Bloß welchen Sinn hat dieser Gott noch, wenn alles aus und vorbei ist?«

»Schluss jetzt, William«, unterbrach ihn seine Mutter energisch. »Derartige Fragen kannst du mit deinen Freunden im Club erörtern.«

Schweigen senkte sich über den Tisch.

»Ich hoffe, ihr verzeiht mir die Verspätung«, ergriff Anna nach einer Weile das Wort und nahm einen großen Schluck Wein, als müsste sie sich Mut antrinken. »Die Kutsche wurde aufgehalten. Wir gerieten unterwegs in einen Aufruhr, und der Kutscher musste einen Umweg fahren.«

William reckte das Kinn. »Was für ein Aufruhr? Und wo?«

»Tut mir leid, das weiß ich nicht so genau, denn wir hatten die Vorhänge zugezogen. Ich habe lediglich gehört, dass die Menge dauernd nach Brot rief.«

»Klingt nach einem weiteren Hungeraufstand«, mutmaßte William. »Wahrscheinlich wieder die französischen Weber wie letzten Monat. Immer dasselbe. Hast du irgendetwas gehört, Pa?«

Joseph schüttelte den Kopf und musste erst einen riesigen Bissen Fleisch zerkauen und schlucken, bevor er antworten konnte.

»Würden sie nicht so viel Geld für Genever ausgeben, könnten sie sich pfundweise Brot kaufen«, knurrte er schließlich. »Diese Ausländer müssen dringend zur Räson gebracht werden.«

Damit war für ihn das Thema beendet und für seinen Sohn ebenso, denn der warf jetzt einen Blick auf seine Taschenuhr, legte eilig Messer und Gabel beiseite und erhob sich.

»Entschuldigt, der Club ruft«, rief er in die Runde und deutete eine Verneigung in Annas Richtung an. »Wir sehen uns morgen wieder, liebes Cousinchen. Halt dich bis dahin lieber von Kohlköppen fern. Sie können höchst übel riechende Flatulenzen verursachen.«

Im ersten Moment verstand Anna kein Wort, bis ihr einfiel, dass William die beiden jungen Burschen vor dem Red Lyon so beschimpft hatte. Warum eigentlich empfand er einen solchen Hass auf zwei harmlose, überaus hilfsbereite junge Männer? Es war ihr ein Rätsel. Allerdings ging so vieles in der großen Stadt über ihr Begreifen.

Nach dem Abendessen zeigte Lizzie ihr die restlichen Wohnräume. Insgesamt hatte das Haus vier Stockwerke, die abgesehen von der Tuchhandlung im Erdgeschoss alle privat genutzt wurden. Prachtvoll waren sie, repräsentativ – behaglich oder gar heimelig wie das Pfarrhaus, in dem sie aufgewachsen war, hingegen ganz und gar nicht. So kostbar die seidenen Wandbehänge, die Deckenvertäfelungen und das Mobiliar sein mochten, wirkte dennoch alles irgendwie düster und streng.

Neben dem Speisezimmer, das sich in der Mitte des Stockwerks, genau über dem Eingangsportal des Geschäfts befand, lag ein großer, eleganter Salon mit einem marmorverkleideten Kamin. Aus dem Fenster blickte man hinaus auf die Straße, wo sich ein Haus an das andere reihte.

Die Grundstücke hier schienen teuer zu sein, dachte sie, wenn die Häuser nicht wenigstens ein paar Meter auseinanderstanden. Außerdem gab es lediglich ein kleines Fleckchen Erde mit ein paar Bäumen, damit man den Spital Square überhaupt als Platz bezeichnen konnte.

»Habt ihr einen Garten?«, erkundigte sie sich.

»Na ja, eine kleine Wiese und einen Baum«, erwiderte Lizzie. »Ich zeige sie dir morgen.«

»Weißt du, ich zeichne gerne in der Natur.«

»Hier gibt es kaum etwas, das einen Künstler inspirieren könnte«, meinte Lizzie abfällig. »Aber ich kann dir verraten, wo du Blumen und Früchte in Hülle und Fülle findest.«

»Ja? Wo denn?«

»Auf dem Markt. Alles, was das Herz begehrt, sogar aus anderen Ländern – ein wunderschöner Anblick.« Lizzie lachte hell auf. »Nur ist das vermutlich nicht das, was dir vorschwebt, stimmt’s?«

»Ehrlich gesagt nicht«, gab Anna lachend zurück, denn sie war froh, nach all der steifen Konversation mit einem anderen Mädchen unbeschwert schwätzen zu können. »Trotzdem würde ich mich dort gern mal umsehen.«

»Das wird Mama nie im Leben erlauben. Das, sagt sie, schickt sich nicht für eine junge Dame«, äffte sie den snobistischen Tonfall ihrer Mutter nach. »Nichts als Pöbel treffe man dort«, fügte sie hinzu, bevor sie mit ihrer normalen Stimme weitersprach. »Ich finde das ausgesprochen töricht, du nicht?« Resigniert zuckte sie die Schultern. »Hilft nichts. Doch wenn du willst, kann ich sie fragen, ob wir uns morgen unsere Kirche ansehen dürfen.«

Anna beschloss, dass es wenig sinnvoll wäre, es gleich am zweiten Tag auf eine Auseinandersetzung mit ihrer Tante ankommen zu lassen, und nickte zustimmend.

Nachdem sie ihre Besichtigungsrunde durchs Haus beendet hatten, war Anna rechtschaffen müde und bat ihre Tante, sich zurückziehen zu dürfen.

»Natürlich, das versteht sich von selbst«, beeilte sich die Hausherrin zu sagen. »Lizzie wird dich nach oben begleiten. Sie hat dir dein Zimmer sicher schon gezeigt. Es befindet sich unter dem Dach, da wir wegen der Geschäftsräume leider lediglich begrenzt Platz haben. Nun, ich hoffe, dass wir bald etwas Geräumigeres, Passenderes finden, nicht wahr, mein Lieber?«, schloss sie an ihren Mann gewandt, der indes keinerlei Regung zeigte.

Das Gepäck sei bereits oben, das Hausmädchen bringe noch einen Krug Wasser – mit diesen Worten waren die beiden Mädchen entlassen und stiegen eine schmale hölzerne Treppe ins oberste Stockwerk hinauf – in die »alte Webstube«, wie Lizzie es nannte. Das Dachgeschoss sei umgebaut worden, nachdem ihr Vater das Weberhandwerk aufgegeben und sich auf den Stoffhandel verlegt habe. Das Gästezimmer, neben der Kammer gelegen, die sich die Köchin und Betty, das Hausmädchen, teilten, war in der Tat recht spartanisch möbliert mit einer Kommode, einem Waschtisch, einem Stuhl und einem schmalen Bett.

Anna war es egal. Hauptsache, sie konnte ihre müden Glieder endlich ausstrecken. Bevor sie das allerdings tat, öffnete sie das Flügelfenster, ließ sich die laue Nachtluft ins Gesicht wehen und stieß einen erleichterten Seufzer aus. Es war überaus anstrengend gewesen, den ganzen Abend höflich zu lächeln.

Dann schlüpfte sie unter die Decke in der festen Überzeugung, auf der Stelle einzuschlafen, aber sie hatte sich bitter getäuscht.

Das Bett war arg klein, die Rosshaarmatratze durchgelegen, und die Decke war unangenehm schwer und um Längen nicht so weich wie ihr Federbett zu Hause. Außerdem hatte sich die Hitze des Julitages unter dem Dach gestaut, und von unten drang Straßenlärm herauf, der für ein Mädchen vom Land mehr als gewöhnungsbedürftig war. Schliefen die Menschen in dieser Stadt denn nie, fragte sie sich, während sie sich ruhelos hin und her warf.

Der Geräuschpegel schien keinen Deut nachgelassen zu haben, seit sie am Nachmittag aus der Kutsche gestiegen war. Ausgelassenes Gelächter junger Männer mischte sich mit den schrillen Rufen von Frauen, dem Weinen von Kindern sowie dem Bellen von Hunden und dem Miauen von Katzen, untermalt von klappernden Pferdehufen und ratternden Rädern. Zu Hause war um diese Uhrzeit bestenfalls das Rauschen der Nordseewellen zu hören gewesen, zumindest wenn der Wind von Osten kam.

Auf was für ein Abenteuer hatte sie sich da eingelassen?

Dabei war sie trotz allen Abschiedsschmerzes durchaus positiv in den neuen Lebensabschnitt gestartet, hatte ihm aufgeregt und erwartungsvoll entgegengesehen.

»Das Leben hat einer talentierten jungen Frau wie dir eine Menge zu bieten«, hatte ihr Vater am letzten Abend zu Hause gesagt. »Es gibt so viel zu sehen und zu lernen auf dieser Welt, so vieles, wofür es sich zu leben lohnt. Hier in unserem abgeschiedenen Ort wirst du es nicht finden. Du musst dein Glück in der Stadt versuchen.«

»Wie Dick Whittington, der sogar Bürgermeister von London wurde, meinst du?«

»In der Tat.« Ihr Vater hatte gelacht. »Und falls du das ebenfalls schaffst, musst du uns in deine Residenz einladen. Doch vergiss nie, dass du jederzeit nach Hause zurückkommen kannst.«

Und so war sie mit weit geöffneten Sinnen in die große Welt gefahren – bereit, alles Schöne und Nützliche in sich aufzusaugen.

Allein schon die Reise mit der Kutsche war ein Erlebnis gewesen, schließlich war es das erste Mal, dass sie überhaupt irgendwohin fuhr. Entsprechend hatte der Vater ihr alles Mögliche eingeschärft: Die Ermahnung, sich nicht mit den anderen Reisenden zu unterhalten, gehörte etwa dazu, entpuppte sich indes als untauglich – wie sollte das in der Enge einer Kutsche denn gehen, ohne unhöflich zu wirken?

Neugierig, wenngleich verstohlen hatte sie also ihre Mitreisenden gemustert. Es handelte sich um Menschen aller Lebensalter und aus verschiedenen Schichten. Die einen stiegen ein, die anderen aus. Auf den ersten Etappen herrschte ein reger Wechsel. Ein blasierter Gentleman, der sehr wichtig tat, war ebenso darunter wie zwei korpulente Frauen, die man gut und gerne auf dem Markt antreffen könnte. Später stiegen an ihrer Stelle für ein paar Stationen Mütter mit quengelnden Kindern zu.

Um ihre Mitreisenden zumindest nicht allzu auffällig anzustarren, zog sie die Taschenbibel heraus, die ihr Vater ihr zum Abschied in die Hand gedrückt hatte. Wenngleich ihr Glaube während des langen Sterbens ihrer Mutter schwer ins Wanken gekommen war, hatten die vertrauten Episteln etwas Tröstliches. Und als sie den abgestoßenen Ledereinband aufschlug und zum ersten Mal die Widmung des Vaters las, musste sie schlucken.

Meiner geliebten Anna. Möge Gott auf all deinen Wegen seine schützende Hand über dich halten.

Tränen traten ihr in die Augen, und mit bangem Herzen fragte sie sich, wann sie ihren Vater wohl wiedersehen würde. Auch war sie besorgt, wie er zurechtkommen würde – jetzt, da er mit Jane allein war.

Mit ihrer kleinen Schwester. Obwohl sie damals erst fünf gewesen war, wusste sie, dass es eine lange, schwere Geburt gewesen und das Baby als schwaches, blau angelaufenes Bündel zur Welt gekommen war. Erst später zeigte sich, dass die Kleine zudem bleibende Schäden davongetragen hatte, denn zum einem zog sie ihr rechtes Bein nach, und zum anderen war sie ein bisschen langsam im Kopf, tat sich mit Dingen schwer, die anderen kinderleicht fielen.

Lesen und Schreiben hatte sie nie gelernt, und Anna bezweifelte, dass Jane jemals in der Lage sein würde, dem Vater den Haushalt zu führen. Ihr schien es sogar fraglich, ob sie dafür gesund genug war. Grund jedenfalls, sich Sorgen zu machen.

Als sie schließlich das Gasthaus in Chelmsford erreichten, half ihr ein beleibter Gentleman aus der Kutsche.

»Darf ich Ihnen mit Ihrer Reisetasche behilflich sein?«, erkundigte er sich höflich.

Froh über das Angebot, nickte sie. »Vielen Dank. Es ist die da oben. Mein Handkoffer und die Hutschachtel verbleiben bis morgen in der Kutsche, nehme ich an.«

»Es sei denn, Sie haben den Kutscher anders instruiert«, erwiderte er und begleitete sie zum Eingang der Herberge – ihre abgetragene Leinentasche in der einen, seinen eleganten Lederkoffer in der anderen Hand. »Verzeihen Sie«, wandte er sich erneut an sie. »Ich will Ihnen keinesfalls zu nahe treten, aber darf ich Ihnen vielleicht einen kleinen Ratschlag geben?«

»Selbstverständlich, Sir«, erklärte sie. »Ihr Rat ist umso willkommener, als ich nicht mit den Gepflogenheiten des Reisens vertraut bin.«

»Dann würde ich Ihnen empfehlen, dass Sie das Abendessen auf Ihrem Zimmer zu sich nehmen. In der Schänke geht es bisweilen recht hoch her, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Wie zur Bestätigung schlug ihnen in der Tür lautes Reden und grölendes Lachen entgegen. Anna zögerte, wäre am liebsten umgekehrt, doch ihr Begleiter nahm ihren Arm und führte sie behutsam zwischen den vollbesetzten Tischen hindurch zu einer Durchreiche, wo er eine griesgrämig dreinblickende Frau, wahrscheinlich die Wirtin, heranwinkte und ihr erklärte, was Sache war. Kurz darauf erschien ein schmuddeliger Junge und geleitete beide zu ihren Zimmern im ersten Stock.

»Ich bin Ihnen außerordentlich verbunden für Ihre Mühen, Sir«, bedankte sie sich.

Er verbeugte sich leicht. »Schlafen Sie gut, mein Fräulein.«

Erleichtert, den ersten Reisetag heil überstanden zu haben, nahm Anna kaum wahr, wie eng und schäbig ihr Zimmer und wie grau die Laken waren. Und wenngleich das Essen – kaltes, fettiges Hammelfleisch und mit schwarzen Stellen gespickte Kartoffeln – eher unappetitlich war, schlang sie alles vor lauter Hunger bis auf den letzten Bissen in sich hinein. Dann lag sie im Dunkeln, versuchte die Bettwanzen zu ignorieren, die sich geradezu auf sie stürzten, und lauschte dem Lärm aus dem Schankraum, der mit jeder Minute mehr anzuschwellen schien.

Als sie endlich einschlief, träumte sie davon, wie sie nach Hause zurückkehrte und alles so war wie früher. Fröhliches Lachen erklang im hell erleuchteten Pfarrhaus, und sie sank in die ausgebreiteten Arme ihrer Mutter, während ihr der vertraute Geruch von Wäscheseife und Gartenkräutern in die Nase stieg – ein Duft, der für sie Liebe und Sicherheit bedeutete.

Der Schock kam im Morgengrauen des neuen Tages. Sobald ihr bewusst wurde, wo sie sich befand, begann sie zu weinen. Heftige Schluchzer schüttelten ihren Körper, und heiße Tränen kullerten auf das Kissen. Wie konnte sie so dumm gewesen sein, ihr geliebtes Zuhause zu verlassen, haderte sie ein ums andere Mal mit sich.

Mit der aufgehenden Sonne besserte sich ihre Stimmung zum Glück allmählich, jedoch stellte sie zu ihrem Bedauern fest, dass der hilfsbereite Gentleman nicht mit ihnen weiterfuhr. Dennoch bestieg sie die Kutsche voller Optimismus, freute sich auf einen weiteren Reisetag und warf ihrer vorerst einzigen Mitreisenden, einer stilvoll gekleideten, kultivierten Dame, ein scheues Lächeln zu. Nachdem sie endlos lange kaum ein Wort mit einem anderen Menschen gewechselt hatte, stand ihr der Sinn durchaus nach ein wenig Konversation – umso enttäuschter war sie, als die Dame zu ihrer Brille griff und ein Buch aufschlug.

Also ließ Anna ihre Gedanken schweifen.

Bald würde sie die Großstadt, die sie bislang lediglich aus Erzählungen kannte, mit eigenen Augen sehen und ihre Verwandtschaft kennenlernen. Nach den langen Monaten, in denen sie ihre todkranke Mutter gepflegt und das Haus höchst selten verlassen hatte, sehnte sie sich danach, ihre Flügel auszubreiten – da war ihr die Einladung der Tante gerade recht gekommen.

Am frühen Nachmittag stiegen an einer weiteren Poststation zwei Herren zu, offensichtlich Vater und Sohn. Außerdem machte der Kutscher seinen weiblichen Fahrgästen den Vorschlag, kurz auszusteigen, da man von einer nahen Anhöhe einen wunderschönen Blick auf die Stadt habe.

Zuerst konnte Anna nur die Themse erkennen, die sich in der Sonne wie eine silberne Schlange durch das Tal wand. Schließlich erspähte sie in der Ferne ebenfalls die Silhouette einer großen Stadt – ein von Straßen durchzogenes Häusermeer, das sich bis zum Horizont erstreckte. Anna verschlug es die Sprache. Unvorstellbar, wie viele Menschen dort wohnen mussten. Was sie hingegen vermisste, waren Wälder, Felder und Wiesen. Kaum ein grüner Fleck unterbrach das Grau der Steinwüste.

Ihr wurde bang ums Herz.

Was sollte sie, die in einem Dorf aufgewachsen war, das gerade mal dreihundert Einwohner zählte und begrenzt wurde von Feldern und Wäldern, von Sanddünen und der endlosen See, es dort aushalten? Was sollte sie malen an einem Ort, wo es weder Bäume noch Blumen, weder Schmetterlinge noch Vögel gab?

All das ging ihr noch einmal durch den Kopf, während sie ruhelos in ihrem Bett in der Dachkammer auf den Schlaf wartete. Viel war nicht geblieben von ihrem anfänglichen Hochgefühl. Eher kam es ihr vor, als wäre ihr im Verlauf der langen Fahrt mit der Kutsche ein Teil ihrer Seele abhandengekommen. Ausgerechnet jetzt, wo das große Abenteuer, dem sie entgegengefiebert hatte, beginnen sollte, schien ihr alles so fremd und beängstigend, dass sie bloß noch nach Hause zurückwollte.

Kapitel 2

Eine feine Dame sollte sich gemessenen Schrittes fortbewegen; zu große Eile schadet der Anmut, die eine Lady auszeichnen sollte. Sie sollte den Kopf nicht nach links oder rechts drehen, insbesondere in Städten, wo diese schlechte Angewohnheit Zudringlichkeiten gleichsam herausfordert.

Über die Umgangsformen der feinen Dame

Anna erwachte, sobald die Sonne durch die Fenster der Dachkammer schien, und fragte sich im ersten Moment, wo sie war. Dann erinnerte sie sich. Aber da im Haus noch alles still war und selbst die laute Stadt vorübergehend zur Ruhe gekommen zu sein schien, drehte sie sich einfach auf die andere Seite.

Weiterzuschlafen, das gelang ihr allerdings nicht. Zu sehr wühlten sie die neuen Eindrücke auf. Ihr Einstand in London war so ganz anders als erwartet verlaufen, was nicht zuletzt am rüden Verhalten ihres Cousins den hilfsbereiten jungen Männern gegenüber lag. Was sie im Licht des neuen Morgens jedoch etwas mehr zu verstehen bereit war. Sicher hatte William sich einfach Sorgen um sie gemacht und im Eifer des Gefechts schlicht überreagiert, redete sie sich ein.

Während sie darüber nachdachte, kam ihr zugleich etwas anderes zu Bewusstsein: dass es sie nicht im Geringsten beunruhigt hatte, sich unvermittelt in den Armen eines Fremden wiederzufinden, von dem sie absolut nichts wusste und den ihr dünkelhafter Cousin dem Pöbel zuordnete. Ein Lächeln spielte um ihre Lippen, als sie sich an seine sanfte Stimme erinnerte, an seine warmen Augen und den leicht erdigen Geruch, der von ihm ausgegangen war und sie an getrocknete Blätter in spätherbstlicher Sonne denken ließ.

Angenehme Gedanken, bei denen sie oberflächlich erneut ins Reich der Träume glitt.

Erst als das Dienstmädchen anklopfte, schrak sie hoch. Nahm den Wasserkrug entgegen, wusch sich, zog sich rasch an und ging nach unten, wo ihre Verwandtschaft bereits bei einem an Opulenz kaum zu überbietenden Frühstück saß: gleich drei Sorten Brot, Butter, Honig, Marmelade und Kirschgelee, Haferflocken mit süßer Sahne, geräucherte Heringe, kalte Kalbfleischpasteten, gegrillte Bohnen und Kaffee – ein neumodisches Getränk, das sich wachsender Beliebtheit erfreute, ihr allerdings zu bitter war. Eine Tasse Tee und eine Scheibe Brot mit Honig hätten ihr vollauf gereicht, andererseits verlockte es durchaus, von allem zu probieren. Bald hatte sie das Gefühl, aus ihrem altersschwachen Mieder zu platzen.

Die Tante hatte den Tag schon durchgeplant. »Nach dem Frühstück müssen wir uns zuerst einmal um deine Garderobe kümmern.«

»Das ist sehr freundlich, doch ich möchte euch wirklich keine Kosten verursachen«, wehrte Anna ab. »Ich habe noch zwei andere Kleider dabei, ein blaues und ein braunes, dazu mehrere Halstücher und Hauben.«

»Du bist jetzt in der Stadt und musst dich entsprechend kleiden, mein liebes Kind«, beharrte die Schwester ihres Vaters. »Wir können es uns nicht leisten, dass man dich womöglich für ein Dienstmädchen hält. Für dich kommt einzig feinste Seide infrage – was sonst sollte die Nichte eines angesehenen Tuchhändlers tragen? Davon abgesehen, bist du im heiratsfähigen Alter, und ich brauche dir sicher nicht zu erklären, warum dein Erscheinungsbild von größter Bedeutung ist.«

Bei diesen Worten kicherte Lizzie hinter vorgehaltener Hand, und Anna wusste nicht so recht, was sie von den Ankündigungen der Tante halten sollte.

Sarah nahm sich noch ein großes Stück Pastete. »Meine Schneiderin wird Maß bei dir nehmen und uns Entwürfe vorlegen, und anschließend werden wir unten im Laden die Seide aussuchen. Fürs Erste dürften zwei Tages-, zwei Abendkleider und eine Jacke reichen, nicht wahr, Joseph? Und natürlich ein Cape für kühle Abende.«

Der Tuchhändler grunzte unbeteiligt hinter seiner Zeitung, wohingegen Lizzie hochinteressiert schien.

»Zu welcher Schneiderin geht ihr?«

»Zu Miss Charlotte«, antwortete ihre Mutter. »Für mich gibt es keine bessere Adresse.«

»Aber es muss die neueste Mode sein, Mama, klein geblümt oder mit schmalen Streifen. Und mit viel Spitze, das ist gerade der letzte Schrei.«

Woher kannte sich das Mädchen eigentlich so gut aus?, überlegte Anna verwundert.

»Keine Sorge, mein Schatz. Wenn wir deine Cousine ausstaffiert haben, wird sie Stadtgespräch sein.«

»Oh, wie aufregend«, jubelte Lizzie. »Ich wünschte, ich bekäme ebenfalls neue Kleider!«

Anna staunte bloß. In der Welt, in der sie bislang zu Hause gewesen war, hatte Mode so gut wie keine Rolle gespielt. Im Dorf galt man nämlich schnell als gefallsüchtig, wenn man sich zu sehr herausputzte, und überdies gehörte sie nicht zu den Menschen, die großen Wert auf so etwas legten. Zum einen hatte das Geld gefehlt, zum anderen erforderte das nasse, windige Wetter an der Küste zweckmäßige Kleidungsstücke und Stoffe, die durchaus mal einen Regenguss vertrugen. Nichts also für Seidenroben und Hüte, die man nicht unter dem Kinn festbinden konnte.

Insofern fühlte sie sich wie eine Anziehpuppe, mit der andere machten, was ihnen gerade gefiel. Dennoch blieb ihr nichts anderes übrig, als gute Miene zu diesem Spiel zu machen, wenngleich Gehorsam nie ihre Stärke gewesen war. Außerdem war sie, so wenig ihr das passen mochte, auf Wohlwollen und Gastfreundschaft der Verwandten angewiesen.

Und da war noch etwas anderes.

Obwohl es nicht offen ausgesprochen wurde, wusste Anna sehr genau, was ihre Tante meinte. Es war ihre Pflicht, eine einigermaßen gute Partie zu machen. Jane würde aufgrund ihrer Behinderungen nie heiraten und ihr Leben lang auf Hilfe angewiesen sein. Ärzte kosteten Geld, und der Pfarrer hatte nahezu sämtliche Ersparnisse für seine kranke Frau aufgewendet – da blieb nicht einmal genug fürs Anmieten einer Bleibe, wenn er in den Ruhestand trat und samt Jane das Pfarrhaus räumen musste.

Mit anderen Worten: Ihre Familie war darauf angewiesen, dass sie sich so gut wie möglich verheiratete, um den Lebensabend von Vater und Schwester finanzieren zu können. Ihre Träume von einer Liebesheirat waren damit wohl hinfällig geworden. Vermutlich würde es ihr so ergehen wie einer ehemaligen Schulfreundin, auf deren Hochzeit sie eingeladen gewesen war. Bei dem Bräutigam handelte es sich um einen betuchten älteren Landbesitzer aus Suffolk mit schütterem Haar und beachtlichem Bauchansatz, der die junge Frau wie eine Jagdtrophäe betrachtete. Die Braut hatte zu alldem tapfer gelächelt, doch Anna hatte allein die Vorstellung, mit so einem Mann Zärtlichkeiten oder gar Intimitäten teilen zu müssen, einen kalten Schauer über den Rücken gejagt.

Wenig später stand sie in Unterwäsche im Schlafzimmer der Tante zum Ausmessen bereit. Miss Charlotte ließ keinen Zentimeter ihres Körpers aus, maß sogar den Kopfumfang sowie die Länge und Breite ihrer Füße. Anna ertrug es klaglos, schluckte ihre ernsthaften Zweifel am ganzen Sinn des Unternehmens tapfer hinunter.

Aus ihr würde niemals eine Dame der feinen Gesellschaft werden, egal welche Kleider sie trug. Zu diesem Urteil gelangte sie einmal mehr, als sie sich kritisch im Spiegel betrachtete. Ihre Arme und Beine waren zu lang, ihre Hände und Füße zu groß, ihre Fingernägel zu kurz und zu ungepflegt von der vielen Hausarbeit. Ihr Blick wiederum war zu herausfordernd für eine angepasste Lady, und ihre weit auseinanderstehenden Augen, die von einem seltsam undefinierbaren Blau waren, verrieten ihren unbeugsamen Charakter.

»So wechselhaft wie das Meer«, pflegte ihr Vater sie früher zu necken. »Ich sehe immer genau, wann Sturm aufzieht.«

Und als ob das nicht reichte, waren da zusätzlich die Sommersprossen im Gesicht, die trotz täglicher Behandlung mit Zitronensaft einfach nicht weniger werden wollten. Gut, ihre blonden Locken waren eigentlich ganz hübsch, wiewohl so ungebärdig, dass sie sich kaum unter eine Haube zwingen ließen. Diese Erkenntnisse und die daraus resultierenden Konsequenzen deprimierten sie.

O Gott, ich sehe wirklich wie ein Dienstmädchen aus. Oder bestenfalls wie die bienenfleißige Tochter eines Landpfarrers – und genau das bin ich ja.

Anders als ihre Nichte schien Sarah Sadler in keinster Weise besorgt, sondern vielmehr fest davon überzeugt, dass sich mit einer entsprechenden Garderobe alles regeln ließ.

»Zwei neue Mieder braucht sie auch«, beschied sie die Schneiderin nach einem missbilligenden Blick auf die abgetragene Unterwäsche, an deren Alter sich selbst Anna nicht mehr zu erinnern vermochte.

Wann begannen junge Mädchen, solche unbequemen Dinger zu tragen? Es war ihr entfallen. Überhaupt kam es ihr vor, als würde ihre Jugend bereits eine Ewigkeit hinter ihr liegen – und das, obwohl sie erst achtzehn Jahre alt war.

Miss Charlotte nahm weiter Maß, ohne Kommentare abzugeben. Sie war eine zierliche junge Frau mit intelligenten Knopfaugen, deren genaues Alter schwer zu erraten war. Sie trug keine Haube, was ungewöhnlich war, und hatte ihr dunkles Haar zu einem adretten Dutt geschlungen, aus dem sich ein paar Strähnen gelöst hatten und ihr eher unscheinbares Gesicht umschmeichelten. Nachdem Anna sich wieder angezogen hatte, durfte sie sich zu ihr und der Tante an den Tisch gesellen, wo eine Reihe farbiger Zeichnungen ausgebreitet lagen: Röcke, Mieder, Kleider, Mäntel, Hauben, Hüte und Schuhe in einer verwirrenden Anzahl von Stilen, Farben und Formen.

»Das sind die neuesten Modelle für junge Damen. Sticht Ihnen irgendetwas davon besonders ins Auge, Miss Butterfield?«

Anna erschrak. Plötzlich sah für sie alles gleich aus: zu viel Schnickschnack, zu viele Rüschen an den Miedern, die Röcke entweder unten zu weit oder in der Taille viel zu eng – wie sollte sie diese Kleider tragen, ohne dauernd über den Saum zu stolpern? Ohne die Hilfe einer Zofe würde sie sie nicht mal anziehen können.

Und erst die Hüte! Die waren ja dermaßen ausladend, dass sie es damit nur unter Schwierigkeiten durch normale Türen schaffen würde, und draußen waren sie außer an völlig windstillen Tagen sowieso nicht zu tragen. Ebenso wenig Gnade fanden die Schuhe bei ihr. Wer konnte auf solchen Absätzen laufen, ohne umzuknicken? Außerdem war sie ohnehin reichlich groß – mit diesen Dingern an den Füßen würde sie selbst den größten Mann überragen.

Während sie verständnislos den Gesprächen lauschte, in denen Worte wie cornet, à l’anglaise, pelerine, stomacher, rabat und stole fielen, die sie noch nie im Leben gehört hatte, dämmerte Anna, dass sie gut daran täte, sich mehr mit Mode zu beschäftigen, damit sie irgendwann hoffentlich zu einem eigenen Stil fand.

Vielleicht konnte Miss Charlotte sie ja beraten?

Nach langem Hin und Her entschieden sich die beiden Damen für vier Modelle, die Anna gottergeben abnickte, auch wenn sie sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, sie jemals zu tragen. Hauptsache, Tante Sarah war zufrieden – und das schien sie zu sein.

»Und jetzt gehen wir nach unten, um die Seide auszusuchen«, verkündete sie und marschierte voran.

Der erste Raum, den sie im Erdgeschoss betraten, war ein reichlich verstaubtes Zimmer mit Regalen, die sich unter der Last schwerer, ledergebundener Hauptbücher bogen. Am Fenster, das auf den Hof und den Garten hinausging, stand ein Tisch, auf dem sich Stoffmuster, Magazine und andere Unterlagen stapelten. In der Mitte des Zimmers befanden sich drei Schreibpulte, an denen William und zwei andere junge Männer über der Buchhaltung saßen. Als die Damen eintraten, legten sie ihre Federn beiseite und erhoben sich eilfertig.

»Gentlemen«, ergriff Sarah das Wort. »Ich darf Ihnen meine Nichte Anna Butterfield vorstellen, die fortan bei uns wohnen wird. Miss Charlotte kennen Sie ja bereits.«

»Pa«, rief William über seine Schulter hinweg, »Ma und die Mädels wollen dich sprechen.«

Fast umgehend trat daraufhin Joseph über die Türschwelle mit jenem rätselhaften, nichtssagenden Lächeln auf dem Gesicht.

»Herzlich willkommen im Herzen von Sadler & Sohn, Tuchhändler und Hoflieferanten am Spital Square«, dröhnte er mit stolzgeschwellter Brust und stolzierte herum wie ein eitler, übergewichtiger Pfau. »Hier verdienen wir das Geld, mit dem wir unseren Damen ein sorgenfreies Leben ermöglichen, stimmt’s, Jungs? Und ihr widmet euch jetzt schleunigst wieder eurer Arbeit, während wir nebenan die Stoffe für die neuen Kleider meiner hübschen Nichte aussuchen.«

Als sie in den angrenzenden Raum traten, stieg Anna plötzlich ein vertrautes Aroma in die Nase: eine konzentrierte Essenz jenes süß-nussigen Geruchs, der ihr schon bei den beiden jungen Fremden vor der Markthalle aufgefallen war. Jetzt ging ihr ein Licht auf: Es war der Geruch von Seide, von Wohlstand und Selbstbewusstsein. Dabei hatte keiner der beiden Kleidung aus Seide getragen, überlegte sie.

Ziemlich abgelenkt, hörte sie dem Vortrag des Tuchhändlers zu.

»Hier bewahren wir Muster der besten Meisterweber in der Gegend auf. Diese legen wir den Modeschneidern vor, die für die bedeutendsten Persönlichkeiten unseres Landes arbeiten. Letzten Monat hat der Kammerherr des Duke of Cumberland bei uns eine Bestellung in Auftrag gegeben, erinnerst du dich, meine Liebe?« Er richtete den Blick auf seine Frau. »Und mit jeder Woche verstärken sich die Gerüchte, dass es bald zu einer königlichen Verlobung kommt. Nun ja, eine königliche Hochzeit würde unseren Umsatz gewiss nicht unbeträchtlich steigern.«

Alles im Raum war darauf angelegt, die Kunden zu beeindrucken. Am großen Erkerfenster standen ein eleganter Eichentisch und mit Damast bezogene Stühle, deren Sitzflächen fraglos für die Hinterteile der bedeutenden Persönlichkeiten oder zumindest ihrer Repräsentanten bestimmt waren. Ein dunkelroter, prachtvoll gemusterter Perserteppich lag auf den dunklen, auf Hochglanz gewienerten Dielenböden. Und was die Regale beherbergten, das war das reinste Fest für die Augen: Ballen von Seide in allen Regenbogenfarben, golden und silbern glitzernd und in allen erdenklichen Mustern.

»Nun, liebe Nichte, was meinst du?«, fragte ihr Onkel gönnerhaft. »Wir sind stolz darauf, ausschließlich mit den allerbesten Stoffen zu handeln.«

»Sie sind wunderschön«, antwortete Anna. »Aber wo kommt die Seide eigentlich her? Ich meine, bevor sie gewebt wird?«

»Eine wichtige Frage!« Joseph Sadler deutete auf einen großen, rechteckigen Schaukasten über der Eingangstür. Auf einem Messingschild darunter stand: Der Lebenszyklus der Seidenraupe.

Der Glaskasten zeigte die zwölf verschiedenen Stadien des Insekts in kreisförmiger Anordnung. Der Zyklus begann ganz oben mit der Motte.

Die Motte lebt nur einen Tag, ohne je zu fliegen, war darunter zu lesen. Ihr kurzes Leben dient allein dem Zweck, sich zu paaren und Eier zu legen. Aus diesen schlüpfen kleine, fadendünne Raupen, die ausnahmslos Maulbeerbaumblätter fressen und um ein Vielfaches größer werden, ehe sie sich mit einem hauchfeinen Faden in einen Kokon einspinnen. Die meisten dieser Kokons – Annas Blick fiel auf ein winziges, von einem rosafarbenen Faden gehaltenes Knäuel Rohseide – werden zu Seide verarbeitet, während andere der Zucht der Seidenspinnermotte dienen, damit der Zyklus von vorn beginnen kann.

Anna kam aus dem Staunen nicht heraus. »Das ist ja unglaublich«, entfuhr es ihr. »Und wo sind all die Motten und Raupen?«

Der Onkel lachte dröhnend. »Liebe Anna, du musst noch viel, viel lernen. Hast du das gehört«, wandte er sich seiner Frau zu. »Unsere Nichte glaubt, wir hätten Seidenraupen in unserem Garten!«

Was sie natürlich keineswegs angenommen hatte – die Vorstellung war schlicht lächerlich –, doch höflich verbiss sie sich eine Retourkutsche.

»Nein, wir halten keine Raupen und kümmern uns ebenso wenig um die Verarbeitung der Rohseide, meine Liebe. Die Rohseide kommt per Schiff zu uns, aus Konstantinopel oder China. Gesponnen und gewebt wird sie dann hier in London.«

Anna wusste alles über Wolle – die aus dem Fell von Schafen gesponnen wurde – und Leinen, das man aus Flachsfasern fertigte. Hingegen hatte sie keinen einzigen Gedanken je darauf verschwendet, woraus eigentlich Seide gemacht wurde, und war jetzt ehrlich verblüfft.

»Mein Großvater und mein Vater waren Meisterweber, und ich genauso, bevor ich Tuchhändler wurde«, fuhr Joseph fort. »Unserer Familie liegt die Seide im Blut.«

»Und wo sind eure Webstühle jetzt?«

»Die sind seit Langem ausrangiert, meine Liebe. Es dürfte Jahre her sein, dass ich ein Weberschiffchen in der Hand gehabt habe. Ich war es einfach müde, mich mit Lehrlingen und Gesellen herumzuschlagen – das Weberhandwerk wird mittlerweile fast komplett von den Franzosen dominiert, und unter denen gibt es reichlich Betrüger. Nein, als Händler kann man um einiges mehr verdienen, und als William in den Betrieb eingestiegen ist, haben wir die Webstühle verkauft und uns dem Tuchhandel zugewandt – und das hier sind jetzt unsere Geschäftsräume.«

Er ging zu einem Regal, in dem Dutzende ledergebundene Folianten aufgereiht waren. Er zog einen heraus und legte ihn vor Anna auf den Tisch.

»Schau dir das hier in Ruhe an. Das sind einige der Stoffmuster, mit denen wir die Spitzen der Gesellschaft ausgestattet haben.«

Anna blätterte durch die Seiten: Rechts befanden sich eingeklebte farbige Zeichnungen, links dazugehörige Informationen und Abkürzungen. Auf der nächsten Seite waren Stoffproben angeheftet: vermutlich die Seide, die nach der Zeichnung gewebt worden war.

Unterdessen hatten Sarah und Miss Charlotte verschiedene Stoffe ausgesucht und sie am anderen Ende des Tisches ausgebreitet.

»Sag uns, wie du sie findest, Kind«, forderte die Tante sie auf.

Was sollte sie antworten? Im Licht, das durch das Fenster fiel, schillerten die Seidenmuster wie tausend Schmetterlingsflügel. Eines schöner als das andere. Alles verschwamm ihr vor den Augen, sodass sie die verschiedenen Muster und Ornamente kaum noch auseinanderhalten konnte.

»Komm, irgendetwas muss dir schließlich besonders gefallen«, drängte ihre Tante. »Ansonsten müssen wir für dich entscheiden.«

Vage deutete Anna auf ein paar Farben, die sie bevorzugt bei ihren Landschaftsmalereien benutzte: Laubgrün, Meerblau, Umbra, spanisches Braunrot. Und wie es der Zufall wollte, fand ihre Auswahl tatsächlich die Billigung der gestrengen Damen.

»Perfekt für eine junge Lady«, lobte Miss Charlotte beifällig. »Und absolut à la mode.«

Am nächsten Morgen verkündete Lizzie beim Frühstück, dass sie Anna die Christ Church zeigen wolle.

»Willst du damit nicht lieber warten, bis deine Cousine eins ihrer neuen Kleider anziehen kann?«, gab ihre Mutter zu bedenken. »Übermorgen dürften sie fertig sein.«

»Nein, es ist so heiß hier drin«, jammerte Lizzie. »Gestern musste ich schon den ganzen Tag im Zimmer hocken und lernen, da möchte ich heute unbedingt an die frische Luft.«

»Dann geht in den Garten«, erwiderte ihre Mutter lakonisch. »Da ist es schattig.«

»Im Garten ist es langweilig, da gibt es absolut nichts Interessantes, das weißt du ganz genau.« Lizzie wandte sich ihrem Vater zu, legte den Kopf schief, sodass ihre Löckchen wippten, und lächelte ihn flehentlich an. »O bitte, Papa. Wir gehen bloß zur Kirche und kommen sofort wieder zurück, ohne woanders vorbeizugehen.«

»Hm, ein kleiner Spaziergang kann den beiden kaum schaden«, meinte Joseph großmütig.

Seine Frau lenkte daraufhin seufzend ein. »Na schön, aber nicht so lange – und seid pünktlich zum Mittagessen zurück.«

Anna war Lizzie dankbar. Seit zwei Tagen war sie so gut wie nicht mehr im Freien gewesen. Für sie kam das einer Strafe gleich, denn zu Hause war sie tagaus, tagein draußen unterwegs gewesen, hatte Eier und Gemüse besorgt, im Dorfladen Milch und Tee eingekauft und war dann über den Strand zurückgelaufen.

Außerdem hatte ihr die Auseinandersetzung gezeigt, dass Lizzie unter Umständen eine wichtige Verbündete war, da ihr der Vater offenbar keinen Wunsch abschlagen konnte und die Mutter ihrem Mann nicht widersprach. Zumindest nicht vor der Familie.

Darüber hinaus war sie echt froh, auf den noch unvertrauten Straßen Lizzie an ihrer Seite zu haben.

»Pass auf, dass du nicht in irgendwas trittst. Und sieh niemandem in die Augen, insbesondere den Bettlern nicht – das verstehen die sofort als Aufforderung.«

Die jüngere Cousine führte Anna beherzt durch die Menschenmengen, überquerte furchtlos die Straßen, bahnte ihnen den Weg zwischen Kutschen und Pferdewagen hindurch, die aus beiden Richtungen herangeprescht kamen. An einer Kreuzung hob Lizzie schließlich den rechten Arm und streckte den Zeigefinger aus.