Die Zeit der Mohnblüten - Liz Trenow - E-Book

Die Zeit der Mohnblüten E-Book

Liz Trenow

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Beschreibung

Auch inmitten des Krieges kann Liebe erblühen. Und auch im Angesicht des größten Verlusts ist die Hoffnung oft nur einen Herzschlag entfernt.

Belgien im Juli 1919. Im Hotel de la Paix in dem kleinen Ort Poperinge treffen drei Frauen ein: die schüchterne Engländerin Ruby, die lebensfrohe Amerikanerin Alice und die schweigsame Deutsche Martha, die mit ihrem Sohn Otto unterwegs ist. Sie alle haben im Ersten Weltkrieg Männer verloren: einen Ehemann, einen Bruder, einen Sohn. Neuerdings werden Reisen zu den Schlachtfeldern Flanderns angeboten – für Ruby, Alice und Martha die einzige Hoffnung herausfinden, was mit ihren vermissten Angehörigen geschah.
So unterschiedlich die Hintergründe der drei Frauen sein mögen, sie sind vereint in ihrer Suche nach Versöhnung und der Wahrheit. Sie alle müssen ihren Frieden damit machen, was der Krieg ihnen genommen hat, und damit, was die Zukunft noch an Überraschungen für sie bereithält.

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Seitenzahl: 448

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Buch

Belgien im Juli 1919. Im Hotel de la Paix in dem kleinen Ort Poperinge treffen drei Frauen ein: die schüchterne Engländerin Ruby, die lebensfrohe Amerikanerin Alice und die schweigsame Deutsche Martha, die mit ihrem Sohn Otto unterwegs ist. Sie alle haben im Ersten Weltkrieg Männer verloren: einen Ehemann, einen Bruder, einen Sohn. Neuerdings werden Reisen zu den Schlachtfeldern Flanderns angeboten – für Ruby, Alice und Martha die einzige Hoffnung herauszufinden, was mit ihren vermissten Angehörigen geschah.

So unterschiedlich die Hintergründe der drei Frauen sein mögen, sie sind vereint in ihrer Suche nach Versöhnung und der Wahrheit. Sie alle müssen ihren Frieden damit machen, was der Krieg ihnen genommen hat, und damit, was die Zukunft noch an Überraschungen für sie bereithält.

Autorin

Liz Trenow wuchs in der Nähe einer Seidenspinnerei auf, die auch heute noch in Betrieb ist und sie zu ihrem ersten Roman »Das Kastanienhaus« inspirierte. Obwohl ihre Vorfahren seit über dreihundert Jahren im Seidengeschäft tätig sind, entschied Liz Trenow sich für einen anderen Beruf. Sie arbeitete viele Jahre als Journalistin für nationale und internationale Zeitungen sowie für den Hörfunk und das Fernsehen, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete.

Von Liz Trenow bereits erschienen

Das Kastanienhaus · Die vergessenen Worte · Das Haus der Seidenblüten

Besuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvalet und www.twitter.com/BlanvaletVerlag.

Liz Trenow

Die Zeit der

Mohn-blüten

Roman

Deutsch von Andrea Brandl

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel

»In Love and War« bei Pan Books, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © 2018 Liz Trenow

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2020 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Ulrike Nikel

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotive: © Stephen Mulcahey/Trevillion Images

AF · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-23684-7V001

www.blanvalet.de

Dieses Buch ist dem Gedenken an Lieutenant Geoffrey Foveaux Trenow von der London Rifle Brigade gewidmet, der für seine Tapferkeit mit dem Military Cross ausgezeichnet wurde und im September 1917 in Flandern fiel. Seine Leiche wurde nie gefunden.

When you are standing at your hero’s grave,

Or near some homeless village, where he died,

Remember, through your heart’s rekindling pride,

The German soldiers, who were loyal and brave.

Men fought like brutes; and hideous things were done;

And you have nourished hatred, harsh and blind.

But in that Golgotha perhaps you’ll find

The mothers of the men who killed your son.

»Reconciliation«Siegfried Sassoon, 1918

Wenn du an deines Helden Grabe stehst

Oder in den Ruinen, wo er starb,

Gedenke trotz des Stolzes, den du spürst,

Der deutschen Soldaten Treu und Mut.

Was geschah, war unmenschlich, schauderhaft.

Und dein Hass lodert, kalt und blind.

Doch vergiss sie nicht: die Mütter jener,

Die dir den Sohn entrissen haben.

»Versöhnung«Siegfried Sassoon, 1918

Briefe an den Herausgeber

The Times, Juni 1919

Sehr geehrte Damen und Herren,

hiermit möchte ich meinem Entsetzen und meinem Abscheu angesichts der riesigen Anzeige eines angesehenen Reiseunternehmens Ausdruck verleihen, das »Touren zu den Schlachtfeldern« anbietet – fünftägige Fahrten nach Ypern und an die Somme im Norden Frankreichs und Belgiens.

Am nächsten Tag folgte ein Artikel über dasselbe Thema, in dem Sie berichteten, dass bereits mehrere Tausend Menschen die Gelegenheit genutzt und derartige Reisen unternommen haben. Bestandteil dieses Artikels war das Foto eines Grüppchens von Damen, die neben einem durch ein Schild ausgewiesenen Schlachtfeld ein Picknick veranstalteten.

Bin ich die Einzige, die es absolut abscheulich findet, dass jene heiligen Stätten, an denen so viele unserer tapferen Männer ihr Leben für König und Vaterland verloren, nun durch derlei kommerziellen Tourismus entweiht werden?

Hochachtungsvoll, N. N.

Sehr geehrte Herren,

Ihr Korrespondent behauptet, allein die Vorstellung, dass die Schlachtfelder an der Somme und im Ypernbogen durch kommerziellen Tourismus entweiht würden, sei ein wahrer Schock für ihn.

Soeben von einer solchen Tour zurückgekehrt, muss ich gegen diese Sichtweise protestieren und zum Ausdruck bringen, dass unser Besuch das genaue Gegenteil dessen war. Meine Gattin und ich haben die Reise mit größter Demut und dem alleinigen Ziel unternommen, das Gedenken an unsere beiden im Krieg gefallenen Söhne zu ehren, und es hat uns großen Trost gespendet, die Orte zu besuchen, an denen sie ihr Leben gelassen haben.

Darüber hinaus bringen Besucher wie wir dringend benötigte Devisen ins Land, mit deren Hilfe die schier unvorstellbaren Anstrengungen zum Wiederaufbau der zerstörten Städte und Dörfer rasch in Angriff genommen werden können.

Die Opfer unserer tapferen Soldaten werden niemals vergessen werden. Und wir glauben fest daran, dass Fahrten zu den Schlachtfeldern ein Weg sind, auch weiterhin daran zu erinnern, wie wichtig es ist, in den kommenden Jahrzehnten und Jahrhunderten nach Weltfrieden zu streben.

Hochachtungsvoll, N. N.

Kapitel 1 Ruby

Juli 1919

Es war wie ein seltsamer, unwirklicher Traum für sie, an Deck eines Dampfers zu stehen, über ihr der blaue Himmel, unter ihr das endlose Meer, das wie Millionen Diamanten glitzerte. Rechts sah sie die Stadt Dover, deren Häuser mit den grauen Schieferdächern sich fast entschuldigend unter den majestätischen Klippen zu ducken schienen, die so viel gewaltiger und weißer wirkten, als sie sie in Erinnerung hatte.

Sie konnte kaum glauben, dass sie im Begriff stand, England hinter sich zu lassen, zum allerersten Mal in ihrem Leben. Und das, obwohl sie sich dieses Abenteuer keineswegs selbst ausgesucht, geschweige denn es sich gewünscht hatte. Weshalb sollte sie auch den Ärmelkanal mit seinen hohen Wellen und tückischen Strömungen überqueren wollen, nur um ein Land zu besuchen, in dem vier Jahre lang ein barbarischer Krieg getobt hatte, der nichts als Ruinen, Schutt und Asche sowie unvorstellbares Elend zurückgelassen hatte? Sie war gerade mal einundzwanzig und hatte selbst einen bitteren Verlust hinnehmen müssen. Musste sie sich da wirklich neuen Kummer aufladen? Eigentlich nicht, fand sie, herzlichen Dank.

Nun, da endlich Frieden herrschte, wünschte sie sich lediglich eines: ein ruhiges, geordnetes Leben zu führen und sein Andenken zu wahren, indem sie in seinem Sinne weitermachte und all jenen mit Freundlichkeit begegnete, die ebenso trauerten wie sie selbst. Und von denen gab es weiß Gott eine Menge. Keine Familie war von der Tragödie verschont geblieben. Sie jedenfalls würde für sich bleiben und nie wieder jemanden in ihr Herz lassen, um es am Ende womöglich zu brechen.

Das ist das Beste, was ich tun kann, hatte sie in ihr Tagebuch geschrieben. Und zudem das Einzige. Schließlich hat er seine Zukunft geopfert, um uns vor den Deutschen zu schützen. Welchen Sinn hätte all das denn sonst gehabt?

Als seine Eltern sie also eines Nachmittags Anfang Juni nach dem Tee in einen der tiefen, üppig gepolsterten Wohnzimmersessel dirigiert und ihr die Reisebroschüre von Thomas Cook in die Hand gedrückt hatten, war sie im ersten Moment davon ausgegangen, dass das ein Scherz sein sollte.

Touren zu den Schlachtfeldern von Belgien und Frankreich, stand auf dem Umschlag.

»Weshalb um alles in der Welt sollte jemand dorthin fahren und sich diese Orte ansehen …?«, fragte sie verwundert ihre Schwiegereltern.

Sie unterbrach sich, als sie sah, wie Ivy zusammenzuckte. Ihre Schwiegermutter war so zerbrechlich wie hauchfeines Glas und absolut nach wie vor nicht bereit zu akzeptieren, dass ihr einziges Kind tot war. Nun ja, Ruby kannte Ivy seit jeher als einen scheuen, in sich gekehrten Menschen, der dazu mit einer angegriffenen Gesundheit geschlagen und immer irgendwie leidend war. Zu Beginn ihrer Romanze mit Bertie hatte sie es sogar seltsam gefunden, dass er sie nie zu sich nach Hause einlud und immer seine Mutter vorschob, der alles zu viel wurde.

Inzwischen war Ivy bloß noch ein Schatten ihrer selbst, mehr tot als lebendig, bleich und schwach infolge eines Mangels an frischer Luft und Bewegung, denn sie verbrachte viel zu viel Zeit im Bett oder zumindest in ihrem Schlafzimmer.

Ruby und Bertie kannten sich aus der Schule und waren einfach Freunde gewesen, bis er eines Tages auf dem Heimweg seine Hand in die ihre schob. Keiner von ihnen sagte ein Wort, doch die Wärme seiner Berührung durchzuckte sie wie ein elektrischer Schlag. In diesem Moment wusste sie, dass sie den Rest ihres Lebens mit ihm verbringen würde.

Ich liebe Bertie Barton, vertraute sie an diesem Abend ihrem Tagebuch an und umrandete den Satz mit einer Ranke aus schiefen Herzchen. Wieder und wieder schrieb sie diese Worte nieder, auf ihr Federmäppchen, in ihr Schulheft, auf den Einkaufszettel, auf die Innenseite ihres Handgelenks. Niemand bezweifelte, dass Ruby Bertie liebte und er sie.

Kurz danach die Tragödie. Rubys Vater, Vorarbeiter eines Schiffbauunternehmens in ihrer Heimatstadt Ipswich, wurde von einem Schiffsmotor erschlagen, der von einem Kran fiel. Er war auf der Stelle tot. An die folgenden Tage erinnerte Ruby sich lediglich verschwommen – aber es blieb ihr deutlich in Erinnerung, dass ihre Mutter am Boden zerstört gewesen war. Eine leere Hülle in ihrer abgrundtiefen Trauer, die Ruby keinerlei Trost zu spenden vermochte.

Bertie dagegen war die ganze Zeit an ihrer Seite, hielt sie in den Armen, wenn sie weinte, bereitete zahllose Tassen Tee mit viel Zucker zu und unternahm ausgiebige Spaziergänge mit ihr, auf denen er sie dadurch auf andere Gedanken zu bringen versuchte, indem er sie auf die kleinen Begebenheiten in der Natur hinwies und ihr so manches erklärte: welcher Vogel gerade sang, welche Blumen an welchen Stellen wuchsen, wie perfekt die Blütezeit mancher Pflanzen auf den Zeitpunkt abgestimmt war, wenn bestimmte Insekten schlüpften, und welche Löcher im Erdreich auf einen Dachs-, Fuchs- oder Hasenbau hindeuteten. In ihren Augen reifte Bertie quasi über Nacht vom Schuljungen zum Mann.

Nicht lange, und aus Umarmungen und Händchenhalten wurden scheue Küsse und unbeholfene Schmusereien hinter dem Gartenhäuschen, gefolgt von dem Moment, als er ihr seine Liebe gestand. Eines Abends, sie waren allein im Haus, ging er auf die Knie und präsentierte ihr einen Verlobungsring mit einem Brillanten, wobei er beschämt gestand, dass er sich das Geld dafür von seinem Vater hatte leihen müssen.

Bertie wurde ihr Ein und Alles. Niemals schenkte sie einem anderen Jungen bloß einen Blick, und sie wusste, dass es für immer so bleiben würde. Zumal Bertie seinerseits versicherte, sie sei die Einzige für ihn. Für immer. Bertie und Ruby. Für immer, schrieb sie in riesigen Lettern auf eine neue Seite ihres Tagebuchs und verzierte die Worte mit noch mehr Herzen.

Sie waren in jeglicher Hinsicht das perfekte Paar. Rein äußerlich sahen sie einander sogar ein wenig ähnlich mit ihren hellbraunen Locken und den sommersprossigen Gesichtern, wobei sie beide weder übermäßig gut aussehend noch unscheinbar waren. Mittelmaß eben, Durchschnitt, wie er gern betonte, und in dieser Normalität ergänzten sie einander. Ihn erinnerte die Farbe ihrer Augen an Ingwerwein, sie die seinen an Haselnüsse. Beide gingen gern tanzen, liebten Spaziergänge, erzählten sich gegenseitig alberne Geschichten oder trafen sich abends mit ihrer Clique zum Kartenspielen im Pub. Dass sie für den Rest ihres Lebens miteinander glücklich sein würden, daran bestand für Ruby kein Zweifel.

Als am Rathaus die Rekrutierungsplakate aufgehängt wurden, flehte sie ihn an, die Appelle zu ignorieren. Doch der Druck wuchs zusehends, immer mehr junge Männer meldeten sich freiwillig, und so stimmte sie schweren Herzens zu, dass er ebenfalls für König und Vaterland in den Krieg ziehen wollte. Allerdings erst nachdem er ihr hoch und heilig versprochen hatte, unversehrt zu ihr zurückzukehren. Ein absurdes Versprechen, das er aber zunächst zu halten schien, denn zweimal während der Grundausbildung bekam er Urlaub.

Überrascht musste sie feststellen, wie sehr er sich verändert hatte. Er schien ein paar Zentimeter gewachsen zu sein, war kräftiger geworden und ließ plötzlich Muskeln erkennen, die ihr nie zuvor aufgefallen waren. Darüber hinaus war sein Verhalten ein anderes geworden. Bertie, der ewige Spaßvogel, wirkte mit einem Mal ernster, nachdenklicher, reifer irgendwie. Was nicht hieß, dass ihm sein Vorrat an flotten Sprüchen völlig abhandengekommen wäre, doch es wirkte aufgesetzter, weniger echt. Ruby spürte, dass ihm die neue Situation zu schaffen machte, und zudem beunruhigte sie, dass er sich standhaft weigerte, ihr zu erzählen, was er bei der Ausbildung so alles erlebt hatte. Und erst im allerletzten Moment vor seiner Abreise gestand er ihr, dass dies sein letzter Urlaub auf unabsehbare Zeit sein werde. Er hatte den Stationierungsbefehl erhalten, durfte jedoch nicht verraten, wohin es gehen würde.

Sie heirateten in einer hastig vollzogenen Zeremonie auf dem Standesamt. Ihre Mutter, die jahrelang auf diesen Moment gewartet hatte, brach beim Anblick der Tochter im Brautkleid in Tränen aus.

»Krieg hin oder her, jetzt habt ihr wenigstens einen Tag, an den ihr euch für den Rest eures Lebens erinnern könnt«, schluchzte sie.

Und was für ein Tag ihnen vergönnt war: strahlender Sonnenschein, weiße Schäfchenwolken am Himmel, all ihre Freunde kamen, die sich mit ihnen freuten. Ruby glaubte vor Glück schier zerspringen zu müssen. Und die beiden Nächte im Mill Hotel, sozusagen ihre Flitterwochen, gehörten zu den schönsten in ihrem ganzen Leben. Anfangs noch scheu und zurückhaltend, entdeckte sie eine ungekannte Leidenschaft und Hingabe in sich, die offensichtlich jahrelang verborgen in ihr geschlummert hatte. Endlich fühlte sie sich erfüllt und vollständig.

Die Tage verbrachten sie mit Spaziergängen durch die Flussauen, wobei sie immer wieder stehen blieben, um den braunen, müßig gegen den Strom schwimmenden Fischen zuzusehen und dem Gesang der Lerchen zu lauschen. Einmal sahen sie sogar einen Eisvogel mit dem typisch leuchtend blauen Gefieder.

»Ach, könnte es für immer so bleiben«, rief sie voller Überschwang. »Bitte, geh nicht, Bertie! Ich ertrage es nicht, ohne dich sein zu müssen.«

»Bestimmt bin ich bald wieder zurück, versprochen«, erwiderte er. »Hand aufs Herz.«

Und sie glaubte ihm. Selbst als er endgültig in den Krieg zog, verbot Ruby es sich, ihre Sorgen wirklich an sich heranzulassen, war fest entschlossen, stark und guter Dinge zu bleiben, so wie er es sich von ihr gewünscht hatte. Ihr Glaube an sein Versprechen, auf sich aufzupassen und sich nicht in Gefahr zu bringen, war nahezu unbegrenzt. Natürlich würde sie ihn vermissen, und natürlich weinte sie sich abends in den Schlaf, aber schon bald wäre er wieder zu Hause, das wusste sie ganz genau. Bertie brach niemals sein Wort.

Fünf Monate später erhielt sie ein Telegramm, gefolgt von dem berüchtigten Militärformular B104-83, datiert vom September 1917: Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Ehemann Albert Barton nach einer Schlacht in Passendale als derzeit vermisst gilt. Dennoch klammerte sie sich eisern an den Gedanken, dass allenfalls vorübergehend der Kontakt zu ihm abgebrochen sei. Sie errichtete eine Mauer um ihr Herz und verdrängte jeden Gedanken daran, dass etwas Schlimmeres passiert sein könnte, weigerte sich schlicht, das Undenkbare nur in Erwägung zu ziehen.

Er hat versprochen, heil nach Hause zurückzukommen, und Bertie hält immer, was er verspricht, schrieb sie in ihr Tagebuch.

Bestimmt tauchte er bald wieder auf. Sie hörte förmlich seine Stimme: »Hey, ich war bloß kurz eine rauchen, Sergeant. Es hat mich hoffentlich keiner vermisst, oder?« Bereits in der Schule hatte er wegen seiner Späße ständig Ärger bekommen.

Also würde sie Ruhe bewahren und einfach weitermachen, wie es auf den Plakaten verlangt wurde, wenngleich sie sich jeden Morgen zwingen musste, aufzustehen, sich anzukleiden und etwas zu essen, obwohl für sie alles letztlich wie aufgeweichte Pappe schmeckte. Auf dem Weg zur Arbeit tauschte sie die gewohnten Banalitäten übers Wetter mit anderen Fahrgästen aus, die sie inzwischen gut kannte, und setzte für ihre Kolleginnen und Kunden ein freundliches Lächeln auf, wobei sie inbrünstig hoffte, dass ihr niemand lästige Fragen stellte.

Trotzdem sprach sich die Neuigkeit herum. Immerhin war Bertie der Sohn des Besitzers von Hopegoods, dem renommierten Damen- und Herrenausstatter in der High Street, in dessen Kurzwarenabteilung sie arbeitete. Doch nach den ersten mitfühlenden Bemerkungen ging man zum Glück rasch dazu über, seinen Namen nicht mehr zu erwähnen – mittlerweile war es fast an der Tagesordnung, dass Leute derartige Nachrichten erhielten.

Monate zogen ins Land, ohne dass sie etwas hörten, und zunehmend begann Rubys Schutzmauer zu bröckeln. Sie stürzte in einen Abgrund der Trauer, die sich in einem realen, körperlichen Schmerz manifestierte, vor dem es kein Entrinnen gab. Sie fühlte sich, als befände sie sich auf dem Boden eines endlos tiefen Brunnens, umgeben von pechschwarzer Nacht, durchbrochen lediglich von einem winzigen Lichtfunken, der irgendwo in der Ferne glomm und zu weit weg war, um ihn zu erreichen. Es gab Tage, an denen sie glaubte, nicht weitermachen zu können, und manchmal, bei einem ihrer einsamen Märsche am Fluss entlang, stellte sie sich vor, hineinzuwaten in den schlammigen Untergrund und sich der kalten, erbarmungslosen Flut zu überlassen, aber sie brachte nicht den Mut auf. Allein wegen ihrer Mutter nicht, die sich trotz des eigenen, erst wenige Jahre zurückliegenden Verlusts nach Kräften bemühte, der Tochter beizustehen und sie in ihrem Schmerz aufzufangen.

Hingegen zogen sich die Freunde mehr und mehr zurück, zumal Ruby es regelmäßig ablehnte, mit ihnen auszugehen. Irgendwann gaben sie es auf, sie einzuladen, und meldeten sich immer seltener bei ihr.

Ruby war es egal, sie verkroch sich in einem Schneckenhaus, führte nicht einmal mehr Tagebuch. Was sollte sie denn noch hineinschreiben? Sie fühlte sich wie eine leere Hülle, ähnlich den verwaisten Muscheln am Strand, ausgebleicht und verwittert vom Salz und von der Sonne, zu nichts mehr nutze. Dass sie vor gar nicht langer Zeit eine lebensprühende junge Frau gewesen war, vermochte man sich kaum noch vorzustellen. Wie auch, wenn sie selbst sich nicht einmal mehr erinnerte, wann sie das letzte Mal gelacht hatte?

Ohne Bertie fühlte sie sich wie ein halber Mensch, wie jemand, der nicht wirklich lebte. Ein seelenloser Zombie, das war sie geworden. Alles, was ihr einst Freude bereitet hatte, war mit einem Mal sinnlos geworden: Pub- und Kinobesuche, Tanzveranstaltungen, Spaziergänge im Wald. Ihre innere Verfassung trug sie demonstrativ durch ihre Kleidung zur Schau, die meist schwarz, gelegentlich dunkelgrau war. Bertie hatte schließlich das größte Opfer gebracht, das ein Mensch seinem Land bringen konnte: sein Leben. Wie konnte sie da bunte, fröhliche Farben tragen? Das musste sich ja anfühlen, als würde sie sein Andenken beschmutzen. Ruby hatte sich damit abgefunden, den langen Rest ihres noch jungen Lebens in solch trostloser Monotonie zu verbringen.

Die regelmäßigen Pflichtbesuche bei ihren Schwiegereltern deprimierten sie zusätzlich. Die Mutter war am Boden zerstört, der Vater in stoischem Schweigen versunken. Ein Anblick, der das Messer noch tiefer in ihr Herz trieb. Ruby litt inzwischen körperlich darunter, dass ihr zu ihrem eigenen Kummer regelmäßig der des untröstlichen Elternpaares aufgebürdet wurde. Jedes Mal wenn sie aus der erstickenden Atmosphäre des Hauses heraustrat, blickte sie gen Himmel und atmete tief durch, als könnte sie neue Kraft aus der frischen Luft ziehen. Ein Schritt nach dem anderen, sagte sie sich. Ein Tag nach dem anderen. Bestimmt würde es bald besser.

Leider stimmte das nicht. Trauer und Schmerz ebbten nicht ab, lasteten nach wie vor schwer auf ihrem Herzen und raubten ihr manchmal regelrecht den Atem. Bekam sie während der Arbeit einen solchen Anfall, schloss sie sich auf der Damentoilette ein, bis sie die Fassung wiedererlangte. So lernte sie im Laufe der Zeit, der Welt eine tapfere Fassade zu präsentieren, obwohl die Maske dünn und brüchig war und ihr beim ersten falschen Wort oder bei einer spontan heraufbeschworenen Erinnerung vom Gesicht zu gleiten drohte. Jetzt allerdings, nach zwei Jahren, hatte sie ihre Tarnung so weit perfektioniert, dass sie gewissermaßen ein Teil ihrer Persönlichkeit geworden war und sie sich im Grunde kaum mehr an ihr altes Ich erinnerte.

Eines aber vergaß sie nie: ihr Versprechen, sein Andenken in Ehren zu halten, ihre Liebe zu ihm nicht zu verraten. Ein einziges Mal hatte es eine flüchtige Affäre mit einem anderen Mann gegeben, den sie nie zuvor und auch danach nicht mehr gesehen hatte. Doch die Schuld brannte bis heute mit einer Schärfe in ihrem Herzen, die vermutlich niemals nachlassen würde.

Dass sie ihre Schwiegereltern zweimal pro Woche besuchte, geschah aus Pflichtgefühl gegenüber Bertie und weil sie selbst es als ihre Aufgabe betrachtete. Schließlich war sie nach wie vor Berties Ehefrau und würde es für immer und ewig bleiben. Insofern war sie diesen Dienst Mr. und Mrs. Barton einfach schuldig, die sie häufig sogar als »unsere Tochter« bezeichneten. Wer war ihnen nach Berties Tod sonst schon geblieben?

Dennoch verlief das Beisammensein stets steif und gezwungen. Die allgegenwärtige Trauer schien jede Spontaneität bereits im Keim zu ersticken. Vielleicht lag es daran, dass Ivy so fragil wirkte, als könnte sie der leiseste Lufthauch fortwehen wie eine Feder. Ruby kam sie bisweilen vor wie ein imaginäres Geistwesen, das aus einer anderen Welt stammte.

Zum Glück war Albert senior einigermaßen robust, auch wenn er seine Gefühle gerne hinter Schroffheit und Wortkargheit verbarg, aber zumindest hatte er etwas Verlässliches, Vorhersehbares. Eines allerdings hatte sie beim besten Willen nicht vorhergesehen: dass er ihr mit feierlichem, erwartungsvollem Gesicht diese dünne Thomas-Cook-Broschüre in die Hand drücken würde.

»Gute Freunde von uns haben diese Reise unternommen«, erklärte er. »Und sie haben sie uns wärmstens ans Herz gelegt. Stell dir vor, sie haben tatsächlich das Grab ihres Sohnes gefunden. Zwar war es sehr schwer für sie, hat ihnen jedoch gleichzeitig enormen Trost gespendet.«

»Und habt ihr vor, ebenfalls dorthin zu reisen?«, hakte Ruby vorsichtig nach.

»Wir haben darüber nachgedacht …«, erwiderte Albert zögerlich und wies mit einem Nicken in Ivys Richtung, die sich mit ihrem Spitzentaschentuch still die Tränen abtupfte. »Bedauerlicherweise geht es nicht, wie du selbst siehst. Deshalb haben wir uns überlegt, ob …«, er hielt einen Moment inne, »ob du nicht an unserer Stelle fahren könntest.«

Jetzt waren sie endgültig verrückt geworden, dachte Ruby. Ich soll mir die Schlachtfelder anschauen? Ganz allein? Soll zwischen den Schützengräben herumspazieren und nach Spuren Ausschau halten, gemeinsam mit einer Busladung glotzender Touristen? Die Vorstellung war nicht nur hirnrissig, sondern überdies ein wenig geschmacklos.

»Um ihm unseren Respekt zu zollen, als Familie, meine ich«, fuhr Albert fort. »Schließlich haben wir ja kein Grab, das wir besuchen können.«

Oh, das wusste sie selbst allzu gut. Dass Berties Leiche bislang nicht gefunden worden war, machte die Sache noch schwerer: Nicht zu wissen, wie und wo er umgekommen war, bescherte ihr bis heute Albträume, die zusätzlich befeuert wurden durch Fotografien aus den Illustrated London News. Darauf waren die verschlungenen Leiber toter Soldaten zu sehen gewesen, die irgendwo in einem Granattrichter nahe Ypern lagen und dort womöglich verrotteten.

Sich vorzustellen, dass sein Leben ebenfalls so geendet hatte, überforderte sie. Ebenso wie die Aussicht, diese Orte des Grauens selbst in Augenschein nehmen zu müssen. Bei aller Liebe, das ging einen Schritt zu weit, fand sie.

»Kind«, hörte sie Alberts Stimme, »wärst du denn grundsätzlich bereit, diese Reise zu unternehmen?«

»Ich glaube wirklich nicht, dass …«, stotterte sie, bevor es ihr die Sprache verschlug. Erwartete ihr Schwiegervater etwa allen Ernstes, dass sie mutterseelenallein dort hinfuhr?

»Man hört immer wieder Berichte von … du weißt schon«, flüsterte Ivy in die nachfolgende Stille hinein.

Ruby wusste, worauf die Schwiegermutter hinauswollte. Nach Einstellung der Kampfhandlungen im November 1918 hatte sie Ruby monatelang bei jedem ihrer Besuche einen Zeitungsartikel vor die Nase gehalten: Fotos von Männern, die wie durch ein Wunder wieder aufgetaucht waren, bis aufs Skelett abgemagert, aber am Leben. Entweder war ihnen die Flucht aus einem Kriegsgefangenenlager gelungen, oder sie hatten sich monate- oder gar jahrelang in den Wäldern Flanderns versteckt gehalten aus Angst, als Deserteure entlarvt zu werden.

Die Bartons verloren sich in wilden Spekulationen darüber, was mit Bertie passiert sein könnte: War er in Gefangenschaft geraten oder so schwer verwundet worden, dass er außerstande war, sich zu melden, oder war er gar von einer belgischen Familie aufgenommen worden, die ihn warum auch immer nach wie vor versteckt hielt? Egal welches Szenario sie sich ausmalten – immer gingen sie davon aus, dass er wie durch ein Wunder eines Tages wieder auftauchte.

Wohl wissend, wie unwahrscheinlich das war, materialisierte sich dennoch in Rubys Träumen manchmal ein Mann aus den Rauchschwaden der Gefechtsfeuer und kam auf sie zu. Barhäuptig, das Gesicht rußgeschwärzt, die Uniform zerrissen und verdreckt. Doch wenn sich dann das Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete, das sie so sehr liebte, stieß sie einen ungläubigen Schrei aus und stürzte sich geradewegs in seine Arme.

Es war ein kurzes Glück, denn weinend wachte sie stets auf, sobald das erste Licht des Tages durch die Vorhänge drang und die Vögel ihr frühmorgendliches Lied anstimmten: zuerst ein vorsichtiges Tschirpen, dann das vergnügte Zwitschern einer Amsel, in das alle anderen einstimmten und es zu einem ausgelassenen Chor anschwellen ließen. Ruby vermochte sich nicht darüber zu freuen – schließlich lauerte immer noch die grausame Welt dort draußen, immer noch war sie allein, und immer noch war Bertie tot.

Als irgendwann in den ersten Monaten nach Kriegsende die Berichte über auf wundersame Weise heimkehrende Soldaten seltener wurden, erfüllte sie das beinahe mit Erleichterung. Vielleicht, hoffte sie, würde auch Ivy endlich akzeptieren, dass Bertie nicht nach Hause zurückkam.

Das Gegenteil geschah, weil Berties Tante Flo nicht aufhörte, von der Séance zu reden, bei der sie angeblich Kontakt zu ihrem Neffen aufgenommen hatte. Das Medium habe, so deutete Rubys es, ein paar Plattheiten von sich gegeben – unter anderem, dass er stets bei ihnen sei, was das Medium wiederum in höchst fragwürdiger Weise dahingehend interpretierte, dass Bertie noch am Leben sei. Darüber hinaus hatte die selbst ernannte Geisterbeschwörerin von Verwundungen und langen Lazarettaufenthalten geschwafelt, die sein Verschwinden erklären sollten. Lauter Unsinn, von dem Ruby kein Wort glaubte. Selbst wenn er im Koma läge, wäre er schließlich anhand seiner Erkennungsmarke zu identifizieren, oder etwa nicht?

»Wir dachten, du schaffst es irgendwie, ihn zu finden oder zumindest eine Spur zu entdecken«, murmelte Ivy und griff nach Rubys Hand. »Es würde mir so viel bedeuten, mein liebes Kind. Ich glaube nicht, dass ich die Stärke besitze, mit dieser Ungewissheit weiterzuleben. Alles wäre besser als das …«

Welch absurde Idee. Ivy, die selbst nichts zustande brachte, verlangte Unmögliches von ihr. Nein, beschloss Ruby, nicht mit ihr. Unter keinen Umständen würde sie allein nach Flandern fahren. Fieberhaft begann sie sogleich zu überlegen, wie sie diesen Entschluss den Schwiegereltern möglichst schonend beibringen konnte. Um Zeit zu gewinnen und guten Willen zu heucheln, griff sie nach der Broschüre und blätterte scheinbar interessiert darin herum. Fatalerweise nahm Albert das als Zeichen ihres Entgegenkommens.

»Die Reise, wie wir sie uns vorstellen würden, ist auf Seite vierzehn beschrieben«, griff Albert das Thema erneut auf und beugte sich zu ihr herüber. »Hier. Eine Woche, das sollte reichen, um ein Gespür für die Orte zu bekommen und alle wichtigen Stätten zu besuchen.«

»Eine Woche in Ostende«, las sie laut. »Mit Ausflügen nach Ypern und zu den anderen belgischen Schlachtfeldern. Abfahrt jeden Dienstag, Donnerstag und Samstag ab London. Im Reisepreis enthalten sind die Fahrkarten (dritte Klasse Zugabteil, zweite Klasse Schiffspassage), sieben Tage in einem Mittelklassehotel, Vollpension: Café complet, Mittag- sowie Abendessen, dazu die Fahrten mit der elektrischen Bahn nach Zeebrugge und Nieuwpoort sowie sämtliche Exkursionen zu den Schlachtfeldern, die in Begleitung eines erfahrenen Reiseführers unternommen werden.« Machte alles in allem dreizehn Guineen. »Das ist ja ein Vermögen«, stieß sie hervor. »Und all die Extras, die unterwegs dazukommen …« Sie überlegte kurz und kam auf knapp drei Monatslöhne.

»Keine Sorge, Liebes, wir haben das alles bedacht«, unterbrach Albert sie, um ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen. »Wir zahlen dir natürlich die Reise und steuern zusätzlich ein kleines Taschengeld bei.«

»Ich kann unmöglich …«

Albert ignorierte ihren Protest. »Ich habe heute Morgen deine Mutter angerufen«, fuhr er fort. »Um sie zu informieren und eventuelle Bedenken zu zerstreuen.«

Einen Moment lang fühlte Ruby sich verraten oder zumindest entmündigt. Wieso hatte Mum kein Wort gesagt? Doch dann fiel ihr ein, dass sie ja direkt von der Arbeit hergekommen war und ihre Mutter nicht mehr gesprochen hatte.

»Aber ich war noch nie im Ausland, und schon gar nicht alleine«, warf sie verzagt ein. »Außerdem spreche ich kein Französisch oder was man in Flandern spricht.«

Barton senior richtete sich mit bedächtiger Miene in seinem Sessel auf. »Uns ist vollkommen klar, dass dieser Schritt enormen Mut verlangt, doch du bist eine verantwortungsbewusste junge Frau und wirst das locker bewältigen. Ganz davon abgesehen bist du nicht allein, da du in einer Gruppe mit eigenem Reiseleiter unterwegs sein wirst, an den du dich mit allen Problemen wenden kannst.«

Als sie von der Broschüre aufblickte, sah sie einen fast verzweifelten Ausdruck in seinen Augen, und erst in diesem Moment begriff sie, wie ernst es ihm war. Sie saß in der Falle, war fremdgesteuert. Eine Erkenntnis, die ihr gewaltiges Unbehagen verursachte.

»Ich habe mich bereits mit der Agentur in Verbindung gesetzt«, redete Albert Barton weiter auf sie ein. »Bis London werde ich dich begleiten, um sicherzugehen, dass dich ein Vertreter des Unternehmens in der Victoria Station in Empfang nimmt und sich um dich kümmert. Mein Liebes«, fuhr er fort und kam ihrem Gesicht so nahe, dass ihr sein nach Pfeifentabak riechender Atem entgegenschlug, »wir würden dir das niemals zumuten, wenn es eine andere Möglichkeit gäbe.«

»Darf ich es mir wenigstens ein paar Tage überlegen?«, bat sie und zwang sich zu einem Lächeln. Sie würde mit ihrer Mutter reden, sie auf ihre Seite ziehen und sie bitten, die Bartons von diesem verrückten Vorhaben abzubringen.

»Natürlich.« Albert stand auf und tätschelte ihre Hand, der erste körperliche Kontakt seit jenem Tag, als das Telegramm eingetroffen war und er ihr den Arm um die Schultern gelegt hatte.

»Sollen wir noch einmal frischen Tee kochen?«, wandte er sich daraufhin an Ivy. Ein Vorwand, damit er ungestört mit Ruby reden konnte.

»Ich würde ja mit dir kommen«, setzte er wieder an, sobald seine Frau den Raum verlassen hatte, »leider ist Ivy zu labil, um sie eine ganze Woche allein zu lassen. Andererseits braucht sie dringend konkrete Informationen, egal ob gute oder schlechte. Hauptsache, sie weiß endlich, was passiert ist. Sonst zerbricht sie völlig.«

»Vielleicht könnte ich ja bei Ivy bleiben, und du fährst an meiner Stelle«, schlug sie eher hoffnungs- als erwartungsvoll vor.

Resigniert schüttelte er den Kopf. »Selbst das habe ich ihr vorgeschlagen. Vergeblich, sie beharrt stur darauf, dass sie ohne mich nicht zurechtkommt. Vermutlich bin ich ihr einziger Halt …« Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar – eine Geste, die für einen flüchtigen Moment das Ausmaß seiner Erschöpfung und seiner Verzweiflung verriet. »Außerdem haben wir uns überlegt, dass dir die Reise ebenfalls ein wenig Trost spenden könnte«, flüsterte er verschwörerisch, um gleich darauf wieder ganz sachlich zu werden. »Unsere Freunde waren sich einig, dass es sich bei Thomas Cook um ein absolut seriöses Unternehmen handelt, bei dem auch eine junge, allein reisende Frau bestens aufgehoben ist. Bei dem Reiseführer handelt es sich um einen ehemaligen Major und laut ihrer Einschätzung um einen höchst vertrauenswürdigen Mann.«

Was er da tat, war emotionale Erpressung in Reinkultur, erkannte Ruby. Trotzdem war sie wie gelähmt und schaffte es nicht, sich ihm zu widersetzen.

»Du bist eine starke Frau«, bedrängte er sie weiter, »und Ivy bedeutet es so viel. Das verstehst du bestimmt, oder?«

Nein, das tat sie nicht, denn sie fühlte sich ganz und gar nicht stark. Ihr gelang es gerade mit Mühe und Not, sich von einem Tag zum nächsten zu hangeln und ihren Alltag einigermaßen zu bewältigen. Wie sollte sie sich da einem solchen Unternehmen aussetzen? Nach wie vor schien es ihr völlig undenkbar, zwischen den ehemaligen Schützengräben und auf den Schlachtfeldern auf Spurensuche zu gehen.

Wären da nur nicht seine sanften braunen Augen gewesen, die sie an Berties erinnerten und die sie so flehend anblickten, dass sie schwankend wurde. Mit einem Mal beschlich sie das Gefühl, ihren Mann zu verraten, vielleicht sogar seine Existenz zu verleugnen, wenn sie sich weigerte, die inständigen Bitten seiner Eltern zu erfüllen. Immerhin hatten die alten Leutchen nach seinem Tod all ihre Hoffnungen in sie gesetzt, und ihnen zusätzlichen Kummer zu bereiten war das Letzte, was sie wollte.

»Keiner von uns wird das, was geschehen ist, jemals verwinden, so viel steht fest.« Albert ließ nicht locker, setzte sie zunehmend unter Druck. »Wir dachten einfach, wenn es dir vielleicht gelingt, irgendetwas nach Hause zu bringen, irgendein Erinnerungsstück, das ihm gehörte. Eine Postkarte womöglich, eine gepresste Blume, eine Information. Egal was. Hauptsache, es trägt dazu bei, ein wenig Licht ins Dunkel seiner letzten Lebenstage zu bringen – das könnte schon helfen, insbesondere Ivys Schmerz ein wenig zu lindern. Wir wären dir unendlich dankbar.«

»Und wann soll das Ganze stattfinden?«, fragte Ruby wenig begeistert. »Ich habe Mum versprochen, ein paar Tage mit ihr an die Küste zu fahren, in Tante Mays Strandhütte. Sie freut sich bereits darauf.«

»Ich dachte an eine Woche Anfang Juli, wenn die See ruhig ist und die Überfahrt nicht so rau wird.«

Für ihn schien alles abgemacht zu sein. Ruby hätte das gerne richtiggestellt, bloß fehlten ihr die passenden Worte. Und als Ivy mit der Teekanne zurückkam, ihr noch eine Tasse eingoss und sie mit einem gleichermaßen hoffnungsvollen wie verzweifelten Lächeln bedachte, war die Sache ohnehin gelaufen.

Abends besprach sie den Plan mit ihrer Mutter, der es inzwischen gelungen war, sich nach dem Tod ihres Mannes ein neues Leben aufzubauen und etwas zum Lebensunterhalt der kleinen Familie beizutragen. Sie übernahm Näharbeiten, war dem Women’s Institute beigetreten, für das sie prächtige Kuchen buk, und pflanzte im Garten allerlei Obst und Gemüse an, um die Kosten für Lebensmittel zu reduzieren.

Darüber hinaus war sie im Laufe der Zeit zu Rubys engster Vertrauten geworden, ihrer besten Freundin und dem einzigen Menschen, der wirklich nachvollziehen konnte, was sie durchmachte, und die Schwere des erlittenen Verlusts in seiner vollen Tragweite begriff.

»Ich will diese Reise nicht machen, Mum. Es ist mir irgendwie zuwider, und ich habe Angst davor.«

»Bei den Bartons ist das zur fixen Idee geworden«, seufzte Mary und reichte der Tochter einen Becher heißen Kakao. »Dein Schwiegervater hat heute Morgen angerufen. Obwohl ich es eilig hatte, weil ich zum Bus musste, ließ er sich nicht abschütteln. Ivy sei felsenfest überzeugt, dass Bertie lebe und irgendwo sein müsse, behauptet er.«

»Daran ist allein ihre verrückte Schwester schuld mit ihrem Besuch bei der Wahrsagerin«, erwiderte Ruby und schob mit dem Teelöffel die Milchhaut beiseite.

»Es ist deine Entscheidung, mein Kind. Und genau das habe ich deinem Schwiegervater gesagt.«

»Würdest du vielleicht mitkommen, falls ich fahren muss?«

»So viel Geld haben wir nicht«, kam Marys Antwort wie aus der Pistole geschossen.

»Wir könnten Albert fragen, ob er auch für dich bezahlt.«

»Auf keinen Fall.« Die Mutter schüttelte energisch den Kopf. »Ich will nicht, dass wir so tief in seine Schuld geraten. Davon mal abgesehen kann ich mir nicht zusätzliche freie Tage nehmen außer denen, die wir für unseren Urlaub am Meer brauchen.«

»Ich habe Angst, Mum. Vor dem Schlamm, den Schlachtfeldern, vor allem. Sogar davor, die Stelle zu finden, wo er liegt.«

Mary stellte ihren Becher hin und streichelte den Arm der Tochter. »Vielleicht hilft es dir ja tatsächlich, den Ort zu sehen, wo er seine letzten Monate verbracht hat, wo er gestorben ist. Man weiß nie …«

Wenngleich keineswegs überzeugt, begann Ruby zu akzeptieren, dass sie wohl keine andere Wahl hatte, als den Wünschen ihrer Schwiegereltern nachzugeben. Ihr Pflichtbewusstsein zwang sie dazu. Und sie konnte nur hoffen, dass der schützende Panzer, mit dem sie ihr Herz bei Bedarf verschloss, sie vor den schlimmsten Erschütterungen bewahrte und sie die Reise halbwegs unbeschadet überstehen ließ.

Seit ihrer Hochzeit arbeitete Ruby im Verkauf von Hopegoods, dem alteingesessenen Geschäft, das Albert von Ivys Vater übernommen hatte und das nach ihm an Bertie übergehen sollte. Um das Handwerk von der Pike auf zu lernen, wie er es auszudrücken pflegte, hatte der Sohn gleich nach Beendigung der Schulzeit dort zu arbeiten begonnen. Als dann seine Einberufung näher rückte, wollte sich auch Ruby irgendwie nützlich machen.

»Ich kann nicht die ganze Zeit zu Hause sitzen und mit den Zehen wackeln, während du auf dem Kontinent an der Front kämpfst«, hatte sie eines Tages zu ihm gesagt. »Es macht dir hoffentlich nichts aus, wenn ich mir eine Arbeit suche, oder? Ich muss das Gefühl haben, wenigstens einen kleinen Teil zum Sieg beizutragen.«

Bei diesen Worten war auf seinem Gesicht dieses herzerwärmende Lächeln erschienen, das seine Züge zum Leuchten brachte und die Haut in seinen Augenwinkeln lustig kräuselte. Daraufhin hatte er sie an sich gezogen und ihr einen Kuss auf die Stirn gedrückt, die sich genau auf Höhe seiner Lippen befand.

»Geliebte Ruby, du tust einfach, was du für richtig hältst. Wenn ich nach Hause komme und wir anfangen, über Kinder nachzudenken, ist immer noch genug Zeit für dich, wie eine Lady zu Hause zu sitzen.«

Zunächst bewarb sie sich um eine Stelle als Fahrkartenschaffnerin – vergeblich, denn alle offenen Plätze waren bereits vergeben. Und als ihr eine Arbeit in der Munitionsfabrik angeboten wurde, erhob ihre Mutter Einwände.

»Das ist zu gefährlich«, erklärte sie kategorisch. »Dich womöglich ebenfalls zu verlieren würde ich nicht ertragen. Wieso fragst du nicht Mr. Barton?«

Und so kam es, dass sie seit nunmehr drei Jahren in der Kurzwarenabteilung unter der Leitung der allseits gefürchteten Ada Turner arbeitete, einer Witwe, die alle schlicht Mrs. T nannten.

Die strenge Dame schien in der Tat mit ihrer Arbeit verheiratet zu sein und ansonsten keine weiteren Interessen zu haben. Sie erwähnte nie eine Familie oder erzählte, wo sie wohnte und was sie an ihren freien Tagen unternahm. Dafür kannte sie die Nummern aller zweihundert Garnfarben und wusste, welches Garn für welchen Zweck verwendet werden musste: ob zum Absteppen, ob für besonders strapazierfähige Stoffe, komplizierte Stiche und die Verarbeitung von Serge, ob fürs Quilten und Patchworken, ganz zu schweigen von Stickereien, für die man besonders leuchtend bunte Seidengarne benötigte.

Sie beriet ihre Kunden bei der Wahl der richtigen Stoffe für ihre Kleidung, erklärte ihnen, welche Stäbchen sie für die Verstärkung benötigten oder welcher von den Dutzenden Reißverschlüssen der geeignete war, und half ihnen, aus dem Sortiment von bestimmt hundert unterschiedlichen Knöpfen den in Stil, Größe und Material passenden zu wählen. Die Kunden liebten sie. Wenn sie aus irgendeinem Grund einmal nicht hinter dem Verkaufstresen stand, beschäftigten sie sich so lange mit den Musterbüchern, bis sie zurück war. Ruby kam sich jedes Mal wie zweite Wahl vor, wenn Mrs. T auftauchte und den Kunden übernahm, mit dessen Beratung sie gerade erst begonnen hatte.

Anfangs begegneten Ada und die anderen Angestellten ihr, der Schwiegertochter des Besitzers, mit einigem Argwohn, teilweise sogar mit offener Feindseligkeit. Doch Ruby arbeitete fleißig, muckte niemals auf und gewann so binnen Kurzem das Vertrauen und den Respekt der gestrengen Vorgesetzten. Wozu nicht zuletzt beitrug, dass sie sich rasch einarbeitete, immer freundlich war und sich allmählich einen eigenen kleinen Kundenstamm aufbaute. Sie mochte ihre Arbeit. Vor allem die Bücher mit den Kleidermustern faszinierten sie dermaßen, dass sie sich selbst ans Nähen wagte.

Auf der alten Singer ihrer Mutter versuchte sie sich zunächst an einfacheren Sachen wie Schürzen und Unterröcken, aber schon bald wagte sie sich an Röcke und erst neulich an eine Jacke aus grünem Wollserge mit schmaler Taille und Abnähern auf Vorder- und Rückseite. Es war das erste Mal, dass sie wieder eine andere Farbe als Schwarz trug, wenngleich sie zumindest auf einen dunklen Grünton geachtet hatte.

Und genau diese Jacke trug sie jetzt an Bord des Dampfers, dazu einen schwarzen Rock und einen Glockenhut, den sie zum Angestelltenrabatt erstanden hatte. Ein leichter Sommermantel, den Albert ihr vor ein paar Tagen geschenkt hatte, hing über ihrem Arm.

»Den brauchst du vielleicht«, hatte er gesagt. »In Flandern regnet es häufiger.«

Das Etikett verriet, dass es sich um das neueste Modell eines renommierten Herstellers handelte – der Mantel aus dunkelgrauem Baumwolltwill war eindeutig teurer gewesen als jedes andere Kleidungsstück, das sie jemals besessen hatte. Bertie wäre bestimmt stolz auf sie, hatte sie auf dem Heimweg von der Arbeit gedacht, als sie sich in jedem Schaufenster betrachtete und zum ersten Mal ein Gefühl von Luxus empfand.

Paradoxerweise waren es genau jene kurzen Momente spontaner Freude und Glücks, die ihr regelmäßig einen Stich versetzten und den Schmerz über ihren Verlust neu entfachten. Die sie in ihren Grundfesten erschütterten, die ihre Maske bröckeln zu lassen drohten und Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit erneut ins schier Unerträgliche steigerten.

Inzwischen war es mehr als zwei Jahre her, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, und obwohl sie jeden Abend das Foto von ihrem Nachttisch nahm, um einen Kuss auf sein Gesicht zu drücken, musste sie zu ihrem Entsetzen feststellen, dass er ihr zu entgleiten begann, dass viele unersetzliche Erinnerungen langsam verblassten: der saubere Duft seiner Rasierseife, das Timbre seiner tiefen Stimme, das seine Brust erbeben ließ, sein dröhnendes, von Herzen kommendes Lachen. Manchmal kam es ihr vor, als wäre diese Eintrübung, die ihn weniger real werden ließ, eine Art Selbstschutz. Gleichzeitig fraßen sie deswegen Schuldgefühle auf. Wie konnte der Mann, den sie einst geliebt hatte, aus ihrem Gedächtnis immer mehr entschwinden? Eine Frage, die sie umtrieb und nicht zur Ruhe kommen ließ.

Berties Vater hielt Wort und holte sie am Tag ihrer Abreise mit dem Taxi ab, fuhr mit ihr zum Bahnhof und löste für sie beide eine Zugfahrkarte zur Victoria Station. Seit Jahren hatte sie ihn nicht mehr so lebhaft gesehen: Er wies sie auf Sehenswürdigkeiten entlang der Strecke hin, er legte ihr seine Pläne für die weitere Entwicklung bei Hopegoods dar, die er jetzt, da der Krieg endlich vorüber war, in Angriff nehmen konnte, und er erteilte ihr Ratschläge für die Reise, wie sie jeder Vater seiner jungen Tochter geben würde. Albert Barton schien es eindeutig zu genießen, zur Abwechslung einmal nicht seinen gewohnten Verpflichtungen nachgehen zu müssen und seiner ständig verängstigten, ständig weinerlichen Frau zumindest für einen Tag den Rücken kehren zu dürfen.

Sofort nach ihrer Ankunft in der Londoner Victoria Station entdeckte er ein wartendes Reisegrüppchen samt Reiseleiter, der sie jovial begrüßte.

»Ich bin Major Wilson, aber bitte nennen Sie mich John. Es freut mich, dass Sie sich uns anschließen«, erklärte er ihr mit dröhnender Stimme und schüttelte Ruby so fest die Hand, dass sie schmerzte, bevor er sich an Albert wandte. »Keine Sorge, Sir. Ich werde mich nach bestem Wissen und Gewissen um Ihre Schwiegertochter kümmern.«

John Wilson war ein raubeiniger Mann mittleren Alters mit einem freundlichen Lächeln. Wenngleich er von seiner Statur her keinen besonders imposanten Eindruck erweckte, ließ sein gebieterisches Auftreten ahnen, dass er keine Alleingänge duldete. Zwanzig Jahre in der British Army, die er notgedrungen nach einer schweren Beinverletzung im Schützengraben verlassen musste, hatten ihre Spuren hinterlassen.

»Nichts ist mir je so schwergefallen«, erklärte er, während sie auf die anderen warteten. »Die Jungs allein gegen die Deutschen kämpfen zu lassen hat mir das Herz gebrochen. War verdammt hart einzusehen, dass man für nutzlose Krüppel wie mich keine Verwendung mehr hatte und ausgemustert wurde …« Er schnitt eine Grimasse und klopfte sich aufs Knie. »Als Thomas Cook dann einen Reiseleiter für Fahrten zu den Schlachtfeldern suchte, erkannte ich sofort meine Chance und bewarb mich. Mit Erfolg, wie Sie sehen. Leute wie Sie in die ehemaligen Kampfgebiete zu begleiten, damit sie sich dort von ihren toten oder vermissten Angehörigen verabschieden können, ist für mich eine großartige Gelegenheit, meinen alten Kameraden ebenfalls den Respekt zu zollen, den sie verdienen. Irgendeinen Sinn muss das Ganze ja gehabt haben.« Er hielt inne und sah Ruby an. »Es geht um Ihren Mann, stimmt’s? Ist er bei Passendale gefallen? Er muss noch sehr jung gewesen sein, nicht wahr?«

»Zwanzig«, antwortete sie, sorgsam darauf bedacht, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. »Er war erst seit neun Monaten an der Front«, fuhr sie nach einer Weile mit belegter Stimme fort. »Wir waren ganz frisch verheiratet. Seine Leiche wurde nie gefunden.«

»Gott segne Sie«, erwiderte der Major. »Es ist wirklich tapfer von Ihnen, sich der Begegnung mit den Schlachtfeldern zu stellen. Ich bewundere Ihren Mut. Aber ich kann Ihnen versichern, dass die meisten, die ihn aufbringen, dadurch Frieden finden.«

Trotz ihres anfänglichen Argwohns ertappte Ruby sich dabei, dass ihr seine schlichte Bodenständigkeit gefiel. Sie war so damit beschäftigt gewesen, einen Schritt vor den anderen zu setzen, einen Tag nach dem anderen hinter sich zu bringen, dass sie völlig vergessen hatte, wie es sich anfühlte, den Kopf zu heben und zu sehen, was ringsherum passierte – immerhin hatte der Krieg ja nicht allein ihr Leben aus den gewohnten Bahnen geworfen.

Überall war das Leid nach wie vor allgegenwärtig. Mehr als siebenhunderttausend Männer kehrten nie wieder nach Hause zurück, doppelt so viele sahen die Heimat mit schwersten Verwundungen wieder, waren an Körper und Seele verkrüppelt und häufig nicht in der Lage, in ihr altes Leben zurückzufinden.

Die Zeitungen berichteten über Unruhen und Streiks, Lebensmittel waren immer noch rationiert. Wofür war all das gut gewesen? Zu nichts, doch vielleicht half ein offener Blick über den eigenen Tellerrand, mit dem erlittenen Verlust besser umzugehen. Wenn die Reise das bewirkte, dann war sie vielleicht wirklich den ganzen Aufwand wert, überlegte Ruby.

Bald darauf hatte sich die gesamte Gruppe versammelt – etwa zehn Personen, die meisten davon älter als sie –, und man bestieg den Zug nach Dover, in dem es durchdringend nach kaltem Zigarettenrauch und Orangenschalen roch. Sie ließ den Blick über die Mitreisenden schweifen. Bei der Mehrzahl handelte es sich um Paare, verwaiste Eltern, die leise miteinander redeten oder schweigend vor sich hin starrten. Alle waren sichtlich von Trauer und Leid gezeichnet, schienen sich in eine eigene kleine Welt zurückgezogen zu haben.

Ein Mann mit einer Augenklappe nahm neben einer blassen Frau Platz, die kaum mehr als ein Strich in der Landschaft war. Verstohlen musterte Ruby außerdem eine allein reisende junge Dame. Sie war groß und schlank und ziemlich glamourös, wirkte fast wie ein Filmstar mit ihrem glänzenden braunen Haar, das sie zu einem Bob geschnitten hatte. Was Ruby allerdings verwirrte, waren ihre leuchtend rote Jacke und der dazu passende Hut mit extravaganter Krempe. Rot für den Besuch einer Stätte, an der millionenfach gestorben worden war? Wie unangemessen. Zum Glück suchte sie sich einen Platz im Nachbarabteil.

Entgegen den Versicherungen von Albert und Major Wilson fühlte sie sich in ihrer Reisegruppe zunächst noch einsamer in ihrer Trauer als zuvor, und sie wünschte sich zum x-ten Mal, sie hätte den Mut aufgebracht, die Bitte des Schwiegervaters abzuschlagen. Eher gleichgültig ließ sie die Erzählungen eines Ehepaars über sich ergehen, das zwei Söhne im Abstand von einem Jahr auf den flandrischen Schlachtfeldern verloren hatte.

»Sie haben ihr Leben für den König und das Vaterland gelassen«, sagte der Mann. »Das ist unser einziger Trost.«

»Wir wollen ihre Gräber finden«, fügte die Frau mit kippender Stimme hinzu. »Damit wir ihnen sagen können, wie sehr wir …« Sie verstummte und presste sich schluchzend das Taschentuch vors Gesicht.

»Beruhige dich bitte«, tadelte ihr Mann sie sanft und drückte ihren Arm. »Denk dran, dass wir ganz stark sein müssen.«

Für einen Moment glaubte Ruby, Albert und Ivy gegenübersitzen. Jedenfalls wusste sie am Ende der Fahrt alles über die beiden Jungs, hatte bloß schweigend zugehört und war froh, dass die Eltern so sehr auf ihre eigene Trauer fixiert gewesen waren, dass sie kein einziges Mal nach ihrem Schicksal gefragt hatten. Nach wie vor verlor sie nämlich die Fassung, wenn jemand sie darauf ansprach, und ließ deshalb derartige Gespräche lieber erst gar nicht aufkommen.

Plötzlich aber, als sie nach der Ankunft in Dover im Sonnenschein das Deck der Fähre betrat und aufs Meer und die berühmten Kreidefelsen blickte, spürte sie, wie neuer Mut sie durchströmte und die lähmende Angst vor dem, was kommen würde, mehr und mehr wich. Der Himmel war strahlend blau, und die Sonnenstrahlen ließen das von einer leichten Brise gekräuselte Meer glitzern. Tief atmete Ruby den belebenden Geruch nach Salz und Algen ein, eine wahre Wohltat nach der miefigen Luft im Zug.

Zum ersten Mal überhaupt stand sie auf einem großen Schiff. Ihre bisherigen Erfahrungen mit Wasserfahrzeugen beschränkten sich auf die Ruderboote, mit denen man auf dem künstlich angelegten See im Christchurch Park von Ipswich herumgondeln konnte, wobei ihr das Schwanken der kleinen Nussschalen stets suspekt gewesen war.

Insofern war sie gleichermaßen überrascht und erleichtert, wie solide und stabil sich die riesige Fähre anfühlte, die sie auf den Kontinent bringen sollte. Eigentlich merkte sie kaum, dass sie sich nicht länger an Land befand. Amüsiert beobachtete sie eine große grau-weiße Möwe, die direkt vor ihr auf der Reling landete, den Kopf schief legte und sie fordernd aus ihren gelben Augen musterte.

»Hallo, Vogel«, sagte sie lächelnd. »Ich habe nichts, was ich dir geben könnte, fürchte ich.«

Weit unter ihr am Kai zogen Dockarbeiter bereits die hölzernen Gangways zurück. Gewaltige Taue, so dick wie die Oberarme eines Mannes, wurden von den Eisenpollern gelöst und in die Hände der wartenden Matrosen an der unteren Reling geworfen. Bald würde das Schiff ablegen, denn schon übertönte das markerschütternde Tuten des Signalhorns alle Geräusche und ließ Rubys ganzen Körper vibrieren. Selbst der Möwe war das zu viel. Kreischend flog sie davon, nachdem sie sich schnell noch mit einem dicken weißen Kotklecks auf der Reling verewigt hatte.

Außerdem blieb eine einzelne Daunenfeder als Abschiedsgeschenk auf dem Deck zurück. Ruby hob sie auf, drehte sie hin und her und bewunderte ihre Perfektion. Bis ihr mit einem Mal einfiel, zu welch schäbigem Zweck weiße Federn im Krieg missbraucht worden waren. Der White-Feather-Orden, eine antipazifistische Organisation, hatte Frauen zu Kriegsbeginn losgeschickt, damit sie kriegsunwilligen jungen Männern, die sich nicht freiwillig melden wollten, weiße Federn anhefteten, die damit zu einem Symbol der Schande wurden. Erschauernd ließ sie das zarte Gebilde fallen. Wäre Bertie bloß ein Feigling gewesen und mit der Feder und nicht mit den Musterungspapieren nach Hause gekommen, dachte sie kummervoll. Dann würde er jetzt noch leben.

Die Fähre löste sich von der Anlegestelle, anfangs kaum merklich, doch bald immer schneller. Neben ihr winkten Mitreisende ihren zurückbleibenden Freunden zum Abschied und riefen ihnen ein Lebewohl zu. Sobald sie das Hafenbecken verließen und Kurs auf die offene See nahmen, frischte der Wind so sehr auf, dass die meisten Passagiere sich unter Deck flüchteten. Nicht so Ruby. Sie wollte zusehen, wie England hinter ihr immer kleiner wurde. Vielleicht war das auch Berties letzter Blick auf die Heimat gewesen, allein deshalb würde sie ausharren, bis die Insel vollends am Horizont verschwunden war.

Was mochte er damals wohl gedacht haben? Hatte er sich gefürchtet vor dem, was ihn erwartete? Hatte er sich bange gefragt, ob er diese Klippen je wiedersehen würde? Oder war er aufgeregt gewesen, gespannt auf die Reise, auf die neuen Eindrücke, die ihn erwarteten. Immerhin hatte er sich im Kreis junger Burschen befunden, die lieber die Angst weglachten, als sie sich einzugestehen, die scherzten und Witze rissen. Bestimmt war Bertie, der Klassenclown, hier in seinem Element gewesen und hatte sich mit besonders frechen Sprüchen hervorgetan, da war sie sich sicher. Ein wehmütiges Lächeln umspielte bei diesem Gedanken ihre Lippen. Warum hatte es nicht anders kommen können?

Blicklos starrte sie in die Ferne, wo das intensive Weiß der Kalkfelsen im strahlenden Sonnenschein ein breites Band bildete, das den blauen Himmel von der grauen See zu trennen schien.

»Was für ein Anblick, wie?«

Die Stimme mit unverkennbar amerikanischem Akzent ließ Ruby zusammenzucken. Sie hatte geglaubt, allein an Deck zu sein. Verwirrt hob sie den Kopf und sah geradewegs in die Augen der großen, schlanken Frau mit dem Filmstarflair, die ihr beim Einsteigen in den Zug aufgefallen war. Ihre leuchtend rot geschminkten Lippen waren zu einem breiten Lächeln verzogen, das den Blick auf zwei Reihen der weißesten Zähne freigab, die Ruby je gesehen hatte.

»Alice Palmer. Freut mich, Sie kennenzulernen.«

Kapitel 2 Alice

Alice war völlig erschöpft. Zwar war die Überfahrt über den Atlantik ruhig verlaufen, doch seit ihrer Ankunft in Southampton hatte sie sich bei ihrer Freundin Julia aufgehalten, der Tochter des amerikanischen Botschafters in London, und sie hatten jeden Abend bis in die Puppen geschwatzt und geplaudert.

Obwohl offiziell Frieden herrschte, wirkte London so trist und freudlos, dass es sogar ihre sonst unverwüstliche Laune trübte. Und das Wetter machte das nicht besser, denn der Londoner Hochsommer hatte sich von seiner schlechtesten Seite gezeigt und eher dem Winter in ihrer Heimatstadt Washington geglichen, so grau, kalt und regnerisch, wie er war. Dass zudem die Spanische Grippe um sich griff und das Meiden größerer Menschenansammlungen verlangte, war da nur das Tüpfelchen auf dem i.

Auch hatte sie nicht erwartet, dass sie mit ihrer leuchtend bunten Reisegarderobe wie ein Paradiesvogel und damit ziemlich deplatziert wirkte in dem eintönigen Straßenbild. Die meisten Frauen trugen abgenutzte Vorkriegskleidung, meist braun oder schwarz, Sachen ohne jeden Chic. Noch mehr schockierte Alice allerdings der Anblick der ausgemergelten Veteranen, die sich mit dem Verkauf von Streichhölzern über Wasser zu halten versuchten oder Schilder hochhielten, auf denen sie ein Heim für einen Helden forderten, wie es der britische Premierminister für alle Kriegsheimkehrer proklamiert hatte, ohne dieses Versprechen je einlösen zu können.

Wenngleich in der amerikanischen Botschaft kein Mangel an Speisen und Getränken herrschte, blieb Alice die drastische Rationierung der Lebensmittel für den Durchschnittsbürger nicht verborgen. Selbst jetzt noch, acht Monate nach dem Waffenstillstand, gab es wöchentlich lediglich ein kleines Stück Fleisch, ein bisschen Butter sowie ein sparsam bemessenes Stück von diesem grauenvollen, nach Pappe schmeckenden Weißbrot. Obst oder Gemüse wurde so gut wie nie zugeteilt.

Wir zu Hause haben keine Ahnung, wie sehr dieses kleine Land hier gelitten hat und immer noch leidet, schrieb Alice an ihre Eltern.

Da London sich so anders präsentierte als erwartet, konnte sie es kaum erwarten, nach Belgien weiterzureisen, wo ihr jüngerer Bruder Sam zuletzt gesehen worden war und wo sich seine Spur verlor. Die Familie hatte weder eine Bestätigung erhalten, dass er gefallen oder vermisst war, noch eine Mitteilung, wo genau er gekämpft hatte oder wohin er abkommandiert worden war.

Es schien, als wüsste niemand über seinen Verbleib Bescheid. Er war einfach vom Erdboden verschwunden. Und gerade das ließ in Alice die Überzeugung heranwachsen, dass er noch lebte. Womöglich war er desertiert und schämte sich, nach Hause zurückzukehren, zumal er sich ohne Wissen der Eltern freiwillig gemeldet hatte. Er hatte nicht einmal bis zum Kriegseintritt der Vereinigten Staaten gewartet, sondern sich dem kanadischen Expeditionskorps angeschlossen, das von Anfang an die britischen Truppen unterstützt hatte.