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Bernhard Horwatitsch beschreibt Menschen mit Demenz, die er im Rahmen einer ambulanten Pflege betreut. Mit von der Partie: Eine inkontinente Seniorin, die beim Besuch des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung überraschende Fähigkeiten zeigt; ein Ehepaar, das den Tod des geistig behinderten Sohnes zu verwinden hat; eine Dame, der der Heilige Geist in einem Käfer begegnet. Entstanden sind sprachlich wunderschöne Miniaturen, die ernste und heitere, überraschende und Mut machende Sichtweisen auf das Leben mit Demenz eröffnen.
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Seitenzahl: 150
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Das Herz der Dings
Bernhard Horwatitsch
Geschichten über das Leben mit Demenz
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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Elektronische Ausgabe 2014© 2013 Mabuse-Verlag GmbHKasseler Str. 1 a60486 Frankfurt am MainTel.:069 – 70 79 96-13Fax:069 – 70 41 [email protected]
Lektorat: Katharina Budych, SpringeUmschlaggestaltung: Marion Ullrich, Frankfurt am Main
eISBN: 978-3-86321-218-6ISBN: 978-3-86321-149-3Printed in GermanyAlle Rechte vorbehalten
Zum Autor
VORWORT
FRAU SCHWAN
Und was sagen Ihre Eltern dazu?
Niemand ist mehr da
HERR BAUER
Der alte Fährmann
Lasst das Radio laufen
Blaukraut bleibt Blaukraut
Der blaue Engel
FRAU GRUMMEL
Der Heilige Geist
Er spricht mit ihr
FRAU GUSTAV
Mit Frau Gustav in der Matrix
Und wann komme ich zu den Engeln?
Trolle
An meine Haut lasse ich nur Wasser und CD
HERR HADLEK
Der pauperophobe Non-Responder
FRAU ASSMANN
Und was haben Sie eigentlich gelernt?
Warum bin ich hier?
Ich bin noch nicht ganz blöd
FRAU SCHALLER
Die Rolle der Medien
Wir alle warten. Auf was?
Das Mascherl
HERR MÜLLER
Denn sie wissen nicht, was sie tun
Müllers Reich
FRAU KARL
Ich bin doch nicht behindert!
FRAU BAIER
In der Tiefe der Tasche
Bernhard Horwatitsch, ist Krankenpfleger und ausgebildete Fachkraft für Gerontopsychiatrie.
In seinem zweiten Beruf arbeitet er als Schriftsteller und veröffentlicht seit Mitte der 1990er Jahre regelmäßig Kurzgeschichten. Er gibt Kurse in „kreativem Schreiben“ und „Literatur“ an der Münchner Volkshochschule und anderen Institutionen. 2007 drehte er gemeinsam mit Sylvie Bantle den 90-minütigen Dokumentarfilm „Das Brandloch“ über die Bücherverbrennung 1933 in München und den Umgang lebender Autoren mit dem Autodafé.
Seine jüngsten Buchveröffentlichungen sind „Anleitungen zum Scheitern“ und „Wie das Streicheln eines Körpers“ (Gespräche mit dem Maler Sven Kalb). Aktuell (2013) erschien im Verlag Andreas Mascha „Das Brandloch-Projekt“, Texte über die Bücherverbrennung 1933.
Bernhard Horwatitsch veröffentlichte zahlreiche Essays und Kurzgeschichten und in verschiedenen Anthologien und Literaturzeitschriften (u. a. Sterz, BISS, Schreibkraft, Feigenblatt, Federwelt, Entwürfe, c’t). Er belegte den dritten Platz im U-Books Literaturwettbewerb für erotische Literatur (2005) sowie den zweiten Platz des Kurzgeschichten-Wettbewerbs der Zeitschrift Kontrovers (2008). www.literaturprojekt.com
Kommt ein weiser alter rauschebärtiger Fisch bei drei Jungfischen vorbeigeschwommen und fragt: „Moin Jungs, wie ist das Wasser?“, und schwimmt weiter; die drei Jungfische glotzen ihm nach, sehen sich an und fragen: „Was zum Teufel ist Wasser?“, und schwimmen weiter.
DAVID FOSTER WALLACE
30 Sekunden. So lange kann sich ein gewöhnlicher Fisch wie zum Beispiel der Streifenbarsch zurückerinnern. Dann erlischt sein Gedächtnis. Wäre sein Aquarium in etwa so groß wie sein Gedächtnis, wäre der Streifenbarsch nach jeder Umrundung von Neuem ziemlich überrascht von seiner Umgebung. Haben Sie Ihren Fisch in seinem Aquarium schon mal beobachtet? Wirkt er überrascht, erfreut, irritiert, verwirrt? Nein. Er dreht seine Runden, wie ein gewöhnlicher Fisch eben seine Runden dreht. Er schwimmt durch die Gegend, als hätte er alle Zeit der Welt. Das ist ein Grund, warum Helmut Kohl in seinem Kanzlerbüro immer ein Aquarium stehen hatte. Es ist ungemein beruhigend, einem ruhigen, gelassenen Fisch dabei zuzusehen, wie er kreuz und quer schwimmt.
30 Sekunden. Wenn Sie jetzt auf die Uhr sehen, dann sind gerade 30 Sekunden vergangen, seit Sie begonnen haben, diesen Text zu lesen. Zumindest, wenn Sie ihn aufmerksam gelesen haben. Wären Sie ein Fisch, müssten Sie nun von vorne beginnen. Sie aber können sich an das Gelesene erinnern, und es gibt noch etwas, was Sie von einem Fisch unterscheidet: Sie haben gerade etwas gelernt. Und Gedächtnis ist das, was man gelernt hat. Das nun Gelernte wird in Ihrem Gehirn mit dem von Ihnen bisher Gelernten verknüpft und führt dann zu einer Verhaltensänderung.
Für diese Verhaltensänderung durch Erfahrung haben Sie Zeit benötigt. Eben die besagten 30 Sekunden. Und diese Sekunden folgen schön nacheinander, Sekunde für Sekunde, sodass Sie das auf Ihrer Uhr nachprüfen können.
Aber nun ist die Zeit weg. Die 30 Sekunden sind nicht mehr da. Schon laufen die nächsten 30 Sekunden. Was Sie erleben können, ist immer nur die Gegenwart. Zeit ist – und da sind sich die Philosophen weitestgehend einig – eng an unser Bewusstsein gekoppelt. Das Vergehen der Zeit ist ein subjektives Phänomen, wenn nicht gar eine Illusion. Und dass die Zeit fließt, ist nach wie vor eines der größten Rätsel der Naturwissenschaft und der Philosophie. Das Geheimnis der Zeit fasst Augustinus in folgendem Ausspruch zusammen: „Was also ist ‚Zeit‘? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht.“
Eine kosmische Uhr, die ein für alle verbindliches Jetzt schafft, gibt es nicht. Aber völlig selbstverständlich hat fast jeder moderne, zivilisierte Mensch einen Terminkalender. Eine der ersten Fragen einer Ärztin oder eines Arztes an einen verwirrten Menschen ist die Frage nach dem aktuellen Datum. Und pünktlich in der Arbeit zu erscheinen, ist eine der Grundvoraussetzungen für Menschen, um sich ihre Existenz zu sichern.
Zeit ist heutzutage Geld. Man muss sich seine Zeit gut einteilen. Kommt Zeit, kommt auch Rat. Die Zeit heilt alle Wunden. Man muss auch mit der Zeit gehen. Und für bestimmte Dinge nimmt man sich einfach die Zeit. Man sollte möglichst keine Zeit verlieren, und Marcel Proust war sogar mal Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.
„Zeitmanagement“ ist ein Begriff, der den durch und durch ökonomisierten Menschen von heute prägt. Im Laufe der Geschichte hat sich der Umgang mit Zeit radikal geändert.
Durch das Aufkommen der mechanischen Uhr hat sich auch die Organisation der Arbeit verändert. Das, was im Kapitalismus den Mehrwert (Mehrwert ist das, womit sich die anderen an Ihnen bereichern) ausmacht, ist in erster Linie die Arbeitszeit. In jeder Ware, die Sie kaufen, steckt diese Arbeitszeit als Preis der Ware angeblich drin.
Beim Arbeiten, beim Einkaufen, vom morgendlichen Klingeln des Weckers bis zu den Spätnachrichten sind Sie dem Faktor Zeit ausgeliefert. Mitten im All, auf einem blauen, nicht ganz runden Ball hetzen zweibeinige Wesen, schweißgebadet, stets voll Sorge auf ihre Uhr blickend von Termin zu Termin – bis auf ein paar buddhistische Mönche, die sich des Wesens des Nichts bewusst sind. Wir sollten uns über das schlechte Gedächtnis unseres Streifenbarsches wirklich nicht lustig machen.
Mnemosyne, das Gedächtnis, ist die Mutter der neun Musen, aber auch die Mutter von Lesmosyne, dem Vergessen der Leiden und Aufhören der Sorgen. Vergessen ist eine Kunst, die uns heute Angst macht. Wir haben das Vergessen vergessen und sehen nur noch die Pathologie des Vergessens.
Dabei gibt es nichts Schöneres, als mal einfach alles um sich herum zu vergessen. Ein Spaziergang in der Natur oder sogar in der Stadt, in Ihrer unmittelbaren Umgebung, ohne dabei an irgendeinen Termin zu denken! Was Sie da entdecken! Ein wenig Buddhismus, wenigstens am Wochenende! Ich bin gegen die Permanenz der Zeit, plädiere für eine zeitweise Abwesenheit der Zeit. Um wenigstens gelegentlich meine Sorgen und Nöte vergessen zu können, bin ich ein Fisch, schwimme kreuz und quer und kann mich nach 30 Sekunden nicht mehr erinnern, wo ich gerade war.
„Wenn man versucht, sich in die Gefühlswelt demenzkranker Menschen hineinzuversetzen, fällt die Kommunikation mit ihnen leichter“, schreibt ein Autor in dem Wikipedia-Artikel zu Demenz. Und weiter: „Für Demenzkranke sieht die Welt merkwürdig und unverständlich aus, weil sie die spezifische menschliche Wahrnehmungsfähigkeit, die Orientierung, verlieren.“ Das semantische Gedächtnis, Exekutivfähigkeiten wie Planen, Organisieren, das Einhalten einer Reihenfolge in ihrem Tun, all das ist – nach ICD-10 – bei ihnen eingeschränkt.
Demenz wird als ein Defizit von Fähigkeiten definiert. Die von der Demenz Betroffenen können die Gegenstände, Situationen und Personen nicht in einem größeren Gesamtzusammenhang einordnen. Aufgrund ihrer Erinnerungsstörungen ist ihnen der Zugriff auf früheres Wissen und vergangene Erlebnisse1 zunehmend verwehrt. Und weil es fehlt, können sie sich in der aktuellen Situation nicht mehr zurechtfinden, sie nicht mehr bewältigen. Im fortgeschrittenen Stadium verschwimmt schließlich der Unterschied zwischen Traum, Vergangenheit und Realität. Es kommt vermehrt zu Halluzinationen. Dann ist es kaum noch möglich, den Betroffenen die Irrealität der Halluzinationen zu erklären. Soweit die tragische Pathologie des Vergessens.
Bis zum Jahr 2050 wird sich die Zahl der von Demenz Betroffenen in Deutschland verdoppelt haben, auf rund 2,6 Millionen Menschen. Wir bekommen Probleme, ökonomisch und organisatorisch.
Wir Menschen leben inzwischen in einer Welt, die nichts mehr vergisst und keine Zeit mehr hat. Manche Soziologen sehen daher in der Demenz die Krankheit, die die Gesellschaft braucht. Ich glaube zwar nicht, dass wir diese schlimme Krankheit brauchen. Aber lernen können wir allemal von den Menschen, die an dieser Erkrankung leiden. Gelernt habe ich vor allem, der Zeit nicht mehr diese große Bedeutung beizumessen. Gelernt habe ich, Dingen oder Ereignissen neue Aufmerksamkeit zu schenken. Eine Blume am Straßenrand zu entdecken, den Wind in meinem Haar zu spüren. Gelernt habe ich, wie unterschiedlich die Menschen sind. Gelernt habe ich, sie nicht etwa als „Kranke“ wahrzunehmen, sondern als Individuen.
Daher möchte ich den Menschen [Alle Namen und Orte im Buch sind geändert.], von denen ich in den folgenden Geschichten erzähle, meinen tiefen Dank aussprechen.
Bedanken möchte ich mich auch besonders bei Marie Luise Kunst, deren Lektorat ausgesprochen hilfreich war, und Alexander Kellner, dessen Überarbeitung dem Text ebenfalls sehr gut getan hat.
Bernhard Horwatitsch 2013
Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand.
ISAAC NEWTON
Sie wirkte ein wenig wie ein Geist. Am Handgelenk trug sie ein vergilbtes, weißes Plastikbändchen mit ihrem Namen und ihrer Adresse. Sie war sehr dünn. Früher einmal war sie eine sehr schöne Frau gewesen. Sie bat mich, ich möge mich ins Wohnzimmer begeben und dort setzen. Dann kam auch sie und setzte sich mir gegenüber.
„Und was haben Sie jetzt vor?“, fragte sie mich. Dabei gab ihr Magen hörbare Geräusche von sich. Sie trug einen ziemlich verschlissenen kimonoähnlichen Morgenmantel in Florentiner Rot und darunter ein ehemals weißes Nachthemd. Überall lagen alte Ausgaben der Süddeutschen Zeitung auf dem Boden oder stapelten sich in den Ecken. Der schwarzweiße Zeitungsdruck bestimmte die Farbtöne der Wohnung.
„Was Sie möchten, Frau Schwan“, antwortete ich. Auf dem Tisch lag Vergils Aeneis in einer Reclam-Ausgabe. Ich nahm sie interessiert zur Hand.
Frau Schwan blickte sich um, deutete auf die Bücher in den Regalen. „Nehmen Sie sich, wenn Sie etwas brauchen.“ Dann stockte sie, suchte nach einer Formulierung. „Ich meine, nicht einfach nehmen …“
„Ausleihen“, half ich ihr.
Sie lächelte, nickte. „Ja, ausleihen.“
Ich schlug den Vergil willkürlich auf. Dann las ich spontan laut vor. Aus dem zehnten Gesang. Geronnenes Blut, spuckende Helden, abgetrennte Arme, die nur noch an einer Sehne hingen, von Speeren und Pfeilen Durchbohrte. Frau Schwan grinste nun, freute sich.
„Da geht’s zu, was?“, sagte ich.
„Ja“, sagte sie ein wenig euphorisch. Sie genoss die blutrünstigen Schlachtschilderungen. Sie war einmal Historikerin gewesen. Zeit war ihre Profession, ihre Passion.
An der Wand hing ein Bild, das an Caspar David Friedrich erinnerte, eine frühromantische Landschaft am Meer, schäumendes Wasser, ein Felsen ragte heraus, alles war in düsteres Licht getaucht. Farblich passte hier alles gut zusammen. Ein eleganter, brauner Sekretär aus der Zeit der Sezession stand im Gang. Frau Schwan kam aus gutem Hause. Sogar mehrere Generalmajore hatte es in ihrer Familie gegeben.
„Und was haben Sie nun vor?“, wiederholte Frau Schwan ihre Frage an mich.
„Was Sie möchten. Ich mache, was Sie sagen. Zum Beispiel ein wenig aufräumen, wenn Sie das wollen, ich könnte in der Küche abspülen, oder wenn etwas zu reparieren ist, sagen Sie es nur.“
Sie lächelte. „Das ist nicht nötig“, sagte sie.
„Dann unterhalten wir uns einfach“, schlug ich vor. „Soll ich Ihnen einen Tee machen?“
„Nein, nein. Das mach ich schon selbst.“
Sie deutete auf einen zerschlissenen Steiff-Bären.
„Den habe ich seit meiner Kindheit“, sagte sie, „er ist immer mit mir ins Bett gegangen, wenn ich krank war.“
„Der ist so alt wie Sie“, sagte ich, „Ihr Jahrgang.“
„Ja, wenn ich krank war, hat er in meinem Bett geschlafen.“ Eine Zeitlang sahen wir den Steiff-Bären an. Er sah wirklich mitgenommen aus, abgerieben, teilweise waren die Nähte aufgeplatzt. Sein Alter war ihm anzusehen.
„Und wo kommen Sie her?“, fragte sie in die Stille hinein, ohne den Blick von dem Steiff-Bären zu nehmen. „Sind Sie gefahren?“, präzisierte sie.
„Nein“, sagte ich, „ich bin vom Wettersteinplatz aus zu Fuß gegangen.“
„Und wie kommen Sie zurück?“ Sie wollte auch wissen, wohin ich dann gehen würde. Was ich täte. Ich erklärte ihr, dass ich erst mit der Straßenbahn zum Tegernseer Platz fahren und dann zu Fuß über die Lohstraße zum Candidplatz gehen würde. „Dort ist dann das Büro“, beendete ich meine Reiseschilderung.
„Dort haben Sie also Ihr Büro“, wiederholte sie. „Und wie kann ich Sie erreichen?“
Ich zeigte ihr den kleinen Notizblock, auf dem ich ihr die Adresse, meinen Namen und die Telefonnummer notiert hatte.
„Von neun bis sechzehn Uhr“, las sie, „und mit Anrufbeantworter. Da sind Sie erreichbar?“
Ich nickte. Draußen schien die Sonne, blauer Himmel, ein herrlich milder Herbsttag. Frau Schwan wollte noch etwas über meine Arbeit wissen. Ich erzählte ihr, was ich so mache, mich um ältere Menschen kümmern, für sie einkaufen oder etwas organisieren für den Haushalt. Auch von meinen Gruppen erzählte ich ihr, dass wir gemeinsam frühstücken, spazieren gehen.
„Und was sagen Ihre Eltern dazu?“, wollte sie plötzlich von mir wissen.
Darauf fiel mir erst einmal nichts ein. Ich zuckte mit den Schultern.
Sie sah mich an.
„Gehen Sie doch noch etwas spazieren bei dem Wetter“, riet ich ihr, „das tut Ihnen bestimmt gut.“
„Wenn Sie gehen, werde ich mich wieder ins Bett legen“, antwortete sie.
Wir saßen uns noch eine kleine Weile gegenüber, bis ich aufstand. Sie erhob sich ebenfalls, begleitete mich zur Tür.
„Und wie machen Sie das jetzt?“, fragte sie mich, stand einen halben Schritt vor der Wohnungstür und blickte in den Treppengang hinunter. Sie wirkte dabei, als sei ihr das völlig fremd, als könne sie mit dem, was sie da vor ihrer Wohnungstür sah, gar nichts anfangen, und zugleich glaubte ich zu spüren, dass sie eine Sehnsucht danach hatte, die Treppen hinunter und hinauszugehen.
Ich erklärte ihr, dass ich nun die Treppen hinunter und hinausgehen würde.
„Und dann?“, wollte sie weiter wissen. Ich schilderte noch einmal meine Reiseroute bis zum Büro. Dann gaben wir uns die Hand. Sie blickte mir nach, ein schmaler Strich, mit grauem, ungepflegtem Haar. Wie ein Geist aus einer anderen Zeit. Die Zeit, ihre alte Profession, ihre Passion war nicht mehr da oder sie selbst schien aus dieser Zeit irgendwie herausgefallen zu sein. Zeit? Das war einfach nur Zeit.
Niemand ist Einwohner des Niemandslands
STUPIDEDIA.ORG
Sie stand bereits in ihrem hellblauen Frottee-Schlafanzug an der Wohnungstür, als ich die Treppen hochkam. In ihrem Blick spiegelte sich Verzweiflung. Sie begrüßte mich gar nicht, drehte sofort um, ging in die Wohnung.
„Wo ist meine Mami?“, sagte sie und ging recht schnell in Richtung Schlafzimmer.
Ich folgte ihr. Mein erster Reflex war natürlich, der 86-jährigen Dame die Wahrheit zu sagen: „Tot.“
Aber es war ein komischer Tag. Von heute auf morgen hatte das Wetter umgeschlagen, von sibirischen minus zehn bis fünfzehn Grad auf leichte Plustemperaturen. Und dann war ich auch noch am Vortag recht spät ins Bett gekommen, hatte vielleicht noch geringe Mengen Restalkohol im Blut. Ich hatte Andreas und Katja länger nicht mehr gesehen und wir hatten gefeiert. Sie waren erst kürzlich nach über zwei Jahren wieder aus Thailand zurückgekehrt. Katja hatte dort die Import-Export-Filiale ihres Vaters geleitet und Andreas hatte sich als Fotograf verdingt. Wir hatten uns viel zu erzählen und einiges getrunken. Andreas war ein Whiskey-Liebhaber.
Jedenfalls sagte ich Frau Schwan nicht die Wahrheit. „Vielleicht ist sie in der Oper?“
„Quatsch, meine Mami geht nicht in die Oper. Wo ist sie denn? Sie war doch gerade noch da?“ Frau Schwan hob die Bettdecke an, ging um das große Doppelbett herum, öffnete den Kleiderschrank und schaute hinein.
„Was arbeitet denn Ihre Mutter?“, fragte ich.
„Nüscht“, antwortete sie trocken. „Wo ist sie denn?“ Frau Schwan hob einen roten Morgenmantel auf, der auf dem Bett lag, betrachtete ihn, strich mit der Hand darüber. „Den hatte sie doch gerade noch an.“
Ich sagte nichts.
Frau Schwan ging an mir vorbei aus dem Schlafzimmer in die Küche, blickte sich um. Vielleicht hatte sie zu wenig getrunken, dachte ich, und bot ihr etwas zu trinken an.
„Wenn Sie wüssten, wie viel ich trinke“, antwortete sie barsch, lehnte mein Angebot ab. Sie drehte sich um, ging in Richtung Wohnzimmer. Ich nahm das Glas Orangensaft und folgte ihr.
Frau Schwan setzte sich auf den Sessel, beugte sich vorneüber und vergrub den Kopf in den Händen.
Unauffällig stellte ich das Glas mit dem Saft vor ihr auf den Tisch, holte die Süddeutsche und setzte mich auf den freien Sessel neben sie. Ich las ihr etwas vor.
„Was ist das denn?“, fragte sie und deutete auf die Rückseite der Zeitung. Ich drehte die Zeitung um. Da war ein Bild, das viele kleine Portraits von Menschen zeigte, wie in einer Ahnengalerie.
„In Libyen ist jeder ein Held oder tot“, las ich vor.
„Schlimm“, kommentierte Frau Schwan. „Können Sie das Radio …“, sagte sie dann, ohne den Satz zu beenden und deutete auf den Fernseher.
Ich suchte die Fernbedienung. Kam aber nicht damit zurecht, kannte mich mit der Tastatur nicht aus. Erst nach einer kurzen Weile fand ich die Taste zum Anschalten. Man sah einen Mann, der stumm redete. Im Hintergrund die Fieberkurven der Aktien. Der Ton war runtergedreht. Ich suchte nach der richtigen Taste, um lauter zu machen, und war damit einige Zeit beschäftigt. Wie gesagt, ich war unausgeschlafen und kämpfte mit der plötzlichen Temperaturschwankung, hatte leichte Kopfschmerzen, einen Druck auf der Stirn, weil ich zu viel geraucht hatte. Und Whiskey vertrug ich nicht.