Das Hotel unserer Träume - Åsa Hellberg - E-Book

Das Hotel unserer Träume E-Book

Åsa Hellberg

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Beschreibung

Spiegel-Bestsellerautorin Åsa Hellberg schreibt über die mutige Besitzerin eines schillernden Luxushotels Frankie liebt es, das edle Flanagans in der Familientradition weiterzuführen. Sie schafft es auch ohne ihre Schwester Billie, die sich auf ihre Karriere als Filmstar im fernen Hollywood konzentriert. Zusammen mit ihrer Familie und dem Team des Flanagans kann sie wahre Wunder vollbringen. Doch als ihre Ehe zerbricht, werden alte Wunden aufgerissen. Ihr Leben gerät aus den Fugen und die Existenz des Flanagans steht plötzlich auf dem Spiel. Ihr wird klar, dass sie das nicht allein schaffen kann.   Für Billie kommt der Hilferuf zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Sie hat gerade die Filmrolle bekommen, die alle Stars und Konkurrenten wollen, ist nach New York gezogen und wild verliebt. Die Welt steht ihr offen. Aber wie sagt man nein zur geliebten Schwester? Das fulminante Finale der Reihe!

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Das Hotel unserer Träume

Die Autorin

Åsa Hellberg wurde 1962 in Fjällbacka geboren. Heute lebt sie mit Sohn, Katze und ihrem Lebensgefährten in Stockholm. Sie arbeitete unter anderem als Flugbegleiterin, Coach und Dozentin, bevor sie mit dem Schreiben begann. Mit ihren Bestseller-Romanen schrieb sie sich auf Anhieb in die Herzen der Leserinnen.

Das Buch

Frankie liebt es, das edle Flanagans in der Familientradition weiterzuführen. Sie schafft es auch ohne ihre Schwester Billie, die sich auf ihre Karriere als Filmstar im fernen Hollywood konzentriert. Zusammen mit ihrer Familie und dem Team des Flanagans kann sie wahre Wunder vollbringen. Doch als ihre Ehe zerbricht, werden alte Wunden aufgerissen. Ihr Leben gerät aus den Fugen und die Existenz des Flanagans steht plötzlich auf dem Spiel. Ihr wird klar, dass sie das nicht allein schaffen kann.   Für Billie kommt der Hilferuf zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Sie hat gerade die Filmrolle bekommen, die alle Stars und Konkurrenten wollen, ist nach New York gezogen und wild verliebt. Die Welt steht ihr offen. Aber wie sagt man nein zur geliebten Schwester?

Åsa Hellberg

Das Hotel unserer Träume

Neuanfang im Flanagans

Aus dem Schwedischen von Leena Flegler und Nike Karen Müller

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Deutsche Erstausgabe bei UllsteinUllstein ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin April 2022 (1)

© 2021 Åsa Hellberg© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022

Die schwedische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel Nya tider på Flanagans bei Forum, Stockholm.Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © Nils MoernerE-Book powered by pepyrusISBN 978-3-8437-2655-9

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Was bisher geschah

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Epilog

Danksagung

Leseprobe: Josephine Baker und der Tanz des Lebens

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Was bisher geschah

Widmung

Lange habe ich darauf gewartet, diese Widmung zu formulieren, doch nun ist es so weit. Es gibt nur wenige Menschen, denen ich größere Bewunderung entgegenbringe.Dieses Buch ist für euch, für euch alleinerziehende Mütter.

Was bisher geschah

1949 erbt Linda Lansing aus dem schwedischen Fjällbacka, gerade einundzwanzig Jahre jung, von ihrem Vater das legendäre Hotel Flanagans in London. Ihre Cousins Laurence und Sebastian sowie deren Mutter Laura Lansing sehen dies gar nicht gern.

Zehn Jahre später, am Neujahrsabend, strandet Emma im Flanagans und sucht bei Linda Lansing eine Anstellung. Sie hat an ihrem achtzehnten Geburtstag ihrem Elternhaus auf dem Land den Rücken gekehrt und will eine Frau der modernen Zeiten werden: unabhängig, selbstständig und erfolgreich.

In der Hotelküche freundet sie sich mit Elinor an, die mit ihrem jamaikanischen Vater und ihrer schwedischen Mutter ganz anders aufgewachsen ist als Emma. Die beiden werden beste Freundinnen. Elinor will nicht zulassen, dass ihre Hautfarbe über ihre Zukunft entscheidet, aber ihre Umgebung sieht das anders. Sie träumt davon, eines Tages Managerin im Flanagans zu werden. Sie weiß, dass es utopisch ist, der Armut zu entfliehen und eine einflussreiche Frau zu werden, aber ohne diesen Traum würde sie nicht überleben.

Linda Lansing erkennt das Potenzial, das in den jungen Frauen steckt, und ermöglicht ihnen den Aufstieg in ihrem Hotel. Zur selben Zeit wirft ihr Cousin Sebastian ein Auge auf beide; Mitte der 1960er-Jahre ist Elinor schwanger, und Sebastian heiratet sie.

1983 leiten Elinor und Emma das Flanagans. Emma ist mit Alexander verheiratet und Elinor mit Sebastian. Jedes Paar hat eine Tochter: Frankie und Billie, die einander nicht ausstehen können.

Beide Familien haben zudem mehrere große Tragödien durchgemacht, die sie geprägt, aber auch Geheimnisse mit sich gebracht haben. Schließlich kommt ans Licht, was Emma und Elinor über all die Jahre zu verbergen versucht haben: Sowohl Billie als auch Frankie sind Töchter von Elinors Mann Sebastian.

1

Silvesterabend 1999

An einem Abend wie diesem war das Flanagans brechend voll, und Frankie brauchte einen kurzen Moment für sich, bevor sie um Mitternacht den traditionellen Neujahrstoast ausbringen würde. Sie konnte es immer noch nicht fassen, dass dies inzwischen ihre Aufgabe war. Noch vor gar nicht langer Zeit hatte sie über Dinge wie Verantwortung und Tradition nur gelacht. Zwischen der behütet aufgewachsenen, verwöhnten jungen Frau, die sie einst gewesen war, und derjenigen von heute lagen Welten. Das Leben hatte eine unerwartete Ernsthaftigkeit mit sich gebracht, da sich früher alles nur um sie selbst gedreht hatte.

Wie sehr ich das Gefühl von Freiheit manchmal vermisse, dachte sie und drückte die schwere Tür zum Innenhof auf. Kälte fuhr in ihr dünnes Abendkleid, und auf den Armen bekam sie eine Gänsehaut. Sie wollte nur kurz frische Luft schnappen und wieder hineingehen, um dann … Am Fuß der Treppe regte sich etwas und riss sie aus den Gedanken. Im Dunkeln war kaum etwas zu erkennen.

Als sich eine kleine Gestalt von der Treppenstufe erhob, dämmerte es Frankie, dass es sich um ein Kind handeln musste. Mitten in der Nacht, noch dazu am Silvesterabend? Ein kleiner Hotelgast, der nicht wieder ins Haus zurückgefunden hatte?

»Bleib stehen«, rief Frankie, als das Kind Anstalten machte, über den Hof zu flüchten.

Es hielt abrupt inne und drehte sich zu Frankie um. Im Schein des erleuchteten Hotels konnte sie sehen, dass es nur unzureichend bekleidet war. Hatte dieses Kind wirklich die Erlaubnis, nach draußen zu gehen? Eine solche Jacke hielt doch niemanden warm!

»Weißt du, wer ich bin?«, fragte Frankie.

Keine Antwort. Sie nickte in Richtung des großen, angestrahlten Backsteingebäudes. Ein Fenster stand offen, und der Lärm der Feierlichkeiten war bis draußen zu hören. In einer Nacht wie dieser explodierte das Hotel förmlich vor Licht, und nur im Hinterhof war die Beleuchtung vergleichsweise spärlich.

»Das Hotel gehört mir.« Sie versuchte, freundlich zu klingen, wollte lieber nicht einschüchternd wirken. »Willst du nicht reinkommen und dich ein bisschen aufwärmen?« Es war kurz vor Mitternacht, und ihre Gäste warteten, das Jahr 1999 tickte auf 2000 zu. Es war das größte Fest im Flanagans seit Jahren. Gino trat sicher schon nervös von einem Fuß auf den anderen, weil er nicht wusste, wo sie abgeblieben war. Aber sie konnte das arme Kerlchen unmöglich hier draußen in der Kälte sich selbst überlassen.

Als sie auch weiterhin keine Antwort erhielt, fuhr Frankie fort: »Wie heißt du überhaupt?«

»Little Charles.«

Sie blinzelte, um in der Dunkelheit besser sehen zu können.

»Mein Urgroßvater hat im Flanagans gearbeitet, bevor er starb. Sind Sie Miss Nolan?«

Frankie blieb der Mund offen stehen. »Du meinst Charles, unseren Charles?«

Der Junge wagte sich näher, schob seine Hand in die Tasche und reichte Frankie einen Umschlag.

»Er hat Ihnen einen Brief geschrieben«, sagte er.

Frankie nahm ihn entgegen und sagte ohne zu zögern: »Seine Familie ist meine Familie! Sag Frankie zu mir. Ich habe in den nächsten Stunden ziemlich viel zu tun, aber du kannst dich währenddessen in der Küche satt essen.« So dünn, wie der Knirps ist, braucht er ganz sicher eine Mahlzeit, schoss es Frankie durch den Kopf. »Komm.« Sie hielt die Tür für ihn auf. Wenn Little Charles nicht bald ins Warme käme, würde er sich noch den Tod holen.

Sie steckte den Umschlag in ihre Abendtasche. Den Brief würde sie lesen, wenn sie wieder Zeit hätte. Im Augenblick konnte sie sich unmöglich in Ruhe hinsetzen. Und sie wollte sich konzentrieren können, wenn sie las, was der treueste Diener des Hotels ihr geschrieben hatte.

Er hatte für sie alle gearbeitet: für Lindas Vater, Linda, für Frankies Mutter und Elinor und schließlich für Frankie. Als er ein paar Jahre zuvor gestorben war, hatte sein Tod tiefe Trauer und Bestürzung ausgelöst. Das Personal des Flanagans hatte Trauerflor getragen, und am Tag seiner Beerdigung war die Stimmung vollends am Boden gewesen. Wenn jemand das Flanagans je so geliebt hatte wie Frankie, dann Charles. Nun plötzlich seinem Urenkel gegenüberzustehen, der überdies vernachlässigt wirkte, erschütterte sie. Wie hatte es so weit kommen können?

Gino würde ausrasten, wenn sie noch ein Kind unter ihre Fittiche nähme – aber das war ihr gleichgültig. Niemand sagte Frankie Nolan, was sie zu tun und zu lassen hatte, nicht einmal ihr Mann – und erst recht nicht, wenn es um ein Kind ging und sich um einen von Charles’ Verwandten handelte.

Billie hätte das verstanden. Aber die war in Los Angeles bei einem Casting. Obwohl Frankie sich nach ihrer Schwester halb totsehnte, wusste sie, dass die Rolle, für die Billie vorsprach, ihr Leben verändern könnte. Heute Abend besuchte Billie eine Party, aber morgen sollte ein Treffen bei einem Filmproduzenten stattfinden: bei einem Mann, der Frankie von Anfang an unsympathisch gewesen war. Sie hatte bei Weitem zu viele Fotos von diesem Kerl gesehen, auf denen er mit dem Arm um die Schultern einer jungen Frau selbstgefällig in die Kamera gegrinst hatte. Aber es war nun mal seine Produktion. Wenn Billie von ihm auserwählt würde, dann wäre ihre Karriere gesichert.

Vor der Tür zu den Küchenräumen meinte sie zu Little Charles: »Hier geht es runter.« Sie streckte ihm ihre Hand entgegen. Ohne zu zögern ging er ihr hinterher und schob seine kleine, eiskalte Hand in ihre. Was für ein eigenartiges Kind.

Den Korridor hinunter erwiderte Frankie das Lächeln des Servicepersonals, das mit großen Platten an ihnen vorbeieilte, und hielt Little Charles fest an der Hand, damit er niemandem in die Quere kam. Frankie war ihren Angestellten, die bereit waren, an Silvester zu arbeiten, ungemein dankbar. Kein Londoner Hotel konnte mit dem Flanagans mithalten, und das war allein das Verdienst ihrer Mitarbeiter. Insgeheim befürchtete sie, dass der eine oder andere ihr und dem Hotel den Rücken kehren und zur Konkurrenz wechseln könnte. Wenn sie an ihr Personal dachte, ging ihr das Herz auf.

In der Küche legte sie ihre Hände auf die Schultern des Jungen. »Das ist Little Charles, und er braucht eine warme Mahlzeit«, sagte sie lächelnd zu Pierre, dem unangefochtenen Herrscher der Küche.

Pierre musterte den Kleinen vom Scheitel bis zur Sohle, als wollte er auf diese Weise beurteilen, welche Art Nahrung er brauchte.

»Spaghetti«, entschied er. »Ich glaube kaum, dass der Pimpf Foie gras mag, oder?«

Im hellen Küchenlicht sah Little Charles aus, als wäre er vielleicht sieben, acht Jahre alt. Wie konnte er da allein unterwegs sein? Soweit Frankie es einschätzen konnte, stammte er aus guten Verhältnissen. Sie würde später mit ihm sprechen, wenn die Gäste nach Hause gegangen wären und sie den Brief seines Urgroßvaters gelesen hätte.

»Kannst du dich um ihn kümmern?«, bat sie Pierre.

Er fing ihren Blick auf und erwiderte ihn etwas zu lange.

»Das weißt du doch«, sagte er schließlich. »Und … Chérie?«

»Ja?«

»Frohes neues Jahr!«

Frankie horchte in sich hinein, ob am ersten Morgen des neuen Jahrtausends irgendetwas anders war, aber es schien alles beim Alten zu sein. Der Glockenschlag um Mitternacht war ohne Überraschungen vorübergegangen, und die Feuerwerksraketen, die den Beginn des neuen Jahres begleitet hatten, waren vor dem Hotel wie immer mit größter Umsicht und Präzision von Andy gezündet worden, dem Allrounder im Flanagans, der am besten über alles Bescheid wusste. Hätte es zum Jahreswechsel ein Problem gegeben, hätte er es sofort in den Griff bekommen. Wo ist Andy?, lautete die wohl am häufigsten gestellte Frage im Hotel.

Nachdem Frankie ihren Platz auf der Treppe eingenommen hatte, um traditionsgemäß den Toast auszubringen, hatte Annika, Frankies engste Mitarbeiterin, den Arm um sie gelegt, sie auf beide Wangen geküsst und ihr mit Champagner zugeprostet. »Sollen wir nicht auch auf Billie anstoßen?«, hatte sie gefragt.

»Natürlich – und auf meine Mutter! Heute hätte sie Geburtstag«, hatte Frankie erwidert. Sie hatten die Gläser klirren lassen und, so laut sie konnten, gerufen: »Auf dich, Billie! Und auf dich, Emma!« Die Gäste hatten gelacht und ebenfalls ihre Gläser gehoben. Frankie hatte einen Schluck Zitronenlimonade getrunken und in die Runde genickt. Diese Silvesternacht würde keiner so bald vergessen.

Dennoch saß sie nun auf ihrer Bettkante und hatte das Gefühl, etwas vergessen zu haben; oder vielleicht hatte sie einfach zu wenig geschlafen? Sie warf einen Blick auf den Wecker. Halb acht. Eine halbe Stunde mehr hätte ihr gutgetan, aber sie wusste, dass sie nicht wieder einschlafen würde; ihr Rücken fühlte sich steif an, von ihrem Nacken ganz zu schweigen. Sie verzog das Gesicht und drehte den Kopf von links nach rechts und wieder zurück. Eine Massage wäre jetzt genau das Richtige. Nach der Büroschicht möglicherweise, falls einer der Masseure aus dem Flanagans-Fitnessbereich für sie Zeit hätte.

Sie trippelte auf Zehenspitzen aus ihrem Zimmer, überquerte das dunkel gebeizte Parkett im Wohnzimmer und schob erst die Tür des einen und dann die des anderen Schlafzimmers einen Spaltbreit auf. Sowohl Gino als auch ihr Bruder Nick schliefen noch, und so vorsichtig, wie sie die Türen geöffnet hatte, zog sie sie wieder hinter sich zu.

Auf dem Weg ins Büro hielt sie inne und fuhr mit ihren Händen über die weiß gestrichene Wand. Die umfangreichen Renovierungsarbeiten waren im Jahr zuvor abgeschlossen worden. Die dunklen Holzpaneele waren durch elfenbeinweiße Wände ersetzt worden, und es war genauso schön geworden, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie war an der Planung der Arbeiten minutiös beteiligt gewesen, hatte die neuen Farben für sämtliche Räume ausgewählt und war immer noch hochzufrieden mit dem Ergebnis. Die Zimmer waren mit neuen Möbeln bestückt worden, die klobigen Fernseher waren verschwunden, und Teppichboden war nur auf den Fluren und Treppen belassen worden.

In Lindas altem Club, den es nur wenige Jahre gegeben hatte, wurde inzwischen der köstlichste Lunch von ganz London serviert und von jungen, ernährungsbewussten Frauen geliebt. Pierre hatte mit der Einführung des neuen Trends, über den er anfangs nur den Kopf geschüttelt hatte, einen fantastischen Job gemacht: Sowie er erst einmal angefangen hatte, die neuen Menüs zu kreieren, hatte er sich zusehends dafür begeistert und sah es mittlerweile als seine persönliche Herausforderung an, die Gesundheitsbewussten in sein Restaurant zu locken: das »Apple Tree Garden«, wie sie es wegen der Bäume im kleinen Privatpark neben dem Hotel genannt hatten. Der Spitzname »das Apple« war im Handumdrehen etabliert gewesen, und dieser »Apfel« war inzwischen permanent ausgebucht. Vor dem Eingang zur Straße bildeten sich oft lange Schlangen. An kalten Tagen wurde heißer, alkoholfreier Most angeboten. Frankie wollte nicht, dass ihre Gäste froren, während sie auf einen Tisch warteten.

In Frankies zehn Jahren als Teilhaberin des Flanagans hatte sie mehr verändert, als ihre Mutter und Elinor es je getan hatten. Billie, die die andere Hälfte besaß, würde jederzeit heimkommen und ebenfalls einsteigen können, sofern ihre Filmkarriere beendet wäre; sie war immerhin neununddreißig und hatte nicht mehr allzu viele Jahre vor sich, um noch in Hollywood durchzustarten.

Als ihre Mutter und Elinor gefragt hatten, ob Frankie den Hotelbetrieb übernehmen und Teilhaberin werden wollte, hatte sie bereits seit Jahren im Hotel mitgearbeitet. Sie und Annika, Billies beste Freundin und Kommilitonin aus Uppsala, hatten ein ebenso unzertrennliches Duo geformt wie einst ihre Mutter und Elinor – nur mit weniger Problemen.

Frankie wurde ganz warm ums Herz, weil ihre Eltern sich neu ineinander verliebt hatten. Ihre Mutter hatte vor Glück gestrahlt, als sie seinen Antrag angenommen hatte. Er war auf die Knie gegangen – vor der kompletten Abendschicht im Bellemare in Calais –, und Frankie wusste noch genau, wie sie in jenem Moment gedacht hatte, diese Liebe würde tatsächlich alles überwinden, auch wenn die Zynikerin in ihr stets behauptete, so etwas sei blanker Unsinn.

Die Hochzeit war das Schönste, was Frankie je erlebt hatte. Pierre war Trauzeuge ihres Vaters gewesen und Frankie die Brautjungfer ihrer Mutter – und es war, als wäre die Stimmung im Raum auch auf sie übergesprungen: Sie und Pierre hatten eng miteinander getanzt, und wenn Frankie darauf gehört hätte, wonach sich ihr Körper sehnte, dann hätten sie sicher weit mehr getan als nur getanzt; aber sie hatte es nicht noch einmal gewagt, die Initiative zu ergreifen. Zu oft hatte er ihr zu verstehen gegeben, dass ihm in dieser Hinsicht nichts an ihr lag, und dass er sie auf der Tanzfläche eng an sich gedrückt hatte, hatte daran nichts geändert.

Vor der Bürotür lehnte Frankie sich an die Wand, schloss die Augen und atmete tief durch. Ihr waren sofort Tränen in die Augen getreten, als sie an ihre Mutter gedacht hatte, die so selbstlos gewesen war, das Flanagans abzugeben und zu ihrem Mann nach Calais zu ziehen, um dort mit ihm sein Restaurant zu führen. Sie hatte das Flanagans geliebt, aber Frankies Vater war ihr wichtiger gewesen.

Das Restaurant. Verflucht! Endlich war Frankie wieder eingefallen, was sie vergessen hatte. Eilig tupfte sie sich die Augen trocken und lief mit langen Schritten zum Personalaufzug, der sie hinunter in die Küche brachte. Verdammt, sie hatte den kleinen Charles in Pierres Küche zurückgelassen! Sie vertraute Pierre zwar voll und ganz, aber er hatte nun wirklich nicht um ein Kind an seiner Seite gebeten – erst recht nicht in der Silvesternacht, in der sie am allermeisten zu tun hatten … Wie konnte sie nur? Sie hatte nicht mal den Brief gelesen!

Statt auf dem Küchenstockwerk auszusteigen, drückte sie spontan die Fahrstuhltaste zu ihrer Wohnung. Sie musste erst in Erfahrung bringen, was Charles geschrieben hatte, bevor sie sich um den Kleinen kümmerte. Wo hatte sie ihre Abendtasche hingelegt? Dort drüben. Sie riss den Umschlag auf.

Liebe Frankie,wenn mein Urenkel Charles mit diesem Brief zu Ihnen gekommen ist, dann weil seine Mutter sich nicht mehr um ihn kümmern kann. Glauben Sie mir, wir alle haben versucht, sie gesund zu pflegen. Leider ist es uns nicht gelungen. Mein Sohn hat es irgendwann aufgegeben, aber ich habe zumindest versucht, Little Charles zu helfen. Er hat viel Zeit in meinem Haus verbracht, als seine Mutter nicht mehr in der Lage war, für ihn zu sorgen.

Aber er ist allein, Frankie, denn wenn Sie dies hier lesen, bin ich bereits weitergezogen, und er hat niemanden mehr, an den er sich noch wenden könnte.

Wenn Sie ihn nicht in Ihrer eigenen Familie aufnehmen können, würden Sie ihm eventuell dabei helfen, eine andere zu finden? Der Kleine ist ein höflicher, feiner Junge, der viel Liebeund Fürsorge braucht, damit es ihm nicht so ergeht wie seinen Eltern. Ich kenne niemand anderen, an den ich mich mit meinem Anliegen wenden könnte.

Sie haben ein großes Herz, das viel aushalten kann. Seit Ihrer Kindheit habe ich Ihren Weg durchs Leben verfolgt, habe mitgelitten angesichts Ihrer schweren Verluste, und ich denke, Sie verstehen ein einsames Kind wie Charles. Er braucht jemanden an seiner Seite, und Sie sind der Mensch, dem ich das größte Vertrauen entgegenbringe.

Mit herzlichen Grüßen

Charles

Mit klopfendem Herzen eilte Frankie in die Küche zurück, wo sie den Jungen zuletzt gesehen hatte, aber natürlich war er nicht da. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Dass er dort auf einem Stuhl sitzen und schlafen würde? Sie warf einen Blick in die Küche – von Pierre keine Spur. Er hatte in der vergangenen Nacht gearbeitet und lag bestimmt noch in seiner Personalwohnung im Bett. Ihn aufzuwecken wäre nicht besonders nett … Aber sie musste jetzt zuallererst an den Jungen denken.

Frankie lief an ein paar Mitarbeitern vorbei, die das Frühstück für die Hotelgäste zubereiteten. Rund um die Uhr setzten sich alle dafür ein, selbst den nichtigsten Bedürfnissen der Gäste nachzukommen, und ausgerechnet am Neujahrstag waren die Wünsche zahlreicher denn je: mehr Anfragen nach dem Zimmerservice, ein durchweg späteres Erscheinen beim Frühstück, wo mehr warme Speisen auf dem Buffet standen als sonst. Sie wünschte sich, sie hätte Zeit gehabt, um stehen zu bleiben und ein paar Worte mit ihren fleißigen Mitarbeitern zu wechseln, aber erst musste sie herausfinden, wie es Little Charles ergangen war. Er war gekommen, um sie um Hilfe zu bitten, und sie war nach der Feier völlig gedankenlos ins Bett gegangen. Das sagte vermutlich einiges über sie aus.

Leise klopfte sie an Pierres Zimmertür. Oh Gott, bitte lass keine Frau aufmachen!

»Oui?«

»Ich bin’s.«

Es klapperte auf der Innenseite, dann zog er die Tür auf, legte den Zeigefinger an die Lippen und winkte sie mit der anderen Hand herein.

Pierres Zimmer war legendenumwoben. Vierzig Jahre zuvor hatte Frankies Mutter es sich mit Elinor geteilt. Hier hatte Sebastian mit seinem Charme ihre Mutter verführt und sie geschwängert; in einem anderen Zimmer hatte er das Gleiche mit Elinor getan, und so war Billie entstanden.

Inzwischen wohnte Pierre dort, wo alles seinen Anfang genommen hatte. Pierre, dem Frankie erstmals in Calais im Restaurant ihres Vaters, dem Bellemare, begegnet war. Pierre, den sie bei eben jener ersten Begegnung leidenschaftlich gehasst hatte. Pierre, der einzige Mann, der sie jemals aus der Bahn geworfen hatte.

Bevor sie Pierre kennengelernt hatte, hatte sie jeden Mann um den Finger wickeln können, doch als Pierre sie nur angesehen hatte, war sie schlagartig verstummt, hatte einen besorgniserregend hohen Puls bekommen und Abertausend Schmetterlinge im Bauch gespürt. Sich ihm auf weniger als einen Meter zu nähern war für sie lebensgefährlich gewesen, also hatte sie sich von ihm ferngehalten, nachdem sie herausgefunden hatte, mit wie vielen Frauen er Umgang pflegte. Sie war eine Idiotin gewesen zu glauben, dass sie ihm etwas bedeutete. Für ihn war sie nichts weiter als die Tochter des Restaurantbesitzers. Wie sehr sie sich nach jenem Kuss zurücksehnte, den sie schlussendlich bekommen hatte … auch wenn sie nach so vielen Jahren nicht einmal darüber nachdenken wollte, wie sehr sie sich in ihrem Eifer dafür erniedrigt hatte. Sie hatte schamlos mit ihm geflirtet und war wie eine Katze um ihn herumgeschlichen. Und hatte zu guter Letzt ihren Willen bekommen, keine Frage. Was hätte der Arme auch tun sollen?

Der Kuss war mit Abstand das Elektrisierendste, was sie in ihrem dreiundzwanzigjährigen Leben je gespürt hatte – und zu diesem Zeitpunkt hatte sie schon so einiges ausprobiert. Sie konnte immer noch seine Hände auf ihrem Rücken spüren, als er sie an sich gedrückt hatte. Doch nach jener Abendschicht war es nicht so gelaufen, wie Frankie es sich ausgemalt hatte; statt da weiterzumachen, wo sie aufgehört hatten, hatte er seinen Arm um Nicole gelegt – eine falsche Schlange mit großen Brüsten, die Frankie noch nie hatte ausstehen können –, und Frankie hatte das Restaurant verlassen, ohne sich noch einmal umzusehen. Sie hatte sich geschworen, ihm nie wieder nahezukommen. Nur hatte sie sich nicht beherrschen können, und als sie ihn einmal im Lagerraum angetroffen hatte, hatte sie – von plötzlichem Selbstbewusstsein übermannt – ihn gepackt, geküsst und angefangen, sein Hemd aufzuknöpfen. Die Scham, die sie empfand, als er ihre Hände wegschob und murmelte: »Ich will das nicht«, war unbeschreiblich.

In der verbleibenden Zeit im Bellemare würdigte er sie keines Blickes mehr und schenkte seine ganze Aufmerksamkeit den anderen Mädchen des Personals. Als ihr Vater wenig später ein Fest arrangierte, um Pierres Verlobung mit Marie zu feiern, einer dunklen Schönheit, die zudem auch noch sympathisch war, kehrte Frankie Frankreich den Rücken, fuhr nach Hause zu ihrer Mutter und eröffnete ihr, sie wolle fortan alles über das Flanagans lernen. Ja, sie und Pierre hatten auf der Hochzeit ihrer Eltern eng miteinander getanzt, aber mehr Körperkontakt hatte es nie gegeben.

Nachdem er als Küchenchef im Flanagans angefangen hatte, war er schon bald genauso beliebt gewesen wie zuvor in Calais. Wenn er gewollt hätte, dann hätte er jeden Tag eine neue Frau kennenlernen können, denn die Verlobung mit Marie hatte nicht lange gehalten – und die darauffolgende ebenso wenig. Dass er Frauen derart verzauberte, war durchaus nachvollziehbar, immerhin war Frankie damals selbst in die Falle getappt. Pierre war attraktiv, ein hervorragender Küchenchef mit ruhigem, besonnenem Gemüt, und ohne ihn wäre sie absolut aufgeschmissen. Inzwischen waren sie gute Freunde … und daran, dass er sexy und vermutlich ein feuriger und zugleich einfühlsamer Liebhaber war, dachte sie überhaupt nicht mehr.

Die Küche war ein Bereich, um den sie sich nicht im Geringsten zu kümmern brauchte, und es war schön, dass sie sich auf jemanden wie ihn so uneingeschränkt verlassen konnte. Er verstand sie, erfasste mit einem einzigen Blick, was in ihr vorging. Wenn sie niedergeschlagen war, begriff ihr Mann überhaupt nichts, während Pierre es sofort registrierte und sich nach ihrem Befinden erkundigte. Aber so war das vielleicht mit guten männlichen Freunden: Sie glaubten eben nicht immer, dass sich alles nur um sie drehte.

»Suchst du den da?« Er deutete auf das Bett, in dem Little Charles tief und fest schlief. Frankie legte sich erleichtert die Hände auf die Brust und atmete geräuschvoll aus. Sie setzte sich auf die Bettkante und strich dem Jungen übers Haar.

»Danke«, flüsterte sie. »Zum Glück wollte er bei dir bleiben – trotz dieses grässlichen Schlafanzugs!« Der mit Kätzchen bedruckte Schlafanzug passte so gar nicht zu dem maskulinen Pierre. »Wann hast du den denn gekauft?«, fragte sie. »Oder vielleicht besser … warum?«

»War ein Geschenk«, murmelte er. »Normalerweise schlafe ich nackt.« Seine dunklen Augen funkelten.

»Jederzeit bereit?«

Wahrscheinlich hatte dieses Zimmer unzählige Besucherinnen gesehen. Es war nicht sonderlich schwer, sich vorzustellen, wie er ohne ein Stück Stoff am Leib aussah – und sie hatte es sich tatsächlich schon oft vorgestellt. Er hatte eine behaarte Brust, einen ungewöhnlich muskulösen Bauch für einen Koch, lange Beine, gut trainierte Oberarme und samtweiche Haut. Das wusste sie noch, weil sie einst die Arme um seinen Hals geschlungen hatte. Den Rest hatte sie sich zusammenfantasiert, indem sie ihn heimlich beobachtet hatte. Sie richtete ihren Blick auf das Kind im Bett.

Er wachte auf, sah Frankie auf der Bettkante sitzen und seufzte erleichtert.

»Hast du den Brief gelesen?«, fragte er. »Kann ich bei dir bleiben?«

2

Billie kickte die Schuhe von den Füßen. Ihre Suite im Luxushotel in Hollywood war nicht schöner geworden, seit sie sie Stunden zuvor verlassen hatte. Sie seufzte tief und ging ins Badezimmer. Es mochte ungerecht denjenigen gegenüber sein, die von einem so schicken Hotelzimmer nur träumen konnten, aber an Silvester sehnte sie sich mehr denn je nach England zurück, nach ihrer Heimat. Es gab eben nicht vieles, was sich mit dem Flanagans messen konnte. Ihr kleines Reich ein Stockwerk unter Frankie wartete zu Hause auf sie, und mit jedem Aufenthalt dort fiel es ihr schwerer, in die Vereinigten Staaten zurückzukehren. Aber ihre Karriere fand nun mal in Los Angeles statt, und es würde doch nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn sie nicht endlich eine Hauptrolle bekäme. Zu viele Jahre hatte sie schon auf diese Gelegenheit gewartet. Rolle um Rolle war an eine Konkurrentin gegangen, und Billie war stets die Zweitplatzierte gewesen. Sicher, sie hatte schon Filmrollen gehabt, aber nie die eine Hauptrolle, von der sie träumte.

Ihre Gedanken kehrten immer öfter nach London zurück, und wenn sie dieses anstehende Filmprojekt an Land ziehen könnte, würde ein Großteil der Dreharbeiten zu Hause stattfinden, sie könnte in ihrer eigenen Wohnung wohnen und Frankie und Annika treffen, wann immer sie nicht gerade drehen müsste. Bestimmt würden dann auch ihre Eltern aus Italien zurückkommen, und sie freute sich wahnsinnig darauf, die beiden wiederzusehen. Erst am Vortag hatten sie angerufen und ihr einen guten Rutsch gewünscht. Sie waren immer noch so unbekümmert und glücklich wie in den vergangenen Jahren. Kaum zu glauben, dass ihre Mutter das Flanagans überhaupt nicht vermisste, immerhin hatte sie so viele Jahre alles für das Hotel gegeben. Ihrem Vater bedeutete das Flanagans selbstverständlich überhaupt nichts. Er war einfach nur glücklich, so viel Zeit wie möglich mit Billies Mutter zu verbringen. Ihr Papilein … Früher ein wilder, inzwischen ein zufriedener Mann, der ein Nickerchen zu machen pflegte, seine Cholesterinwerte im Blick behielt und im selben Moment aufgehört hatte zu trinken, als Elinor ihre Krebsdiagnose erhielt. Siebzehn Jahre waren seitdem vergangen. Um ihre Eltern brauchte Billie sich wirklich keine Sorgen mehr zu machen.

Stattdessen dachte sie, wenn sie im Ausland war, meist über Frankie nach. Ihre Schwester schien stets den Eindruck erwecken zu wollen, es sei fabelhaft, das Hotel allein zu führen, aber dass damit harte Arbeit verbunden war, auch wenn Frankie Annika an ihrer Seite hatte, stand völlig außer Frage. Dass sie ihr dabei nicht helfen konnte, brach Billie fast das Herz, und sie war sich bewusst, dass es egoistisch war, dass ihre Schauspielkarriere für sie an erster Stelle stand; doch der Wunsch, sich zu beweisen, war seit ihrer Jugend ungebrochen, und ihr war, als könnte sie nie wirklich glücklich sein, ehe sie die Spitze erreicht hätte.

Sie hatte sich verändert, seit sie die Bühne für sich entdeckt hatte: Sie war nicht mehr die kleine, unsichere Billie – im Guten wie im Schlechten. Sicher, sie war selbstbewusster geworden, aber wenn sie ganz ehrlich war, dann ordnete sie ihrem Job alles unter. Sie gönnte sich keine Minute der Entspannung. Während andere in ihrem Alter Familie hatten, lag Billies Fokus stets auf der nächsten Rolle. Ich lasse niemanden mehr an mich heran, dachte sie. Tja, als hätte ich das je getan … Erst als ein Date ihr gesagt hatte, wie schwierig es sei, sie richtig kennenzulernen, hatte sie das begriffen. Sie verliebte sich nicht und brachte denjenigen, mit denen sie engeren Umgang pflegte, nicht sehr viel Wärme entgegen. Der Vorteil dabei war, dass ihr ein gebrochenes Herz erspart blieb – der Nachteil, dass sie von eben dieser Erfahrung in ihrem Beruf hätte profitieren können. Aber was sollte sie tun? Sie verabredete sich ja mit Männern, allerdings konnte sie für niemanden tiefere Gefühle entwickeln. Sie hatten Spaß zusammen, schliefen miteinander, aber dabei blieb es dann auch.

Sie war ihrem Vater wohl doch nicht so unähnlich, und das freute sie insgeheim. Loszulassen bedeutete für Billie, nicht permanent daran zu denken, dass der große Erfolg bisher ausgeblieben war und vielleicht auch nie kommen würde. Ein langer Abend mit Freunden wirkte sich bei ihr so gut wie nie auf den folgenden Tag aus, sie hatte nie einen Kater, richtete sich immer nach dem, was auf dem Arbeitsplan stand. In dieser Hinsicht war sie wie ihre Mutter. Aber war es das wirklich wert – wenn doch Rollen, die wie für sie gemacht waren, immer wieder mit Konkurrentinnen besetzt wurden?

Billie ließ ihr Kleid zu Boden gleiten, schminkte sich ab und entfernte die falschen Wimpern. Sie fröstelte. Womöglich sollte sie sich ein Bad einlassen, aber es war mitten in der Nacht, und so blieb es bei einer Dusche.

Es war ein Uhr, sie hatte die Party im Hotel um kurz nach Mitternacht verlassen, während die anderen Gäste immer noch Wangenküsschen austauschten und sich ein Frohes Neues Jahr wünschten. Doch sie würde morgen früh rausmüssen und wollte erholt und ausgeschlafen sein. Ihr Termin sollte gleich nach dem Frühstück stattfinden, und sie wollte natürlich gut vorbereitet sein.

»Ich traue diesem Mann nicht über den Weg«, hatte Frankie am Telefon gesagt, und zwar aus gutem Grund. Unzählige Gerüchte machten die Runde und warnten vor Julius Forsyth. Es hieß, er fordere Gegenleistungen von Schauspielerinnen ein, wenn sie in seinen Filmen mitspielen wollten. Und worum es dabei geht, kann man an einer Hand abzählen, dachte Billie, als sie sich den duftenden Seifenschaum abduschte. Trotzdem würde sie hingehen, und sie hatte sich geschworen, den Termin beim geringsten Annäherungsversuch zu beenden: sobald er mehr wollte, als nur über den Film zu reden. Allein bei dem Umstand, dass er sie am Neujahrstag in seinem Hotelzimmer treffen wollte, schrillten bei ihr sämtliche Alarmglocken. Sie wickelte sich in ein Handtuch und ließ sich auf den Toilettensitz sinken.

Sie wollte diese Rolle unbedingt. Sie war ihr wie auf den Leib geschneidert. Ihr potenzieller Gegenpart, der Spanier Luca Sanchez, hatte im vergangenen Jahr als erster Latino einen Oscar eingeheimst, und damit war sein Glück perfekt gewesen. Mit seinem tadellosen britischen Englisch und dem dunklen, lodernden Blick war er einfach einzigartig. Mit ihm zu spielen wäre ein wahr gewordener Traum. Ich muss diese Rolle bekommen, dachte sie. Ich muss einfach.

Die Nacht wurde unruhig. Billie hatte verdrängt, dass Hollywood sein gesamtes Jahresbudget verprasste, indem es ausnahmslos jedes Tier mit Feuerwerkskörpern erschreckte – aber das war noch nicht alles: Sie hatte Bedenken wegen des Treffens mit Julius Forsyth. Vielleicht war dies ihre letzte Chance in einer Branche, in der glatte Haut und pralle Brüste über alles gingen – und sie selbst wäre schließlich bald vierzig.

Billie hoffte, dass dies einer jener Termine würde, bei dem auch die Sekretärin des Produzenten anwesend wäre. Doch Gerüchten zufolge traf er sich mit Schauspielerinnen lieber allein. Sie hätte gern ihre Agentin Leanne bei sich gehabt, aber davon hatte er nichts hören wollen.

Leider gab es so einiges, was für Forsyth sprach: Sein Talent, stets das beste Drehbuch aus dem Stapel zu ziehen und die perfekte Besetzung für jede Rolle zu finden, war einmalig. Zahlreiche Oscar-Statuen bewiesen dies, und Billie tröstete sich damit, dass sie zumindest vorgewarnt war.

Doch wo würde für sie die Grenze verlaufen? Bei einem anzüglichen Kommentar? Oder musste er sie erst berühren, um zu weit zu gehen? Wenn er freundlich sein, aber seine Hand auf ihr Bein legen würde, wäre das noch akzeptabel?

Ihre Agentin hatte eine ausweichende Antwort gegeben: Es sei schwer, da zu etwas zu raten. Das war nun wirklich nicht sonderlich hilfreich. Ein solches Vorstellungsgespräch war eine heikle Situation – zumal Billie nicht wusste, ob sie sich gegen ihren potenziellen Arbeitgeber würde zur Wehr setzen müssen. Was, wenn Frankie ihre Köche bitten würde, vor Arbeitsantritt die Hüllen fallen zu lassen? Nur in der Filmbranche war so etwas Usus, und niemand schien dies als Problem zu betrachten. Mach dir nichts draus, hieß es da gern – als ginge es um jemanden, der nur ein wenig tollpatschig war. Aber all das hatte einen einzigen Grund: Der Mann machte richtig viel Geld. Mehr als alle anderen Filmproduzenten zusammen. In seine Projekte zu investieren war quasi risikofrei, denn wenn es ums Geschäftliche ging, kannte er kein Pardon, und in Hollywood machte Geld die Leute so high wie Kokain.

Billie hatte Frankie versprochen, sie vor ihrem Termin anzurufen und gleich danach wieder. Wenn sie es nicht täte, würde ihre Schwester sich in den nächstbesten Flieger nach L. A. setzen. Es war fast, als wollte Billie sie genau aus diesem Grund nicht anrufen.

»Bist du nervös?«, fragte Frankie am Telefon.

Billie stand in der Lobby des Beverly Hills Hotel, und das Herz schlug ihr bis zum Hals.

»Nein, keine Sorge«, antwortete sie, um ihre Schwester nicht zu beunruhigen. »Ich hab das Gefühl, ich hab alles im Griff.«

»Mach dir nichts vor«, sagte Frankie. »Ich kenne dich doch. Du bist das reinste Nervenbündel.«

»Warum fragst du dann?«, entgegnete Billie irritiert.

»Um dich aus der Reserve zu locken und dir richtig Feuer unterm Hintern zu machen. Sei knallhart. Und wenn er dir zu nahe kommt, dann reißt du dem Schwein den Schwanz ab, versprich mir das.«

»Ach, ich wünschte, du wärst hier«, sagte Billie.

»Das wäre ich auch gern. Aber es ist nun mal, wie es ist. Wie spät ist es bei dir, musst du schon los?«

»Nein, aber gleich. Erzähl mir von der Silvesterparty im Flanagans. Habe ich was verpasst?«

»Den Urenkel von Charles.«

»Was? Wen? Von unserem Charles?«

»Ja. Ein kleiner Junge. Ich hab ihn kurz vor Mitternacht im Hinterhof auf der Treppe entdeckt.«

»Machst du Witze?«

»Nein, er saß einfach da, als würde er darauf warten, dass es am nächsten Morgen wieder hell würde. Natürlich hab ich ihn mit reingenommen – und Pierre hat sich um ihn gekümmert. Das Jugendamt weiß von all dem noch nichts … Aber das ist eine lange Geschichte. Ich erzähle sie dir nach deinem Termin.«

»Der arme Kleine«, sagte Billie.

Es tat immer weh, von Kindern zu hören, mit denen es das Leben nicht allzu gut meinte. Ihre eigenen Eltern hatten sie immer verwöhnt, waren um sie bemüht und obendrein wohlhabend, sodass es Billie nie an etwas gefehlt hatte, ganz im Gegenteil, sie gehörte zu dem kleinen äußerst privilegierten Prozentsatz der Weltbevölkerung. In Hollywood war es zum Glück weder Vorteil noch Nachteil, aus der Oberschicht zu stammen, wie in England auch. Frankie hatte es auch gut gehabt, hatte rebellieren und sich selbst finden können. Trotzdem war es für sie härter gewesen. Sie hatte viele Konflikte austragen und Verluste durchleiden müssen. Die Menschen, die Frankie liebte, schloss sie ohne Wenn und Aber ins Herz, was nur verständlich war, wenn man ihre Geschichte kannte.

»Ja, manche Kinder müssen Schreckliches durchmachen«, pflichtete Frankie ihr bei.

»Gut, dass sie dich haben«, meinte Billie lächelnd, denn wenn es etwas gab, was ihre Schwester gut konnte, dann sich um Kinder zu kümmern.

»Wir werden sehen, was dabei herauskommt«, sagte Frankie. »Aber jetzt halte ich dich nicht länger auf.«

Billie hatte das bevorstehende Treffen für ein paar wenige Minuten verdrängen können, doch jetzt warf sie einen Blick auf die Uhr. »Verdammt, ich muss mich beeilen!«

»Dann lauf! Und ruf mich anschließend an!«

Julius Forsyth war allein. Schon beim Anblick seines Morgenmantels schwante Billie Übles. Forsyth war groß, fast einen Meter neunzig, und wenn er gewalttätig würde, hätte Billie gegen ihn keine Chance. Schwacher Alkoholdunst hing in der Suite. Der Filmproduzent setzte ein breites Grinsen auf und bleckte zwei blendend weiße Zahnreihen. Wer seinen Ruf nicht kannte, wäre wahrscheinlich von ihm geblendet gewesen; er war ein gut aussehender Mann.

Er deutete auf die Couch und bat sie, sich zu setzen. Er selbst nahm im Sessel gegenüber Platz und spreizte die Beine. Billie versuchte, nicht hinzusehen. Sie befürchtete, dass er unter seinem Mantel nichts trug. Eine Weile plauderten sie über die Silvesternacht, er erwähnte einige Berühmtheiten, mit denen er gefeiert hatte, und dann sah er ihr in die Augen.

»Billie Lansing«, sagte er gedehnt. »Du oder Halle Berry. Das weißt du, oder? Ich kann nicht zwei schwarze Frauen für ein und denselben Film besetzen. Und ihr seid beide ganz passable Schmuckstücke. Lass dich mal ansehen«, sagte er und krümmte einen sonnengebräunten Finger. »Zieh mal deine Jacke aus.«

Er war unangenehm direkt. Billie schüttelte den Kopf. »Nein, die lasse ich an«, antwortete sie mit bemüht fester Stimme.

»Das war keine Frage.«

»Aber das war meine Antwort.«

»Ah, von der Sorte bist du«, sagte er, als hätte er sie durchschaut. »Auf Krawall gebürstet. Soll das hier ein Spiel werden?« Er lehnte sich zurück und musterte sie herablassend, ehe er fortfuhr: »So etwas habe ich schon zigmal erlebt. Frauen, wie du eine bist – die sich erst zieren und dann, noch bevor das Treffen beendet ist, die Beine breit machen. Ich könnte jederzeit mit irgendwelchen Schauspielerinnen schlafen, wenn ich nichts anderes zu tun hätte.« Er taxierte sie, bis sein Blick an ihren Schuhen hängen blieb. »Kleine Füße, hohe Absätze. Das mag ich. Und das hast du genau gewusst, nicht wahr?«

Wie lange war sie schon in diesem Zimmer? Seit zehn Minuten? Er versuchte nicht einmal, seine Absichten zu verhehlen. Dieses Schwein musste dies alles den ganzen Morgen über geplant haben, wenn er so schnell die Karten offenlegte.

»Ich kann Ihnen versichern, dass ich kein Spielchen spiele. Wir wollten über Didriks Auge sprechen. Wie Sie wissen, bin ich an der Rolle der Ellen interessiert. Und das Drehbuch ist hervorragend«, sagte sie mit fester Stimme.

»Du oder Berry, das ist die Frage. Ihr seid beide gut, aber dein Name klingt irgendwie spritziger. Die Rolle ist anspruchsvoll. Kannst du entspannt mit Nacktszenen umgehen?«

Billie zuckte zusammen. Im Drehbuch hatte nirgends gestanden, dass sie sich ausziehen müsste. Was also meinte er?

»Reden wir über dasselbe Drehbuch?«, fragte sie skeptisch.

»Du meinst, dass darin keine Nacktszene erwähnt wird? Das ist Bedingung, das kann ich dir sagen. Eine schwarze Frau in einer Hauptrolle muss mehr Haut zeigen als eine weiße Frau, und das weißt du genau. Ich würde überdies gern sehen, dass ihr richtigen Sex hättet, aber das wäre wohl zu viel verlangt. Da würde die Filmzensurbehörde wahnsinnig werden.«

Er lachte, und seinem Mund entwich eine widerwärtige Alkoholfahne. Billie fühlte sich immer unwohler. Sollte sie einfach aufstehen und gehen? Was hätten andere Schauspielerinnen getan? Hätten sie seinen nächsten Schritt abgewartet oder sofort das Zimmer verlassen? Warum war sie überhaupt so verunsichert?

»Ich komme gern zum Vorsprechen«, sagte Billie, die wieder auf das Wesentliche zurückkommen wollte.

»Du weißt, du solltest dankbar dafür sein, dass ich dir überhaupt eine Chance gebe. Ein Vorsprechen ist das Mindeste, um die Rolle zu bekommen.«

»Und das Einzige, wozu ich bereit bin«, erwiderte sie. Am liebsten wäre sie aufgestanden und gegangen. Warum tat sie es nicht?

»Geh heute Abend mit mir aus. Ich will dich in einem engen, sexy Kleid sehen.«

Das Neujahrsfest der Branche. Die Party, zu der alle eingeladen werden wollten. Produzenten, Regisseure und Drehbuchautoren würden da sein. Eine großartige Chance, um Small Talk zu betreiben und Kontakte zu knüpfen. Aber an seiner Seite?

»Hören Sie schon auf«, sagte sie und war selbst überrascht, wie entschlossen sie plötzlich klang. »Können wir jetzt über die Rolle der Ellen sprechen?«

Er schlug seine Morgenrockschöße zurück und wies auf seinen Schritt. »Okay … Sagen wir, die Rolle gehört dir, wenn du …« Sein Grinsen war hämisch und schmutzig. »Deine Widerborstigkeit macht mich an. Gott, ich bin richtig scharf. Ich könnte …« Er hielt kurz inne, als überlegte er, wie er über Billie herfallen könnte. »Verdammt, du machst mich richtig heiß. Die Rolle gehört dir, du brauchst nur auf deine schwarzen Knie zu gehen und …«

Er war aufgestanden, noch ehe sie reagieren konnte. Auf einmal stand er direkt vor ihr, schob die Hüften vor und streckte ihr seinen Penis entgegen wie eine schussbereite Waffe.

Billie reagierte völlig intuitiv. Sein Schrei, als sie zupackte und umdrehte, war vermutlich im ganzen Hotel zu hören, und bevor er sie zu fassen bekam, war sie schon draußen auf dem Flur. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie konnte kaum atmen.

»Du bist fertig«, hörte sie ihn rufen, während sie den Flur hinunterrannte. »Hörst du? Du bist erledigt!«

3

Pierre musste die ganze Zeit an den Jungen denken. »Armes Kerlchen«, murmelte er, als er den Kühlraum betrat und die Regale durchsah, die bald mit frischen Waren aufgefüllt würden. Der Lastwagen war bereits unterwegs, und Pierre musste Platz schaffen. Er stellte Lebensmittel um, verschob und organisierte einiges neu, während er in Gedanken wiederholt zu dem Kind zurückkehrte. Der kleine Charles hatte einen Bärenhunger gehabt, und das wäre nicht weiter schlimm gewesen, wäre das Kind nicht spindeldürr. Sicher bekam es zu Hause nicht genug zu essen. Es hatte sich höflich bedankt, und als Frankie nicht mehr aufgetaucht war – Pierre hatte Charles in sein Zimmer verfrachtet, damit er schlafen konnte –, hatte er richtig glücklich ausgesehen. Er schien seine Eltern nicht zu vermissen. Das war alles in allem seltsam. Und traurig.

Hätte er den Jungen nach der Telefonnummer seiner Eltern fragen sollen, bevor er eingeschlafen war? Möglicherweise. Immerhin hatte er dafür gesorgt, dass sich Little Charles in der Dusche sauber geschrubbt hatte, und danach war Pierre in die Wäscherei gegangen und hatte nach vergessener Kinderkleidung gefragt. Im Nu hatte er den Kleinen von Kopf bis Fuß neu eingekleidet.

Als er ins Zimmer zurückgekehrt war, hatte sich der Junge in sein nasses Handtuch gewickelt auf die Bettdecke gelegt, und Pierre hatte die neuen Sachen fallen gelassen und war auf das Bett zugeeilt, um ihn unter die dicke Daunendecke zu stecken. Der Arme hatte mit den Zähnen geklappert, während Pierre ihm die langen Haare behutsam mit dem Handtuch getrocknet hatte. Das Bett war breit genug, sodass sie bequem Kopf an Fuß nebeneinanderliegen konnten, als es auch für Pierre Zeit wurde, schlafen zu gehen.

Ihm war klar gewesen, dass Frankie erst wieder am nächsten Morgen auftauchen würde. Sie hatte in einer Nacht wie dieser viel zu viel um die Ohren, und er hatte keine große Lust verspürt, nach ihr zu suchen. Bisweilen war es schön, Gäste zu treffen, aber nicht am Silvesterabend, wenn die meisten schlicht überdreht waren und gar nicht mehr aufhören wollten zu reden. Pierre war einfach nur froh gewesen, dass er hatte helfen können. Er hielt das Versprechen, das er Frankies Vater gegeben hatte, wollte es unter keinen Umständen brechen; seine Aufgabe bestand nun darin, auf Frankie aufzupassen.

Trotzdem passierte es immer wieder, dass sie ihn in den Wahnsinn trieb. Wenn ihre grünen Augen aufblitzten, entfachten sie in ihm ein Feuer – wie damals im Restaurant in Calais, wo sie sich immer wieder entzweit und sich zugleich zueinander hingezogen gefühlt hatten. Da hatte er mit dem Feuer gespielt und rief sich nun erneut ins Gedächtnis, wie schwierig es damals gewesen war, sich zu beherrschen.

Es hatte nicht lange gedauert, bis er festgestellt hatte, dass ihr Reiz auch nach seinem Arbeitsantritt im Flanagans nicht verflogen war, obwohl ihre erste Begegnung Jahre zurücklag. Wie oft hatte er dem Impuls widerstehen müssen, seine Hände in ihr langes Haar zu schieben, sie an sich zu ziehen und ihren Zorn mit einem Kuss zum Schweigen zu bringen? Als erwachsene Frau war sie verführerisch wie eh und je und ihr wilder Blick ebenso berauschend. Dass sie älter geworden war, änderte nichts daran, wer sie war. Er wusste, wer sie hinter der polierten Fassade wirklich war. Manchmal suchte er Streit mit ihr, nur um sicherzustellen, dass es die leidenschaftliche Frankie, die ihre Wut nicht einfach hinunterschlucken konnte, immer noch gab.

Aber damals, in Calais … Sie hatte ihn provoziert, sein Ego herausgefordert, und er hatte es geschehen lassen. Er war in die Falle getappt und hatte sie geküsst. Dieses eine Mal war genug gewesen, um zu begreifen, dass sich das nie wiederholen durfte. Sein junges Herz wäre daran zerbrochen. Er hatte im Lauf der Jahre viele Freundinnen gehabt, aber keine von ihnen hatte ihn so betört wie Frankie.

Er brauchte das Geräusch ihrer himmelhohen Absätze im Flur gar nicht erst zu hören, um zu wissen, dass sie kommen würde. Lange bevor der Duft ihres vertrauten, samtigen Parfüms seinen Weg zu ihm fand, spürte er ihre Anwesenheit, und wenn sie die Tür zur Küche aufstieß, war er nie überrascht. Er fragte sich oft, ob sie wusste, dass ihre Blicke ihm mehr sagten als Worte. Oder maß er diesen Blicken eine größere Bedeutung bei, als er sollte?

Er hatte nicht den Mut, ihr diese Frage zu stellen, denn mittlerweile waren sie gute Freunde. Sie trafen sich oft zum Lunch und lachten über dieselben Dinge. Dass die Chemie zwischen ihnen stimmte, war nicht von der Hand zu weisen, gleichzeitig fühlte sie sich ganz natürlich an und war gut zu handhaben. Sie zog ihn wegen seiner Affären auf, er neckte sie wegen der Wahl des Ehemannes. Allerdings gingen sie nie näher auf das Liebesleben des jeweils anderen ein, aber das war auch nicht nötig; außerdem hatten sie wichtigere Dinge zu besprechen.

Würde er einen Annäherungsversuch wagen, wenn sie Gino endlich in die Wüste schickte? In Pierres Augen war Frankies Mann ein verabscheuungswürdiger Blutsauger in rahmengenähten Schuhen, und auf seine Frage hatte er selbst keine Antwort – aber das spielte auch keine Rolle, denn im Moment war Frankie verheiratet, und Pierre hätte nicht gehört, dass sich in nächster Zeit daran etwas ändern würde.

Frankie würde nie herablassend über ihren Mann sprechen, aber Pierre war nicht blind. Der Italiener lebte deutlich über seine Verhältnisse. Soweit Pierre wusste, ließ Gino sich von seiner Frau aushalten, und wenn er mit seinen merkwürdigen Fragen zum Menü, die Pierre nie verstand, in die Küche kam, wollte er ihn am liebsten hinausschmeißen. Er tat es zwar nie und verlangte auch von seinen Mitarbeitern, dass sie Gino mit Respekt begegneten, aber tief im Innern wünschte er sich, dass Frankies Mann ausrutschte und sich auf dem blanken Küchenboden das Genick bräche.

Sie hätte ihn niemals heiraten dürfen. Aber wer war Pierre, darüber zu urteilen? Außerdem hatte Frankie Nolan noch nie auf andere gehört. Sie war immer ihren eigenen Weg gegangen. Und Pierre wusste nun mal, wie viel dieser Mann ihr bedeutete. Sie hatte mehr als ein Mal zum Ausdruck gebracht, wie sehr sie seine Loyalität und Freundschaft schätzte, wie wichtig er für das Hotel und die Qualität der Küche sei und dass es sie beruhige, wenn sie die Verantwortung ein Stück weit abgeben könne …

Am besten, er vergaß die Gefühle, die er insgeheim für Frankie hegte, denn sie drohten im Keim zu ersticken, was sich derzeit zwischen Penny und ihm anbahnte. Sie hatte eines Abends in der Küche des Flanagans verführerisch für ihn getanzt und ihm ihre Kurven präsentiert, und seither hatte sich ihr Verhältnis verändert; immer öfter fiel ihm auf, wie sehr er Penny vermisste, wenn sie freihatte. Penny war ein ganz anderer Typ Frau. Sie war zwar ebenfalls ehrgeizig, hatte jedoch nicht den gleichen unbeugsamen Stolz wie Frankie, die niemals klein beigab. Der Umgang mit Penny war unbeschwert und leicht. Sie beschleunigte zwar nicht seinen Puls – aber war das denn so wichtig?

Pierre warf einen Blick auf die große Uhr in der Küche. Bald würde das Küchenpersonal eintrudeln, vermutlich verkatert und schlecht gelaunt, was er nie akzeptieren würde, wenn nicht Neujahr wäre. Hauptsache, auch heute würde im Flanagans Essen serviert. Er hoffte, dass Penny vor Dienstbeginn eintreffen würde.

Ein paar Stunden später lief die Arbeit in der Küche auf Hochtouren. Das Servicepersonal reichte die Bestellungen herein, Vorspeisen, Hauptgerichte und Desserts verließen den Küchenpass in stetem Strom. Penny war perfekt organisiert, geistesgegenwärtig und arbeitete an seiner Seite, als wären sie seit Jahren ein eingespieltes Team.

»Du bist wirklich ein Ass, Penny«, sagte er anerkennend.

»Gut, weil ich eines Tages nämlich deinen Job übernehmen will«, entgegnete sie. »Aber bis dahin bist du mein bester Lehrmeister.«

Sie hatte wirklich einen gesunden Ehrgeiz. Restaurantküchen waren noch immer eine Männerdomäne, aber bevor Pierre den Job im Flanagans bekommen hatte, hatte es hier eine weibliche Küchenchefin gegeben, und auch Penny würde die Karriereleiter rasch nach oben steigen, wenn sie wollte. Das Flanagans setzte sich für Frauen ein und hatte dies seit jeher getan.

»Es gibt nicht gerade viele Lehrer, die man küssen kann«, wisperte sie, nachdem sie sich versichert hatte, dass niemand zuhörte.

»Da hast du recht. Aber es gibt keine Regeln, die das verbieten«, flüsterte er zurück.

»Hast du das etwa mit Frankie besprochen?«

Er zuckte leicht zusammen und hoffte, dass Penny nichts bemerkt hatte.

»Das war hier nie ein Problem. Adele, die ehemalige Küchenchefin, hat einen der Köche geheiratet, und jetzt haben sie drei Kinder zusammen.«

»Ehe und Kinder«, sagte Penny begeistert. »Das Flanagans klingt wirklich vielversprechend.«

Pierre tat, als wüsste er nicht, was sie meinte, denn an einer Hochzeit hatte er nicht das geringste Interesse. Er war dreiundvierzig Jahre alt, und wenn er eine Familie hätte gründen wollen, dann hätte er das in jüngeren Jahren getan. Er mochte Kinder, und sie schienen auch ihn zu mögen, aber er hatte für sich entschieden, dass er keine eigenen wollte. Hoffentlich wollte Penny sich trotzdem weiterhin mit ihm treffen. Sie wäre allerdings auch nicht sein erstes Date, das ihn zur Heirat zu bewegen versuchte. Doch nach drei Verlobungen war er vorsichtig geworden.

Penny riss ihn aus seinen Gedanken. »Woran denkst du?«

Es war zu früh, ihr die Wahrheit zu sagen. Ihre Liaison nahm gerade erst ihren Anfang.

»Die Chefin ist im Anmarsch«, sagte er stattdessen. Er hatte das Gefühl, dass Frankie jede Sekunde die Tür aufdrücken würde.

»Ich weiß wirklich nicht, wie du das jedes Mal ahnen kannst.« Penny rückte ihre Kochmütze zurecht und strich ihre Schürze glatt. »Ich finde sie irgendwie beängstigend.«

»Intuition. Wir arbeiten seit Jahren zusammen. Sie ist scharfzüngiger als die meisten, aber sie hat einen weichen Kern.« Er kannte ihre liebenswerten Seiten, sie kamen inzwischen immer öfter zum Vorschein. Frankie war erwachsen geworden. Und noch attraktiver, dachte er, als sich die Schwingtür öffnete und Frankie mit Little Charles an ihrer Seite eintrat. Gegen seinen Willen reagierte Pierre so, wie er es nie tat, wenn er Penny sah. Seine neue Freundin machte ihn glücklich, aber Frankie brachte etwas in ihm zum Klingen. Etwas Tieferes, was er immer noch nicht ganz verstand, was ihm aber wehtun würde, wenn er nicht aufpasste.

»Little Charles möchte dir etwas sagen, Pierre«, sagte Frankie und ließ den Blick über die Töpfe in der Küche schweifen. Sie atmete die köstlichen Düfte ein, während sie dem Jungen ihre Hände auf die Schultern legte.

Pierre war froh, den Jungen zu sehen. »Hallo, schön, dich wiederzusehen.« Die Kleider passten ihm tadellos, er sah richtig ordentlich aus.

»Hallo. Ich wollte mich nur für das Essen bedanken … und danke, dass ich bei Ihnen übernachten durfte«, sagte Little Charles schüchtern.

»Hat Spaß gemacht«, erwiderte Pierre. »Es kommt nicht oft vor, dass mich Kinder in der Küche besuchen.«

»Ich komme gern wieder«, gab er schnell zurück.

»Du bist herzlich willkommen.« Pierre meinte es ernst. Er mochte den kleinen Kerl und wünschte sich, er könnte mehr für ihn tun. Denn wo sollte er hin, was würde mit ihm geschehen?

»Gut, das war schon alles«, sagte Frankie. »Und … Penny?«

»Ja?«, antwortete sie zaghaft, als hätte sie Angst vor dem, was nun kommen würde.

»Sie können jetzt wieder Luft holen.« Frankie lächelte die jüngere Frau an. »Wie ich höre, haben Sie großes Talent. Sie haben also nichts von mir zu befürchten.«

Frankie entschied sich dagegen, Little Charles mit in die Wohnung hinaufzunehmen, für den Fall, dass Gino da wäre. Stattdessen bot sie ihm alles, worauf er Appetit hatte, im Teesalon an. Er aß, schloss die Augen und machte ein Gesicht, als wäre er im siebten Himmel. Er hatte einen Leckerbissen in jeder Hand und einen im Mund, als hätte er Angst, dass der Teller abserviert würde, bevor er fertig gegessen hätte.

Unterdessen sah Frankie ihn nachdenklich an. Es war schwer zu sagen, ob er an seinen Urgroßvater erinnerte, denn solange Frankie den gekannt hatte, war er runzlig und zerknittert gewesen; er hatte bis zu seinem Tod gearbeitet. Zuletzt nicht mehr in Vollzeit, aber doch hin und wieder. Und er hatte sich wegen seines Alters keine Sonderbehandlung gewünscht, sondern die Reisetaschen getragen und sich im Foyer um die Gäste gekümmert, so wie immer. Dass es jemandem aus seiner Familie nicht gut ging, war unbegreiflich. Niemand hatte sich mehr um die Familie gesorgt als Charles und seine Frau.

Aber Frankie wusste, wie schnell es damit vorbei sein und wie leicht man an falsche Freunde geraten konnte, die nicht gut für einen waren; und es war genauso einfach, an Drogen zu kommen, wie an ein Bier in einem Pub. War das mit den Eltern des Jungen geschehen? Ihr selbst war es jedenfalls so passiert. Sie war ihren Eltern entglitten, die viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen waren, und von einer ausgelassenen Party war es ein kurzer Weg bis zur Überdosis und einem Krankenhausaufenthalt gewesen.

Was sahen die anderen Gäste, wenn sie Frankie betrachteten? Vermutlich eine Mutter, die mit ihrem Sohn Tee trank; dank Pierre war Little Charles sauber und adrett gekleidet, und die langen, gelockten Haare reichten ihm bis auf die Schultern. Er war süß wie das Gebäck, das sie alle aßen.

»Wo wohnst du eigentlich?«, wollte Frankie wissen. Nicht dass sie ihn hätte ausfragen wollen – er sollte sich nur für eine Weile entspannen. Trotzdem schwirrten ihr Fragen im Kopf herum, auf die sie Antworten brauchte.