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London, Silvester 1982: Der glamouröse Jahreswechsel im Luxushotel Flanagans steht bevor, die prominenten Gäste des Hauses tummeln sich unter dem Schein der frischpolierten Kronleuchter. Seite an Seite haben die Besitzerinnen Elinor und Emma die Berühmtheit des Hotels auch im vergangenen Jahr steigern können. Doch der Erfolg nagt an den unzertrennlichen Freundinnen – waren die Opfer, die sie für ihren Traum gebracht haben, zu groß? Als eine bittere Wahrheit droht, ans Licht zu kommen, wird Elinors und Emmas Freundschaft auf die Probe gestellt: Können sie durch ihre Liebe zum Flanagans die Intrigen überwinden und einen Weg finden, ihre Freundschaft und das Hotel ihrer Träume zu retten?
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Wiedersehen im Flanagans.
ÅSA HELLBERG wurde 1962 in Fjällbacka geboren. Heute lebt sie mit Sohn, Katze und ihrem Lebensgefährten in Stockholm. Sie arbeitete unter anderem als Flugbegleiterin, Coach und Dozentin, bevor sie mit dem Schreiben begann. Mit ihren Romanen schrieb sie sich auf Anhieb in die Herzen der Leserinnen und stand wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste.Von Åsa Hellberg sind in unserem Hause bereits erschienen: Willkommen im FlanagansSommerfreundinnenHerzensschwesternSommerreiseMittsommerleuchten
Åsa Hellberg
Roman
Aus dem Schwedischen von Leena Flegler und Nike Karen Müller
Ullstein
Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de
Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage April 2021© 2020 Åsa Hellberg© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021Die schwedische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel Kvinnorna på Flanagans bei Forum, Stockholm.Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: Trevillion Images / © Elisabeth Ansley (Frau); bürosüd° GmbH (Schild, Gebäude, Landschaft)Autorenfoto: © Nils MoernerE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comISBN 978-3-8437-2542-2
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Die Autorin / Das Buch
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Impressum
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Danksagung
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Widmung
Dieses Buch ist allen gewidmet, die im Gesundheitswesen und in Pflegeberufen arbeiten, in Kindergärten und Schulen, allen Reinigungskräften, Verkäuferinnen und Verkäufern, Busfahrerinnen und Busfahrern und all denen, die nicht zu Hause bleiben können, weil wir euch da draußen brauchen.Tausend Dank!
Silvesterabend 1982
» … viel Glück«, sang Elinor und dirigierte beschwingt den Chor, der aus ihrer Tochter Billie und Emmas Tochter Frankie bestand. »Zum Geburtstag viel Glück!«
Billie stimmte ein, während Frankie schlechterer Laune denn je zu sein schien. »Viel Glück«, sagte sie tonlos und dann: »Sind wir jetzt fertig? Dann kann ich ja gehen.«
»Frankie«, zischte Elinor. »Deine Mutter hat heute Geburtstag, also sei so gut und benimm dich auch so, wie es sich für eine einundzwanzigjährige Frau gehört.«
Was war nur in das Mädchen gefahren?
Billie rannte zum Sofa, auf dem Emma saß.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, sagte sie, ließ sich neben ihr auf die Polster fallen und überreichte ihr Geschenk. »Und, was ist das für ein Gefühl, so alt zu sein?«, fragte sie rundheraus.
»Danke, eigentlich kein schlechtes«, entgegnete Emma und nahm einen Kaschmirschal aus der hübschen Schachtel. »Ach, wie schön! Das ist aber nett von dir«, sagte sie, beugte sich vor und gab Billie einen Kuss auf die Wange. »Den trage ich jetzt immer, wenn ich an kühlen Abenden noch im Büro sitze.«
Elinor sah, wie Emma ihrer Tochter einen Blick zuwarf und Frankie daraufhin demonstrativ langsam auf ihre Mutter zuging und ihr Geschenk überreichte.
»Alles Gute.«
»Danke, mein Schatz!« Emma machte es auf und hielt ein Buch in die Höhe. »So wirst du eine bessere Mutter.« Sie las den Titel laut vor. »Wie umsichtig von dir, Frankie. Ich freue mich wirklich auf die Lektüre«, kommentierte sie trocken.
Elinor bemerkte, dass Emma Anstalten machte, sich Frankie zu nähern, die jedoch rasch zurückwich.
»Ich muss los. Frohes neues Jahr und so weiter.«
»Wie meinst du das? Bist du bei der Silvesterfeier im Flanagans gar nicht dabei?«, fragte Emma.
Frankie schüttelte den Kopf.
»Eh, nee. Aber ich wünsche euch viel Spaß. Und Billie, zieh ein Volantkleid an. Das passt zu deinem krausen Haar.«
»Du hast doch auch krauses Haar.«
»Mhm, aber das ist eine Dauerwelle. Das ist ein Unterschied.«
Sie rauschte aus Emmas Suite hinaus und schlug die Tür fest hinter sich zu.
Emma schüttelte den Kopf.
»Es tut mir leid, dass sie immer so auf dir herumhackt, Billie«, sagte sie gedämpft.
»Das ist mir wirklich völlig egal. Sie ist eifersüchtig, das ist alles. Und die Sympathie beruht auf Gegenseitigkeit, also mit anderen Worten mögen wir uns nicht.«
Elinor und Emma tauschten einen Blick, wie sie ihn im Lauf der Jahre schon unzählige Male gewechselt hatten. Ihre gleichaltrigen Töchter hassten sich, und es gab nichts auf der Welt, was Emma und Elinor dagegen tun konnten.
Weil Frankie inzwischen nicht mehr übers Treppengeländer von der Wohnung ihrer Familie ganz oben im Flanagans hinunterrutschte, sauste sie stattdessen die Stufen runter. Ihre Mutter ermahnte sie stets, langsam zu gehen, um all das Schöne um sie herum zu genießen und dessen Bedeutung zu würdigen. Doch Frankie lief durch das Hotel, seit sie denken konnte, und sie kannte das Muster der Auslegeware bis ins Detail, wusste, wer auf den Porträts an den Wänden zu sehen war und dass die ehemalige Hotelbesitzerin Lena Lansing hieß, die Kronleuchter einmal im Jahr vor Weihnachten geputzt wurden, die Marmorböden robust waren; und das mussten sie auch sein in Anbetracht der zahllosen Schuhsohlenpaare, die Tag für Tag darüberliefen. Und natürlich wusste sie, dass ihre Mutter und Elinor sich in der Hierarchie nach oben gearbeitet hatten. All dies kannte sie in- und auswendig.
Sie musste sich beeilen, wenn sie den Fragen entkommen wollte, und ohne innezuhalten, rannte sie an Charles vorbei – er musste mittlerweile bestimmt schon hundert sein –, der einem Gast die Reisetasche abgenommen hatte. Sie winkte, er nickte zurück und zwinkerte verschwörerisch.
Dann schlich sie sich gebückt an der Rezeption vorbei, an der ihr Vater stand. Sie hatte beim besten Willen keine Lust, ihm Rede und Antwort zu stehen. Es würde einen Riesenaufstand geben, wenn ihm aufginge, dass ihr der Silvesterabend im Flanagans einerlei war, aber ihre Mutter würde das mit ihm ausdiskutieren. Sie würden sich auch heute Abend wieder streiten, wie an all den anderen Abenden, da konnten sie genauso gut auch über Frankie streiten. Es gab kein unglücklicheres Paar unter der Sonne.
Als sie hinaus in den Stadtteil Mayfair trat, zog sie ihre Handschuhe an und schlug den Fuchskragen hoch. Es war kalt draußen, aber nicht eiskalt, und zu Carols Wohnung in Covent Garden brauchte sie zu Fuß höchstens zwanzig Minuten. Es war herrlich, dem Flanagans zu entkommen.
Denn Frankie wusste ganz genau, wie der Abend dort verlaufen würde, zu oft war sie schon dabei gewesen. Zuerst würden ihre Eltern lächelnd nebeneinander auf der Treppe stehen, an deren Fuß sich Gäste und Pressefotografen versammelten, und Elinor mit ihrem Mann Sebastian und der gemeinsamen Tochter, der blöden Billie, würde sich danebenstellen. Ihr Vater würde Sebastian zunicken und »Sebastian« sagen, Sebastian würde den Blick erwidern, nicken und »Alexander« sagen. Dann würden sie in die Kameras lachen, und am folgenden Tag berichtete die Presse von der famosen Erfolgsgeschichte, die Emma und Elinor zusammen mit ihren Ehemännern geschrieben hatten.
In Wirklichkeit hassten Sebastian und ihr Vater sich jedoch. Das war zwar ein ziemlich starkes Wort, aber Frankie hatte immer schon gespürt, dass die beiden sich nicht mochten. Das Verhältnis zwischen ihnen war genauso frostig wie das zwischen Frankie und Billie. Wenn jemand nach dem Grund fragen würde, hätte Frankie keine Antwort darauf geben können. Manche Menschen konnten einfach nicht miteinander. Sowie die Fotografen ihre Bilder gemacht hätten, gingen Sebastian und ihr Vater ihrer Wege. Ihr Vater würde eine sauertöpfische Miene aufsetzen, und Sebastian ließe sich volllaufen. Schließlich war das nicht der erste Silvesterabend, den sie zusammen verbrachten.
Anschließend würden ihre Mutter, Elinor und Billie zu den Gästen gehen und sie begrüßen. Diana und Charles würden mit Sicherheit kommen. Und Elton. Ihrer Mutter war so was wichtig. Elinor und Billie auch. Sie liebten ihre Gäste, und die prominenten besonders. Wenn ihre Mutter Kim Wilde oder Bowie eingeladen hätte, hätte Frankie es sogar in Erwägung gezogen zu bleiben.
Die Kronleuchter waren nun wochenlang auf Hochglanz poliert worden und das Besteck ebenso. Alle Servicemitarbeiter hatten neue Hemden erhalten und waren angehalten, nur dann mit den Gästen zu sprechen, wenn diese das Wort an sie richteten. Die weiblichen Bedienungen mussten Hochsteckfrisuren tragen, und es durfte auf keinen Fall jemand mit zu kurz geschnittenen, unlackierten Fingernägeln darunter sein. Die Männer durften keinen Schnauzer tragen – es sei denn, sie sahen Tom Selleck auffallend ähnlich, was auf keinen von ihnen zutraf. Ihre Mutter inspizierte sie streng vor dem Eintreffen der Gäste. Total lächerlich. Aber so albern waren die Regeln im Flanagans.
Nachdem ihr Vater eine Runde gedreht hätte, um nachzusehen, ob alles seine Richtigkeit hatte, würde er sich zu ihrer Mutter gesellen, ihr den Arm um die Schultern legen und ihr einen Kuss auf die Wange geben. Als wenn nicht jeder bemerken würde, wie sie dabei zurückzuckte. Frankie konnte doch nicht die Einzige sein, die sah, dass ihr Vater ihre Mutter mehr liebte als umgekehrt. Die Eiskönigin, die sich nur um ihr Hotel kümmerte. Wie konnte man in so einen Menschen verliebt sein? Das war schlicht ein Ding der Unmöglichkeit. Aber ihr Vater war in sie verliebt gewesen – zumindest bis vor ein paar Jahren. Inzwischen tat er nur noch so, hauptsächlich wegen des Flanagans.
Sebastian schien der Einzige zu sein, dem das Hotel nicht heilig war. Aber das hing möglicherweise damit zusammen, dass er so viel trank. Er würde es vermutlich nicht einmal merken, wenn Frankies Eltern sich allmählich nach oben in ihre Wohnung zurückzögen, um den ersten Kardinalsstreit des Jahres vom Zaun zu brechen. Ob Elinor mit Sebastian glücklich war, war schwer zu sagen. Er war recht nett und witzig, aber er war ein Trinker, und das war bestimmt nicht lustig.
Frankies Eltern stritten stets um dasselbe: Ihr Vater behauptete, sie habe ein abnorm großes Bedürfnis, die Aufmerksamkeit anderer Männer auf sich zu ziehen, und ihre Mutter erwiderte, dem sei nicht so. Frankie fand, ihre Mutter biederte sich bei allen gleichermaßen an, aber was wusste sie schon. Einmal hatte sie gehört, wie ihre Großmutter ihre Mutter als zügellos bezeichnet hatte. Und vielleicht entsprach das der Wahrheit.
Jedenfalls würde es einfach wunderbar sein, den heutigen Abend ohne sie zu verbringen.
Frankie wollte bei Carol übernachten. Ihre Mutter würde durchdrehen, wenn sie wüsste, dass Frankie und Carol miteinander schliefen. Vielleicht kam auch Tom zur Party, dann wären sie schon drei, die sich dem Kokain und der Liebe hingaben. Wie auch immer, ihr stand ein denkwürdiger Silvesterabend bevor.
Frankie konsumierte Drogen nur in Maßen, sie wollte auf keinen Fall abhängig werden. Aber Kokain war manchmal unschlagbar. Wenn man es nahm, fühlte man sich unbesiegbar. Der Sex war unbeschreiblich heiß, und das Leben wurde irgendwie total klar. Frankie war weder in Carol noch in Tom verliebt, aber der Sex war großartig, und sie nahm bereits seit einigen Jahren die Pille, um dabei entspannen zu können. Ihre Mutter war mit achtzehn schwanger geworden. Bestimmt war sie deswegen so gefühlskalt. Sie war wohl der Meinung, Frankie hätte ihr Leben zerstört. Frankie war fast zweiundzwanzig und würde niemals Kinder bekommen. Man wiederholte schließlich nicht die Fehler seiner Eltern.
Frankie war bereits mit einigen Männern im Bett gewesen. Auf dem Piccadilly blieb sie kurz stehen und zählte nach. Dreiunddreißig? Waren es nicht mehr? Als sie zuletzt darüber nachgedacht hatte, und das war nur einen Monat her, war sie auf über dreißig Männer und elf Frauen gekommen. Obwohl es darauf ankam, wie man zählte, denn manchmal lag man in der Schlangengrube und hatte Sex mit allen.
Am Brunnen mit der geflügelten Statue war viel los. Frankie nickte ein paar Bekannten zu. Einer von ihnen hatte vor Kurzem noch gedealt und war verurteilt worden, hatte aber aus irgendeinem Grund seine Strafe nicht abgesessen. Gut gemacht. Sie lächelte ihm aufmunternd zu, ehe sie Richtung Trafalgar Square abbog.
Jede andere Mutter hätte reagiert, wenn ihre Tochter vollkommen dicht nach Hause gekommen wäre, aber Frankies Mutter war da anders. Sie seufzte nur, rückte sich das Schulterpolster zurecht und sah ihrer Tochter nie auch nur lang genug in die Augen, um deren große Pupillen und fahrige Bewegungen zu bemerken, die der Kokainkonsum mit sich brachte. Und ihr Vater war stets so beschäftigt damit, ihre Mutter anzustarren, dass auch er nichts sah. Insofern war es wenig riskant, in der Familie Nolan Drogen zu nehmen. Es kümmerte sowieso keinen.
Frankie klopfte an Carols Tür. Laute, fröhliche Stimmen drangen aus der Wohnung. Das Fest war bereits in vollem Gange. Tom kam auf sie zu und fiel ihr um den Hals, noch bevor sie ihren Pelz ablegen konnte, und ehe sie wusste, wie ihr geschah, hatte sie die erste Line geschnupft und fand sich zwischen den Partygästen wieder. Dieses Jahr würde einfach großartig enden.
»Sei doch so gut und mach die Tür zu.« Emma musterte sich im Ankleidespiegel in ihrer Wohnung im Flanagans. Das silberne Kleid schimmerte; es war nicht mehr neu, aber immer noch sehr schön. Sie würde Strassohrringe und eine kleine Clutch dazu tragen, mehr nicht. Den ganzen Abend in Stilettos war mörderisch, aber am Silvesterabend gab es keine Alternative.
Alexander zog den Reißverschluss langsam zu, dann küsste er ihren Nacken. Emma erschauderte. Wenn es wenigstens aus Leidenschaft wäre. »Nicht jetzt«, sagte sie und trat an ihren Schminktisch.
»Das hatte ich auch gar nicht erwartet«, entgegnete ihr Ehemann ruhig. »Bist du so weit?« Er knotete seine Krawatte.
»Gleich, es fehlen nur noch die Ohrringe.« Sie machte ihre Schmuckschatulle auf. »Ich muss aber noch kurz etwas im Büro regeln. Das dauert höchstens eine Viertelstunde. Nimm dir doch so lange einen Drink«, sagte sie mit einem Lächeln und befestigte den Ohrschmuck an den Ohrläppchen.
»Ich begleite dich.«
»Nein, nein, das ist nicht nötig. Ich klingle kurz durch, wenn ich fertig bin. Mach dir einen Drink«, schlug sie nochmals vor.
Ob er ihrem Vorschlag nachkam oder nicht, war ihr relativ egal. Sie brauchte ein paar Minuten für sich, bevor die Festivitäten begannen. Wenn sie erst einmal im Salon wäre, konnte sie erst weit nach Mitternacht wieder durchatmen, und bis dahin vergingen Stunden. An Frankie wollte Emma jetzt nicht denken, dennoch war sie diejenige, über die sie ständig grübelte. Würden sie je wieder zueinanderfinden? Sie waren sich früher so nah gewesen, und diese Nähe vermisste sie so sehr, dass es schmerzte. Aber was sollte sie tun?
Als hätte Alexander ihre Gedanken gelesen, fragte er: »Und unsere Tochter? Wo ist sie eigentlich?«
»Ich weiß es nicht«, gab Emma zurück. »Sie hat sich vorhin davongestohlen und wohl geglaubt, ich würde es nicht bemerken.«
»Ist sie heute Abend gar nicht bei uns?« Er warf Emma einen überraschten Blick zu.
Sie schüttelte langsam den Kopf. »Ich glaube nicht.«
Zum ersten Mal würden sie ohne Frankie das neue Jahr begrüßen.
Billie trat aus ihrem Zimmer in dem großen Haus in Belgravia und traf in der Diele auf ihren Vater.
»Wie hübsch du bist«, sagte Sebastian aufrichtig und lächelte. »Wo ist denn deine Mama?«
»Hier bin ich«, rief Elinor und erschien in der Schlafzimmertür.
Er stieß einen Pfiff aus.
»Also bitte, Papa«, sagte Billie. »Gehen wir?«
Das Etuikleid folgte jeder Kurve des Körpers ihrer Mutter, und ihre braune Haut glänzte von irgendeiner Lotion, mit der sie sich eingecremt hatte. Billie kam sich blöd vor neben ihren viel zu schönen Eltern. Ihre Hautfarbe war bedeutend heller als die ihrer Mutter, das Blut zu vieler kreideweißer Menschen rann durch ihre Adern. Ihre Mutter war die Ältere von ihnen beiden und trotzdem hübscher, das ging doch nicht mit rechten Dingen zu. Billies Kleid machte die Sache nicht besser. Hätte nicht eigentlich sie das Etuikleid tragen sollen?
Sebastian bot ihnen jeweils einen Arm, als sie den Korridor bis zur Treppe entlangschritten.
Billie fand es unerträglich, dass Frankie sich so sehr losgelöst hatte. Sie pfiff einfach auf die Silvesterfeier im Flanagans. Sie selbst wäre nie auf den Gedanken gekommen zu sagen, dass sie nicht mit dabei sein wollte. Bald würde sie wie immer zwischen ihren Eltern auf der berühmten Treppe stehen und sich wie ein Kind fühlen, obwohl sie fast zweiundzwanzig war. Als ihre Mutter so alt gewesen war wie sie, war sie die erste schwarze Chefin im Flanagans gewesen, hatte ihren Vater geheiratet und eine Familie gegründet.
Und was hatte Billie bislang aus ihrem Leben gemacht? Nichts. Sie brauchte nicht zu arbeiten; wenn sie Geld wollte, fragte sie ihren Vater, wenn ihre Mutter nichts davon mitbekam. Zwar besuchte sie das eine oder andere Seminar und jobbte im Hotel, aber sie tat nicht wirklich etwas.
Frankie hingegen benahm sich wie eine Schlampe, sie trank, konsumierte Drogen und verschwendete ihre Jugend. Sie machte auch nichts Sinnvolleres als Billie. Frankie sah gut aus, war blitzgescheit und schlagfertig, und während sie die Schule mit Leichtigkeit absolviert hatte – mit hervorragenden Noten obendrein, obwohl sie schnippisch gewesen war und sogar einen Verweis bekommen hatte –, hatte Billie hart für ihre Leistungen arbeiten müssen, die trotz allem schlechter gewesen waren als Frankies. Das war schrecklich ungerecht. Billie war immer nur brav gewesen, und deswegen trug sie nun ein unsexy Kleid, in dem sie aussah wie vierzehn.
1983, das ist mein Jahr, dachte sie im Auto, das zum Flanagans fuhr. Euch werd ich’s zeigen.
Nachdem ihre Ehemänner und Billie sie nach den üblichen Familienfotos auf der Treppe sich selbst überlassen hatten, gesellte Elinor sich zu Emma. Jetzt sollten nur noch die Hotelbesitzerinnen fotografiert werden.
»Ich glaube, Sebastian hat wieder eine Affäre«, flüsterte sie Emma ins Ohr.
»Oh nein! Wie kommst du darauf?«
»Ich weiß nicht, es ist nur so ein Gefühl.« Sie lächelte steif und winkte jemandem zu, den sie kannte, während sie weiterflüsterte: »Was würdest du machen, wenn Alexander eine Affäre hätte?«
Emma zuckte mit den Schultern. »Ich wünschte mir fast, dass Alexander eine Geliebte hätte. Ich habe ihn nur wegen Frankie geheiratet. Aber das weißt du ja.«
»Ja. Aber ich weiß auch, dass er dir im Lauf der Jahre immer mehr bedeutet hat.« Elinor grüßte einen anderen Bekannten, der am Fuß der Treppe stand. Die Fotografen liebten das, und unter dem Blitzlichtgewitter wirbelten die anderen Gäste in Festtagskleidern an ihnen vorbei.
»Was würdest du denn machen, wenn er wieder untreu wäre?«, fragte Emma.
Sebastians Affären setzten Elinor hart zu. Sie konnte gar nicht mehr zählen, wie oft er sie schon verletzt hatte. Die vergangenen zehn Jahre waren nicht leicht gewesen. »Ich weiß es nicht«, flüsterte sie.
»Liebst du ihn immer noch?«, wollte Emma wissen.
Was sollte Elinor darauf antworten? So schwer es inzwischen auch war, sie konnte sich ein Leben ohne ihre Familie nicht vorstellen. Sie mussten auch dieses Tief überwinden.
»Ja, schon, aber ist eine Ehe nicht viel mehr als nur Liebe?«, entgegnete sie. »Ich habe immer gedacht, dass eine Ehe viel größer wäre und eine solche Verbindung so viel mehr beinhalten würde, was nichts mit Liebe zu tun hat. Wir haben uns versprochen, in guten wie in schlechten Tagen füreinander da zu sein. Wir sind eine Familie. Und ich liebe meine Familie.«
»In meinen Augen hast du alles. Einen Mann, den du liebst, eine wunderbare Tochter, mit der du gut auskommst, und einen Job, der dich glücklich macht. Außerdem bist du gesund.« Emma lächelte über das Treppengeländer hinweg in eine Kameralinse, ehe sie sich wieder umwandte.
Elinor lachte auf. »Du hast ja recht, ich habe alles.« Dabei hatte sie einen Kloß im Hals. Denn das bedeutet auch, dass ich viel zu verlieren habe, dachte sie. Dann stellte sie die gleiche Frage wie jedes Jahr: »Was wünschst du dir für das neue Jahr?«
»Dass Frankie und ich uns wieder näherkommen«, sagte Emma, ohne zu zögern. »Und du?«
»Dass meine Ehe 1983 überlebt.«
Nach einem kurzen Nicken und einem Lächeln, das ihre tiefe Freundschaft und das gegenseitige absolute Vertrauen zum Ausdruck brachte, schritten sie die Treppe hinunter und mischten sich unter die Silvestergäste des Flanagans.
Der Kloß in Elinors Hals würde sicher auch dieses Mal wieder verschwinden.
Am Neujahrstag kam Frankie nach Hause und packte zwei große Reisetaschen.
»Schönen Dank für die Jahre hier, aber jetzt ziehe ich aus.« Rebellisch sah sie Emma ins Gesicht.
Emma überlief es eiskalt. Sie hätte Frankie am liebsten an sich gerissen und Nein gerufen, nicht jetzt, nicht ausgerechnet jetzt, wo wir uns so fremd geworden sind. Aber sie sprach es nicht aus.
»Was? Warum denn? Und so plötzlich – wo willst du denn hin? Ich will nicht, dass du ausziehst.«
»Ich gehe zu Carol, ihre Nummer liegt auf dem Küchentisch. Sonst noch was?« Frankies Ton war gewohnt knapp und abweisend. Daran würde Emma sich nie gewöhnen. Sie versuchte, nicht zu zeigen, wie traurig Frankies Entschluss sie machte. Sie selbst hatte ihrem Elternhaus mit achtzehn den Rücken gekehrt, wer war sie also, über Frankie zu urteilen, die mehrere Jahre älter war als sie damals.
»Bitte, liebe Frankie, können wir nicht wenigstens darüber reden? Willst du arbeiten? Studieren? Brauchst du einen Job im Hotel? Wer ist denn diese Carol? Komm, wir frühstücken erst mal zusammen, danach kannst du immer noch fahren. Ich lasse dir einen Wagen kommen. Charles kann dich fahren.«
Sie warf Frankie einen flehenden Blick zu.
Frankie schien kurz zu zögern, doch dann griff sie nach ihren Taschen. »Sag Papa, dass ich ihn anrufe.« Dann war sie weg.
Was sollte Emma tun, um ihre Tochter aufzuhalten? Sie könnte ebenso streng und eisern sein, wie ihre eigene Mutter es gewesen war, aber sie wusste ja, wohin das geführt hatte. Emma hatte ihre Tochter nie einengen, sondern ihr alle Freiheiten lassen wollen. Doch inzwischen verzweifelte sie, weil sich Frankies Verhalten in keiner Weise zu bessern schien. Sie war permanent wütend. Nicht nur auf Emma, auch Alexander und Billie bekamen ihr Fett weg. Die Einzige, mit der sie klarzukommen schien, war Elinor. Sebastian war Luft für sie. »Der Schluckspecht von Belgravia«, hatte sie ihn kürzlich genannt, und Alexander war in Gelächter ausgebrochen, als hätte sie etwas Lustiges gesagt. Doch Emma war eingeschritten. Es gab Grenzen, und sie erlaubte ihrer Tochter nicht, andere Menschen zu beleidigen. Sebastian am allerwenigsten.
Als Alexander sich an den Frühstückstisch setzte, schenkte Emma Tee ein und hielt ihm den Teller mit Scones hin.
»War das Frankie, die die Tür so zugeknallt hat?«, fragte er.
Emma nickte.
»Will sie nichts essen?«
»Sie war kurz hier und hat auf dem Absatz wieder kehrtgemacht«, erklärte Emma. »Offenbar will sie bei ihrer Freundin Carol in Covent Garden einziehen.«
Sie nippte an dem heißen Tee, während sie mit leerem Blick die Tischplatte fixierte. War das die Strafe, weil sie damals kein Kind gewollt hatte? Die Liebe loderte in ihrer Brust ebenso stark wie einst, trotzdem war sie einmal kurz davor gewesen, ihre Tochter wegzugeben. Ahnte Frankie das? Waren Bruchstücke der Wahrheit zu ihr durchgedrungen, obwohl Emma und Alexander beschlossen hatten, ihr nie davon zu erzählen? Nur Emma allein kannte die ganze Wahrheit, und die würde sie mit ins Grab nehmen.
»Emma?«
Sie hob den Blick. »Ja?«
»Du warst in Gedanken.«
Sie nickte. »Ich mache mir Sorgen um Frankie«, sagte sie matt. »Sie zieht sich immer mehr zurück. Ich weiß nicht, was ich dagegen tun soll.«
Der nächtliche Streit war vorüber, wie jedes Jahr um diese Zeit. Beide waren müde, und keiner von ihnen wollte dort anknüpfen, wo sie vor ein paar Stunden aufgehört hatten. Alexanders Vorwürfe, sie würde sich nicht um ihn kümmern und keinen Sex mit ihm wollen, während sie kein Problem damit zu haben schien, mit allen anderen Männern zu flirten, waren ohnehin stets die gleichen.
»Noch Tee?«, fragte er.
»Danke«, sagte sie lächelnd.
»Wenn Frankie jetzt ausgezogen ist, dann gehe ich auch«, sagte er ruhig und schenkte ihr Tee ein. »Du solltest einen Nachfolger für meine Stelle als Rezeptionschef finden. Ich nehme an, wir sind uns einig, dass unsere Ehe am Ende ist.«
Sie rang nach Worten. Müsste sie jetzt nicht sagen, dass sie anderer Meinung sei? Dass sie ihrer Ehe noch eine Chance geben sollten? Vermutlich würde er noch eine Weile an ihrer Seite bleiben, wenn sie ihn ins Schlafzimmer ziehen und ihm das geben würde, wonach er sich sehnte. Aber dann müsste sie das regelmäßig machen, und das würde sie nicht über sich bringen. Schon seit Langem hatte sie keine Lust mehr. Das lag nicht an ihm und auch nicht an ihr. Es war einfach so.
»Hast du gar nichts zu sagen nach all den Jahren, in denen ich dir immer alles recht gemacht habe?« Er sagte es so, als wollte er, dass sie protestierte.
Emma schob ihren Stuhl zurück und stand auf, während sie sich mit der Leinenserviette den Mund abtupfte. Dann legte sie die Serviette auf den Tisch.
»Nein, ich habe nichts zu sagen.« Sie wandte ihm den Rücken zu und ging. Ein neuer Arbeitstag stand bevor.
Als Emma das Büro betrat, stellte sie zu ihrer Verwunderung fest, dass Elinor schon an ihrem Schreibtisch saß.
»Guten Morgen! Ich weiß, eigentlich habe ich heute frei, aber ich wollte trotzdem schnell schauen, ob alles in Ordnung ist«, sagte Elinor. Ihr Blazer hatte die moderne breitere Schulterpartie, die ihr noch mehr Ausstrahlung verlieh.
»Du weißt schon, dass du ein Kontrollfreak bist?«, kommentierte Emma lachend. Sie war froh, dass ihre beste Freundin und Geschäftspartnerin da war. Sie brauchte jemanden, dem sie ihr Herz ausschütten konnte, und es gab keine bessere Gesprächspartnerin als Elinor.
Elinor nickte in Richtung Telefon. »Ich soll dich von Linda grüßen. Sie und Robert kommen im Frühling zu Besuch.«
Emma sah zu Lindas Porträt an der Wand, wie immer, wenn das Gespräch auf sie kam. Und das war oft der Fall. Ihre Mentorin und ehemalige Hotelbesitzerin war auf diese Weise stets anwesend, und Emma und Elinor sahen Lindas seltenen Besuchen immer voller Vorfreude entgegen.
»Ich verehre Linda«, sagte Emma mit einem Lächeln und ging auf Elinor zu. »Ich kann noch so viel von ihr lernen. Ich frage mich oft, wenn ich ein Problem habe, was sie an meiner Stelle tun würde.«
»So viele Probleme haben wir doch gar nicht«, wandte Elinor ein. »Wir haben übrigens gestern unseren Rekord getoppt.«
»Ja, das Flanagans läuft gut«, meinte Emma. »Aber mein Mann hat heute Morgen beschlossen, mich zu verlassen. Und meine Tochter genauso. Sie ist zu ihrer Freundin Carol gezogen. Wo Alexander abbleiben will, weiß ich nicht.« Sie zuckte ratlos mit den Schultern.
Elinor ließ ihren Stift fallen.
»Aber, Emma, Liebes!« Sie bedachte ihre Freundin mit einem besorgten Blick.
»Jetzt stellt sich also die Frage, ob ich versuche, sie zurückzuholen, oder mich in die Arbeit stürze.«
»Frankie kannst du nicht loslassen, so viel ist klar. Aber willst du Alexander wirklich aufhalten?«
Emma schüttelte den Kopf. »Nein, eigentlich nicht. Aber solange wir Freunde sind, ist zwischen uns ja alles in Ordnung.«
»Willst du das denn so haben?«
Nein, ich will deinen Mann. Ich habe immer schon deinen Mann gewollt, schoss es Emma durch den Kopf, als sie sich an ihre Seite des Schreibtisches setzte. Schnell griff sie zu einem Bericht, der vor ihr lag.
»Willst du einen guten Rat?«, fragte Elinor.
Emma nickte hinter dem Ausdruck, bis die Schamesröte verblichen war, und ließ die Unterlagen wieder auf den Schreibtisch sinken.
»Lass sie ziehen.«
Elinor musterte Emma. Sie litt mit ihrer besten Freundin. Emma sah aus wie ein Engel, allerdings war sie davon weit entfernt. Aber wer war schon perfekt? Elinor lächelte in sich hinein. Emma hatte viele Eigenschaften, die sie nicht nach außen zeigte. Sie hatte das größte Herz, aber dafür hatten ihr Mann und ihre Tochter keinen Blick. Sie sahen nur den Ehrgeiz – die Emma, die über Leichen ging, um ihr Ziel zu erreichen. Eine Eigenschaft, die für das Hotel unschätzbar, im Privaten allerdings weniger geeignet war.
Seit 1960 waren sie beste Freundinnen. Emma hatte Elinor mit ihrem sprudelnden Charme, ihrem Scharfsinn und ihrer Großzügigkeit sofort für sich eingenommen. Immer wieder hatte sie Elinor unterstützt, Stellung bezogen und bewiesen, dass es sie kein bisschen kümmerte, dass Elinor schwarz war. Damals hatte das noch eine andere Bedeutung gehabt als heute, und es war gut gewesen, eine Freundin wie Emma zu haben.
Als sie beide Anfang 1962 als frischgebackene Mütter ins Flanagans zurückgekehrt waren, hatten Elinor und Emma an ihre Freundschaft angeknüpft. In den ersten Jahren hatten ihre Töchter fröhlich miteinander gespielt, doch dann schien es, als wäre irgendetwas passiert, und die Mädchen schrien Zeter und Mordio, sowie sie aufeinandertrafen. Frankie biss, Billie zog Frankie an den Haaren. Sie waren gleichermaßen schuldig an jedem Streit. Keine gab je nach, und den Traum, ihre Töchter eines Tages in ihre Fußstapfen treten zu sehen, um im Hotel zu arbeiten, mussten Emma und Elinor bald aufgeben.
Alexander und Sebastian waren sich auch nicht grün. Sie musterten einander verhalten und versuchten, sich aus dem Weg zu gehen. Manchmal kamen sie nicht drum herum, wie gestern bei der traditionellen Silvesterfeier im Flanagans, doch ansonsten mieden sie einander, so gut es ging. Sie waren so verschieden, wie zwei Männer nur sein konnten.
»Lass sie ziehen«, sagte Elinor noch einmal. »Aber melde dich gelegentlich bei Frankie, egal ob sie das will oder nicht. Du hast doch die Telefonnummer von dieser Carol?«
»Ja«, gab Emma tonlos zurück.
»Und wann geht Alexander?«
»Ich habe ihn nicht gefragt.«
»Er kommt schon zurecht, schließlich ist er erwachsen«, sagte Elinor, gleichzeitig verspürte sie einen Stich. Sie mochte Alexander wirklich sehr, und sie konnte ihn sogar verstehen. Es war sicher nicht leicht, mit jemandem zusammenzuleben, der einem immer wieder das Herz brach. Das wusste sie aus eigener Erfahrung. »Soll ich heute bei dir bleiben?«
»Nein, ich denke, du solltest Zeit mit deiner Familie verbringen«, sagte Emma.
»Sebastian schläft fast den ganzen Tag, und Billie ist mit einer Freundin verabredet«, sagte Elinor lächelnd. »Es wäre sogar ganz schön, hier in meiner kleinen Wohnung zu bleiben. Darf ich dich nachher vielleicht zum Tee einladen?«
»Danke, das klingt herrlich. Ich muss nur noch ein paar Sachen wegarbeiten, die gestern liegen geblieben sind, danach komme ich hoch.«
Elinor stand auf. »Es wird sich alles klären, das verspreche ich dir.«
»Und woher willst du das wissen?«, fragte Emma mutlos.
»Nimm an, was das Leben für dich bereithält. Das hast du doch immer schon gekonnt, egal wie schwer du es hattest.«
»Ich hoffe, du hast recht.«
Elinor drehte sich in der Tür noch einmal um. »Bis später!«
Bis vor zehn Jahren hatten Emma und Alexander sogar eine sehr harmonische Beziehung geführt. Erst nach der Katastrophe war alles zum Teufel gegangen, dachte sie bedrückt und betrachtete Emma, die bei den Unterlagen, die sie wegsortieren wollte, innegehalten hatte. Dachte sie auch an damals?
1961
Wütend wie ein Stier erblickte Frankie das Licht der Welt, und so war es auch weitergegangen.
Sowie die Hebamme die Tür des Kreißsaals geschlossen hatte, hatte Emma ihr Baby überglücklich wieder aus der Decke gewickelt, damit die brüllende Frankie mit ihren winzigen Armen herumfuchteln konnte. Da wurde sie ruhiger, und Emma hielt sie im Arm und tröstete sie, und Frankie wurde wieder ganz still. Sie war perfekt und blickte ihre Mutter aus großen Augen an. Emma strich ihr behutsam über den blonden Flaum auf dem Kopf. Jeder Tag, der verstrich, tat ihr im Herzen weh.
Sie hatte eine kleine Kämpferin geboren. Dass das Mädchen Ausdauer hatte, war nicht zu übersehen. Das war gut so, denn sie würde es vermutlich nicht immer leicht haben. Den Namen Frankie hatte Emma in irgendeiner Zeitschrift aufgeschnappt. Sowohl Jungen als auch Mädchen konnten so heißen, und es war wichtig, dass ihre Tochter für ihre kleinen Fäuste einen passenden Namen bekam.
Die Adoptiveltern in spe hatten sich kurz vor der Geburt mit Emma getroffen, und sie hatten erklärt, wie wichtig es für sie sei, dass Emma einwilligte, ihr Kind abzugeben. Sie wollten es adoptieren und nicht nur Pflegeeltern sein. Emma hatte genickt und gesagt, das sei selbstverständlich, sie würden ihr Kind bekommen.
Inzwischen war das längst nicht mehr so einfach.
Frankie packte Emmas Zeigefinger, ohne den Blick von ihr abzuwenden. Emma selbst musste wegschauen, ehe sie sich ihrer Tochter wieder zuwenden konnte.
»Kleines Liebchen«, flüsterte sie. »Ich kann dich nicht behalten.« Sie hob ihr Kind in die Höhe und atmete den Duft ihrer Tochter ein. »Ich bin untröstlich. Aber ich werde dich immer lieben, das schwöre ich dir.«
Mit der Nase in Frankies Flaum ließ Emma ihren Tränen freien Lauf. Schluchzend umklammerte sie ihr Baby immer fester.
»Das sind die Hormone, Miss Emma. Dritter Tag. Sie werden sehen, bald ist das alles vergessen«, sagte die Hebamme und nahm Frankie aus Emmas Armen. »Das Kind muss essen, und danach kommen die neuen Eltern zu Besuch. Sie wollen sich bestimmt ein bisschen frisch machen?« Sie verließ mit Frankie das Zimmer, die nun aus vollem Hals schrie.
Im Waschraum hängte Emma den Krankenhausbademantel an den Haken und legte die Unterhose mit der Binde ab. Ihre Brüste waren groß wie Fußbälle und taten unbeschreiblich weh. »Jetzt hören Sie schon auf zu jammern, die Milch wird bald nicht mehr einschießen. Denken Sie lieber daran, dass das Mädchen kerngesund ist und ein gutes Zuhause gefunden hat«, hatten sie zu ihr gesagt.
Ich bin wie eine Zuchtkuh, dachte Emma und befühlte vorsichtig ihre schmerzenden Brüste. Sie konnte nicht umhin, sich mit Elinor zu vergleichen und wie es ihr mutmaßlich erging. Auch sie hatte inzwischen wahrscheinlich ihr Kind zur Welt gebracht. Emma wollte wirklich nicht neidisch sein, aber genau das fiel ihr schwer. Elinor war verheiratet, noch dazu mit einem wohlhabenden Mann, der ihr alles schenkte, wenn sie nur mit dem Finger darauf deutete. Und nicht nur das. Vermutlich liebte er sie sogar. Gab ihr einen Gutenmorgenkuss und lag ihr in den Nächten zu Füßen.
Es tat noch immer weh. Emma wusste nur zu gut, was für ein geschickter Liebhaber er war. Und darauf war sie besonders neidisch. Was sie von der Ehe halten sollte, wusste sie nicht recht. Ihrer Freiheit würden Grenzen gesetzt werden, und das war für Emma ein grauenvoller Gedanke. Andererseits müsste sie Frankie nicht weggeben, wenn sie einen Ehemann hätte. Sobald sie ins Flanagans zurückkehrte, würde sie Elinor und Sebastian über den Weg laufen, das ließe sich nicht vermeiden. Sie würden ihr bestimmt ihr Eheglück und ihr Babyglück präsentieren. Wie würde sich das anfühlen? Sollte sie sich in einem anderen Hotel eine Stellung suchen? Im Ritz? Miss Lansing würde ihr wahrscheinlich kein schlechtes Zeugnis ausstellen, da war Emma sich ziemlich sicher. Doch kein Hotel war wie das Flanagans, obwohl auch das Ritz einen guten Ruf genoss und als gehoben galt.
Sie schrubbte sich ab; nur ihre Brüste wusch sie ganz vorsichtig. Sie fühlten sich an, als würden sie jeden Moment explodieren.
Erschöpft und deprimiert mied sie ihr Spiegelbild. Wie sie aussah, war ihr gleichgültig. Frankies zukünftige Eltern würden ihr zwar mit Verachtung begegnen, doch Emma hatte keine Kraft mehr, um sich ins Zeug zu legen. Lippenstift und Haarbürste lagen in ihrer Reisetasche neben dem Bett. Sie würde einen Versuch unternehmen, so auszusehen wie immer, wenn sie diesen Ort hinter sich ließ, aber bis dahin würde sie sich nicht bemühen. Sie hatte einfach keine Kraft.
Die anderen jungen Mütter hier befanden sich in der gleichen Lage wie sie. Die meisten von ihnen würden ihre Kinder in ein Kinderheim geben und sie wieder zu sich holen, wenn sich ihre Situation gebessert hätte, was oft hieß: sobald sie einen akzeptablen Mann kennengelernt hatten, der damit leben konnte, das Kind eines anderen am Hals zu haben. Emma war felsenfest davon überzeugt gewesen, dass sie anders war und ihr Neugeborenes durchaus ohne größere Schwierigkeiten in fremde Hände geben konnte. Aber das war, bevor sie gewusst hatte, dass ausgerechnet Frankie in ihrem Körper gewohnt hatte, sie rund hatte werden lassen wie eine Kugel und ihr Übelkeit verursacht hatte. In ihrem Herzen hatte sich seit Frankies Geburt einiges verändert.
Eine der Hebammen spähte durch die Badezimmertür. »Die Eheleute Ingram sind jetzt da, um ihre Tochter kennenzulernen. Miss Emma, Sie sollten sich beeilen.«
Die Schwester sah tadellos aus. Ihre Frisur saß perfekt, wie alles an diesem Ort. Draußen grünte ein prachtvoller Park, in den Schlafsälen gab es kein einziges Staubkorn, und die Babys bekamen frische Sachen angezogen, sobald sie auch nur ein kleines bisschen gespuckt hatten. In dieser Hinsicht war alles gut. Aber warum konnte das Personal nicht ein wenig freundlicher sein? Emma war besorgt, wie sie wohl mit Frankie umgingen, wenn sie nicht in der Nähe war, und deshalb verbrachte sie jede Minute mit ihrer Tochter. Und ihre Liebe wuchs genauso schnell wie ihre Sorge darüber, sie bald weggeben zu müssen. Sie hatte Angst, nach Frankies Adoption nie wieder Mensch zu sein.
Der Tee wurde im Gemeinschaftsraum serviert. Es sah unbeschreiblich lächerlich aus mit all den jungen Müttern in ihren Morgenmänteln und den Adoptiveltern, die sich ausstaffiert hatten. Keine Frage, wer hier die Macht hat, dachte Emma, als sie auf das Ehepaar Ingram zuging. Sie machte einen Knicks, ehe sie sich setzte, obwohl Mrs Ingram nur wenige Jahre älter war als sie. Sie wirkte bloß so aufgrund ihrer überkorrekten Aussprache und der tristen Garderobe. Ihr Mann war keinen Deut munterer. Arme Frankie.
»Wir würden Evelyn dann am Donnerstagabend holen. Es wäre gut, wenn sie da gebadet wäre«, sagte Mrs Ingram resolut.
»Evelyn?« Emma runzelte die Stirn. Von wem redete die Frau?
»Ja, so wird sie von jetzt an heißen.« Mrs Ingram lächelte gekünstelt.
Emma riss die Augen auf. »Aber sie heißt doch Frankie!«
»Ein Jungenname für unser Mädchen? Ich muss wirklich sehr bitten. Das kommt überhaupt nicht infrage. Evelyn wird ein braves Mädchen aus gutem Hause sein, und ihr Name wird das selbstverständlich widerspiegeln.«
Es schlug ein wie ein Blitz. Ihre Vernunft und sämtliche Zukunftspläne waren wie weggefegt. Emma konnte ihre Tochter unmöglich diesem Paar überlassen. Sie waren zu hochnäsig und konservativ, und Frankie würde es keine Minute bei ihnen aushalten, sie würde verrückt werden. Emma wusste schon jetzt, dass ihre Tochter widerspenstig und eigensinnig und völlig unmöglich zu kontrollieren war. Und wenn Mr und Mrs Ingram nicht begriffen, wie Frankie war …
Emma stand abrupt auf. »Danke, lassen wir’s gut sein«, sagte sie ruhig. Ihr war plötzlich sonnenklar, dass nur sie selbst ihre Tochter verstehen konnte. Sie würde Frankie die Freiheit gewähren, die sie brauchte, um zu einer einzigartigen Persönlichkeit heranzuwachsen. Emma würde sie nicht einsperren, so wie ihre eigene Mutter es mit ihr getan hatte. Wie sie Frankie allein großziehen sollte, musste sie sich noch überlegen, aber mit diesen furchtbaren Menschen, die ihr das Kind wegnehmen wollten, wollte sie nichts mehr zu tun haben.
»Ich muss doch sehr bitten!« Mr Ingram, der bislang geschwiegen hatte, erhob sich energisch und trat einen Schritt auf Emma zu. »Du hast uns ein Kind versprochen. Und jetzt wirst du dieses Versprechen auch halten.«
Schlagartig waren sämtliche Blicke auf ihn gerichtet. Er war hochgewachsen und wirkte kräftig. An den anderen Tischen wanderten die Blicke der werdenden Eltern und Mütter im Wochenbett schockiert von Emma zu Mr Ingram und wieder zurück. Die Luft war zum Schneiden dick. Aber der Gedanke an Frankie gab Emma Mut, und sie hielt, ohne mit der Wimper zu zucken, seinem Blick stand.
»Jetzt beruhigen wir uns erst mal wieder«, maßregelte Mrs Ingram sie beide geniert und zog ihren Mann am Arm, damit er sich wieder setzte.
Doch Emma hatte andere Pläne. Sie würde so schnell wie möglich dieses Haus verlassen – mit ihrer Tochter im Arm. Allerdings wusste sie nicht, wohin. Zurück nach Hause, ins Dorf zu ihrer Mutter und ihrer Großmutter, konnte sie nicht. »Komm bloß nicht mit deinem Kind zu mir«, hatte ihre Mutter gesagt. Es grenzte an ein Wunder, dass sie die Monate hatte bleiben dürfen, bis der Bauch dick wurde. Ihre Mutter war es auch gewesen, die ihr das Heim für ledige Mütter genannt hatte, und das war auch nur richtig so. Wo hätte sie sonst hingehen sollen?
Aufrecht schritt sie aus dem Raum und ging in den Saal, in dem die Kinder aufgereiht lagen. Behutsam nahm sie Frankie hoch. »Ich bringe das in Ordnung«, flüsterte sie dem schlafenden Baby ins Ohr. »Das schwöre ich, hoch und heilig.«
»Ich habe eine liebe Tante, die vermietet Zimmer nicht weit von hier. Soll ich die fragen, ob sie für dich und Frankie Platz hat?«, hatte Laura gefragt. Emma hatte sich in den vier Monaten im Heim mit ihr angefreundet. Laura hatte einen Sohn bekommen, der bei ihrer verheirateten Schwester aufwachsen sollte, bis sie selbst einen Ehemann gefunden hätte. Das war die beste Lösung für sie. Ein anderes Mädchen würde den Vater ihres Kindes heiraten, doch die meisten waren gezwungen, ihre Kinder wegzugeben. Es gab schlicht keine Alternative.
Die anderen Mütter starrten Emma nun mit großen Augen an, während sie ihre wenigen Sachen zusammenpackte. Lauras Tante hatte Emma und Frankie ein Zimmer in ihrem Haus außerhalb von Colchester zugesagt.
»Wie willst du das schaffen?«, fragte jemand. »Wo bleibt Frankie, wenn du arbeiten musst?«
»Ich weiß es noch nicht«, antwortete Emma. »Aber irgendwie stemme ich das schon. Für Frankie tue ich alles.«
Ihre Freundinnen halfen ihr bis auf die Straße und warteten mit ihr zusammen auf das Taxi. Das Heimpersonal war verärgert und ließ sich nicht mehr blicken. Die Netteste von ihnen, Anna, war noch in den Schlafsaal gehuscht, als Emma allein war, und hatte ihr einen Beutel mit Windeln, Waschlappen und einem Schlafsack zugesteckt. »Viel Glück«, hatte sie geflüstert.
Laura nahm Emma in den Arm. »Ich komme dich besuchen«, versprach sie.
Emma konnte sich eigentlich keine Taxifahrt leisten, aber es ging nicht anders. Sie hatte keinen Kinderwagen für Frankie und musste sie in den Armen tragen. Und die Tasche überdies. Als sie alles verstaut und sich auf die Rückbank gesetzt hatte, blickte Emma ein letztes Mal zurück zu den jungen Frauen auf dem Gehweg. In ihren Augen brannten Tränen, aber sie durfte jetzt nicht weinen. Sie war Mutter und tat das, was für ihre Tochter das Richtige war. Da hatten Tränen keinen Platz.
Die Fahrt dauerte eine Weile. Frankie schlummerte geborgen in Emmas Armen, die über die Zukunft nachdachte. Am schwersten fiel ihr die Vorstellung, dass sie nicht mehr nach London zurückkehren konnte, denn wo sollte Frankie da abbleiben? Sie konnte sie schließlich nicht mit ins Flanagans nehmen. Und welche Blicke würde sie ernten? Vermutlich galt sie dort als loses Frauenzimmer. So hatte auch ihre Mutter sie bereits betitelt. Und obwohl sie ihre Mutter dafür hasste, dass sie Emma ihr Leben lang belogen hatte, konnte sie die Beweggründe allmählich besser nachvollziehen. Vielleicht wäre es das Beste zu sagen, der Vater sei tot und begraben. Lieber das, als zuzugeben, dass man mit jemandem Sex gehabt hatte, der einen gar nicht haben wollte.
Wer Frankies Vater war, durfte nie herauskommen. Niemals.
Vor dem Haus von Lauras Tante stand eine Frau mit einer Harke in den Händen. Sie lehnte an der Hauswand, trocknete sich die Stirn und kam auf das Taxi zu, sobald Emma mit Frankie ausstieg.
»Herzlich willkommen, ich bin Mrs Foster.« Sie lächelte und zog die Gartenhandschuhe aus.
Die Frau machte einen freundlichen Eindruck, genau wie Laura gesagt hatte.
»Darf ich?« Mrs Foster streckte die Arme nach Frankie aus, Emma übergab ihre Tochter und griff dann nach der Tasche. Rosenbüsche säumten den Kiesweg, der zu dem kleinen roten Backsteinhaus führte.
»Sie wohnen im zweiten Stock. Ich habe eine Wiege ins Zimmer gestellt, Sie können die Kleine doch sicher auf dem Bett wickeln? Ich habe eine Frotteeunterlage mit Plastikunterseite, da können Sie sie drauflegen.«
»Danke, das ist sehr nett. Das geht wunderbar«, sagte Emma. »Wir sind Ihnen wirklich sehr dankbar, Mrs Foster.«
Ihre Vermieterin hielt Frankie im Arm, während sie Emma das Zimmer zeigte. Es war ordentlich, auf dem Bett lag ein gehäkelter Überwurf, daneben stand eine kleine, weiß gestrichene Wiege. Das Fenster über dem alten Küchentisch zeigte zum Garten, und in einer Vase standen die gleichen rosa Rosen, die Emma bei ihrer Ankunft gesehen hatte. Der Flickenteppich war verschlissen, aber sauber. Emma war zufrieden. Hier würde sie sich wohlfühlen.
Die Küche lag ein Stockwerk tiefer, und als sie alles gesehen hatte, zückte Emma ihre Brieftasche und bezahlte die Miete für den ersten Monat. Die Verpflegung war glücklicherweise inklusive. Mrs Foster hatte ihr erklärt, sie werde gelegentlich verreisen, da müsse Emma die Mahlzeiten selbst zubereiten. Sie hoffe, das sei kein Problem. Emma schüttelte nachdrücklich den Kopf.
Für den darauffolgenden Monat würde ihr Geld nicht mehr reichen, aber daran konnte sie jetzt noch nicht denken. Für vier Wochen waren sie und Frankie nun in Sicherheit – und die Nahrung für ihr Baby hatte sie ja stets bei sich.
Mrs Foster sah Emma neugierig an. »Ich vermute, das Fräulein braucht erst mal eine ordentliche Stulle«, sagte sie dann. »Milch zu geben, zehrt am Körper. Kommen Sie mit in die Küche, dann sehen wir weiter. Ich habe das letzte Blech aus dem Ofen genommen, kurz bevor Sie hier eingetroffen sind.« Sie legte Frankie behutsam in Emmas Arme.
Emma strich ihrer Tochter über den Kopf und folgte mit dem Finger der Rundung der winzigen Ohrmuschel. Man kann schon jetzt sehen, dass Frankie zu einer Schönheit heranwachsen wird, dachte sie stolz. Die Wimpern lagen auf den Wangen auf wie Federn.
»Du und ich«, hauchte sie, als Frankie die Augen aufmachte und ihrem Blick begegnete. »Du und ich.« Dann folgte sie Mrs Foster in die Küche.
Einige Wochen später klopfte es an Emmas Zimmertür.
»Ja?«
Mrs Foster schob die Tür langsam auf.
»Hier ist ein junger Mann, der nach Ihnen verlangt«, sagte sie gedämpft.
»Nach mir? Ein junger Mann? Wer?«
»Er sagt, er heißt Alexander Nolan und ist ein Arbeitskollege von Ihnen aus London.«
Es gab so vieles, was ihr Sorgen bereitete. Elinor konnte sich nicht gegen den Gedanken wehren, dass etwas nicht stimmte, denn das Kind wollte einfach nicht kommen. Sie war eine ganze Woche über dem Termin und hatte Angst. Alles würde wie ein Kartenhaus zusammenfallen, wenn sie ein Kind bekämen, das nicht perfekt war.
»Unser Kind wird das perfekteste und süßeste schokoladenbraune Baby – mit Locken«, sagte Sebastian unbekümmert, zündete sich eine Zigarette an und blies Rauchringe an die Decke.
Muss er bei jeder Gelegenheit erwähnen, welche Hautfarbe das Baby hat?, dachte Elinor. Ein süßes Baby reichte doch.
»Du machst dir einfach zu viele Sorgen. Der Arzt hat gesagt, dass du dich ausruhen und bis zur Geburt das Leben mit deinem Mann genießen sollst.«
Sie saßen in ihrem großen Wohnzimmer auf dem Sofa. Magda hatte vor ihrem Feierabend im Kamin Feuer gemacht, das angenehm wärmte. Sebastian hatte eine Decke über Elinors Beine gelegt und sich dann neben sie aufs Sofa gesetzt. Bis vor wenigen Monaten hatte Elinor ein Zimmer im Keller des Flanagans bewohnt, und jetzt hatte sie alles, was man sich nur wünschen konnte. Aber sie hatte auch alles zu verlieren.
Es war schön, dass Sebastians Blick auf das Leben nicht so ernsthaft war wie ihr eigener, und sie wünschte sich, sein Enthusiasmus wäre ansteckend. Elinor sah ihn an und spürte, wie die Liebe für ihn durch ihren Körper strömte.
Es war alles so schnell gegangen – zuerst hatte sie beinahe einen Abbruch vornehmen lassen, dann war sie plötzlich frisch verheiratet und residierte in einem neuen Haus mitten in London, und manchmal konnte sie noch gar nicht richtig begreifen, was alles passiert war. Eine schwarze junge Frau aus Notting Hill durfte es doch nicht so gut haben! Das gab es nur im Märchen. Und dennoch wohnte sie nun in diesem schönen Haus in Belgravia. Sie hatte Personal, Geld, und neben ihrem Schlafzimmer lag das Kinderzimmer mit der niedlichsten Tapete, die sie je gesehen hatte.
Deswegen war es nicht weiter verwunderlich, dass sie Angst hatte, all das wieder aufgeben zu müssen.
Sobald ihr Kind auf der Welt wäre, würden sie eine Nanny einstellen, das hatten sie beschlossen. Elinors Ehrgeiz, Chefin des Flanagans zu werden, war auch nach ihrer Heirat mit dem Cousin der Hotelbesitzerin ungebrochen. Im Gegenteil, sie musste Linda Lansing nun noch mehr beweisen, dass sie dafür geeignet war. Das setzte einen Nachkommen voraus, der perfekt war.
Emma hätte ihre Sorgen verstanden und nicht darüber gelacht. Vor gar nicht langer Zeit hatten Elinor und Emma im Keller des Hotels dieselben Träume geteilt, aber seit Elinors Heirat hatten sie sich nicht mehr gesehen.
Emma war nach Hause zu ihrer Mutter gefahren. Anfangs hatten sie sich noch Briefe geschrieben, doch in den letzten Monaten waren Elinors Briefe an Emma wieder zu ihr zurückgekommen. Das beunruhigte Elinor. Wohnte Emma vielleicht nicht mehr bei ihrer Mutter? Das wäre nicht verwunderlich, denn die beiden hatten kein gutes Verhältnis, deswegen war Emma ursprünglich auch nach London gegangen und hatte am Silvesterabend 1959 im Flanagans angefangen. Doch wo wohnte sie jetzt? Sie hatte versprochen, schon bald wieder nach London und ins Flanagans zurückzukehren. Elinor vermisste ihre beste Freundin sehr. Würde zwischen ihnen wieder alles so werden wie vorher? War das überhaupt denkbar?
Elinor hatte mit Alexander darüber gesprochen. Er arbeitete an der Rezeption und hatte sich einst auf den ersten Blick in Emma verliebt. Er wollte ebenfalls, dass sie zurückkam. Am liebsten zu ihm, hatte er gesagt.
Sie seufzte.
»Woran denkst du, Liebling?«, fragte Sebastian. »Bist du besorgt wegen des Babys?« Er schenkte sich Wein nach.
»Ach, ich weiß, es ist dumm, aber ich muss die ganze Zeit an Emma denken. Ich wünschte, sie wäre hier«, sagte sie kopfschüttelnd, als er mit der Weinflasche auf ihr Glas deutete. »Ich vermisse sie und frage mich, wie es ihr geht.«
»Ich kenne sie zwar kaum, aber auf mich wirkte sie wie eine junge Frau, die gut allein zurechtkommt.« Er legte den Kopf an die Sofalehne. Seine Hand tastete nach ihrer. Er führte sie zum Mund und küsste ihre Handfläche. Seine Zungenspitze kitzelte. »Was meinst du, Schatz, wollen wir für Baby Lansing noch eine Nummer schieben?« In seinen Augen blitzte Verwegenheit auf. »Der Arzt hat gesagt, dass so die Wehen einsetzen können.«
»Massier mir erst mal die Füße, dann können wir weitersehen«, erwiderte sie mit einem Lächeln und legte ihre Füße auf seinen Schoß. Sie stöhnte auf, als er die Daumen in ihre Fußsohlen bohrte. »Ist das schön! Mach weiter«, murmelte sie und lehnte sich zurück.
Sie hatten sich gerade vom Bett erhoben – denn nur dort konnten sie momentan noch Sex haben –, als sich zwischen ihnen eine große Pfütze auf den Boden ergoss.
Sebastian sah zu Boden. »Ist das … was … Musstest du so eilig?«
Elinor blickte erst an sich hinunter und dann zu ihrem Mann. »Nein, ich glaube nicht …« Sie starrte auf die Pfütze. »Das war dann wohl die Fruchtblase.«
»Aber dann müssen wir … müssen ins … Krankenhaus fahren.« Verwirrt drehte er sich zweimal um die eigene Achse. »Ich muss … Kleider … ich … Wo sind meine Klam …?«
Elinor packte ihn am Arm. »Sebastian, beruhige dich. Wir haben genug Zeit. Zieh dich an, ruf meine Mutter an, und sag ihr, dass wir uns im Krankenhaus treffen. Dann rufst du ein Taxi, und ich suche mir in der Zwischenzeit eine trockene Sitzunterlage. Meine Tasche steht fertig gepackt an der Tür.«
Er hielt inne und sah ihr ins Gesicht. »Wir bekommen ein Kind!«
Sie griff sich ins Kreuz, als sie vor Schmerzen fast ohnmächtig wurde. »Zu Hause, wenn du jetzt nicht die Beine in die Hand nimmst«, stöhnte sie.
Als er ihre schmerzverzerrte Miene sah, blickte er sie erschrocken an.
»Ich hab gelogen … Beeil dich!«
Billie Isadora Lansing erblickte vier Stunden später das Licht der Welt und war genauso perfekt, wie Elinor in ihren verzweifelten Gebeten gehofft hatte.
Sobald Sebastian seine Tochter auf den Arm nehmen durfte, gab er sie nicht mehr her. Sie lag in seinen Armen, und er wiegte sie in den Schlaf, sang für sie und schnitt Grimassen, um sie zum Lachen zu bringen.
»Darf ich?«, fragte Elinors Mutter und streckte ihrer Enkelin die Arme entgegen.
»Auf keinen Fall.« Sebastian trat einen Schritt zurück. »Du warst bei ihrer Geburt dabei, jetzt bin ich dran.« Er betrachtete das stille Kind. »Billie, Billie, Billie«, sang er leise. »Bekommt alles, was sie willie, willie, willie.«
Elinor lachte. »Nein, mein lieber Gatte, sie bekommt nicht alles, was sie willie, willie.«
Sebastians Blick ruhte fortwährend fasziniert auf seiner Tochter. »Wie soll ich da Nein sagen?«, sagte er gedankenverloren.
»Überlass das nur mir«, sagte Elinor. »Aus ihr wird mal eine starke, selbstständige Frau und eine hervorragende Studentin. Und das geht nicht, wenn man immer alles bekommt, was man will.« Sie grinste. Ihr Mann war verwöhnt. Er würde ein wundervoller Vater sein, daran hatte sie nicht den geringsten Zweifel.
»Hör nicht auf deine Mutter«, säuselte er. »Sie will eines schönen Tages eine Premierministerin aus dir machen, aber dann verpasst du im Leben alles, was schön ist. Und weil du so süß bist, werden deine Mutter und ich gleich dafür sorgen, dass du ein Geschwisterchen bekommst.«
Elinors Lächeln erstarb, und sie sah ihren Mann entsetzt an. Sie hatte andere Mütter über die Schwangerschaft reden hören, und keine von ihnen hatte solche Ängste gehabt wie sie. Keine. Alle waren glücklich und zufrieden – und hatten sich allerhöchstens mal übergeben. Elinors Ängste hatten ihr Leben im Klammergriff gehabt, hatten jede einzelne Stunde in den vergangenen sechs Monaten bestimmt. Es war unerträglich gewesen, ihre Angst war größer gewesen als die Freude auf ihr gemeinsames Kind.
»Nein«, sagte sie. »Ich kann das nicht noch mal. Freuen wir uns lieber zusammen über unser wunderschönes kleines Mädchen.« Sie streckte sich nach Billie aus, sobald die in den Armen ihres Vaters zu wimmern begann.
»Aber, Schatz, schau sie dir doch an«, sagte er und gab sie Elinor.
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