Ein Besuch im Sommer - Åsa Hellberg - E-Book
SONDERANGEBOT

Ein Besuch im Sommer E-Book

Åsa Hellberg

0,0
8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein schwedisches Sommermärchen von Bestsellerautorin Åsa Hellberg Nikki genießt ihr zurückgezogenes Leben auf ihrem Pferdehof in Gyllentofta. Sie liebt ihr schönes Anwesen, den Wald, die Seen und Felder – und natürlich ihre Pferde. Ihre beste Freundin lebt ganz in der Nähe. Nikki ist glücklich. Doch als ihr Vater stirbt, wird Nikkis Leben völlig durcheinandergewirbelt: Plötzlich steckt sie mitten in einem komplizierten Erbstreit um ein Haus auf Mallorca. Mit einem Haufen Verwandter, die sie noch nie gesehen hat, die unerwartet auf ihrem geliebten Hof auftauchen. Dass Nikki sich auch noch Hals über Kopf verliebt, stürzt ihr ruhiges, geordnetes Leben völlig ins Chaos ... Ein Wohlfühlroman zum Träumen für alle Fans von Pferden und Schweden!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ein Besuch im Sommer

Die Autorin

ÅSA HELLBERG wurde 1962 in Fjällbacka geboren. Heute lebt sie mit Sohn, Katze und ihrem Lebensgefährten in Stockholm. Sie arbeitete unter anderem als Flugbegleiterin, Coach und Dozentin, bevor sie mit dem Schreiben begann. Mit ihren Bestseller-Romanen schrieb sie sich auf Anhieb in die Herzen der Leserinnen.

Von Åsa Hellberg sind in unserem Hause bereits erschienen:Willkommen im Flanagans · Wiedersehen im Flanagans · Das Hotel unserer TräumeSommerfreundinnen · HerzensschwesternSommerreise · MittsommerleuchtenWir sehen uns im Sommer

Åsa Hellberg

Ein Besuch im Sommer

Roman

Aus dem Schwedischen von Stefanie Werner

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Deutsche Erstausgabeim Ullstein Taschenbuch1. Auflage April 2022© 2018 Åsa Hellberg© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022Die schwedische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel Ett oväntat besök bei Forum, Stockholm.Umschlaggestaltung: © www.buerosued.de, MünchenTitelabbildung: ©  StockFood /People Pictures (Karaffe, Gläser); bürosüd° GmbH© Autorenfoto: Nils Moerner E-Book-Konvertierung powered by pepyrus.com ISBN 978-3-8437-2039-7

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.

Hinweis zu UrheberrechtenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Inhalt

Titelei

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Teil 1

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

Teil 2

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

53

54

55

56

57

58

Anhang

Danke

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Teil 1

Teil 1

1

Nikki wusste nicht, was schlimmer war: ihren Vater beerdigen zu müssen oder der plötzliche Besuch ihrer Mutter auf Gyllentofta.

»So eine Vorstellung lasse ich mir nicht entgehen«, zwitscherte die Mama aus ihrer Stockholmer Wohnung. »Ich lasse Steven natürlich zu Hause, er ist so schrecklich eifersüchtig, aber ich werde kommen und hoffe, dass ich einen der großen Räume auf dem Gut zum Übernachten bekommen kann. Meine Klaustrophobie ist mit den Jahren leider nicht besser geworden. Es wird herrlich sein, mal wieder nach Hause zu kommen.«

Diesem sogenannten Zuhause hatte sie den Rücken gekehrt, als Nikki gerade zwei Jahre alt gewesen war. In regelmäßigen Abständen war die Mutter zwar zu Besuch gekommen, aber ihr »Zuhause« war es seitdem nicht mehr gewesen.

Und wie sehr hatte Nikki sie vermisst. Alle anderen Kinder hatten eine Mama gehabt, die sie verhätschelt und ihnen große Schleifen in die Haare gebunden hatte, die sie an der Hand gehalten hatte und stolz auf sie gewesen war. Nikki war mit ihrem Kindermädchen und ihrem Papa groß geworden, und mit den Jahren hatte sich die Sehnsucht nach ihrer Mutter gelegt. Heute wusste sie nicht einmal mehr, ob sie sie überhaupt richtig kannte.

»Ich kann gern ein Zimmer für dich vorbereiten, aber bist du dir sicher, dass du wirklich hier übernachten willst? Ich kann dich vom Zug abholen und auch hinterher wieder zum Bahnhof bringen, das ist gar kein Problem.«

»Sei doch nicht kindisch. Selbstverständlich fahre ich mit dem Wagen.«

»Ich weiß nicht, ob das in deinem Alter so selbstverständlich ist, Mama.«

»Ich bin neunundsechzig Jahre alt und habe einen hervorragenden sicheren Volvo. Steven hat darauf bestanden. Er ist so lieb, mein Steven. Unglaublich, dass ich am Anfang gedacht habe, er sei ein Sozi.« Sie lachte aus vollem Hals über diese ungeheuerliche Vermutung.

Darüber, dass Birgitta Andersson vor neunundsiebzig Jahren in einer Einzimmerwohnung in Södermalm das Licht der Welt erblickt hatte und ihr Vater Schuhmacher und aktiv bei den Sozialdemokraten gewesen war, verlor sie niemals ein Wort. Sie hatte Nikkis Vater geheiratet, der aus einer völlig anderen Schicht kam, und hatte ihren Mädchennamen danach nie wieder in den Mund genommen. An ihrem Hochzeitstag hatte sie sich auch von ihrem Vornamen verabschiedet und sich fortan nur noch Bibbi genannt. »Jeder hat doch einen Spitznamen«, erklärte sie, wenn jemand sie darauf ansprach.

Und »lieb« war wohl auch nicht die richtige Bezeichnung für Mutters vierten Mann. »Reich« passte eher. Auch dass Steven auf etwas bestand, war die Übertreibung des Tages. Mama sagte, wo es langging, und Steven, mit all seinen Millionen, trottete hinterher.

»Okay, wann kann ich mit dir rechnen? Die Beerdigungszeremonie beginnt um ein Uhr.« Nikki wusste, wann eine Diskussion mit ihrer Mutter sinnlos war. Es war besser, sich die schwere Artillerie noch aufzuheben.

»Ich nehme an, dass du vorher irgendeine Art Mittagessen anbietest?«

»Nein, Mama, hinterher sind alle auf dem Hof herzlich willkommen, aber es gibt nichts Großartiges. Ein Salatbüfett, eine Kanne Kaffee und ein Stückchen Kuchen.«

»Das wird ja nett. Ich denke, ich werde sicherheitshalber schon am Vortag anreisen. Bei einer so wichtigen Veranstaltung will ich ja nicht zu spät kommen. Bis dann, meine Kleine.«

Diese unangebrachten Kommentare schossen einer nach dem anderen ungebremst aus ihrem Mund. Nett? An einer Beerdigung gab es doch nun wirklich nichts Nettes. Nikki konnte sich kaum vorstellen, dass selbst ihre Mutter es so empfand.

Oberon scharrte mit den Hufen, als Nikki in den Stall kam. Vom Feld hörte man den Lärm der Mähdrescher, und der vertraute Duft von frischem Heu lag in der Luft. Das Pferd wartete nur darauf, aus dem Stall geholt zu werden, und gleich würden sie an ihrem weißen, viel zu großen Haus vorbeitraben. An der Reithalle entlang zu den unberührten Wiesen und zum Stoppelfeld, wo er sich austoben durfte, wenn er es wollte. Zumindest schien er in Stimmung zu sein, dachte Nikki, als sie sah, wie sein Kopf hin- und herschaukelte und er die Ohren gespitzt hielt.

Obwohl er schon ein Senior und sein Körper etwas müde war, sah er jetzt, da er den Hals über die Kante der Box reckte, aus wie ein junges Pferd. Eine Fliege schwirrte um ihn herum, und er warf den Kopf hin und her, um sie zu vertreiben. Nikki hatte fast den Eindruck, dass er lächelte.

Sein Talent und seine Gutmütigkeit hatten seinem Reiter viele schöne Siege beschert, und eigentlich war es ein Jammer, dass es damit ein Ende hatte. Man konnte sich vorstellen, wie gut er hätte werden können. Aber als er sich für die richtig großen Reitturniere qualifiziert hatte, hatte Nikki abgelehnt. Die Arbeit auf dem Hof war so zeitraubend. Ihr Vater hatte vorgeschlagen, noch mehr Personal einzustellen, doch Nikki hatte diese Idee nicht gefallen. Sollten doch die anderen reiten und auf Wettbewerbe fahren. Heute waren sie mit fast zwanzig erfolgreichen Springpferden belegt.

»Ich komme gleich«, rief sie und sprang in die kleine Stallküche hinüber, wo sie einen Schrank öffnete und ein paar Mohrrüben herausnahm, die sie sich in die Taschen steckte. Sie warf einen Blick auf die Wanduhr und lächelte. Halb elf. Ihr grau-weiß gesprenkelter Kater Trassel lag mit dem Kopf auf den ausgestreckten Tatzen auf dem Brett neben der Uhr. Nikki streckte die Hand aus und streichelte ihm über den Kopf. Dann sah sie nach unten und kontrollierte seine Fressnäpfe. Wunderbar, jemand hatte ihm Futter gegeben und auch die Wasserschale aufgefüllt. Genau so, wie es sein sollte.

Die Müdigkeit des Tieres war ansteckend. Nikki gähnte, reckte und streckte sich. Wie an jedem Morgen war sie um sechs Uhr aufgestanden. Einen Wecker brauchte sie nicht, denn der Tagesablauf war immer derselbe: Zehn nach sechs frühstückte sie – meist Porridge mit einem Löffel selbst gemachtem Preiselbeerkompott –, bevor sie in den Stall hinüberging. Dort verabreichte sie den Pferden ihre erste Mahlzeit und striegelte Oberon, während die anderen Pfleger sich auch an die Arbeit machten. Dann marschierte sie zurück ins Haus, trank drei Tassen Kaffee, las die Zeitung im Web, erledigte Bestellungen für den Betrieb, warf einen Blick in den Kalender, machte Termine, telefonierte mit Pferdehaltern, hörte im Radio den Wetterbericht und wusch die Decken.

Um zehn Uhr war sie wieder im Stall, wo sie ihren Vorarbeiter Anders traf. Ihr Vater hate ihn vor langer Zeit angestellt, und er war so kompetent, dass Nikki ihm meist freie Hand ließ. Und dies viel öfter, als sie es eigentlich vorhatte. Mitunter tat er aber nicht das, was sie ihm aufgetragen hatte, und dann kam es vor, dass sie ihn kurzerhand rauswarf. Seine Reaktion darauf war in der Regel nur eine hochgezogene Augenbraue. Und sie nahm die spontane Kündigung schon bald wieder zurück, wenn ihr klar wurde, dass sie überreagiert hatte. Nach einunddreißig Jahren kannte Anders seinen Arbeitgeber nur zu gut. Sie brummte Entschuldigung, und dann waren sie wieder Freunde.

Schon früh am Morgen war Nikki von Box zu Box gegangen, so wie immer. Sie hatte mit den Pferden gesprochen, sie von Kopf bis Fuß unter die Lupe genommen und ihre Knochen abgetastet, damit ihr nicht entging, wenn sich ein Körperteil warm oder geschwollen anfühlte. Sie hatte in ihre Augen gesehen und sofort gewusst, wie ihre Tagesform war. Heute hatte es nichts Besonderes gegeben, daher musste sie Anders nicht informieren. Die Wettkampfpferde waren schon auf dem Weg in den Süden, und der Stall stand, von ihrem eigenen Pferd und ein paar jungen Vollblütern und einem Nordschwedischen Kaltblut abgesehen, jetzt leer.

Nikki würde die Falsterbo Pferdeshow dieses Jahr verpassen, denn da fand die Beerdigung statt.

»Jaja, mein Guter, du kriegst ja was.« Sie hängte den Sattel, den sie aus der Kammer geholt hatte, kurz an die Tür der Box und kramte in ihrer Jackentasche. Vorsichtig mopste er sich die Mohrrübe, die sie ihm hinhielt. Dann kaute er zufrieden mit schwingendem Kopf. Nikki kraulte ihn unter dem Pony. »So ein Glück, dass du mir über den Weg gelaufen bist, Oberon«, flüsterte sie. »Ohne dich hätte ich nicht überlebt.«

Es hatte drei Monate gedauert, bis sie das Vertrauen des talentierten Hengstes gewonnen hatte. Als sie ihn in einem Gestüt in Deutschland zum ersten Mal gesehen hatte, stand er ganz hinten auf einer Koppel, verängstigt und zitternd vor Kälte. Da war er zwei Jahre alt gewesen und groß wie ein Haus, niemand hatte sich in seine Nähe gewagt, daher hatte er den ganzen Winter draußen verbringen müssen. Fellzotten hatten von seinem Bauch abgestanden. Der Schwanz und die Mähne hätten einen radikalen Schnitt dringend nötig gehabt. Der Besitzer hatte einen Haufen Geld in Oberon investiert und ihn schwer misshandelt, als sich herausstellte, dass das Tier störrisch war. Die lange Peitsche war durch die Luft geflogen, und hätte Nikki an diesem Tag nicht eingegriffen, hätte der Hengst wohl nicht mehr lange gelebt.

Sie hatte laut geschrien, als sie beobachtete, was dort auf der Koppel geschah, und ohne nachzudenken, war sie auf den Stallbesitzer losgegangen. »Sind Sie verrückt? Schlagen Sie ein Pferd?« Sie hatte mit den Fäusten auf ihn eingetrommelt, bis er die Peitsche in die Ecke geworfen hatte.

Eine Stunde später war das Geschäft perfekt gewesen. Ein bodenloser Preis für ein Pferd, mit dem vermutlich nichts anzufangen war. Die Chance war gering, dass ein misshandeltes Jungpferd jemals wieder Vertrauen zu einem Menschen fasste, hatte der Tierarzt sie vorgewarnt.

Ihre Tierärztin war jetzt immer dabei. Bei ihren ersten Pferdekäufen hatte Nikki sich manchmal mit gefälschten Bescheinigungen übers Ohr hauen lassen, und da hatte sie begriffen, dass sie eine Stange Geld sparen konnte, wenn sie Lucia mitnahm beim Pferdekauf.

Um Oberon transportieren zu können, das erste und letzte Pferd, das sie von diesem Züchter kaufte, hatte das Tier eine Beruhigungsspritze bekommen. So bewegten sie ihn in den Pferdehänger, wo er neben einem zweiten Pferd stand, als sie zurück zu ihrem Hof nach Östergötland fuhren. Lucia hatte ihn untersucht, als er noch unter dem Einfluss der Medikamente stand, und festgestellt, dass er rein körperlich gesund war, auch wenn er schlecht behandelt worden war. Wie sich die vielen Wunden auf seiner Haut auswirken würden, blieb abzuwarten. Seine seelischen Verletzungen waren viel schwerer zu heilen.

Als sie auf dem Hof angekommen waren, hatten sie ihn in die größte Box gebracht, die ganz hinten im Stall lag. Nikki hatte ihn möglichst in Ruhe gelassen, aber immer, wenn sie auf seine Box zugelaufen war, hatte sie leise gepfiffen. Sie hatte ihm Futter gebracht und den Stall ausgemistet, während Oberon sich mit weit aufgerissenen Augen an die Stallwand gedrückt hatte. Aber nicht ein einziges Mal war er auf sie losgegangen. Und sie hatte nicht ein einziges Mal versucht, ihn anzufassen. Stattdessen pfiff sie leise vor sich hin und tat so, als sei alles in Ordnung.

Nach ein paar Wochen war sie einmal etwas länger bei ihm geblieben. Sie hatte an der Tür gestanden, und als sie nicht mehr ständig seinen weißen Augapfel sah, hatte sie ihm ein paar Leckereien auf den Boden gelegt, bevor sie die Box verließ.

Es dauerte vier Monate, bis sie ihn ohne Probleme aus dem Stall auf eine Wiese mit frischem Gras führen konnte.

Nach wie vor mochte er Pferde lieber als Menschen, und nach zwanzig Jahren war Nikki immer noch die Einzige, der er wirklich vertraute, auch wenn er so gnädig war, Anders in seiner Nähe zu akzeptieren, wenn sein Lieblingsmensch nicht verfügbar war. Niemand außer Nikki ritt Oberon. Er war ihr Pferd, und alle anderen, die versuchten aufzusitzen, warf er ab.

»Und was sagst du dazu?«, fragte sie den großen Schimmel und kraulte ihn hinter den Ohren. »Papa ist tot, und ich bin jetzt die neue Besitzerin von Gyllentofta.« Er knuffte sie noch einmal. »Keine Chance«, sagte sie. »Mehr kriegst du heute nicht.«

Sie gab ihm ein Küsschen aufs Maul. »Hast du Lust auf einen kleinen Ausflug, wenn ich dich gestriegelt habe? Durch meinen Wald«, sagte sie lachend, wobei ihr sehr bewusst war, wie unpassend es war, den Mund jetzt überhaupt zu einem Lächeln zu verziehen.

Sie war nicht annähernd so traurig, wie sie es hätte sein sollen.

Wenn ein Elternteil stirbt, sollte man trauern, dachte sie. Zusammenbrechen, zumindest fast. Aber es war mittlerweile schon dreißig Jahre her, dass ihr Vater ihr mitgeteilt hatte, dass er Schweden leid war und ins Ausland ziehen wolle. Dreimal im Jahr sahen sie sich, wenn er nach Hause kam und den Großgrundbesitzer spielte. Er riss Witze und gab an, war charmant und ein großartiger Unterhalter, wenn sie Feste feierten, er war alles, nur nicht väterlich.

Die elterliche Fürsorge hatte Nikki bei ihrem Kindermädchen Eva erlebt, die schon auf dem Gut war, als Nikkis Mutter auszog. Als Eva später kündigte, um zu heiraten, brach für Nikki eine Welt zusammen. Elf Jahre alt war sie da. Ihr Vater hatte danach Lotten angestellt, eine widerwärtige Person in Krankenschwesteruniform, die Nikki versuchte zu erziehen, indem sie nicht mit ihr sprach oder das Mittagessen strich. Vor Sehnsucht nach Eva hatte Nikki sich in den Schlaf geweint.

Ihre Mutter hatte damals gesagt, dass ihr Vater seine Finger immer unter dem Rock irgendeiner Frau hätte, und das war offensichtlich wahr. In der Zeit auf dem Hof bekam er jede Menge Damenbesuch. Irgendwann hatte es Nikki nicht mehr interessiert. Das letzte Kindermädchen war schreiend vom Hof gerannt und hatte gerufen, er solle sich zum Teufel scheren, und danach hatte Nikki darum gebeten, die Kindermädchen abzuschaffen. Damals war sie dreizehn Jahre alt gewesen und hatte auf sich selbst achtgeben können.

Nein, viel Trauer konnte Nikki weiß Gott nicht aufbringen. Allerdings auch keine Freude darüber, dass ihr jetzt das Gut gehörte. Das Leben würde einfach weitergehen wie bisher. Wahrscheinlich benötigte sie Hilfe bei all den ökonomischen Fragen, um die sich ihr Vater noch gekümmert hatte.

Nikki öffnete die Tür der Box und führte Oberon in den Gang. Eine Stunde Freiheit auf seinem Rücken war genau das, was sie jetzt brauchte. Im Moment war sie völlig leer, und das war fast schlimmer, als wenn sie traurig gewesen wäre, weil ihr Vater gestorben war.

Ihr Grundbesitz war nicht unendlich groß, doch wenn sie über das weite Feld sah, fühlte es sich so an. Ganz weit in der Ferne lag der Wald, in dem sie mit ihrer kleinen Jagdgemeinschaft jagen ging und der sie mit Fleisch, Pilzen und Beeren so gut versorgte, dass es den ganzen Winter lang reichte. Rechts hinter dem Hügel lag der See Långevatten, wo sie schwimmen und angeln gelernt hatte. Ihr Kindermädchen Eva hatte ihr beides beigebracht.

Die Duftmischung aus Kuhfladen, Gras und Hafer war so vertraut und heimelig. Nikki gab Oberon die Sporen, sodass er einen kurzen Galopp einlegte. Sie stand in den Steigbügeln. Der Kies knirschte unter den Hufen, als das Pferd sie zurück auf den Heimweg führte. An der Kreuzung hielt sie ihn an. Im Schritt bewegten sie sich über den kleinen Pfad, der vor zu der Lichtung am Bach führte, dort war eine Wiese, auf der er fressen konnte. Sie saß ab und sammelte einen Armvoll wilde Blumen. Hier wuchsen nämlich sowohl Glockenblumen als auch Margeriten.

Die nahm sie für ihre beste Freundin mit, die bereits unterwegs nach Gyllentofta war.

Sie würde ihr den Blumenstrauß ins Zimmer stellen.

2

Es fühlte sich an, als würde das Kollar ihr die Luft nehmen, und als sie an den Petunien in dem kleinen gepflegten Gärtchen hinter dem Pfarrhaus vorbeikam, knöpfte Annie es endlich auf und atmete tief durch.

Reiß dich zusammen, sagte sie zu sich selbst. Dies ist weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt für Grübeleien.

Die Mitglieder der Gemeinde hatten sich bestimmt ihren Teil dabei gedacht, als Annie das Gotteshaus an diesem Samstag so übereilt verlassen hatte, doch das kümmerte sie wenig, ihr ging es um ihre Selbstachtung, die es zu wahren galt. Sie hatte einen Vertrag unterschrieben und damit die Aufgabe übernommen, die Gemeinde in Tapperhult zu leiten, also tat man einfach das, was man versprochen hatte.

Sie hörte die Schritte des Küsters. Er schlurfte derart über den Boden, dass er die geharkten Kieswege regelmäßig ruinierte. Verärgert richtete sie sich auf.

»Ich bin hier«, rief sie.

Er keuchte. »Ja, wo ist sie denn?«

»Sie ist hier, wie Sie sehen«, antwortete Annie. Nicht besonders freundlich. Sie war jetzt nicht in der Stimmung für Gespräche und vielleicht etwas ungerecht, denn von Karlssons schludrigem Gang abgesehen, war an ihm eigentlich nichts auszusetzen. Er erledigte seine Arbeit so, wie es sich gehörte. Doch im Moment spielte das keine Rolle. Sie hatte einen Moment Ruhe gesucht, und er störte sie.

»Die Besucher fragen sich …« Er brachte seinen Satz nicht zu Ende.

»Dann fragen sie sich eben«, sagte sie. »Ich muss einen Moment alleine sein.«

»Dann werde ich ihnen sagen, dass Sie … dass Sie … austreten mussten.« Er klang erleichtert.

»Ja, wenn Ihnen nichts Besseres einfällt«, erwiderte sie trocken und wedelte mit der Hand, auf dass er verschwinde. Sie wollte ins Haus gehen und einen Kaffee aufsetzen. Den Rest des Mandelkuchens essen, den sie noch im Kühlschrank stehen hatte. Sich jetzt zusammenzureißen würde ihr niemals gelingen. Natürlich erwartete das Brautpaar, das sie soeben getraut hatte, dass sie noch lächelnd an der Kirchentreppe stand und dann beim Festessen im Stora Hotel am Ehrentisch Platz nahm. Den Gedanken daran musste sie ganz einfach verdrängen.

Achtundachtzig Kilo. Tja, das war doch gar nicht so schlecht, dachte sie, als sie ein paar Stunden später wieder von der Waage stieg. Mit ihren 1,59 m hatte sie schon mehr gewogen. Weniger allerdings auch. Beim Essen mit dem Brautpaar hatte sie sich nur ein paar Salatblätter von dem veganen Büfett in den Mund geschoben. Ganz sicher lag es daran, dass sie jetzt nicht mehr auf die Waage brachte. Annie schüttelte den Kopf und drehte den Wasserhahn auf, öffnete den Badezimmerschrank und holte ein Zahnputzglas heraus, platzierte ein bisschen Zahncreme auf ihrer Bürste und zog sie schnell durch das laufende Wasser, bevor sie sie sich in den Mund schob. Der altbekannte Colgate-Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus, als sie jeden einzelnen Zahn sorgfältig bearbeitete. Eine elektrische Zahnbürste, von der manche Leute so viel hielten, kam ihr nicht ins Haus. Ebenso wenig legte sie Wert darauf, dass Zahnärzte, andere Doktoren oder eine Gemeinde ihr vorschrieben, wie sie ihr Leben zu leben hatte. Und veganes Essen? Nie wieder.

Sie füllte ihren Gefrierschrank mit Fleisch, das sie direkt von den Höfen aus der Gegend kaufte, um sichergehen zu können, dass die Tiere ein schönes Leben gehabt hatten – und mit dem Elchfleisch, das sie von ihrer besten Freundin bekam. Sollte sich herausstellen, dass auch diese Tiere irgendwelchen Quälereien ausgesetzt gewesen waren, musste sie sich etwas anderes einfallen lassen.

In der vergangenen Woche war sie zu ihrem jährlichen Check-up bei Dr. Lindström gewesen. Wie immer hatte er ihr Salat verordnet und gesagt, dass sie zwanzig Kilo zu viel auf den Rippen habe, und sie hatte wie immer erwidert, dass sie ernsthaft daran arbeiten werde. Dann war sie nach Hause gegangen und hatte Mandelkuchen gebacken, zu dem sie die Gemeindemitglieder einlud, wenn sie gut gelaunt war. Doch das kam so selten vor, dass sie den Kuchen meistens selbst verspeiste. Mit ihrem Gewicht hatte nur der Arzt ein Problem, sie selbst überhaupt nicht.

Wenn sie es mitunter nicht umgehen konnte, Menschen ins Haus einzuladen, dann durften die nur das Büro betreten, das sich gleich am Flur hinter der Eingangstür befand. Annie bemerkte zwar die neugierigen Blicke zu den übrigen Räumen des Pfarrhauses, doch es kam gar nicht infrage, dass ihre Gäste eine Hausbesichtigung machten. Das konnten sie gerne tun, wenn sie hier nicht mehr wohnte – was möglicherweise nicht in weiter Ferne lag. Schließlich war ihr Job hier nicht gerade komplikationslos.

Das Brautpaar, das sie heute getraut hatte, hatte im Arbeitszimmer gesessen und von der Liebe gezwitschert.

Wie naiv.

Natürlich waren sie jung und unerfahren, aber dennoch. Keiner von beiden hatte vor Intelligenz gestrotzt, und vielleicht würde sie genau das zusammenschweißen, dachte Annie und spuckte die Zahncreme wieder aus.

In einem Jahr würden sie mit einem Spross zurückkommen, den sie taufen sollte. Vierzehn Jahre später würde eine picklige, aufsässige Variante desselben Kindes konfirmiert werden, dann würden die Eltern sterben und begraben werden, und immer würde man erwarten, dass Annie sie mit einem frohen Gesichtsausdruck auf ihrem Weg begleitete. Vielleicht nicht bei der Beerdigung, aber sie müsste jedenfalls am Grab stehen und eine Menge Unsinn darüber erzählen, welch gute Menschen das gewesen seien. Und das, obwohl sie mehrfach Gelegenheit gehabt hatte, sich vom Gegenteil zu überzeugen. Derjenige, der nun unter die Erde sollte, war ein richtiger Mistkerl gewesen. Die Witwe würde heulen, und Annie würde sich fragen, ob die Frau taub und blind gewesen war.

Wenn sie es sich recht überlegte, so waren die pickligen, aufsässigen Jugendlichen eigentlich die, die sie am ehesten aushielt, aber eine Gemeinde hatte ja bekanntlich noch andere Mitglieder.

Annie ließ Wasser in ihr Glas und fantasierte beim Gurgeln, wie ihr Leben aussehen könnte, wenn sie nicht im Pfarrhaus dahinsiechte. Es stand für sie jetzt schon fest, dass sie als die langweiligste, unfreundlichste und grimmigste Pastorin in die Geschichte von Tapperhult eingehen würde. Sie nahm an, dass ihre Gemeindemitglieder irgendeinen Grund hatten, ein frohes Gesicht aufzusetzen. Sie hatte ihre Gründe, es nicht zu tun. Doch weiter war sie bislang nicht gekommen.

»Winston, es ist Zeit zum Schlafen«, rief sie und hörte, wie er die Treppe hinaufgelaufen kam. Kurz darauf erschien er in der Tür. Sein wedelnder Schwanz peitschte den Holzrahmen.

In zwei Sätzen war er da, und mit einem kurzen Kläffen, das seine Sabberspritzer über dem Zimmer verteilte, sprang die neunundsiebzig Kilo schwere Deutsche Dogge hoch ins Schlafzimmer und legte sich auf ihre Seite im Doppelbett des Pfarrhauses.

3

Zac trank die letzten Tropfen aus einer Kaffeetasse und lauschte, doch es war kein Ton aus Bonnies Zimmer zu hören, obwohl er sie vor einer Viertelstunde bereits geweckt hatte. Er stand vom Küchenstuhl auf.

»Hallo, aufwachen! Wir müssen gleich los, wenn du gebracht werden willst …«, rief er, als er in der Türöffnung stand und lächelnd seiner Tochter zusah, die mit einem Mal aufrecht im Bett saß. Ihr noch immer babyweiches Haar stand in alle Richtungen ab. Was jetzt völlig egal war, denn gleich würde sie sowieso eine Cap über ihren Kurzhaarschnitt ziehen.

»Ich flitze unter die Dusche«, rief sie ihm zu. »Kannst du mir vielleicht schon ein Brot schmieren, Daddy?«

Das hatte er bereits getan. Und auch ein Glas Saft eingeschenkt.

Er ging hinüber ins Schlafzimmer an den Kleiderschrank und nahm zwei Krawatten heraus. Dann hielt er sie vor sich und sah in den Spiegel. Als ob es eine Rolle spielte. Er trug sowieso immer einen dunklen Anzug mit weißem Hemd, da reichte ein kleiner Farbtupfer. Früher, als seine Frau ihn noch sexy gefunden hatte, auch wenn sie nicht getrunken hatte, hatte sie die leuchtend blauen Krawatten geliebt. »Sie haben dasselbe tiefe Blau wie deine Augen, Schatz«, hatte sie gesagt und ihre Hand seinen Rücken hinunterwandern lassen. Doch das war lange her.

Wenn sie heute das Schlafzimmer betrat, wenn er da war, ging sie zielstrebig vor zu ihrem eigenen Kleiderschrank und begann zu wühlen. Er sah immer nur ihren Rücken. Das Unterkleid saß wie angegossen. Sie hatte noch immer eine fantastische Figur, das konnte er ganz objektiv feststellen. Denn sie machte ihn nicht an, die ganze Frau machte ihn nicht mehr an. Wenn er sie ansah, fühlte er gar nichts mehr. Er war innerlich tot. Das Einzige, was ihn dann umtrieb, war die Vorstellung, sie verlassen zu müssen. Es konnte nicht der Sinn des Lebens sein, dass man mit 42 Jahren so eine leblose Beziehung führte.

Nicht wahr?

Seine Gedanken machten ihm Angst. Die Hand, die die Krawatten hielt, zitterte. Bonnie war das Wichtigste, und fünfzehn war ein sensibles Alter, das hatte er in Büchern gelesen, da seine eigene Teeniezeit schon so weit zurücklag. Er hatte Angst, den Kontakt zu ihr zu verlieren, da war er ganz egoistisch, das würde er nicht aushalten.

»Was meinst du?«, fragte er Katarina, die mit ihrem Frühstücksbrot vor dem Fernseher hockte. Sie drehte sich zu ihm um und betrachtete die Krawatten, die er ihr vor die Nase hielt.

Dann zuckte sie mit den Schultern. »Beide sehen gut aus, nimm irgendeine.«

Ihr Blick war nicht mehr vernebelt vom Alkohol. Sie lallte nicht, das war das Erste, was er wahrnahm, wenn sie den Mund aufmachte. Für Bonnie war es gut, wenn ihre Mutter nüchtern war, für Zac spielte es längst keine Rolle mehr.

Er sah sie eine Weile still an.

»Was starrst du mich an?«, zischte sie.

»Ich musste nur denken, wie tief du gesunken bist. Das ist alles.«

Sie fuhr mit der Hand über den Couchtisch und wischte die Krümel zusammen, die sie dann auf ihren Teller fallen ließ. Das Service hatten sie von seiner Mutter geschenkt bekommen. Wahrscheinlich würde er es bei der Scheidung behalten. War das nicht so? Man teilte seine sieben Sachen und richtete den Blick nach vorn.

Sie stand auf, den Teller in der Hand, und ging an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.

»Nimmst du Bonnie mit?«, fragte sie ihn.

»Tu ich das nicht jeden Morgen?«, antwortete er ihrem Rücken, der auf dem Weg in die Küche war.

»Du musst doch nicht gleich schnippisch sein.«

Er seufzte leise. Dann sagte er, nur um freundlich zu sein: »Entschuldige.«

An guten Tagen dachte er, dass es überhaupt keinen Anlass gab, sich Sorgen um den Umgang mit seiner Tochter zu machen, auch wenn sie geschieden wären. An schlechten Tagen überkam ihn die Angst, dass Katarina die Beziehung zwischen Bonnie und ihm vergiften könnte.

Wenn sie wieder anfinge zu trinken, dann wäre die Katastrophe absehbar.

Eigentlich dachte er auch nicht mehr an den Seitensprung, der hatte das Fass nur zum Überlaufen gebracht. Sie hatte alles abgestritten, behauptet, er sei verrückt. Nie im Leben würde sie … Bis die Ehefrau dieses Mannes Zac kontaktiert hatte. Dann war Katarina in Tränen ausgebrochen, hatte behauptet, dass es genauso sehr Zacs Schuld gewesen sei, und dann hatten sie eine Paartherapie gemacht, und sie hatte mit dem Trinken aufgehört.

Dann war Zac auf eine Konferenz gefahren und mit Chlamydien nach Hause gekommen. Nun waren sie quitt, dann folgte eins aufs andere, und eine Flasche nach der anderen wurde geöffnet.

Behandlungen, Therapien, und am Ende hatten sie das Gefühl, dass sie etwas entdeckt hatten, das klein und zerbrechlich war, aber so etwas wie ein neuer Anfang. Das Lachen war zurückgekommen. Aber es hatte nicht angehalten, denn nun, im Jahr danach, war kaum ein Lächeln übrig geblieben. Sie sprachen nicht mehr miteinander. Keiner von ihnen gab sich mehr Mühe.

Er warf noch einen letzten Blick auf die Krawatten, dann ging er zurück ins Schlafzimmer, entschied sich für die gelbe und legte sie sich um den Hals. Wenn es jetzt etwas zu lachen gab, dann nur mit Bonnie. Mit Katarina konnte er nicht einmal Späße machen, und das lag natürlich nicht nur an ihr, dachte er, während er seinen Knoten wie gewohnt band. Er warf einen Blick auf den Wecker am Bett.

»Bonnie«, rief er. »Wir müssen los.«

»Zeit zum Mittagessen?« Sein bester Freund Matteo zog Grimassen und gestikulierte draußen vor der Glasscheibe. Zac nickte und zeigte aufs Telefon.

»Mama, ich muss los, aber wir können vor dem Wochenende doch noch einmal telefonieren? Ich werde mit Bonnie reden, aber ich bin sicher, dass sie mitkommt. Katarina ist beschäftigt, fürchte ich.«

Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, das Sakko überzuwerfen, doch da sie draußen über zwanzig Grad hatten, ließ er es sein.

Matteo sah auf die Uhr. »Halb zwölf. Vielleicht ist im Il Cibo noch Platz. Was meinst du?«

»Perfekt.«

Das Büro war halb leer, viele waren bereits im Urlaub. In der nächsten Woche würden Katarina, Bonnie und er den obligatorischen Sommerhausurlaub an der Westküste verbringen. Doch in diesem Jahr verursachte ihm allein die Vorstellung davon Magenschmerzen. Schlagartig hatte sich sein Appetit verzogen.

Aber sie würden auf jeden Fall fahren, keine Frage. Er selbst hatte, schon seit er sechs war, jeden Sommer dort verbracht. Seine Mutter und er hatten noch am letzten Schultag den alten Saab vollgepackt und waren erst am Wochenende vor Schulbeginn wieder nach Norrköping zurückgekehrt. Bonnie hatte die gleichen herrlichen Sommerurlaube erlebt, wenn auch nicht ganz so viele Wochen.

Den Kahn hatte er immer noch. Jetzt lag das Boot auf dem Grundstück, unter einer Plane geschützt, und wurde nur dann ins Wasser gelassen, wenn Zac sich in Hunnebo­strand aufhielt. Die Seelage war ein Riesenvorteil. Es war einfach, das Boot ins Wasser zu ziehen, und ebenso unkompliziert, den Außenborder anzubringen, der im Winter immer im Keller stand. Er transportierte sie dann mit fünf Knoten zu all den größeren und kleinen Inseln, und mittlerweile konnte Bonnie es auch selbst steuern.

Seine Mutter war immer noch unterm Jahr im Ferienhaus. Meist nahm sie noch eine Freundin aus Norrköping mit. Sie stiegen in den Zug, und nach mehrmaligem Umsteigen und sechs Stunden Fahrt waren sie dann endlich vor Ort. Doch wenn Katarina dabei war, wollte seine Mutter nicht kommen. Sie habe das Gefühl, dann immer im Weg zu sein, hatte sie erklärt. Nicht, dass die beiden sich nicht mochten, aber das Häuschen war nicht sonderlich groß, und wenn man unterschiedliche Tagesrhythmen hatte, konnte man sich schnell in die Quere kommen. So hatte Zacs Mutter beschlossen, zum Sommerhaus lieber mit einer gleichaltrigen Freundin zu fahren, die ebenfalls nach dem Mittagessen gern ein Schläfchen hielt. Nie hatte sie ein Wort über den Alkoholkonsum ihrer Schwiegertochter verloren, und das war vor allem darauf zurückzuführen, dass Zac sich alle Mühe gab, ihn vor ihr zu verbergen. Und aus unerklärlichen Gründen war es Katarina gerade dann auch gelungen, nüchtern zu bleiben. Doch sobald die Mutter abgereist war, sah das ganz anders aus …

»Was ist mit dir los, du machst so ein trauriges Gesicht.« Matteo griff nach dem Brotkorb, den die Bedienung schon bei der Aufnahme der Bestellung auf den Tisch gestellt hatte. »Sprich schon, was hast du?« Er ließ Olivenöl auf den Vorspeisenteller tröpfeln und tunkte das Brot hinein, um es anschließend mit etwas Salz zu bestreuen.

»Eigentlich gar nichts Besonderes. Mir geht unser Urlaub an der Westküste durch den Kopf. Wie ich es dort aushalten soll mit ihr.«

Nach all den Jahren war es Zac noch immer unangenehm, über Katarina schlecht zu reden. Doch sie war ja das Problem, daher blieb ihm nichts anderes übrig. Er fragte sich, ob sie jemandem erzählte, wie es bei ihnen lief. Er konnte es nur hoffen. Sie ging brav zu den Treffen der Anonymen Alkoholiker, und er vermutete, dass sie sich dort immerhin Luft machte. Hätte er nicht seinen Freund Matteo gehabt, dann hätte er seine Gedanken mit niemandem teilen können, er hätte sich nur noch tiefer vergraben.

Natürlich sollte Zac mit seiner Frau reden, doch das war nicht leicht. Wenn er sie fragte, wie es ihr ging, zuckte sie nur mit den Schultern und antwortete: Gut. So weit war er mit seinen Fragen bislang gekommen. Was er eigentlich meinte, war: Bist du zufrieden mit unserer Situation? Hast du nicht auch das Gefühl, dass es vorbei ist? Sollten wir nicht darüber nachdenken, getrennte Wege zu gehen und alles im Sinne unserer Tochter zu regeln? Aber dazu kam es nie. Und auf seine unbeholfene Frage, wie es ihr ging, antwortete sie genau so, wie es zu erwarten war.

»Ich sollte dich vielleicht mal auf mein Boot mitnehmen. Wenn man damit losheizt, verfliegen auch die Gedanken.« Matteo grinste, er wusste genau, wie gern Zac auf seinem schnellen Motorboot den Kapitän spielte.

»Danke, wahrscheinlich ist das genau das, was ich brauche. Salzwasser und ein Pils auf dem Kai. Wann fährst du nach Smögen?«

Die Bedienung servierte die Teller mit den hausgemachten Fleischbällchen, und Zac spürte, wie der Hunger zurückkam. Er würde mit Katarina reden, bevor sie in den Urlaub aufbrachen, das versprach er sich selbst. Sie waren jetzt fünfzehn Jahre verheiratet, und früher hatten sie nächtelang reden können, so schwer konnte es doch wirklich nicht sein?

Er beschloss, früh Feierabend zu machen und Bonnie von ihrem Training abzuholen. Gerade als sie aus der Sportanlage kam, die Sporttasche über der Schulter baumelnd, fuhr er vor. Sie rannte auf ihn zu und strahlte ihn an, dann öffnete sie die Wagentür und sprang auf den Beifahrersitz. Sie roch nach Schweiß. Als sie den Sicherheitsgurt anlegte, lächelte sie ihn an. »Ich war krass heute. Echt krass«, sagte sie und riss die Arme in die Luft. »Meinst du, wir sollten den Trainer der Nationalmannschaft jetzt anrufen oder doch noch ein paar Jahre damit warten?«

»Ich bin fürs Warten.«

Zac und Katarina begleiteten sie, wann immer es ging, zu ihren Fußballspielen, meist jedoch war es Zac, der am Spielfeldrand stand. Ihre Tochter hatte Talent und durfte schon bei den Älteren spielen, was seine Vor- und Nachteile hatte. Sie hatte nicht viele Freunde in ihrem Alter, und noch hatte Zac nicht kommentiert, dass sie meist mit 16-Jährigen in Kontakt war, weil sie gemeinsam Sport trieben und sich auf dem Platz trafen. Aber wenn Bonnie auf die Idee kam, auch an den Partys teilnehmen zu wollen, dann musste er es verbieten. Dafür war sie nach seiner Auffassung noch viel zu jung. Katarina ließ sie an der etwas längeren Leine laufen und vertrat die Ansicht, dass Bonnie immerhin so reif sei, selbst zu merken, was gut für sie war und was nicht. Zum Glück mussten sie diese Diskussionen jetzt noch nicht führen.

Als sie in die Straße einbogen, in der sie wohnten, sah Zac Katarinas Wagen, und sofort spürte er den Druck im Magen. Das unangenehme Gefühl wurde stärker, bis er seinen Vorsatz, sofort mit ihr zu reden, wieder aufschob. Sie konnten ebenso gut nach dem Urlaub reden, dann konnte das Gespräch Bonnie auch nicht die Ferien vermasseln.

Da hörte er seine Tochter etwas brummeln.

»Sorry, was hast du gesagt?« Er schaltete den Motor ab und drehte sich zu ihr um.

»Ich freue mich so auf Hunnebostrand. In den Wochen fällt das Fußballtraining sowieso aus, daher passt es perfekt. Ich bin wahrscheinlich die einzige Fünfzehnjährige auf der ganzen Welt, die gern mit ihren Eltern abhängt«, sagte sie lachend.

Das war natürlich ein Statement. Zac würde seiner Ehe im Urlaub noch eine letzte Chance geben, und sollte es nicht funktionieren, dann würde er das Gespräch mit seiner Frau im August führen.

Das flaue Gefühl im Magen verzog sich nach und nach. Das war der Vorteil, wenn man Konflikten aus dem Weg ging.

4

Nikki stand auf dem Hof und sah sich ungeduldig um. Immer wieder warf sie einen Blick auf die Uhr. Annie hätte längst hier sein sollen, doch wahrscheinlich führte sie dieses Monster noch Gassi und kam deswegen zu spät. Auch wenn die Fahrt nur eine halbe Stunde dauerte, musste sie wegen ihm sicherlich einmal anhalten.

Der Lärm des kaputten Auspuffrohrs an ihrem alten Auto verriet schließlich, dass sie im Anflug waren. Nikki hatte vorgeschlagen, ihr ein neues Auto zu kaufen, doch Annie hatte das großzügige Angebot mit den Worten »nie im Leben« abgelehnt.

Nikki winkte freudig, als Annie auf den Hof getuckert kam. Als der Wagen hielt, riss Nikki die Fahrertür des Ford Focus auf und schloss Annie innig in die Arme, kaum dass sie ausgestiegen war.

»Mein Gott, bin ich froh, dass du da bist. Danke.«

Es gab niemanden, den Nikki lieber traf, eigentlich nie.

Annie war ihre beste Freundin, ihr vertraute sie alles an. Annie hatte sie mitten in der Nacht angerufen, als ihr Vater gestorben war. Und Annie hatte schon eine Stunde später bei ihr in der Küche gestanden und Milch mit Honig warm gemacht. Annie war bis zum Morgen geblieben und hatte sich vergewissert, dass es Nikki so weit gut ging, bevor sie sich wieder auf den Weg zu ihrer Gemeinde machte und die Predigt am Mittsommertag hielt. Seitdem hatte sie jeden Tag angerufen, nur um ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Nikki wusste, dass Annie ein Auge auf sie hatte, und dagegen hatte sie nicht das Geringste einzuwenden.

»Du erstickst mich ja«, hörte Nikki von irgendwoher auf Brusthöhe. Lachend ließ sie die Freundin los. »Warum hörst du eigentlich nicht auf zu wachsen, so wie es anständige Menschen tun?«, fragte Annie und zupfte ihr kurzes Haar zurecht. »Und du hast einen größeren Busen bekommen, seit wir uns zuletzt gesehen haben, obwohl das erst ein paar Wochen her ist.«

»Alles ist mehr geworden, weil ich ein Frustesser bin, aber gewachsen bin ich sicherlich nicht. Bist du vielleicht eingegangen?«, fragte Nikki, während sie versuchte, Winston wegzuschieben, der sie einfach nicht in Ruhe ließ. »Und ihn solltest du in der Hundeschule anmelden«, sagte sie. »Oder ihn einreiten lassen. Meine Güte, er ist ja mehr ein Pony als ein Hund.«

»Winston«, sagte Annie streng. »Platz.«

Die beiden Frauen betrachteten den Hund. Er blickte erstaunt zurück, die Ohren gespitzt und mit Schwanzwedeln, das nie aufhörte. Und natürlich setzte er sich nicht. Annie wandte den Blick ab und sah Nikki scharf an.

»Und wann soll ich Zeit für solche Kurse haben, hast du darüber schon mal nachgedacht?«, zischte sie. »Ich bin vollauf mit Menschen beschäftigt, die ihr Leben nicht im Griff haben und es mir erwartungsvoll in den Schoß legen.« Sie streichelte Winston, der nun dicht neben ihr stand. Er reichte ihr etwa bis zur Taille. »Die böse Tante versteht nicht, was bei uns los ist«, erklärte sie ihm. »Sie hat Pferde, die dumm wie Kühe sind, während du intelligent genug bist, nicht zu tun, was ich sage. Du bist Frauchens Liebling.« Sie kraulte ihn hinter den Ohren.

Nikki musste lachen.

»Es tut gut, dass du da bist. Jetzt komm, und erzähl mir alles von deiner furchtbaren Arbeit und was die Menschen alle so Schreckliches von dir wollen. Mama wird irgendwann am Nachmittag eintrudeln, nur dass du Bescheid weißt.«

Nikki griff nach Annies abgewetzter Reisetasche und ging langsam auf das Haus zu. Sie hatte ein kleines Mittagessen vorbereitet. Fleischwurst aus dem Ofen und Kartoffelmus. Annies Leibgericht.

»Was hat sie denn hier zu suchen?«

»Sie muss wohl feiern, dass Nikodemus unter der Erde ist, nehme ich an. Ich hab ehrlich gesagt keine Ahnung.«

»Die übliche nette Stimmung in deiner Familie, wie ich höre.«

Nikki schüttelte den Kopf. »Lass uns nicht über meine Familie reden. Wie geht’s dir? Noch immer keine Dates?«

Sie liefen durch die offene Tür und stiegen die Treppe hinauf, wo das Zimmer war, in dem Annie üblicherweise übernachtete, wenn sie Gyllentofta besuchte. Annie zu sagen, dass der Hund in der Küche oder besser noch im Stall schlafen solle, war aussichtslos. Dann würde Annie ihn unter den Arm klemmen und auf dem Absatz kehrtmachen.

»Ich bin gar nicht daran interessiert, jemanden kennenzulernen. Warum erkundigst du dich jedes Mal danach, wenn wir uns sehen?« Annie schob sich an ihr vorbei und öffnete die Zimmertür.

»Du hast recht, tut mir leid, ich werde kein Wort mehr darüber verlieren.« Nikki stellte Annies Tasche auf dem Boden ab. Sie ging vor ans Fenster und zog die Vorhänge auf. Das Licht flutete das Zimmer und fiel auf den blitzblanken Holzboden, der kurz vor Mittsommer frisch gebohnert worden war.

Einmal im Jahr kam ein Reinigungsunternehmen und nahm sich zwei Wochen lang alle Zimmer des Herrenhofes vor. Nikkis Vater hatte darauf bestanden, dass alle Räume jederzeit benutzbar waren, aber damit war es jetzt nach seinem Ableben vorbei. Künftig würde sie die Hälfte der Zimmer in der kalten Jahreszeit abschließen. Der ganze Westflügel würde im Winter nicht voll geheizt werden: der Salon, der Speisesaal und sechs Schlafzimmer im Obergeschoss. Die Stromkosten, die dieses riesige Anwesen verursachte, fraßen vermutlich die Einnahmen aus der Verpachtung komplett auf, aber nun war es an der Zeit, dass Nikki sich damit intensiv auseinandersetzte. Bald schon musste sie sich einen Überblick über ihre wirtschaftliche Lage verschaffen.

»Du redest von dir selbst. In diesem Haus kommt bestimmt jeder auf die Idee, den Nächstbesten zu heiraten, nur um hier nicht allein sein zu müssen. Und wer soll das alles nach dir übernehmen?« Annie griff nach ihrer Reisetasche und stellte sie auf dem großen Bett ab.

Nikki zuckte mit den Schultern. Sie war ja noch gar nicht richtig im Bilde. Aber es stimmte. Einen Erben gab es nicht, und über all das würde sie sich in den kommenden Jahren Gedanken machen müssen. Sie öffnete den Kleiderschrank und nahm ein paar Bügel heraus.

»Hier«, sagte sie und reichte sie Annie. »Wir wollen ja nicht, dass deine Kleider Falten kriegen.«

»Haha, sehr witzig.« Dann erstarrte Annie vor Schreck. »Ich muss doch wohl auf Nikodemus’ Beerdigung kein Kleid tragen? Ich habe einen schwarzen Rock dabei, ich dachte, das reicht.«

»Ja, sicher. Zieh an, was du willst.«

Nikki war es völlig egal, was Annie oder ein anderer Gast trug. Für sie markierten Reitstiefel die Grenze. Das einzige schwarze Kleid, das ihr noch passte, hatte sie in die Reinigung gegeben.

»Ich nehme an, die Kirche wird morgen voll sein?«

»Ja, mehr als voll. Und etwa hundert Gäste werden hinterher noch zu uns kommen. Aber daran will ich gar nicht denken. Kannst du nicht lieber was von deiner verrückten Gemeinde erzählen?«

Nach dem Mittagessen spannte Nikki Britta vor den Wagen.

Das große Nordschwedische Kaltblut war denselben Weg schon hundertmal gegangen, und Nikki ließ die Zügel los, während sie Annie lauschte.

Britta trottete vor dem Wagen in einem gemächlichen und bequemen Takt, während Annie von den Zweifeln sprach, die sie umtrieben. Sie erklärte, sie spüre die Gegenwart Gottes nicht mehr so wie früher, und das mache ihr Angst. Diese Gefühle hatte sie schon eine ganze Weile mit sich herumgetragen, wusste aber einfach nicht, wie sie damit umgehen sollte. Diese Entscheidung, die sie einst als Berufung empfunden hatte, rückgängig zu machen, war weitreichend, aber war es eine Alternative, ihren Beruf weiter auszuüben, wenn die Verbitterung immer schlimmer wurde? Davon hatte niemand etwas. Weder die Gemeinde noch sie selbst.

»Früher ist es mir leichtgefallen, empathisch zu sein«, sagte sie offen. »Heute rege ich mich über die Menschen auf, die ihre Probleme nicht in den Griff kriegen, ich verachte diejenigen, die springen, wenn ich sie nur streng ansehe, und ich ertrage es nicht, mir das Gejammer von Paaren anzuhören, die sich über ihren Partner beschweren, ohne ihren eigenen Anteil am Scheitern ihrer Beziehung zu erkennen. Aber wenn ich keine Pastorin bin, wer bin ich dann? Soll ich Gott verraten? Er ist der einzige Mann, mit dem ich es je ausgehalten habe.« Sie lächelte betrübt.

»Bist du sicher, dass es ein Mann ist?«

»Überhaupt nicht. Aber mir gefällt die Vorstellung, dass es heutzutage immerhin ein Exemplar davon gibt, das perfekt ist.«

Nikki brach in Gelächter aus und schlug die Zügel leicht, um Britta zum Trab anzuspornen. Als sie den Bach passiert hatten, steuerte Nikki das Pferd nach rechts und hielt an. Sie befestigte die Zügel an einem Baum, so wie immer. »Komm«, sagte sie zu Annie und hielt ihr die Hand hin, um ihr beim Aussteigen zu helfen.

Der große, flache Stein in der Mitte des Wassers war warm und trocken. Wenn sie dicht aneinanderrückten, war Platz für sie beide. Das Wasser rauschte um sie herum. Annie zog einen Schuh aus, streckte das Bein und tunkte ihren Zeh ins kalte Nass, doch zog ihn schnell wieder zurück.

»Es ist kälter, als man denkt, oder?«, sagte Nikki.

»Wie haben wir hier früher baden können?«, fragte Annie.

»Wir waren Kinder, anders kann ich es mir nicht erklären«, antwortete Nikki, die, seit sie zehn war, kein Bad mehr hier genommen hatte.

Annie warf einen Blick auf die Uhr. »Wenn wir Bibbi bei ihrer Ankunft begrüßen wollen, sollten wir uns wieder auf den Weg machen.«

»Einen kleinen Moment noch«, sagte Nikki und holte einmal tief Luft. Diesen Druck auf dem Brustkorb wollte sie noch loswerden, bevor sie ihrer Mutter in die Augen sah. Irgendwas fühlte sich komisch an, aber das war einen Tag vor der Beerdigung wohl auch kein Wunder. Wahrscheinlich musste sie nur ein paarmal tief durchatmen.

»Ist es nicht herrlich, all die alten Freunde wiederzusehen?«, rief Bibbi, als sie in die Halle rauschte.

»Willkommen, Mama, ich hoffe, du hattest eine gute Reise.«

Nikki streichelte ihr über den Arm und nahm ihrer Mutter den Koffer ab, den sie ihr hinhielt.

Eine zärtlichere Begrüßung fand nicht statt. Bei allen anderen wurden Küsschen rechts und links und innige Umarmungen ausgetauscht, aber Mutter und Tochter gingen auf Abstand. Nikki hielt es nicht aus und hatte sich all diese Berührungen verbeten, da sie ja doch nichts bedeuteten. Sie nahm diejenigen in den Arm, die sie mochte, so wie Annie, aber ihre Mutter war ein viel zu komplizierter Mensch, als dass sie ihr so nah sein wollte.

Annie war die Einzige, die Nikkis Mutter vorbehaltlos mochte. Sie hatten sich bei Nikkis Hochzeit gesucht und gefunden, Annies erste Trauung nach der Priesterweihe. Nikki und Magnus waren an diesem Tag so glücklich gewesen, dass Annies Nervosität niemandem aufgefallen war. Strahlend hatten sie Ja gesagt, völlig im siebten Himmel, und hatten so die Versprecher der Pastorin gar nicht gehört.

Hinterher hatte Nikkis Mama Annie einen großen Whisky in der Sakristei eingeschenkt, um deren Nerven zu beruhigen, was natürlich höchst unchristlich war. Schließlich stand Annie als beste Freundin der Braut auch noch eine Rede beim Festessen bevor. In Annies Augen war das jedoch weniger ein Ausdruck von Gotteslästerung als von Empathie. Statt blinden Gehorsams lieber das Wohlergehen eines Menschen im Blick zu haben, war doch eine wunderbare Eigenschaft.

Dann waren sie sich nicht mehr über den Weg gelaufen. Erst fünf Jahre später trafen sie bei Magnus’ Beerdigung wieder aufeinander. Ohne ein Wort hatte Nikkis Mutter ihr den Flachmann gereicht.

Nikki dachte gern an ihren Hochzeitstag, sich an die Beerdigung zu erinnern, fiel ihr jedoch immer noch schwer. Ein glänzender Mahagonisarg. Entsetzliche Musik. Ein schwarzer Wagen mit abgedunkelten Scheiben.

Hinterher hieß es, es sei schön gewesen. Nikki verstand nicht, was die anderen damit meinten. Magnus war gerade dreißig geworden und an einem Schlaganfall gestorben. Was sollte daran schön sein?

Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Annie in dem Moment aus ihrem Zimmer kam, als sie mit ihrer Mutter im Schlepptau den Flur betrat. Diese streckte die Hand aus und lief auf sie zu. »Annie, wie schön, dich zu sehen. Es gibt so viel zu erzählen, aber du musst dein Hundemonster wirklich an die Leine nehmen, wenn wir einen Spaziergang machen wollen.«

Nikki öffnete die Tür vom Zimmer nebenan. »Hier ist dein Bett, Mama. Mach es dir bequem, dann gibt es nachher einen Kaffee. Ich muss kurz in den Stall.«

Schließlich konnte sie den Hof nicht vernachlässigen, nur weil sie Gäste hatte, und sobald sie sich überzeugt hatte, dass alle versorgt waren, lief sie hinüber ins Stallgebäude. Trassel kam ihr schon auf halbem Wege entgegen und strich ihr um die Beine. Sie beugte sich zu ihm hinunter und kraulte ihn hinter dem Ohr. »Wo bist du denn gewesen, ich habe dich tagelang nicht gesehen?«, fragte sie. »Hast du Hunger?« Sie setzte sich in Bewegung, und der Kater folgte ihr, denn er schien zu wissen, was es gab.

Nikki warf einen Blick zu Oberons Box, als sie auf die Küche neben dem großen Stalltor zuging. Er hielt seinen Kopf über den Rand der Box, und es sah aus, als nicke er ihr zu. Er war das intelligenteste Pferd, das sie kannte.

Als Magnus plötzlich starb, hatte sie Oberon erst zwei Monate gehabt. Doch es war ihr vorgekommen, als ob das Pferd es verstanden hätte. Immer wieder hatte es sie angeschaut und sich etwas näher an sie herangetraut, wenn sie in seiner Box saß und weinte. Oberon hatte den Hals ausgestreckt und ihr Luft zugepustet, bis er es schließlich gewagt hatte, sie mit dem Maul zu berühren.

Einen Monat nach der Beerdigung hatte sie ihren Kopf schluchzend in seiner Mähne vergraben, und er hatte leise geschnaubt.

Annie und er waren ihre allerbesten Freunde.

5

Die Dorfkirche war brechend voll. Nikki ging langsam zwischen den Reihen hindurch und nickte den Gästen diskret zu. Sie kannte jeden Einzelnen, das Dorf war nicht groß. Und alle waren da. Nikodemus war beliebt gewesen, obwohl er schon vor so vielen Jahren nach Mallorca übergesiedelt war. Jemand reichte Nikki die Hand zum Trost, und Nikki erwiderte den Händedruck, bevor sie zu ihrem Platz in der Bank vor dem Altar ging.

Sie nahm den dünnen schwarzen Schal von den Schultern, den sie über das schwarze Kleid gelegt hatte. Es war schwer, den Blick vom Sarg, der direkt vor ihnen stand, abzuwenden, obwohl sie schon eine Stunde vor den anderen in der Kirche gewesen war. Sie war absichtlich schon so früh dort gewesen, denn sie hatte keine Ahnung gehabt, welche Gefühle sie möglicherweise übermannten. Daher hatte sie sich entschlossen, dem Sarg mit ihrem toten Vater gegenüberzutreten, bevor sich die Kirchenbänke füllten. Anders hatte sie, ihre Mutter und Annie gefahren. Sie hatten mit dem Pastor gesprochen und die Blumenkränze bestaunt. Mehr als dreißig Kränze, das ist nicht schlecht, hatte Nikkis Mutter ihr zugeflüstert. Nikki hatte gar nichts gefühlt, als sie den schwarzen glänzenden Sarg ansah. Vielleicht etwas Nervosität vor der Zeremonie, aber mehr nicht. Sie hatte das Bild ihres Vaters aufgestellt und es kurz mit den Fingern berührt, doch es kamen nicht die Gefühle auf, die sie erwartet hatte. Das Porträt ihres Vaters war etwa zehn Jahre alt. Nikki mochte es gern. Darauf sah er verschmitzt aus, und genau so hatte sie ihn erlebt. Es war schwer gewesen, ihm für längere Zeit böse zu sein, auch wenn er es nicht immer verdient hatte, dass man ihm verzieh. Müsste sie dann nicht doch die eine oder andere Träne über seinen Tod vergießen? Was war bloß mit ihr los?

Die drei Frauen, die in der ersten Bank saßen, waren ganz in Schwarz gekleidet. Warum Mutter sich aufführte, als sei sie die trauernde Witwe, war unbegreiflich, aber wahrscheinlich wollte sie als seine einzige Ex-Frau etwas Besonderes sein. Vielleicht war das der Fingerzeig darauf, dass Nikkis Vater nie wieder geheiratet hatte, sondern immer nur vorübergehende Beziehungen eingegangen war? Ob wohl seine letzte Freundin, Rafaela, auch gekommen war? Nikki sah sich diskret um. Möglicherweise hatte sie ganz hinten Platz genommen. Er hatte immer von seiner »Nachbarin« gesprochen, aber das hatte Nikki ihm nicht abgenommen. Auf diesem Hügel von Mallorca wohnten nur reiche Ausländer, kein Spanier konnte sich diese Immobilien leisten, das hatte er selbst gesagt.Dann gehört mir jetzt wohl ein Haus in Spanien, dachte Nikki. Ihr war klar, dass sie nie die Zeit haben würde, dorthin zu fahren. Dieses Haus musste natürlich verkauft werden, aber das hatte im Moment keine Priorität. Um all den Papierkram würde sie sich kümmern, wenn ihre Anwältin aus dem Urlaub zurück war. Sie war vor Mittsommer weggefahren, bevor Nikkis Vater gestorben war, und Nikki hatte ihr am Telefon mitgeteilt, dass kein Grund zur Eile bestand: »Alles gut, wir beide müssen uns doch nur hinsetzen und alles durchgehen, melde dich einfach, wenn du aus den USA zurück bist.« Sylvia hatte geantwortet, dass sie einen Kollegen informiert habe, falls doch etwas erledigt werden müsse, aber das konnte Nikki sich kaum vorstellen.