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Drama, Liebe und Intrigen im altehrwürdigen Hotel Flanagans London, Silvester 1959: Im altehrwürdigen Luxushotel Flanagans knallen die Champagnerkorken. Die prominenten Gäste stoßen mit der umschwärmten Hotelbesitzerin Linda Lensing an. Sie führt das bekannte Haus im Herzen der britischen Metropole. Mit nur 21 Jahren gab sie dafür ihr Leben in einer beschaulichen schwedischen Kleinstadt auf. Das große Erbe ihres Vaters wartete in London auf sie. Linda hat gekämpft - und den Ruhm des Hotels noch gesteigert. Doch das neue Jahr bringt eine Bedrohung mit sich: Lindas Cousins und vermeintliche Miterben drängen auf den Verkauf des Hotels. Zusammen mit ihrer waghalsigen besten Freundin Mary schmiedet Linda einen Plan. Doch ist das Flanagans wirklich ihr Lebenstraum?
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Willkommen im Flanagans
ÅSA HELLBERG wurde 1962 in Fjällbacka geboren. Heute lebt sie mit Sohn, Katze und ihrem Lebensgefährten in Stockholm. Sie arbeitete unter anderem als Flugbegleiterin, Coach und Dozentin, bevor sie mit dem Schreiben begann. Mit ihren Romanen schrieb sie sich auf Anhieb in die Herzen der Leserinnen und stand wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste.Von Åsa Hellberg sind in unserem Hause bereits erschienen: SommerfreundinnenHerzensschwesternSommerreiseMittsommerleuchtenWir sehen uns im Sommer
Åsa Hellberg
Das Hotel unserer Träume
Aus dem Schwedischen von Stefanie Werner
Ullstein
Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de
Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Juli 2020© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020 © 2019 Åsa HellbergDie Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel Välkommen till Flanagans bei Forum, Stockholm.Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: Arcangel Images / © Rekha Arcangel (Frau); bürosüd° GmbH (Schild, Blumen, Gebäude)Autorenfoto: © Nils MoernerE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten. ISBN 978-3-8437-2300-8
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Die Autorin / Das Buch
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Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
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Für Helen
Keiner kann lachen wie wir
Fjällbacka 1949
Großmutter sah immer noch elend aus, dachte Linda, als sie ihr das Gesicht abtupfte. Tat sie das jetzt nicht schon zum siebten Mal an diesem Tag? Sie berührte mit den Lippen die Stirn der alten Frau. Fühlte sie sich nicht schon etwas weniger heiß an? Nach Aussage von Doktor Bunsen konnte es sich jetzt in beide Richtungen entwickeln, eine Prognose, die nicht gerade rosig war. 83 Jahre waren zudem ein beachtliches Alter, und Großmutter hatte vor ein paar Tagen selbst gesagt, dass es jetzt gut sei. Sie sei bereit, hatte sie geflüstert. Doch dann hatte sie mit einem leichten Seufzer hinterhergeschoben: »Aber leben möchte man ja auch«, daher schien Großmutter mit allem, was kam, zufrieden zu sein. Doch Großmutter durfte nicht sterben. Ein Leben ohne sie konnte Linda sich nicht vorstellen. Papa würde sofort sagen, Linda solle dann zu ihm nach London kommen, aber Fjällbacka war doch ihr Zuhause.
Jetzt lag Großmutter da im Bett wie ein Vogeljunges. Ihre Hände so dünn, die Haut blau, wo die Adern durchschienen. Die Eheringe saßen lose am Ringfinger, als ob es nicht ihre wären.
Linda hängte den Waschlappen an die Zinkwanne, die neben dem Bett stand, schnäuzte sich, ließ sich dann auf dem Stuhl neben dem Krankenbett nieder und ergriff Großmutters Hand.
»Schau nicht so traurig, mein Mädchen.« Die Stimme aus dem Bett war so schwach, dass Linda nicht recht wusste, ob sie richtig gehört hatte.
»Großmutter?«
»Wasser, kann ich etwas Wasser bekommen?«
Linda sprang auf und lief zu der Kanne, die auf dem halbmondförmigen Tisch am Fenster stand. Dann stand sie auch schon wieder bei Großmutter am Bett und half ihr, sich aufzusetzen und zu trinken. Die rosa Bettjacke hing über den schmalen Schultern.
»Geht’s dir besser?« Linda bettete den zierlichen Körper wieder auf den Kissen. Wenn Großmutter das hier vertrug, würde Linda ihr Bauchspeck zum Frühstück, zum Mittagessen und zum Abendbrot servieren, so käme sie wieder zu Kräften.
»Nein, kein bisschen.« Ihre Stimme war immer noch kläglich, aber bestimmt, sodass Linda schmunzeln musste.
»Dann nehme ich an, dass du außer Wasser nichts anderes möchtest«, sagte Linda sanftmütig.
»Falls in der Kanne noch ein Schluck Kaffee ist, würde ich nicht Nein sagen, aber setz wegen mir keinen neuen auf. Vielleicht bin ich ja morgen schon tot, dann wäre das pure Verschwendung.«
»Bei uns kommt nichts weg, das verspreche ich«, antwortete Linda. Erst in der Küche, als sie die Kaffeekanne in die Hand nahm, verspürte sie Erleichterung.
Sicherheitshalber würde sie den Arzt anrufen, aber das Allerschlimmste musste doch nun überstanden sein?
Linda nahm die Abkürzung über den Fußballplatz, als sie zum Meer hinunterging. Es frischte auf, und ihr Kopftuch löste sich im Wind. Sie hielt an und befestigte es mit einem Doppelknoten unter dem Kinn, dann schlug sie den Mantelkragen hoch. Zitternd ging sie weiter. Der garstige Nordwind biss in den Wangen und ließ sie kaum vorwärtskommen.
Gunilla, eine ihrer besten Freundinnen, versuchte eisern, das Herbstlaub aus dem Vorgarten ihres Hauses zusammenzurechen. Das war an so einem Tag natürlich eine ausgesprochen unsinnige Idee.
»Hast du denn nichts Besseres zu tun?«, rief Linda, als sie auf das Gartentor zulief.
»Doch, eigentlich schon«, antwortete Gunilla und legte die Harke auf den Boden.
Sie griff sich in den Rücken, als sie auf den Zaun zukam. »Ich setze gern einen Kaffee auf, wenn du Lust hast, mir Gesellschaft zu leisten. Du siehst froh aus, heißt das, dass es deiner Großmutter endlich besser geht?«
Linda nickte. »Zum Glück. Aber den Kaffee muss ich leider ablehnen, ich will gerade ein paar Sachen einkaufen, im Moment ist der Doktor bei ihr.«
»Ach so, dann werde ich mich wohl weiter um das Laub kümmern«, erwiderte Gunilla. »Göran kann nicht verstehen, was ich den lieben langen Tag so tue, und jetzt bin ich es leid, mir das anzuhören«, erklärte sie. »Männer werden offenbar blind an dem Tag, an dem sie das Eheversprechen ablegen. Ich glaube, er hat keine Ahnung, wie jeden Tag das Essen auf den Tisch kommt, das Badezimmer blitzblank ist und warum seine Arbeitsklamotten nicht mehr nach Makrelen stinken.«
Linda musste lachen. »Spar dir dein Schimpfen, du weißt doch selbst, dass du einen von den Guten erwischt hast.«
Gunilla lächelte verzückt. »Ja, nicht wahr? Ich habe wirklich Glück gehabt, das weiß ich wohl. Wenn man bedenkt, wie viele hinter ihm her waren, bis ich ihn endlich umgarnen konnte.« Dann wurde sie ganz ernst. Sie zeigte hinunter aufs Meer. »Aber heute bin ich ihm böse und wünschte, er hätte einen anderen Beruf.«
»Sind sie weit draußen?«
Sie nickte. »Ja, und wenn sie gewusst hätten, dass dieser Sturm so schnell kommen würde, hätten sie gar nicht erst rausfahren können.«
»Das wird schon gut gehen, wart ab. Wenn du dir Sorgen machst, kannst du jederzeit zu uns rüberkommen, das weißt du doch, oder?«
»Wann wirst du wieder anfangen zu arbeiten?«
»Der Apotheker hat gesagt, ich könne freinehmen, solange Großmutter krank ist, aber ich hoffe, dass es ihr am Montag wieder besser geht. Ich kann ja in der Mittagspause nach Hause radeln und nach ihr sehen.«
»Mir fehlt die Arbeit«, sagte Gunilla. »Aber Göran möchte, dass ich daheim bin …«
»Du musst schauen, dass du bald schwanger wirst«, sagte Linda, die wusste, dass ihre Freundin sich nichts sehnlicher wünschte. »Dann hast du genug um die Ohren.«
Gunilla lächelte. »Dein Wort in Gottes Ohr. Und was ist mit dir? Wann sehe ich einen Ring an deinem Finger?«
Linda zuckte mit den Schultern. »Nach den letzten Ereignissen wird sicher noch viel Zeit vergehen.«
»Es sind aber nicht alle wie er«, erwiderte Gunilla ernst.
»Wie Göran aber auch nicht«, gab Linda zurück.
Jetzt stürmte es richtig. Die Vorstellung, hinaus nach Sälvik zu gehen und dann den Vetteberg zu umrunden, war nicht mehr ganz so verlockend. Stattdessen entschied sie sich, den kürzesten Weg am Meer entlang zu nehmen.
Sie musste Sahne, Butter und Bauchspeck kaufen. Jetzt war es an der Zeit, Großmutter aufzupäppeln, damit sie endlich wieder zu Kräften kam und ganz gesund wurde.
Linda winkte zu Pettersons Haus hinüber. Frau Pettersson nahm gerade die Wäsche von der Leine ab, die fast waagerecht in der Luft stand von den Windböen.
»Großmutter?«, rief sie.
Linda hob den Daumen hoch und bekam ein breites Lächeln zurück. Kurz darauf erreichte sie Badholmen, und dort hinter dem Bootshaus hockte Axel, geschützt vor dem Sturm, und flickte ein Netz. Er hob die Hand und winkte sie zu sich.
»Wie geht es Elvira?«, fragte er besorgt, als Linda auf ihn zukam.
»Endlich ist sie über den Berg«, sagte Linda. »Ich gehe jetzt rein und kaufe noch einmal richtig nahrhaftes Essen ein, damit sie wieder auf die Beine kommt.«
»Warte mal«, sagte Axel. Er ging in den Schuppen und kam kurz darauf mit einer Tüte in der Hand wieder zurück. »Hier sind ein paar Makrelen für euch.«
»Tausend Dank, die wird Großmutter sehr mögen«, antwortete Linda.
»Vergiss nicht, selbst auch davon abzubeißen«, sagte er grinsend.
»Nee, bestimmt nicht.«
Als sie wieder fort war, kam ihr in den Sinn, wie nett er doch immer noch zu ihr war. Vor nicht allzu langer Zeit war sie mit seinem Sohn verlobt gewesen.
Und das war völlig schiefgegangen.
Bevor sie mit vollen Einkaufstaschen nach Håkebacken zurückkam, hatte sie achtzehn Menschen getroffen, die alle gefragt hatten, wie es der Großmutter ginge, und die ihr Genesungswünsche mit auf den Weg gegeben hatten.
Das war wirklich das Beste an einem Leben in solch einem Dorf.
Auf der anderen Seite … wenn man vielleicht gerade nicht in der Stimmung war zu reden oder es einem lieber wäre, die anderen wüssten nichts von einem, dann war das Dorf weniger angenehm. Hier wusste jeder alles vom anderen. »Der Kirchenkaffee nach dem Gottesdienst ist lebensgefährlich«, hatte Großmutter immer warnend gesagt. »Da wird viel Mist verteilt.«
Doch im Moment tat es ihr gut, so viel Fürsorge zu erfahren. Obwohl Linda mit der Großmutter allein lebte, hatte sie nie das Gefühl, allein zu sein.
Nachdem Linda nach der Großmutter geschaut hatte, ging sie in die Küche, um die Lebensmittel auszupacken. Da klopfte es. Sie runzelte die Stirn. Vielleicht hatte sich Gunilla doch noch auf den Weg gemacht, dachte sie und ging eilig an die Haustür, um zu öffnen.
Ein junger Mann stand in der Tür und hielt ein Telegramm in der Hand, und als er den Hut gehoben und die Steintreppe wieder verlassen hatte, riss sie es auf. Der Text war kurz und knapp.
Mr Lansing taken ill. Please return to London at once.
Papa. Ihre Knie wurden weich. Niemals würden sie Kontakt zu ihr aufnehmen, wenn es nicht wirklich ernst war. Die Hand, die das Telegramm hielt, zitterte. Sie las es noch einmal. Es war von Vaters langjährigem Mitarbeiter Charles unterzeichnet. Sie musste also nach London reisen, doch konnte sie Großmutter hier allein lassen?
Zwei Tage später war die alte Dame wieder so weit bei Kräften, dass Linda sich auf die Reise nach London begeben konnte. Die Nachbarn würden die Großmutter mit Essen und Kaffee versorgen und sie hin und wieder in den Garten führen. Wenn sie hinter dem Haus in dem selbst gezimmerten Schuppen mit drei Wänden und Holzdach saß, war sie vor Wind und Wetter geschützt. Sie hinunter zum Meer mitzunehmen, war sicherlich jetzt noch nicht möglich, aber sobald sie wieder richtig auf den Beinen war, würde sie allein hinunterspazieren können. Schließlich waren es nur ein paar Hundert Meter.
Vor dem Gartentor befestigte Linda ihre Reisetasche am Fahrradsattel. Sie warf noch schnell einen Blick aufs Haus. Die Farbe der blauen Sprossen gefiel ihr immer noch gut. Sie hatten sie gemeinsam ausgesucht, als sie das Haus im letzten Sommer mithilfe des Nachbarn neu gestrichen hatten, und jetzt konnte sie sich ihr Haus gar nicht mehr anders vorstellen. Linda hatte ihn auch gebeten, sich das Dach anzusehen, aber das schien in Ordnung zu sein, hatte er gesagt. Alle Dachziegel waren noch an Ort und Stelle.
Und es war so schön geworden. Sobald Papa sich wieder erholt hatte, würde sie nach Hause zurückfahren. Bald war es Sommer, und die meisten Einwohner von Fjällbacka freuten sich darauf. Nicht alle natürlich. Es gab immer einige, die es lieber hatten, wenn es dort menschenleer war. Aber Linda gehörte nicht zu ihnen. Wenn die Sommerurlauber kamen, blühte der Ort regelrecht auf.
Sie würde den Sommer über arbeiten müssen, denn für den Besuch bei ihrem Vater musste sie ihren ganzen Urlaub nehmen, dennoch freute sie sich schon auf die Akkordeonmusik am Kai und die langen, hellen Sommernächte. Mit etwas Glück nahm einen jemand auf sein Boot mit, und man konnte das Meeresleuchten tanzen sehen. Sonntags war die Apotheke geschlossen, und bei schönem Wetter ging sie baden und legte sich in die Sonne. Ihre Freundin und sie packten dann Picknickkörbe, Decken und Badetücher ein und blieben den ganzen Tag am Meer.
Aber es war auch schön im Herbst, wenn die Badegäste abreisten und Fjällbacka wieder zur Ruhe kam. Immer so viel Trubel wäre entsetzlich.
Linda ging langsam die Anhöhe hinauf und blieb oben stehen. Dann drehte sie sich um. Ein komisches Gefühl überkam sie, als ob es das letzte Mal war, dass sie auf Großmutters Haus schaute.
Ach, sie musste aufhören, sich anzustellen. Zwei Wochen vergingen schnell. Die Zeit würde wie im Flug vergehen, daran sollte sie denken.
Vielleicht war es auch nur die Angst vor dem, was sie in London erwartete. Nach dem Krieg war sie ein paar Male dort gewesen. Das erste Mal mit sehr gemischten Gefühlen. Sie hatte sich zwar riesig gefreut, ihren Vater wiederzusehen, doch die zerstörte Stadt war ein schrecklicher Anblick gewesen. »Gut, dass es jetzt erledigt ist, irgendwann hättest du das Elend ja sowieso zu Gesicht bekommen«, hatte ihr Vater gesagt, als der Wagen sie durch die Stadtteile fuhr, die es am meisten getroffen hatte.
Diesmal ging es um Papas Hotel, das Flanagans. Sie war jetzt 21 Jahre alt und erwachsen genug für das ernste Gespräch, das er ganz offenbar mit ihr führen wollte.
Wenn sie sich in England doch ein bisschen mehr zu Hause gefühlt hätte …
Papa hatte im Flanagans seine Wohnung und Linda ein süßes kleines Appartement, was natürlich großartig war. Dennoch blieb sie eine Fremde, ein Gast, obwohl Papa alles gehörte. Zumindest der größte Teil.
Ihre Tante und die Cousins Laurence und Sebastian, die auch Anteile am Hotel besaßen, hassten sie. Nie kam ein nettes Wort über ihre Lippen. Am schlimmsten war der fünf Jahre ältere Laurence. Linda konnte nicht verstehen, was sie verbrochen hatte, dass er sie so mies behandelte. Und Sebastian war eigentlich keinen Deut besser, obwohl sie gleichaltrig waren und als Kinder viel zusammen gespielt hatten. Er widersprach seinem großen Bruder jedenfalls nie, nicht einmal wenn Laurence sich miserabel aufführte. Ihre Familie war wirklich furchtbar. Richtig schrecklich. Im Geheimen hatte sie schon bedauert, dass Laurence nicht im Krieg geblieben war, aber er war natürlich ohne eine Schramme davongekommen. Doch dann hatte sie sich dafür geschämt. Man durfte niemandem den Tod wünschen. Aber eine kleine Blessur …
Mit einem Kloß im Hals schob sie das Fahrrad zur Bushaltestelle. Guter Gott, lass Papa und Großmutter bis in alle Ewigkeit leben, ich schaffe es nicht ohne sie.
Zum allerersten Mal wünschte sie sich, sie hätte jemanden gehabt, den sie liebte. Jemanden, an den sie sich jetzt anlehnen könnte, der sie in den Arm nahm und sagte, dass alles gut werden würde.
Einmal hatte sie gedacht, sie hätte den Richtigen gefunden, aber die Verlobung mit Johan hatte sich als einzige Katastrophe entpuppt.
Anfangs war er noch so lieb gewesen. Er hatte sehr nette Eltern, und das kam nicht von ungefähr, hatte Linda gedacht, als er ihr mitgeteilt hatte, er hätte gern »eine Frau und ein paar Kinder«. Ganz heimlich hatten sie sich verlobt. In Fjällbacka hängte man so was nicht an die große Glocke. Die meisten Männer waren sowieso eingezogen worden, ihr Verlobter auch.
Eine Woche, bevor er zurück an die norwegische Grenze musste, hatte er sie zum ersten und letzten Mal geschlagen. Peng hatte es gemacht, direkt auf die Stirn.
Sie hatte geschwankt, sich am Küchentisch festgehalten und nicht begriffen, was soeben passiert war. War sie gestolpert? Erst als sie aus dem Haus gekommen war, hatte sie festgestellt, dass der Schlag so hart gewesen war, dass sie das Gleichgewicht verloren hatte.
Sie war auf direktem Wege nach Hause gegangen und hatte Großmutter angewiesen, ihm die Tür nicht mehr zu öffnen. Mehr war nicht nötig gewesen. Großmutter hätte ihn nie wieder reingelassen.
Bei einem Fronturlaub einen Monat später war Johan im See ertrunken. Er sollte die Netze in Axels Kahn nach Fischen absuchen und war wohl betrunken gewesen. Das Boot war am selben Tag leer gefunden und sein Körper ein paar Tage später nahe der Heringsfabrik an Land gespült worden.
»Na prima, dann bist du ihn jetzt los«, hatte Großmutter in ihrer direkten Art ohne Umschweife gesagt. Sie konnte eiskalt erscheinen, doch unter ihrem Schürzenkleid schlug das beste Herz in ganz Bohuslän. Jedoch nicht für denjenigen, der ihre Enkeltochter misshandelt hatte.
Seitdem war Linda gegen Liebe resistent. Sie war eine überzeugte Jungfer, die jede männliche Gesellschaft verweigerte. Doch plötzlich wünschte sie sich inständig, jemanden zu haben, möge er noch so hässlich, glatzköpfig und uralt sein, Hauptsache, er würde seine schützende Hand über sie halten. Liebe brauchte sie nicht, aber wohl jemanden, der sich um sie kümmerte.
Sie wusste ja nur zu gut, was sie erwartete, wenn ihr Vater nicht mehr lebte. Sie würde den größten Teil vom Flanagans erben, und es war natürlich so gedacht, dass sie es in seinem Sinne weiterführte.
Sie konnte sich nichts Schrecklicheres vorstellen.
Was sollte sie mit einem Hotel? Sie hatte sich nie getraut, Papa das zu fragen, doch jedes Mal, wenn die Sprache darauf kam, hatte sie genau das gedacht. »Wir müssen über das Flanagans sprechen, Linda, wir wollen doch nicht, dass du völlig unvorbereitet bist, wenn ich die Augen schließe.«
Sie würde gezwungen sein, in den besten Wohngegenden von London zu wohnen, wo man einer strikten Etikette folgte, die sie bis heute nicht beherrschte. Papas Hotel hatte 136 Zimmer auf sieben Etagen verteilt, Personal, das an allem und jedem etwas auszusetzen hatte, und ein Restaurant, das zu den gehobeneren in der Stadt gehörte, aber Linda hatte das nie verstanden, weil sie selbst viel lieber gegrillte Makrele mit Rahmspinat aß.
Papa hingegen liebte das Flanagans über alles. Er konnte die Wände streicheln und hatte Tränen in den Augen, wenn er erzählte, was sich hinter ihnen schon alles abgespielt hatte. Mitglieder von Königshäusern, die hier diskret übernachteten und durch die Hintertür hinein- und wieder hinausgeschmuggelt wurden, Luxushochzeiten, die der Vater der Braut bezahlte, und prachtvolle Bälle, zu denen Lindas Vater eingeladen hatte und bei denen er allein im Mittelpunkt stand. »Wenn Wände sprechen könnten«, pflegte er immer lächelnd zu sagen.
Solange sie sich in Papas Wohnung aufhielten, fühlte sie sich wohl. Er war großzügig, laut, lieb, und je mehr er trank, desto lieber wurde er.
Linda hatte ihre Tante sagen hören, Papa sei nicht in der Lage, die Finanzen des Hotels in den Griff zu bekommen, aber so schlimm konnte es wohl doch nicht sein.
Der Kai vor der SS Britannia war voller Menschen, die sich verabschiedeten. Wahrscheinlich reisten die meisten von ihnen weiter nach Amerika und waren lange fort, dachte Linda. Ansonsten wären diese Verabschiedungsszenen doch etwas lächerlich, wenn es sich nur um eine Reise nach England handelte. Obwohl sie es sich verkneifen wollte, musste sie doch hinschauen, wie Männer ihre Hände in die Mäntel ihrer Frauen schoben. Jemand zupfte ein Taschentuch aus der Jackentasche und trocknete ein paar Tränchen. Ein Paar küsste sich freizügig ohne jede Spur von Zurückhaltung. Linda musste den Blick abwenden. Hätte man das zu Hause getan …
Ein Mann mit Filzhut drängelte sich an ihr vorbei, als sie auf dem Weg zum Landungssteg war. Verärgert starrte Linda auf sein breites Kreuz. Flegel, dachte sie. Er entschuldigte sich nicht einmal. Sein Mantel flatterte um seine Beine, als er sich mit dem Koffer in der Hand vorwärtsdrängelte. Das Schiff würde erst in einer Stunde ablegen, es gab gar keinen Grund für diese Eile.
Linda bekam ihren Schlüssel und bezog ihre Kabine ganz hinten im Gang. Sie hängte ihren Mantel in den Kleiderschrank, zog die Hutnadel ab und legte ihren Hut aufs Regal. Die weiße Bluse war einwandfrei, der Wollrock auch. Sie würde sich zum Essen nicht umziehen müssen, ihre Kleidung war völlig in Ordnung. Sie musste sich nur ein bisschen frisch machen und vielleicht einen Tropfen Parfüm hinters Ohr tupfen.
Dann packte sie aus, was sie für die Reise brauchen würde: Toilettenartikel, ein paar Blusen, die sich glätten würden, wenn sie mit feuchten Händen über den Stoff gestrichen hatte, ein paar leichtere Schuhe mit Absatz, Haarnadeln und die kleine Handtasche, die sie am Handgelenk tragen konnte. Darin hatte sie einen Lippenstift, ihr Portemonnaie und ein Buch verstaut.
Sie fragte sich beunruhigt, was sie wohl in London erwarten mochte. Wie krank war Papa wirklich? Er würde sie nie zu sich bitten, wenn es nicht ernst war. Dann hätte er sie eingeladen, gesagt, dass er ihr Lachen vermisse und dass es wirklich an der Zeit war, ihr ein schönes, neues Kleid nähen zu lassen. Er hatte sie gerne um sich, und sogar Linda konnte sehen, wie stolz er auf sie war. Ihr lieber Papa. Mögest du nicht so schwer krank sein, wie ich befürchte, dachte sie.
Durchs Kabinenfenster konnte sie beobachten, wie das Schiff den Hafen verließ. Jetzt standen nur noch Frauen da und winkten. Die paar Männer, die sich von ihrer Liebe verabschiedet hatten, waren längst gegangen.
Wie immer würde das Schiff voller männlicher Passagiere sein, und Linda würde das natürlich völlig kaltlassen. Sie flitzte durch den Gang des oberen Decks in Richtung Speisesaal, denn sie hatte Hunger, war unruhig und brauchte ein bisschen Bewegung. Als eine Kabinentür, die sich plötzlich öffnete, ihre Bewegung abrupt stoppte, traf es sie völlig unerwartet. Sie flog nach hinten und landete der Länge nach auf dem Boden. Ihre Handtasche fiel ihr aus der Hand, und ihr Rock glitt über ihren Oberschenkel.
Ein groß gewachsener Mann sah zu ihr aus der geöffneten Tür hinab. »Meine Güte«, sagte er auf Englisch. »Machen Sie doch langsam. Denken Sie vielleicht, Sie könnten nach London sprinten?«
Linda sah vom Boden zu ihm auf. Hatte er noch alle Tassen im Schrank? Das war jetzt schon das zweite Mal, dass dieser Mensch sich so unhöflich verhielt. Sie zog ihren Rock möglichst ungeniert übers Knie, aber ihr war klar, dass sie völlig entblößt dort gelegen hatte. Vermutlich hatte er in seinem Leben schon Strumpfhalter zu Gesicht bekommen, aber ihr war es trotzdem äußerst unangenehm. Was für ein schrecklicher Mann.
Mit hochgezogener Augenbraue hielt er ihr eine Hand hin, um ihr aufzuhelfen, doch sie ignorierte sie komplett. Sie suchte Halt an der Wand, und als sie wieder auf den Beinen stand, sah sie sich nach ihrer Handtasche um. Er beugte sich hinunter und hob sie für sie auf.
»Seien Sie nächstes Mal etwas vorsichtiger, Miss«, sagte er und überreichte sie ihr. Jetzt lächelte er. »Wahrscheinlich verstehen Sie kein Wort von dem, was ich sage. Leider kann ich kein Schwedisch.«
Linda versuchte, ihren Ärger zu unterdrücken. Dieser Typ war wieder mal ein Männerexemplar ohne Kinderstube. Ein Amerikaner. Vermutlich aus einer stinkreichen Familie. Die kannte sie aus Papas Hotel zur Genüge. In Fjällbacka wäre er nicht lange geblieben. Da wurde man gemieden, wenn man meinte, etwas Besseres zu sein.
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London, Silvesterabend 1959
Dieser unbarmherzige Regen hätte eigentlich selbst die unternehmungslustigsten Londoner davon abhalten müssen, sich zu einem Fest aufzumachen, sie hätten wesentlich gemütlicher mit ihrem Glas Champagner in der Hand zu Hause vor dem Kamin sitzen können. Doch vor dem Hotel Flanagans reihte sich ein Auto ans andere. Einige Gäste fuhren selbst, andere ließen sich von ihren Chauffeuren vorfahren, die draußen warten mussten, bis ihre Herrschaften in den frühen Morgenstunden den Heimweg antreten wollten. Kleider raschelten über den nassen Asphalt, ein Mann legte seiner Frau schützend seinen Mantel über die Schultern.
Doch der Regen machte denjenigen, die auf dem Weg zur Silvesterfeier im Flanagans waren, überhaupt nichts aus, mit Ausnahme derer vielleicht, die von der Bushaltestelle gleich neben dem Hoteleingang kamen. Das Wasser stand auf den Straßen, und die Fahrer der blitzblanken Karossen, die vor dem Luxushotel vorfuhren, scherten sich einen Dreck um die Fußgänger auf dem Bürgersteig. Durch die Silvesternacht drang so manches Geschimpfe, wenn frisch gebügelte Ausgehkleider von Wasserkaskaden ruiniert wurden.
Hier im Hotel ist von dem scheußlichen Wetter Gott sei Dank nichts zu spüren, dachte Linda Lansing. Sie leerte ihr Glas, bevor sie es auf den Schreibtisch zurückstellte und das Büro verließ. Einen kurzen Augenblick verweilte sie noch an der Balustrade und betrachtete die funkelnde Gästeschar.
Das Servicepersonal rannte geschäftig mit Tabletts durch den Salon, auf denen sich sowohl leere wie auch volle Gläser befanden. Alles schien nach Plan zu laufen. Seit Stunden schon wurden Drinks gereicht, der Geräuschpegel war enorm, und die Stimmung wurde immer ausgelassener. Wie jedes Jahr würde es ein denkwürdiges Silvesterfest werden. Linda holte einmal tief Luft. Sie sollte sich wieder unter die Gäste mischen.
In ihrem rauschenden Ballkleid schritt sie langsam die Treppe hinab. Unten suchte sie am Geländer Halt. Dieser letzte Drink in ihrem Büro hätte nicht sein müssen. Sie schloss die Augen kurz, bevor sie ihren Weg fortsetzte, nickte den Gästen lächelnd zu und hoffte, dass keiner ihre kleine Unsicherheit bemerkt hatte. Natürlich war es unglaublich blöd, sich auf seinem eigenen Fest zu betrinken, aber in diesem Fall war die fehlende Grundlage im Magen der Auslöser für ihr Schwindelgefühl. Starke Getränke war sie gewohnt, ein paar Gläser Whisky machten ihr nichts aus.
Jemand fasste sie am Arm. Lady Carlisle. Linda lächelte herzlich und beugte sich vor, um Mary auf die Wange zu küssen. Ihre fünfunddreißigjährige beste Freundin strahlte in ihrem perlenbesetzten Abendkleid. Um den Hals funkelten die Juwelen, die ihr Mann ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Sie war reich, verwöhnt und ganz, ganz wunderbar.
»Ich bin so froh, dass du gekommen bist, Mary. Dein Kleid ist wirklich so schön, wie du gesagt hast. Dior, hab ich recht?«
Mary nickte zufrieden. »Ja, es ist wirklich entzückend.« Sie lächelte und legte ihre Hand auf die ihrer Freundin, die noch immer auf dem Treppengeländer ruhte. »Es ist dir wieder einmal gelungen, aber ich habe auch nichts anderes erwartet.« Sie beugte sich zu ihr. Flüsternd fuhr sie fort: »Hast du schon das Neueste von den Jones’ gehört? Eine üble Geschichte. Mir ist sie gerade zu Ohren gekommen. Er hat sich offenbar in eine Frau aus Reading verliebt und das Gut verlassen. Weißt du das schon?« Zufrieden führte sie das Zigarettenmundstück an ihre perfekt rot geschminkten Lippen. Marys Tage bestanden aus Klatsch, Charity und unendlich langen Essensverabredungen. Die Zeit, in der sie in den Klubs die Nächte durchgemacht hatte und »Königin der Nacht« genannt wurde, war ein für alle Mal vorbei, worüber sie sich kürzlich bitter beklagt hatte. Und natürlich war es ein Unterschied, ob man als begehrte junge Frau auf jede exklusive Party, die in London stattfand, eingeladen wurde, oder ob man mit Mann und zwei Kindern auf dem riesigen Gut ein ganzes Stück außerhalb der Stadt residierte und den Titel Lady trug.
Linda nahm das Feuerzeug aus ihrer Clutch und gab Mary Feuer. Jemanden vom Service herbeizuwinken, war bei einem Fest dieser Größenordnung undenkbar, und auch wenn sie sich mit Small Talk hier und da amüsierte, wie ihre Gäste auch, so war sie doch die Gastgeberin.
Doch während die letzten Minuten der Fünfzigerjahre andauerten, war sie auf dieser Silvesterfeier lediglich die Galionsfigur des Hotels, das ihr gehörte. So sah es nun mal aus, auch wenn die Sechzigerjahre anbrachen.
Die hübsche Societydame Linda Lansing, die – sie kann einem leidtun – gezwungen ist, das exklusive Hotel Flanagans zu führen, seit ihr Vater verstorben ist. Kein Ehemann, keine Kinder. Außer ihrem hübschen Gesicht und dem einzigartigen, geschichtsträchtigen Hotel in der Londoner Innenstadt hat sie nichts. Das Produkt des Vaters – der Gerüchten zufolge als Geschäftsmann keinen Namen hatte – hat Miss Lansing bald schon ein Jahrzehnt verwaltet, und soweit wir wissen, wird sie dies auch weiterhin tun. Ein Verlobter ist nicht in Sicht, weiß die Redaktion aus verlässlichen Quellen, dafür hat Lansing allerdings die Cousins an ihrer Seite. Die Familienmitglieder der Lansings haben sich immer sehr nahegestanden.
Der Artikel – und ein altes Foto von Linda unter dem Kronleuchter in der Lobby – war im Vormonat in der Times erschienen. Als gäbe es keine modernen Frauen. Als ob Linda sich nicht fast halb totgearbeitet hatte, um das Überleben des Hotels zu gewährleisten. Wenn die wüssten, was sie die letzten zehn Jahre durchgemacht hatte …
Die Familienmitglieder der Lansings haben sich immer sehr nahegestanden. Linda musste laut lachen, als sie das las. Sie konnte von Glück sprechen, dass der Redakteur nicht gründlicher recherchiert hatte, denn im Grunde hätten die Familienquerelen ein ganzes Buch gefüllt. Aber wenn es um Frauen als Unternehmerinnen ging, dann wurde der Abwesenheit einer männlichen Person die größte Aufmerksamkeit geschenkt. Dass sie den Hotelbetrieb am Laufen gehalten hatte ohne die Unterstützung der Familie, war nichts, was es hervorzuheben galt.
»Arme Mrs Jones«, sagte sie nun zu Mary. Eigentlich waren ihr Mr und Mrs Jones völlig egal. Sie konnten so viele Affären haben, wie sie wollten. Für Linda waren sie nur ein Paar von vielen. Doch mit dem Betrogenwerden kannte sie sich aus, und daher konnte sie sich vorstellen, wie schlecht es Mrs Jones jetzt gehen musste.
All diese vermögenden Ehepaare, die in den Vororten von London in großen Landgütern residierten, riesige Anwesen in Holland Park und Ferienhäuser an der französischen Riviera besaßen, kamen zu ihren Festen, meist so heuchlerisch und anbiedernd, dass es Linda schauderte. Wir müssen uns unbedingt sehen, sagten sie, legten den Kopf leicht schräg und betrachteten sie eingehend von Kopf bis Fuß, von den marineblauen Seidenschuhen über die runden Hüften, an der Taille aufwärts bis zu ihrem blonden Haar. Der ein oder andere Herr blieb mit seinem Blick in Brusthöhe hängen, doch der Ellenbogen seiner Ehefrau, den er sogleich in seiner Seite spürte, machte ihm klar, wie unpassend das war. Linda hingegen wurde zu den Festen, die ihre Gäste ausrichteten, nur dann eingeladen, wenn sie der Presse vorgeführt werden sollte. Wenn die ihre Fotos geschossen hatten und Linda mit ihrem Glamour und dem Esprit einer modernen Frau den Hunger der Leser befriedigt hatte, wurde sie oft nicht mehr angeschaut.
Sie stellte für all die glücklichen Ehen in ihrem Umfeld eine Bedrohung dar, das war ihr mehr als einmal klargemacht worden. Man wollte die einsame und verlassene Linda Lansing so gern bemitleiden, doch das war einfach nicht möglich, wenn die Männer im Raum jede kleinste Bewegung von ihr registrierten. Als ob sie sich auch nur im Entferntesten für sie interessierte. Natürlich nicht, denn sie konnte Idioten nicht ausstehen.
Ihre beste Freundin, Mary Carlisle, war im Gegensatz zu all den anderen Damen der Society eine wunderbare Gesellschaft. Wenn Mary zum Tee kam und sich im Salon niederließ, setzte sich Linda sofort zu ihr, um den neusten Tratsch zu hören. Marys Ehemann war um einiges älter als seine schicke Ehefrau und verließ das Anwesen bei Windsor höchst ungern. Stattdessen kam Mary ohne ihn mit dem Auto, und ihr Chauffeur saß auf dem Rücksitz, wenn sie vorhatte, sich noch in der Stadt zu amüsieren.
»Über die Jones’ reden wir nächste Woche mal in Ruhe bei einer Tasse Tee, ich hab heute so viel zu erzählen«, nickte Mary ihr zu und sah Linda mit großen Augen an.
Linda machte sich eigentlich nicht viel aus all diesen Geschichten, doch die dramatische Ader ihrer Freundin war unterhaltsam. Und natürlich, sollte Mr Jones im Flanagans einchecken, wäre es von Vorteil, über den aktuellen Stand der Dinge informiert zu sein.
In dem Fall wäre er nicht der erste Ehemann, der in ihrem Hotel fremdging, das war wirklich nichts Neues, und mancher vertrat die Auffassung, dass Linda eine Verantwortung trug und diese Gäste abweisen müsste. Doch warum sollte sie das tun? Das Privatleben anderer interessierte sie nicht.
Einmal hatte eine betroffene Frau das Hotel ein Hurenhaus genannt, und sie wurde daraufhin natürlich nicht mehr eingeladen, auch wenn sie buchstäblich auf Knien darum gebettelt hatte, nachdem der Ehemann seine Affäre beendet hatte. Schließlich hatte sich herausgestellt, dass es für sie schlimmer gewesen war, von diesem sagenumwobenen Londoner Hotel Hausverbot zu bekommen, als dass ihr Ehemann mit einer anderen durch dessen Betten gekugelt war.
Mary unterbrach Lindas Gedankengang. »Darling, ich wollte nur Hallo sagen und dir alles Gute wünschen. Natürlich solltest du dich jetzt unter die Leute mischen. Und ich muss meinen Mann bei Laune halten, damit er nicht auf die Idee kommt, vor Mitternacht heimzufahren.«
Dann sah sie Linda scharf an.
»Und küss jemanden«, sagte sie. »Davon stirbst du nicht.«
Von den Festivitäten war im Kellergeschoss des Hotels nicht viel zu spüren, wo Elinor in der Küche schuftete wie ein Pferd. Eine Schüssel nach der anderen wurde nach oben getragen, und die ständigen Rufe nach Nachschub ließen ihr nicht einmal die Zeit, ihre Locken, die sich unter der Haube gelöst hatten, wieder zurückzustecken. Sie brachten kleine Windbeutel, Lachsgebäck, Gurkenhäppchen, Kaviar und Austern in den Festsaal, und Elinor musste auf Miss Lansings Anweisung hin alles à la minute servieren.
Elinor beklagte sich nicht, aber ihr Arbeitstag begann morgens um acht Uhr, und jetzt waren die Fünfzigerjahre fast vorbei. Den letzten Tag des Jahrzehnts würde sie als schweißtreibend und arbeitsreich in Erinnerung behalten. Feierlich war etwas anderes.
Der Wechsel des Dezenniums war wohl nicht als Anlass zum Feiern für sie gedacht. Beim letzten Mal war sie elf Jahre alt gewesen, und es hatte mit Geschrei und Gejammer aus der Nachbarwohnung geendet. Als Mama und Papa hinübergegangen waren, um nachzusehen, hatten sie die arme Mrs Jenkins genau beim Zwölf-Uhr-Schlag halb totgeschlagen vorgefunden.
»Und was kannst du daraus lernen?«, hatte ihre Mutter sie gefragt, als Elinor ins Familienbett gekrochen war, die Arme um ihren verschreckten kleinen Bruder geschlungen. Elinor hatte vermutet, dass man nett sein und seinem Ehemann gehorchen müsse, denn Mrs Jenkins hatte das ganz offensichtlich nicht getan. Elinor bemerkte, dass ihrer Mutter noch immer die Wut ins Gesicht geschrieben stand. »Nein«, hatte sie geantwortet. »Daraus lernst du, dass du beim ersten Schlag das Haus verlässt, dafür sorgst, dass du eine Arbeit hast und …« Dann verstummte sie, sah sich um, als ob sie Angst hatte, dass jemand sie hören konnte: »Und nur einen heiratest, der dich respektiert und der es schätzt, was für ein schlaues Köpfchen du bist. Der dich nicht schlägt, weder für deine Hautfarbe, noch weil du intelligenter bist als er. Vergiss das nie. Du bist Britin, auch wenn du eine schwedische Mutter und einen jamaikanischen Vater hast. Du kannst stolz darauf sein, dass drei Länder dich zu dem gemacht haben, was du bist.«
Als Mrs Jenkins im Krankenwagen abtransportiert wurde, hatten Mama, Papa, Elinor und der kleine Bruder einen Apfel geteilt, das war einer der wenigen schwedischen Bräuche, die Mama beibehalten hatte, und dann hatten sie sich ein frohes neues Jahr gewünscht. Papa musste am nächsten Morgen schon früh bei seiner Arbeitsstelle im Hafen sein, und Mama hatte nach dem Silvesterabend drei Häuser zu putzen. Elinor musste ihren kleinen Bruder hüten.
Sie öffnete die Tür des großen Kühlschranks und griff nach einer Schüssel mit geschnittener Gurke. Ob sich 1960 etwas ändern würde? Ihr Vater verrichtete noch immer diese schwere Arbeit, und ihre Mutter hatte Fingerkuppen, die wie getrocknete Rosinen aussahen. Das war Elinor erst gestern aufgefallen, als sie mit ihnen gegessen hatte.
Sie selbst war jedenfalls aus dem Elternhaus ausgezogen. In ihrem Zimmer hier im Untergeschoss des Hotels hatte sie ein eigenes Bett, einen kleinen Kleiderschrank und eine Nachttischlampe, die ständig brannte, weil sie in deren Lichtschein ihre Hausaufgaben machte.
Eines schönen Tages sollte aus Elinor etwas werden.
Sie hatte es gut hier, doch ihr war klar, dass sich ihr Türen öffnen würden, die normalerweise Mädchen ihrer Herkunft verwehrt waren, wenn sie studierte. Deshalb waren ihr die Kurse am Montagabend heilig. Im Moment lernte sie Englisch. Keinesfalls konnte sie so sprechen wie ihre Eltern. Beiden hörte man noch den starken Akzent ihrer Muttersprache an. In Notting Hill war das nichts Besonderes, aber hier ging das gar nicht. Sprache war etwas Wichtiges. Vorher hatte sie einen Kurs über Stil belegt. Die anderen Mädchen hatten sie mit großen Augen angestarrt, als sie den Kursraum betrat, aber Elinor hatte versucht, ihre Blicke zu ignorieren. Sie wollte die Regeln der Etikette lernen, und drei Monate später konnte sie Bücher auf dem Kopf balancieren und gleichzeitig eine Tasse Tee trinken, den kleinen Finger elegant ausgestreckt. Ohne diesen Kurs hätte sie das nie gelernt. Papa hatte gemault, dass das Geldverschwendung für eine junge Frau mit ihrer Hautfarbe sei, doch sie war einundzwanzig geworden und musste nicht mehr auf ihn hören. Ihre Mutter unterstützte sie, und das war das Wichtigste.
»Du stehst hier doch nicht rum und träumst. An die Arbeit!«, rief ihr Chef, als er gerade vorbeikam.
Elinor nickte kurz. »Selbstverständlich. Entschuldigung.«
Vorsichtig löffelte sie einen Klecks Kaviar aus dem Glas und platzierte ihn auf einem Cracker, so wie Miss Lansing es haben wollte. Bisher schien das neue Jahr genauso zu werden wie das alte.
Sie sah hinauf zu den schmalen Fenstern unter dem Dach. Der Regen lief die Scheiben hinab. Es wäre sicher spannend, heimlich die festlich gekleideten Gäste zu beobachten, die an so einem Abend durchs Hotel spazierten. Bestimmt trugen alle Damen ihre allerschönsten Kleider, zumindest erzählten die davon, die sich ein Stockwerk höher aufhalten durften. Elinor durfte das nicht.
Sie schnitt die Kanten vom Weißbrot ab.
Gleich war das nächste Tablett fertig zum Servieren.
Die Rücklichter des Busses verschwanden hinter der Kurve, und wenn Emma nicht von den Wassermassen, die vom Himmel fielen, ganz durchnässt werden wollte, musste sie zusehen, dass sie ins Haus kam. Die Lichter und das laute Lachen, das vom Ende der Straße drang, waren verlockend, und obwohl sie wusste, dass sie dort nichts verloren hatte, schlüpfte sie durch die offenen Türen. Niemand hinderte sie daran, und falls sie jemand fragte, konnte sie immer noch sagen, sie habe sich verlaufen.
So etwas hatte sie noch nie gesehen.
Von ihrem kleinen Versteck hinter einer Säule betrachtete sie die Gesellschaft und begriff, dass die modernen Leute sich wohl heute so benahmen. Wenn sie in London wohnte, musste sie sich daran gewöhnen. Die Gäste alberten auf der Tanzfläche herum und schienen sehr viel Spaß zu haben. In einer Ecke spielte eine Band Musik, die Emma noch nie zuvor gehört hatte. Mit Kirchenmusik hatte das nichts zu tun, so viel war ihr klar.
Mama und Großmutter würden auf der Stelle tot umfallen, wenn sie wüssten, dass Emma hier stand und Erwachsene beobachtete, die sich dermaßen unanständig betrugen. Da wurden die Sakkos abgelegt, der Krawattenknoten gelockert, und die Frauen zogen sogar die Schuhe aus. Den Männern klebte vom Schweiß das Hemd am Oberkörper, und Emma merkte, dass sie einen ganz trockenen Mund bekam, sie konnte ihren Blick nicht abwenden. Aber als ein Herr seine Tanzpartnerin völlig ungeniert an sich zog und küsste, zwang sich Emma, nicht mehr hinzuschauen. Ihre Wangen wurden ganz heiß. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Davon gelesen hatte sie schon. In ihrem Zimmer hatte sie Kisten mit Zeitschriften versteckt, in denen es um Mode und Musik ging, und die Bibel, von der Mama glaubte, dass Emma sie jeden Abend las, handelte von der Befreiung der jungen Frauen.
Heute war ihr achtzehnter Geburtstag, und obwohl Mama und Großmutter ihr unter Tränen verboten hatten, die Wohnung zu verlassen, hatte sie sich verabschiedet und war in den Zug gestiegen. Man hätte auch sagen können, sie sei abgehauen. Sie hatte es einfach nicht länger ausgehalten.
Freiheit. Wie sie sich nach diesem Tag gesehnt hatte! Sie würde ab jetzt ihre eigenen Entscheidungen treffen. Vernünftige Entscheidungen. Denn wenn sie sich nicht vorsah, war sie im Handumdrehen verheiratet und hatte ein Kind am Hals wie alle anderen jungen Frauen im Dorf, und das musste sie mit allen Mitteln verhindern. Vielleicht war sie noch nicht mündig, aber sie war schließlich nicht blöd. Emma hatte definitiv vor, Sex auszuprobieren, aber sie würde sich informieren, wie sie verhinderte, schwanger zu werden.
Langsam nahm sie ihren Hut ab und spürte, dass sie kalte Füße hatte, trotz der Wärme hier im Gebäude. Ihre Schuhe waren zerschlissen und konnten den Regen nicht abhalten. Sie versuchte, ihre durchnässten Strümpfe zu ignorieren. Im Koffer hatte sie ein zweites Paar Schuhe, aber die wollte sie aufheben, bis sie irgendwo eine Anstellung gefunden hatte. »Eine feine Familie«, hatte ihre Mutter gesagt. »Du gehst nur zu einer feinen Familie, ansonsten kommst du sofort wieder heim, du stures Gör.« Emma vermutete, dass ihre Mutter die Gäste, die sich hier befanden, nicht als »fein« eingestuft hätte, trotz der glänzenden Stoffe, der Juwelen und ihrer perfekten Frisuren. Mama hatte sich eher eine Pastorenfamilie mit hundert Blagen vorgestellt, denen jemand anders als die Mama die Nase putzen, sie baden und sich um sie kümmern sollte.
Emma hatte für Kinder nicht besonders viel übrig, daher hatte sie nicht vor, eine Stelle als Kindermädchen zu suchen. Sie war ambitionierter, doch darüber hatte sie mit ihrer Mutter nie gesprochen, die nur davon redete, dass Emma sich als Haushaltshilfe verdingen und dann einen netten, christlich orientierten Mann heiraten solle.
Was das anging, hatten Mutter und Tochter völlig unterschiedliche Vorstellungen.
Emmas Ziel war es, reich zu werden. Jungs konnten solche Pläne zunichtemachen, deshalb war sie fest entschlossen, sich nicht zu verlieben, sondern sich stattdessen zu amüsieren. Darüber hatte sie schon einiges gelesen, und das klang wahnsinnig modern und aufregend.
Die Sechzigerjahre waren ihr Jahrzehnt, da war sie sich sicher. Sie war voller Vorfreude. Die Vorstellung, alles haben zu können und gleichzeitig unabhängig zu sein, war weit entfernt von dem Frauenbild, mit dem sie aufgewachsen war, doch in der Zeitschrift, die sie heimlich gelesen hatte, stand, dass genau das möglich sei.
»Au!«, rief sie, als sie jemand in einer Uniform derb am Arm griff und sie barsch zurück auf die Straße schob. Doch sie leistete keinen Widerstand. Der Regen prasselte noch heftiger als zuvor auf sie nieder, dennoch war sie mit diesem Tag so zufrieden, dass es ihr nichts ausmachte.
»Die Musik da drinnen«, fragte sie den Mann, »ist das Jazz?«
Er sah sie groß an. Dann lachte er. »Jazz? Nein, mein Mädchen, so altmodisch sind wir nicht im Flanagans. Das ist Rock.« Sein Lachen hallte noch durch die Luft, als er ihr den Rücken zukehrte und zurück ins Warme ging.
Ein Stückchen entfernt beobachtete Emma, wie ein Mann in Kochuniform eine Zigarette wegwarf, da griff sie energisch nach Großmutters altem Koffer und lief zu ihm, um zu fragen, bei wem man vorstellig werden müsse, wenn man auf Arbeitssuche sei. Ihr »Hallo« ging im peitschenden Regen unter. Er verschwand auf einer Treppe ins Untergeschoss, und sie folgte ihm zielstrebig. Sie sah die Fenster, die zur Straße hinausgingen. Dahinter waren Geklirre, Lachen und laute Stimmen zu hören, und Emma lächelte verzückt. Wie wunderbar es war, endlich erwachsen zu sein.
Als es kurz vor zwölf war, öffnete Linda die Tür zur Küche. Die Küchenhilfen starrten sie schockiert an. Ein Zeichen dafür, dass sie sich hier öfter blicken lassen sollte. Die Angestellten, die noch nicht so lange im Haus beschäftigt waren, standen mucksmäuschenstill, in Erwartung einer Inspektion.
Linda war das im Moment völlig egal, sie hatte einfach Hunger, einen Schwips und nicht die geringste Lust, Marys Rat zu befolgen und um Mitternacht jemanden zu küssen, im Gegenteil. Sie wollte jetzt nur noch etwas zu essen und sich dann schlafen legen. Der restliche Festabend lief auch ohne sie.
Die Oberkellnerin kam auf sie zu und zeigte auf eine Person. In einer Ecke der Küche stand ein Mädchen, das aussah wie eine ertränkte Katze. Das Wasser tropfte von ihrem hässlichen Hut.
»Ich werde dieses Ding nicht los. Sie weigert sich, die Küche zu verlassen.« Die Oberkellnerin schüttelte verärgert den Kopf.
»Ich kümmere mich darum«, sagte Linda. »Sie können wieder hochgehen zu unseren Gästen.« Dann wandte sie sich an den Eindringling. »Und du bist?«, fragte sie Emma. Linda hatte eine Schwäche für Sturheit. Das war ein Zeichen für Ehrgeiz.
»Patschnass?«, schlug das Mädchen vor. Sie lächelte und zeigte dabei ihre gepflegten Zahnreihen.
»Das sehe ich selbst. Ich dachte mehr, was du hier im Flanagans zu suchen hast.«
»Eine Anstellung.«
»In der Silvesternacht?«
»Einen besseren Zeitpunkt könnte ich mir nicht vorstellen. Heute bin ich achtzehn geworden«, antwortete sie voller Stolz. Sie hatte eine makellose Haut, sah offen und freundlich aus.
»Nimm mal den Hut ab«, forderte Linda sie auf.
Der lange Zopf des Mädchens fiel über ihren Rücken. Ihr Aussehen war passend, doch die Frisur schrecklich altmodisch.
»Wie heißt du?«
»Emma.«
Lindas Magen knurrte. Das gab den Ausschlag. »Bereite mir zwei belegte Brote zu«, befahl sie ihr. »Wenn es mir schmeckt, dann hast du den Job, wenn nicht, schicke ich dich zurück in den Regen. Elinor zeigt dir, wo du deine Sachen lassen kannst und wo die Kühlschränke stehen. Aber mehr Hilfe bekommst du nicht. Du hast zehn Minuten Zeit.« Linda sah auf ihre Uhr. »Auf die Plätze, fertig, los.«
Das Problem bei den Mädchen war, dass sie immer genau dann heirateten, wenn sie ausgelernt hatten, deshalb war es praktischer, Jungs anzustellen, obwohl die Mädchen ihre Sache meist besser machten. Sie waren schneller und genauer, und das schwarze Mädchen Elinor hatte sich als Glücksfall in der Küche erwiesen. Sie blieb allein, tratschte nicht wie so viele und arbeitete härter als irgendeine andere von ihnen. Talent hatte sie außerdem. Wenn ein Teller serviert wurde, an den sie Hand angelegt hatte, sah er äußerst appetitlich aus.
Linda entging nichts, auch wenn das Personal das nicht wusste. Für sie war es selbstverständlich. Sie war abhängig davon, dass sie ihre Arbeit gut machten. Und loyal waren. Wer über die Gäste tratschte, flog raus. Und gerade Elinor schien über niemanden zu reden. Sie wollte sich nicht einmal mit ihren Kollegen anlegen. Das war etwas Besonderes. Ansonsten gab es hier unten ständig Gezicke. Irgendeiner fühlte sich immer schlecht behandelt. Leider war Elinors Hautfarbe noch immer der Grund, warum sie sie nicht in der oberen Etage im Service einsetzen konnte, aber Linda hatte dennoch vor, den Aufgabenbereich des Mädchens zu erweitern. Wenn diese Neue, Emma, gut genug war, konnte Elinor sie unter ihre Fittiche nehmen. Junge Frauen, die ehrgeizig waren, gab es nicht viele, deshalb war Linda immer auf der Suche.
Neun Minuten später brachte Emma ihr einen großen Teller mit den leckersten Broten, die Linda seit Langem gesehen hatte. »Und die hast du selbst gemacht?«, fragte sie.
Emma nickte überzeugt.
Linda biss vom ersten Brot ab. Sie stöhnte auf. Die leckere Soße, die sich unter den Lachsscheiben befand, hatte Elinor zubereitet. Linda erkannte ihre Lieblingssoße sofort.
»Und die Soße?«
Emma nickte, ohne mit der Wimper zu zucken.
Linda überlegte kurz, dann schob sie den Teller beiseite.
»Gut, Emma, du bist eingestellt. Aber nicht wegen der Brote – denn die hat Elinor gemacht –, sondern weil du lügst. Du willst diesen Job unbedingt, stimmt’s?«
Emma nickte wieder, dieses Mal noch eifriger. Langsam machte sich auf ihren hellrosa Wangen ein Lächeln breit. »Bekomme ich ihn?«
»Ja, du bekommst ihn. Du wirst das Zimmer mit Elinor teilen, rechne damit, dass ich dich jederzeit rufe, wenn ich dich brauche, das kann zu jeder Tages- und Nachtzeit sein. Du hast einen Monat Probezeit, und dann werde ich gemeinsam mit …« Sie verstummte erstaunt, als Big Ben mit dumpfen, schicksalhaften Schlägen das neue Jahrzehnt ankündigte.
Sie hatte den Jahreswechsel verpasst. Normalerweise stand sie dann an der Balustrade und prostete ihren Gästen zu, die in der Regel jedoch mit sich selbst beschäftigt waren.
Ach, das machte gar nichts, ins neue Jahr hier unten bei denen, die wie sie den ganzen Tag gearbeitet hatten, zu rutschen. Sie konnte es darauf schieben, dass sie zu wenig gegessen und zu viel getrunken hatte.
Als sie sich zu ihrem Personal umdrehte, entging ihr nicht, dass die frisch eingestellte Emma und Elinor sich zulächelten, und es war, als verstünde Linda erst in diesem Moment, welch große Bedeutung die Sechzigerjahre für all die anderen hatte.
Sie biss noch einmal von ihrem Brot ab und forderte dann die Angestellten auf, in den Personalraum zu gehen. Elinor nahm Emma an der Hand, und dann sausten sie durch den Flur. An diesem Abend lud Linda ihr Personal zu Champagner ein, und bald darauf hörte man die Korken knallen, und es erschallte fröhliches Gelächter.
Sie selbst würde in den Fahrstuhl steigen und ins Büro hinauffahren. Dort stand nämlich ihr Whisky.
Am darauffolgenden Morgen, nackt und mit einem unterirdischen Kopfschmerz, drehte Linda eine Runde durch ihr Appartement und hob das auf, was sie am Vorabend einfach sorglos hatte fallen lassen. Ihr Kleid lag auf dem Sofa im Salon, und der eine Schuh war daneben gelandet. Den anderen fand sie schließlich unter dem großen, goldenen Spiegel im Flur. BH, Hüfthalter, Slip und Strümpfe befanden sich auf einem Stapel auf dem Boden vor dem Bett. Als sie alles eingesammelt hatte, öffnete sie die doppelflügelige Tür des Kleiderschranks und hängte ihr Abendkleid hinein. Wenn sie es noch einmal tragen wollte, musste sie es ändern lassen, wehmütig wie immer ließ sie den Blick über die unzähligen Ballkleider auf der Stange gleiten. Ihre Finger fuhren über eine Robe aus zarter rosafarbener Spitze. Wann hatte sie die zuletzt getragen? Die Erinnerung versetzte ihr einen Stich. Die Erinnerung an das andere Leben, das Leben, das einmal zum Greifen nah gewesen war, tat immer noch weh.
Ihre Hand fuhr über eine Kreation aus Hellblau – so hell, dass man es fast für Weiß halten konnte. Sie war aus Chiffon, und der Rock war so weit, dass mehrere Schneiderinnen den Stoff halten mussten, als Madame Piccard ihn genäht hatte.
Linda war in seinen starken Armen herumgewirbelt, und sein Frack hatte perfekt zu ihrem Kleid gepasst. Die anderen waren extra zur Seite gerückt. Ihre Füße hatten den Boden kaum noch berührt. Sein Blick, der ihren festhielt. Ihr rasender Puls. Und dann. Dann hatte er die hundert Knöpfe auf ihrem Rücken geöffnet, ganz langsam, einen nach dem anderen, bis das gute Stück wie eine fluffige Wolke zu ihren Füßen lag und ihr der Atem stockte.
Warum hatte sie das Kleid nicht entsorgt? Die Erinnerung brach ihr das Herz, sie wusste es doch.
Mit einem Knall schloss sie die Türen wieder.
Die Frage war, ob sie nun frühstücken oder einen Katerdrink zu sich nehmen sollte. In ihrem Kopf hämmerte es. Wenn sie nicht schnell einen Kaffee bekam, würde es noch schlimmer werden.
Aber ihre Gäste schienen sich köstlich amüsiert zu haben, und das war das Wichtigste. Sie hatte das Hotel in den letzten zehn Jahren nicht in die Gewinnzone gebracht, um sie jetzt wieder zu verlassen. Ihre harte Arbeit hatte sich bezahlt gemacht, und der Stern des Flanagans leuchtete noch immer am Londoner Hotelhimmel. Die Konkurrenz war groß. Mit dem Savoy und dem Ritz gehörte ihr Hotel zu den Häusern, über die am meisten geredet wurde.
Mary war noch bis weit nach Mitternacht geblieben und hatte sich mit dem Versprechen verabschiedet, sich unter der Woche wieder zu melden. Ihr Gatte hatte ganz munter ausgesehen, obwohl er so viel älter war. »Lass uns ehrlich sein, er ist deutlich älter«, hatte Mary gesagt, als sie sich darüber unterhielten, auf welche Weise sich solche Altersunterschiede bemerkbar machten.
Linda hatte sich nie so richtig daran gewöhnt, die beiden zusammen zu sehen, dennoch konnte sie es natürlich verstehen, dass Mary am Ende in eine Heirat eingewilligt hatte.
Er war eine ausgesprochen gute Partie, und ihre Familien waren seit Ewigkeiten miteinander bekannt. Ihr erstes Nein hatte er gar nicht ernst genommen, ihr zweites auch nicht. Als er dann das dritte Mal mit dem großen Diamanten vor ihren Augen herumgewedelt hatte, hatte sie nachgegeben. Aus Barmherzigkeit, wie sie später sagte, aber Linda wusste, dass Mary ihn liebte, auch wenn sie darüber klagte, dass die Küsse und andere Zärtlichkeiten immer weniger wurden. Er war ein moderner Mann und hatte ihr sogar vorgeschlagen, sich einen Liebhaber zu nehmen. Diesen Vorschlag hatte sie dankend abgelehnt, wie sehr sie sich auch nach körperlicher Nähe sehnte. Denn so war es. Deshalb flirtete Mary schamlos, wenn sich die Gelegenheit ergab, aber das führte höchstens zu lustvollen Blicken und dem ein oder anderen Kuss, wie sie hoch und heilig versicherte.
»Sie begehren mich, ich werde ein bisschen erregt, doch dabei muss es bleiben. Aber dass du keusch bist, obwohl dich nichts abhalten müsste, das verstehe ich nicht. Sex ist doch etwas Wunderbares«, hatte sie zu Linda gesagt und ihr einen Mann nach dem anderen vorgeschlagen, die alle auf die eine oder andere Art und Weise etwas Besonderes sein sollten. Doch Linda hatte bislang niemanden kennengelernt, der sie auch nur annähernd interessierte. Reiche Männer waren genauso langweilig wie ihr geerbtes Vermögen.
Da klopfte es zaghaft an der Tür. Linda sah sich nach ihrem Morgenmantel um, der nicht an seinem Haken neben dem Kleiderschrank hing. Ihn fand sie auch auf dem Boden. Der marineblaue Stoff war im selben Ton wie der Teppichboden, deshalb hatte sie ihn nicht gleich entdeckt. Hatte sie ihn nach dem Fest heute Nacht noch getragen? Sie konnte sich nicht mehr erinnern.
Sie zog den Gürtel fest um die Taille und vergewisserte sich kurz vor dem großen Spiegel, dass kein Spalt ihre Nacktheit darunter verriet. Ein Blick auf die Uhr – es war Punkt neun. Genau so wie sie es wollte, dachte sie und öffnete die Tür.
Emma – so hieß doch wohl das neue Mädchen? – kam eilig herein und stellte sich mit dem Frühstückstablett mitten ins Zimmer. Unschlüssig sah sie sich um.
Linda zeigte auf den Tisch vor dem Fenster, wo sie zu frühstücken pflegte, und als Emma das Tablett abgestellt hatte, verschwand sie ebenso schnell, wie sie gekommen war.
Diskret. Das war ein gutes Zeichen. Das Personal hatte die Anweisung, auf Ansprache zu antworten, sonst still zu sein. Doch woher sollte ein neues Mädchen das wissen? Zudem hatte Linda das Gefühl, dass gerade dieses junge Ding nicht gerade auf den Mund gefallen war. Sie hatte Linda am Tag zuvor direkt und selbstsicher ins Gesicht geschaut, weder geflüstert noch den Blick abgewendet, wie so viele andere es taten. Ehrgeiz, dachte Linda. Den hatte sie ihr angesehen, und das imponierte ihr.
Sie nahm sich Zeit für ihr Frühstück. London schlief aus an solch einem Tag, und auch wenn sie sich angezogen hatte – und sich der Form halber im Hotel blicken ließ –, wollte sie als Erstes einen kleinen Spaziergang machen. Sie mochte die Stadt am meisten, wenn sie menschenleer war.
1960.
Trotz allem hatte diese Zahl etwas Hoffnungsvolles. Nicht weil sie glaubte, dass sie in diesem Jahr mehr zu lachen haben würde als 1959, aber mit jedem Jahr rückten die traurigen Ereignisse, die sie in den letzten Jahren belastet hatten, ein bisschen mehr in die Ferne.
Da klopfte es laut an ihrer Tür.
Linda erhob sich und stand auf. Was war jetzt?
Vor der Tür stand Laurence, eines der Familienmitglieder, von denen die Presse meinte, sie ständen sich nahe.
»Was willst du?«, fragte sie verärgert.
Er betrachtete seine Nägel, bevor er ihr scharf in die Augen sah. »Ich will nur, dass du weißt, dass 1960 das Jahr werden wird, in dem du alles verlierst. Frohes Neues, liebe Cousine.«