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Liebe gegen alle Widerstände auf Sylt: »Das Inselmädchen« ist der 3. Band und Abschluss von Sina Beerwalds historischer Familiensaga »Die Sylt-Saga«, die Anfang des 20. Jahrhunderts auf der traumhaft schönen Nordsee-Insel spielt. 1931 locken das mondäne Hotel »Strandvilla« und das Dünencafé seit vielen Jahren viele berühmte Gäste nach Sylt – trotzdem wird Moikens großer Erfolg von Traurigkeit überschattet: Ihre Ehe ist kaum mehr als eine Zweckgemeinschaft, aus der sie sich nicht zuletzt aus finanziellen Gründen nicht lösen kann. Zudem hat sich ihre mittlerweile 17-jährige Tochter Frieda – eigentlich Moikens Sonnenschein und Vorzeigetochter - in einen Mann verliebt, der für eine Hotelerbin undenkbar ist. Doch kann Moiken ihrer Tochter denselben Schmerz zufügen, den sie einst mit ihrer großen Liebe erfahren musste? Während die Insel auf den Krieg zusteuert, steht Moiken vor der Frage, wie viel man für das eigene Glück zu tun bereit ist. Die Sylt-Saga ist die perfekte Urlaubslektüre: dramatisch und voller nostalgischem Insel-Charme. Die Familiensaga besteht aus den drei historischen Insel-Romanen »Die Strandvilla« (ab 1913), »Das Dünencafé« (20er Jahre) und »Das Inselmädchen« (ab 1931).
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Sina Beerwald
Ein Sylt-Roman
Knaur eBooks
Der fulminante Abschluss der großen historischen Sylt-Saga
1931 locken das mondäne Hotel »Strandvilla« und das »Dünencafé« seit vielen Jahren viele berühmte Gäste nach Sylt – trotzdem wird Moikens großer Erfolg von Traurigkeit überschattet: Ihre Ehe ist kaum mehr als eine Zweckgemeinschaft, aus der sie sich nicht zuletzt aus finanziellen Gründen nicht lösen kann. Zudem hat sich ihre mittlerweile 17-jährige Tochter Frieda – eigentlich Moikens Sonnenschein und Vorzeigetochter - in einen Mann verliebt, der für eine Hotelerbin undenkbar ist.
Doch kann Moiken ihrer Tochter denselben Schmerz zufügen, den sie einst mit ihrer großen Liebe erfahren musste? Während die Insel auf den Krieg zusteuert, steht Moiken vor der Frage, wie viel man für das eigene Glück zu tun bereit ist.
Widmung
1. Buch
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
2. Buch
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
3. Buch
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
4. Buch
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Nachwort
Den Federn, die Flügel verleihen …
Für Lauris
Konnte das wahr sein?
Moiken stand auf der Terrasse ihres Dünencafés und schirmte die Augen gegen die Sonne ab, um die junge Dame in Badekleidung am Flutsaum besser erkennen zu können.
Mit zusammengekniffenen Augen blickte Moiken über die mit Fahnen und Wimpeln geschmückten Ringwälle aus Sand, die rund um die Strandkörbe von den Sommerfrischlern errichtet worden waren, um das Urlaubsrefugium kenntlich zu machen.
Kein Zweifel, das war wirklich Frieda, die sich jetzt seitlich in den Wind drehte, um ihre blonden, schulterlangen Haare an den Seitenpartien einzudrehen und im Nacken festzustecken. Die Zeit der langen Zöpfe war längst vorbei.
Ihre Tochter hatte sich in den vergangenen vier Jahren zu einer jungen Frau entwickelt, entsprechende weibliche Rundungen ausgebildet, und sie trat mit einer Courage auf, von der Moiken mit siebzehn Jahren nur hatte träumen können.
Erst gestern war Frieda noch ein kleines Mädchen gewesen, ihr Inselmädchen, ihre kleine Frieda, die gern an der Hand ihrer Mutter geblieben war und niemals allein ans Wasser gegangen wäre.
Frieda wollte doch nicht etwa ohne Begleitung schwimmen gehen? Sie wusste doch, wie gefährlich das war!
»Warum starrst du so lange aufs Meer?«, rief Henriette aus dem Pavillon, wo sie die Kuchen und Törtchen in die Glastheke stellte.
Moiken gab keine Antwort, denn angesichts der Wahrheit würde Henriette nur wieder lachen und sagen, dass Frieda schließlich kein kleines Kind mehr sei und sie sich als Mutter nicht immer so viele Sorgen machen solle.
Skeptisch beobachtete Moiken ihre Tochter, die ein paar langsame Schritte am Flutsaum entlangging und es sichtlich genoss, wie die auslaufenden Wellen ihre Knöchel umschmeichelten.
Eigentlich war Frieda die Vernunft in Person, und eigentlich müsste sie sich keine Gedanken um ihre Tochter machen.
Eigentlich.
Moiken seufzte innerlich auf.
Die Angst um Frieda war allgegenwärtig und fest in ihrem Mutterherz verankert, seitdem sie als Säugling so schwer erkrankt gewesen war.
»Moiken?«, rief Henriette. »Ziehen doch wieder dunkle Wolken auf? Sollen wir lieber nicht öffnen?«
Nein, dachte sie. Dunkle Wolken entdeckte sie keine. Zumindest nicht am Himmel. Aber in ihr drin warfen sie Schatten auf ihre Seele.
Wann war sie überhaupt zuletzt unbeschwert und frei von Sorgen gewesen? Jedenfalls nicht, seitdem Bernhard auf dem Hindenburgdamm tot zusammengebrochen war, bei der Eröffnungsfeier das Attentat auf Adam verübt worden war und sie unter dem Helm des kostümierten Soldaten die flammend roten Haarspitzen erkannt hatte.
»Alles ist gut, wir öffnen!«, rief sie zurück.
Ja, dachte sie, alles war gut. Zumindest redete sie sich das Tag für Tag ein. Henriette war stets pünktlich und mit vollem Arbeitseifer zur Stelle und hatte nicht nur die Abläufe im Café, sondern auch die schwierigen Gäste im Griff, sodass am Ende alle zufrieden waren.
Heute war nach sechs Wochen der zweite Tag in Folge, an dem es endlich nicht wie aus Eimern schüttete oder der Wind die Stühle umwarf. Stattdessen ließ sich sogar die Sonne blicken.
So einen unfassbar schlechten Sommer hatte Moiken noch nie auf der Insel erlebt, denn der Wind trieb die Regenwolken nicht wie sonst schnell weiter zum Festland.
Zum Festland, mit dem die Insel seit vier Jahren durch den Damm verbunden war. Ein Jahrhundertbauwerk, das Bernhard das Leben gekostet und ein Attentat auf Adam zur Folge gehabt hatte.
Adam hatte die Schussverletzung überlebt, und ein mutmaßlicher Täter mit roten Haaren und ohne Alibi war verhaftet und verurteilt worden, doch der Mann hatte seine Unschuld beteuert – genau wie Henriette, die zum fraglichen Zeitpunkt im Dünencafé mit Vorbereitungen beschäftigt gewesen war und Emma dafür als Zeugin hatte. Seit dem Revisionsurteil war der mutmaßliche Täter allerdings aus Mangel an Beweisen wieder auf freiem Fuß.
Wenn nur nicht immer diese Zweifel an Henriettes Unschuld in ihr aufkämen, dachte Moiken. Was, wenn Emma Henriette ein falsches Alibi gegeben hatte?
Diese Vermutung hielt sich in ihren Gedanken so hartnäckig wie die dunklen Wolken, schließlich ging es für Emma um den Tod ihres Halbbruders, der nicht ungesühnt bleiben sollte, und Henriette war bis heute ganz offen der Überzeugung, dass Adam Schuld am Tod ihres Sohnes trug, weil er Bernhard trotz seines schlechten Gesundheitszustands auf die Dammbaustelle getrieben hatte. Seite an Seite hatte sie mit Henriette darum gekämpft, Bernhard ins Leben zurückzuholen.
Moiken warf einen Blick auf ihre kleine goldene Armbanduhr.
Noch zwanzig Minuten bis zur Öffnung. Sicherlich würden die Sommerfrischler gleich Schlange stehen – angesichts des Wetters schien es heute jeden der rund viertausend Badegäste, die sich derzeit in Westerland aufhielten, an den Strand getrieben zu haben –, aber der Sonnenschein sollte für Frieda noch lange kein Grund sein, sich allein in die hohen Wellen stürzen zu wollen.
Nein, nicht wieder in Angst verfallen, mahnte sie sich selbst. Sie musste darauf vertrauen, dass sich Frieda nur ein wenig die Beine erfrischen wollte.
»Ich kann ja verstehen, dass du die Sonne da draußen genießen möchtest«, rief Henriette, »aber wenn du gleich öffnen willst, dann solltest du jetzt die Stühle auf der Terrasse aufstellen, andernfalls müssen die Gäste ihren Kuchen im Stehen verzehren.«
Moiken beschloss, auf die Vernunft von Frieda zu vertrauen, und besann sich auf ihre Verpflichtungen.
Am nächstgelegenen Tisch klappte sie den blauen, grünen und roten Stuhl auf, wischte mit dem Lappen über die Sitzflächen und rieb die salzverkrustete Sandschicht von der gelben Tischplatte, bis die Farbe wieder in der Sonne leuchtete.
Routinemäßig ging sie zur nächsten Sitzgruppe.
Ihre innere Unruhe wollte jedoch nicht weichen. Wie unter Zwang warf sie einen prüfenden Blick über die Schulter zum Flutsaum hin.
Genau in diesem Moment ging Frieda ins Meer hinein, das Wasser reichte ihr bereits bis zur Hüfte. Verdammt! Hätte sie doch nur auf ihr Bauchgefühl gehört!
»Ich bin gleich wieder da!«, rief sie kurz entschlossen, ließ die verdutzte Henriette zurück und eilte über die hölzerne Promenade an den Strand.
»Frieda! Frieda, warte!« Am Strand herrschte zu viel Trubel, zudem das Meeresrauschen – unmöglich, dass Frieda die Rufe hörte. Mühsam bahnte sich Moiken einen Weg zwischen den Sommerfrischlern hindurch.
»Frieda, warte! Frieda, nicht!«
Aus einer Strandburg heraus feuerte eine Gruppe junger Männer und Frauen ihren Strandlauf an und prostete ihr zu. Es war die Harmlosen GmbH, wobei es sich bei der GmbH um eine Gesellschaft mit besonderen Hintergedanken handelte. Beides eine Unverfrorenheit. Der Name und das Verhalten.
»Frieda! Frieda!«
Endlich! Ihre Tochter drehte sich um und kam schnell aus dem Wasser.
»Mutter, was ist passiert?«
Moiken blieb in gebeugter Haltung vor ihrer Tochter stehen, die Hände auf die Oberschenkel gestützt, und rang nach Luft. »Das fragst du mich? Wie kommst du nur darauf, allein schwimmen zu gehen?«, stieß sie hervor.
Frieda machte eine erstaunte Miene. »Weil das Wetter heute endlich mal schön ist? Außerdem ist die Nordsee heute so ruhig, wie man sie nur selten erlebt. Das musste ich doch ausnutzen.«
»Frieda, ich bin entsetzt über deine Unvernunft! Wie alt bist du? Wie oft habe ich dir erklärt, dass das Meer immer heimtückisch ist, bei jedem Wetter.«
»Mutter, bitte, ich kann schwimmen. Das hast du mir beigebracht, und ich bin in der Tat alt genug, um die Gefahr einschätzen zu können. Sieh dir doch die sanften Wellen an. Die sind definitiv harmloser als die dort drüben.« Mit einem Kopfnicken deutete sie auf die feuchtfröhliche Gruppe der Harmlosen GmbH. »Oder wäre es besser gewesen, du hättest mich in deren Strandburg angetroffen?«
Die jungen Männer johlten und pfiffen, weil sie den Grund des Strandlaufs erkannt hatten, der ihnen offenkundig gefiel.
»Natürlich nicht! Du sollst nicht allein schwimmen gehen, darum geht es.«
»Du hast ja nie Zeit, und meine Freundinnen müssen heute arbeiten – und wer weiß, wie lange das schöne Wetter anhält. Bestimmt nicht lange. Ich hätte in männlicher Begleitung schwimmen gehen können, aber das wäre dir auch wieder nicht recht gewesen.«
»In männlicher …« Moiken verschlug es die Sprache. »Wie kommst du denn plötzlich auf solche Gedanken?«
»Nun ja, wie soll ich sagen …« Eine leichte Röte flog auf Friedas Wangen. »Der Gedanke läge nahe.«
Moiken wurde warm ums Herz, und der Ärger verflog augenblicklich. Ihre Tochter hatte sich verliebt. Was für eine schöne Nachricht an diesem sonnigen Tag, mitten am Strand.
Andererseits – Frieda war doch erst siebzehn. Ein wenig hätte sie sich mit der Auswahl ihres zukünftigen Ehemanns ja noch Zeit lassen können. Aber wenn er eine gute Partie war?
»Jetzt bin ich aber neugierig. Magst du mir den Herrn mal vorstellen?«
In Friedas Blick zeigte sich Erleichterung, und sie lachte aus voller Kehle. »Ich bin mir sicher, du wirst ihn mögen. Du kennst ihn nämlich. Schon lange. Ich habe dir bereits als Kind gesagt, dass ich ihn eines Tages heiraten werde.«
»Unseren Portier? Frieda! Ich dachte, die Sache mit Matthis hätte sich längst erledigt. Ich habe dir schon damals klipp und klar erklärt, dass du als Hotelerbin nicht den Portier heiraten kannst.«
»Diese Sache …«, entgegnete Frieda betont ruhig, »nennt sich Liebe.«
»Das ist doch nur eine Schwärmerei aus Kindertagen. Außerdem ist Matthis sechsundzwanzig und damit neun Jahre älter als du.«
»Richtig – und deshalb weiß er auch, was er will. Er hat auf mich gewartet, all die Jahre, bis ich nun alt genug für eine Verlobung bin. Wir lieben uns.«
»Eine Verlobung?« Moiken fühlte sich so überrumpelt, als sei sie von einer Welle überrollt worden. Sie wusste nicht mehr, wo ihr der Sinn stand. Nur eines war ihr klar. »Das kommt gar nicht infrage! Das sollte auch Matthis wissen. Er kennt die Regeln.« In ihrem Ärger kam ihr noch eine weitere Frage in den Sinn. »Seit wann werde ich eigentlich von meiner eigenen Tochter hintergangen, wenn ihr euch bereits verlobt habt?«
»Nein, so war das nicht gemeint. Wir haben uns noch nicht verlobt, und wir haben uns bisher auch nur einmal ohne dein Wissen verabredet. Letzte Woche. Da ist nichts passiert – gar nichts! Wir haben uns nur an den Händen gehalten. Aber wir sind uns einfach sicher, dass wir zusammengehören und jetzt unsere Zeit gekommen ist. Du kannst Matthis fragen, es war mir sehr wichtig, vor einem nächsten Treffen mit dir zu sprechen. Ich habe bisher nur keinen geeigneten Moment gefunden, und jetzt war das sicher auch nicht ideal, aber es musste heraus.«
»In der Tat, der Strand ist wirklich kein geeigneter Ort, um so etwas zu besprechen. Abgesehen davon stehe ich unter Zeitdruck.« Sorgenvoll blickte sie über den sonnengelben Strand und seine fröhlichen Besucher hinweg zu ihrem blauen Pavillon am Ende der hölzernen Promenade, wo Henriette unterdessen die restlichen farbenfrohen Stühle aufgeklappt und die Blumen auf die Tische gestellt hatte. »Aber ganz gleich, wie die Lage ist, ich verbiete mir jedwede Liaison zwischen meinen Angestellten und erst recht mit höhergestellten Personen des Hauses.« Es tat ihr weh, diese Worte auszusprechen, denn sie mochte Matthis wirklich sehr – aber so waren nun einmal die Regeln.
»Ich kann mich sehr gut an das Gespräch erinnern, als du mir erklärt hast, dass ich nicht den Portier heiraten könne. Da war ich elf Jahre alt, und ich dachte, du hast das gesagt, weil du meine Gefühle für reine Schwärmerei gehalten hast. Aber seit diesem Tag ist meine Liebe zu Matthis nur noch größer geworden. Außerdem galt deine Regel für Leopold und Wilma auch nicht.«
Moiken seufzte innerlich auf. Mit dem alten Portier und der ehemaligen Küchenvorsteherin hatte Frieda ein überaus passendes Argument parat, denn die beiden hatten als Ehepaar ihr gesamtes Leben in der Strandvilla verbracht, und auch heute lebten sie noch unter diesem Dach und sahen recht munter ihrem neunzigsten Geburtstag entgegen.
»Die beiden sind eine Ausnahme. In jeglicher Hinsicht. Sie kamen noch unter deinem Vater als junges Ehepaar in die Strandvilla.«
»Siehst du, mein Vater kannte solche Regeln nicht. Also sind Matthis und ich auch eine Ausnahme.«
»Nein, das seid ihr nicht!«, entgegnete sie harscher als gewollt, weil sie sich mit der Situation vollkommen überfordert fühlte. Als sie dann auch noch die Tränen in Friedas Augen sah, spürte sie den Schmerz ihrer Tochter, als sei es ihr eigener, denn sie kannte ihn nur zu gut.
»Frieda, das ist nun wirklich kein Thema, das wir noch länger am Strand diskutieren sollten. Außerdem müsste ich längst wieder bei Henriette sein.«
Frieda folgte ihrem Blick, und angesichts der Gäste, die bereits in Scharen über den Holzsteg zum Dünencafé pilgerten, sagte sie: »Wir können gern heute Abend weiterreden. Ich habe jetzt auch nicht so viel Zeit, ich muss in einer Stunde wieder bei Carl in der Druckerei sein.«
Ein Gespräch. Auf Anhieb wusste Moiken nicht, wie sie auf den Vorschlag ihrer Tochter reagieren sollte. Da gab es nichts zu reden. Es war schließlich eine alte Weisheit, dass sich Arbeit und Liebe nicht vertrugen. Andererseits wollte sie nicht so hart zu ihrer Tochter sein.
Was also tun? Immerhin wusste sie jetzt endgültig, warum sie der Lehre von Frieda in der Druckerei zugestimmt hatte, nachdem Carl sich tatsächlich bereit erklärt hatte, eine Frau auszubilden. Nicht auszudenken, wenn Matthis und Frieda ständig miteinander zu tun hätten, da würde sich doch keiner mehr auf seine Aufgaben konzentrieren können.
»Also, was ist nun?«, hakte Frieda nach. »Treffen wir uns heute Abend? Gemeinsam mit Matthis?«
Moiken fühlte sich unter Druck gesetzt. Der Blick hin zu ihrem Dünencafé tat sein Übriges. »Ich kann das jetzt nicht entscheiden. Es wird gleich die Hölle los sein. Aber nach sechs Wochen Dauerregen wird es auch dringend Zeit für Umsatz.«
»Mutter, du weichst mir aus«, mahnte Frieda.
Gut erkannt, dachte Moiken. »Frieda, versteh mich bitte richtig. Ich schätze Matthis sehr, aber dein Ehemann muss Geld mitbringen, damit die Zukunft der Strandvilla gesichert ist. Die wirtschaftlichen Zeiten sind schwierig, das dürfte auch dir nicht entgangen sein. Die Hotels sind in den vergangenen Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen. Die Konkurrenz ist groß. Es wird Zeit, dass du einen Einblick in die Buchhaltung der Strandvilla erhältst, damit du siehst, was allein der laufende Betrieb an Kosten verschlingt, wie viele Bedienstete ich schon hätte entlassen müssen und wie viele Renovierungsarbeiten liegen geblieben wären, wenn da nicht Adams Geld gewesen wäre. Verstehst du das denn nicht?«
»Doch, ich verstehe. Du lässt nicht mit dir reden und bringst es tatsächlich fertig, mir meine große Liebe zu verbieten, nach all dem, was du wegen deiner Mutter mit Boy erleiden musstest!«
»Das ist nicht zu vergleichen!«, fuhr sie auf. »Hier geht es um die Zukunft der Strandvilla.«
»Ach, und um meine nicht?«, erwiderte Frieda bitter enttäuscht.
Moiken hielt inne, weil Friedas Einwand sie schmerzhaft an ihre eigene Vergangenheit erinnerte, aber dann besann sie sich wieder auf ihr gegenwärtiges Ziel. »Doch, natürlich«, besänftigte sie ihre Tochter. »Aber als Hotelerbin sollte dir die Zukunft der Strandvilla besonders am Herzen liegen«, sagte sie und machte damit einen letzten verzweifelten Ansatz, ihre Tochter an die wesentlichen Dinge zu erinnern. »Oder willst du das Hotel nicht erben?«
»Doch. Im Gegensatz zu Emma kann ich mir nämlich sehr gut vorstellen, die Strandvilla eines Tages weiterzuführen.«
»Siehst du«, entgegnete Moiken erleichtert, und ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Es war doch gut gewesen, das Gespräch nicht auf die lange Bank zu schieben, damit Frieda verstand, dass es nicht in erster Linie um ihre private Zukunft, sondern um die Verantwortung für ein großes Erbe ging.
»Wenn du dein Erbe eines Tages antrittst, musst du bedenken, dass deine Halbschwester monatlich einen prozentualen Anteil aus den Einnahmen erhält. Gleiches gilt für Adam, sollte ich vor ihm versterben. Dieses Geld musst du erübrigen können, was in schlechten Zeiten schwierig werden kann. In Konsequenz müsstest du die Strandvilla verkaufen oder besser gleich einen Mann mit Geld heiraten. Frieda, du bist die zukünftige Hotelerbin. Du musst standesgemäß heiraten. Stell dir nur vor, wer alles Schlange stehen wird.«
Friedas Blick glitt über den Strand hinweg, hin zur Villa auf der hohen Düne. Wieder spiegelten sich Tränen in ihren Augen, und sie schüttelte langsam den Kopf. »Ich werde keinen anderen Mann so lieben können wie Matthis.«
»Ich kann verstehen, dass du Matthis sehr magst«, entgegnete sie sanft, um besser auf ihre Tochter einwirken zu können, »aber du musst vernünftig sein – so wie ich.«
»Ach? Du willst mir ein Vorbild sein?«, platzte es aus Frieda heraus. Vorbei war es mit ihrer Beherrschung. »Sieh dich doch an, wohin dich deine Vernunft gebracht hat! Du bist kreuzunglücklich mit Adam und liebst Boy bis heute. Es tut mir leid, Mutter, aber so ein Leben möchte ich nicht führen. Ich werde für mein Glück kämpfen – und wenn es sein muss, auch gegen deinen erklärten Willen.«
Nach einem langen Arbeitstag ging Moiken erschöpft über die Promenade in die Strandvilla zurück. Im Dünencafé waren sie förmlich überrannt worden. Die Schoko-Dünen waren innerhalb kürzester Zeit ausverkauft gewesen, aber zum Glück hatten sich die Gäste mit der leckeren Kuchenauswahl trösten lassen.
Grete hatte den Ansturm vom Küchenfenster der Strandvilla aus beobachtet und sechs Kuchen zusätzlich backen lassen, ansonsten hätten sie schon nach zwei Stunden keinen Krümel mehr gehabt.
Grete hatte immer alles im Blick. Was für ein Glücksfall, ihr damals in Berlin begegnet zu sein, dachte Moiken, während sie die Stufen zum Eingangsportal hinaufstieg.
Grete hatte es in den vergangenen vier Jahren zur Küchenvorsteherin gebracht, sie wollte unter keinen Umständen zurück in die Großstadt, und auch Moiken wollte Grete nicht mehr missen.
Letzteres galt auch für Matthis. Er war ein wundervoller Portier, den sie nicht verlieren wollte.
Sie zog die schwere Eingangstür auf, und sogleich fiel ihr Blick auf die Rezeption, wo Matthis gerade mit einem Gast gesprochen hatte, der sich für den hervorragenden Service bedankte und seine Buchung für das nächste Jahr eintragen ließ.
Matthis hatte sich wirklich sehr gemausert. Vom blondschopfigen Zeitungsjungen in fadenscheiniger Kniebundhose zum eleganten Portier mit einer sehr charmanten Ausstrahlung. Sie konnte schon verstehen, weshalb sich ihre Tochter in diesen Mann mit dem treuen Blick aus großen blauen Augen und dem unwiderstehlichen Lächeln verliebt hatte. Er war immer guter Laune und nicht aus der Ruhe zu bringen.
Einen besseren Nachfolger für Leopold hätte sie sich nicht wünschen können, dachte Moiken, während sie im Hintergrund stehen blieb – genau an der Marmorsäule, an der sie damals ausgeharrt hatte, als die Revolutionäre mit entsicherten Gewehren die Strandvilla gestürmt hatten, um das Haus nach Waffen und Kriegstreibern zu durchsuchen.
Es war allein der Geistesgegenwart von Matthis zu verdanken gewesen, dass er dem kriegsversehrten Offizier gerade noch rechtzeitig durch den Hintereingang zur Flucht verholfen hatte, ansonsten würde sie jetzt nicht mehr hier stehen.
Tatsächlich hatte sie also nicht nur Adam ihr Leben zu verdanken, sondern auch Matthis. Ein bedeutender Grund, weshalb es ihr schwerfiel, ihm die Liebe zu Frieda zu verbieten.
Moiken wartete noch einen Moment, bis sich der Gast auf sein Zimmer verabschiedet hatte, denn nun stand ein schwieriges Gespräch an, das ihr schon seit Stunden schwer im Magen lag.
»Guten Abend, gnädige Frau«, begrüßte Matthis sie gewohnt charmant und ganz so, wie er es von Leopold übernommen hatte. Sie hatte es aufgegeben, ihm zu erklären, dass sie nicht mit Gnädige Frau angesprochen werden wollte – denn die Alternative wäre Frau von Baudissin gewesen. Darauf konnte sie jedoch angesichts der Scherben ihrer Ehe dankend verzichten.
»Guten Abend, Matthis. Wie war der Tag? Gab es besondere Vorkommnisse?«, begann sie ebenfalls wie gewohnt.
»Es gibt wichtige Neuigkeiten und eine dringende persönliche Sache, die ich mit Ihnen besprechen muss.«
Oh, dachte Moiken, er bringt das Gespräch von selbst darauf. Einerseits fühlte sie Erleichterung, andererseits war da die Ungewissheit, was nun folgen würde. Er war vorbereitet, bestimmt hatten Frieda und er unterdessen miteinander gesprochen.
Nur, was hatten sie beschlossen? Was, wenn die Liebe zwischen den beiden so groß war, dass er kündigen wollte?
Der Gedanke durchlief sie siedend heiß, so als sei sie in eine Wanne mit zu heißem Wasser gestiegen.
»Dann fangen wir doch am besten mit der persönlichen Sache an …«, entgegnete sie äußerlich beherrscht und fügte bedächtig hinzu: »Ich habe heute von Frieda gewisse Dinge erfahren. Ich nehme an, es geht darum?«
»Ja«, sagte Matthis leise. »Es tut mir leid, aber ich liebe Ihre Tochter von ganzem Herzen.«
»Und ich nehme an, Sie wissen, wie ich dazu stehe?«
Schmerz spiegelte sich in Matthis’ Augen wider, und sie wusste genau, was er empfand. Sie kannte diese Hilflosigkeit zur Genüge, diese traurige Wut und das beißende Unverständnis, weshalb eine Liebe nicht sein durfte.
»Das weiß ich«, erwiderte Matthis, und dann schwieg er. Er sortierte die Unterlagen auf dem Tresen in eine andere Reihenfolge, so als gäbe es nichts Dringlicheres zu erledigen.
»Und was gedenken Sie zu tun?«, fragte Moiken vorsichtig und überlegte, wie sie reagieren sollte, falls Matthis ihr seine Kündigung anbot.
Um welchen Preis sollte sie Matthis in der Strandvilla halten? Wäre es möglich, die Liebe der beiden doch zuzulassen? Mit der leisen Hoffnung, dass Frieda sich am Ende für einen anderen Mann entscheiden würde?
»Ich habe mit Frieda gesprochen …«, begann Matthis und räumte die Unterlagen wieder an ihren ursprünglichen Platz zurück. »Und wir haben eine Entscheidung getroffen.«
Moiken hielt den Atem an. Es war, als ob eine hohe Welle auf sie zurollen würde. Unaufhaltsam, kurz davor, sie zu überrollen.
»Und die wäre …?«
»Wir werden unsere Liebe zugunsten der Strandvilla aufgeben. Ich habe Frieda davon überzeugt. Es ist besser so.«
Überrascht suchte Moiken nach Worten. »Das ist … damit habe ich ehrlich gesagt nicht gerechnet. Ich freue mich sehr über diese ausgesprochen vernünftige Entscheidung. Das rechne ich Ihnen wirklich hoch an, Matthis. Ich versichere Ihnen, wenn Sie der Strandvilla die Treue halten, wird es Ihnen ein Leben lang an nichts fehlen.«
Matthis brachte kein Wort hervor und nickte stattdessen. Der Schmerz war ihm anzusehen, aber sein Blick zeugte von Entschlossenheit.
Angesichts dieser so schnell getroffenen Entscheidung war die Liebe wohl doch nicht so groß gewesen – zumindest nicht von seiner Seite aus, dachte Moiken erleichtert. Bei Frieda würde es hoffentlich auch nur ein paar Wochen dauern, bis sie Matthis wieder unbefangen begegnen konnte. Das wünschte sie den beiden jedenfalls.
Sich ohne Schmerz ansehen zu können – das war ihr mit Boy nie gelungen. Ein ganzes Leben lang nicht.
»Es gibt auch noch Geschäftliches zu besprechen«, hob Matthis an, und sie war ihm dankbar, dass er den Themenwechsel herbeiführte.
»Ja richtig, schießen Sie los«, gab sie sich betont munter, denn sie wollte ihm nicht offenbaren, dass sie in Gedanken noch bei ihrer Tochter war. Sie hatte durchaus ihre Zweifel, dass Frieda diese Entscheidung mit ganzem Herzen getroffen hatte.
Ob sie jetzt weinend in ihrem Zimmer saß? Oder machte sie sich wieder zu viele Sorgen um ihre Tochter? Vielleicht würde auch Frieda unerwartet schnell über den Schmerz hinwegkommen, weil sie die große Liebe mit einer kindlichen Schwärmerei verwechselt hatte, und am Ende würde auch sie glücklich über diese vernünftige Entscheidung sein?
»Schießen ist das richtige Stichwort«, entgegnete Matthis und reichte ihr das Blatt mit der Bekanntmachung der Schießübungen des Militärs. »Ich habe die Gäste bereits informiert.«
Bekanntmachung
betreffend
Schießübungen
auf der Insel Sylt
Am 19., 20. und 21. August 1931von 8 Uhr bis 18 Uhr und von 20 Uhr bis 22 Uhr finden Abkommschießen und am 25. und 26. August von 8 bis 18 Uhr Kaliberschießen mit Batterien nach See zu statt.
An diesen Tagen weht auf der Galerie des Leuchtturms Rotes-Kliff und auf dem Signalmast des Gebäudes der Marine-Nachrichtenstelle auf dem Westellenbogen in der Nähe des Leuchtturms List-West ein roter Doppelstander (Internationale Flagge »B«).
Bei Dunkelheit wird an den bezeichneten Stellen ein rotes Licht gesetzt.
Besondere Absperrmaßnahmen werden nicht getroffen. Den Anweisungen von Wachfahrzeugen ist im eigenen Interesse Folge zu leisten.
Jeder Aufenthalt während der Zeit des Schießens in den auf der beigefügten Karte näher bezeichneten Gebieten ist polizeilich verboten.
Schleswig, den 11. August 1931
Der Regierungspräsident
»Mich wundert, dass diese militärischen Übungen von den Großmächten geduldet werden. Im Versailler Vertrag stand etwas anderes.« Sie machte diese Bemerkung, ohne bei der Sache zu sein, denn sie überlegte, besser gleich nach ihrer Tochter zu sehen. Andererseits erforderte die Besprechung mit Matthis noch etwas Zeit.
»Ich weiß auch nicht. Die Seeflugzeuge wurden ja gemäß dem Versailler Vertrag zerstört«, entgegnete Matthis, »außerdem wurden auf dem Ellenbogen Entfestungsarbeiten durchgeführt, einzelne Baracken verkauft und der militärische Nachlass versteigert. Aber mir behagt auch nicht, dass einige Befestigungsanlagen belassen wurden, um die Ausbildung des Militärs weiterhin zu ermöglichen – mit Genehmigung der Alliierten. Und jetzt diese Schießübungen …«
»Hoffentlich nur für den Verteidigungsfall!« Moiken verzog den Mund. »Wobei auch Verteidigung Krieg bedeutet, und davon habe ich wahrlich genug gehabt. Lassen wir das Thema, ich mag gar nicht daran denken.«
»Und ich will nicht wissen, wo uns diese Wirtschaftskrise noch hinführt …«, ergänzte Matthis.
Moiken war unterdessen in Gedanken schon wieder bei Frieda. »Matthis, ich muss Sie doch noch einmal etwas Persönliches fragen. Sie sagten vorhin, dass Sie beide die Entscheidung getroffen hätten, aber zugleich erwähnten Sie, dass Sie meine Tochter lieben und dass Sie sie überzeugt hätten. Wie darf ich das verstehen?«
»Nicht so, wie es sich vielleicht anhört«, sagte Matthis schnell. »Ich liebe Frieda, das gebe ich offen zu, aber ich habe Ihre Tochter an die gebotene Vernunft erinnert, und dann hat mir Frieda beigepflichtet, dass eine Beziehung nicht möglich ist. Ich gebe auch zu, es schmerzt uns beide, aber davon wollen wir uns nicht leiten lassen. Es wird ein wenig dauern, bis wir uns unbefangen in die Augen sehen können, aber wir sind dazu gewillt. Als Freunde werden wir uns immer sehr schätzen – und mögen –, so viel steht fest, aber eben nicht als Paar.«
»Ich bin ehrlich beeindruckt und erleichtert«, gab Moiken zu.
»Das freut mich«, antwortete Matthis mit einem Lächeln. »Die Vernunft geht vor, und wir möchten Ihnen außerdem keine Schwierigkeiten bereiten, die allgemeine Lage ist schon trostlos genug.« Matthis reichte ihr die Sylter Zeitung und deutete auf eine Annonce. »Die Pension Meeresfrieden muss zwangsversteigert werden.«
»Meine Güte, schon wieder eine Zwangsversteigerung. Wie viele hatten wir davon schon dieses Jahr?«
Matthis hob die Schultern. »Ich würde sagen, dreißig oder vierzig. Ich habe aufgehört zu zählen. Ich finde das angesichts von nur rund dreitausend Einwohnern in Westerland ziemlich erschreckend. Vor dem Krieg kamen knapp dreißigtausend Sommerfrischler nach Westerland, in dieser Saison werden wir vielleicht mit Ach und Krach zwanzigtausend erreichen. Und diese wenigen Gäste verteilen sich auf zu viele Betten, die Herbergen sind doch in den vergangenen Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen.«
»Wohl wahr. Die Pensionsinhaber unterbieten sich gegenseitig, und bei diesem ruinösen Wettbewerb um die Gäste kommen gerade einmal die Selbstkosten heraus. Das Ergebnis sieht man ja.« Mit einem Kopfnicken deutete sie auf die Zeitung, und dabei fiel ihr Blick auf die Wetteraussichten, die ebenfalls nichts Gutes verhießen. »Dazu dieses miese Sommerwetter. Nur zwei schöne Tage, und jetzt ist wieder endloser Regen gemeldet. Das ist ja wirklich zum Davonlaufen. Im Durchschnitt sind unsere Gäste statt drei Wochen nur elf Tage lang geblieben. Diese Einnahmen fehlen einfach. Stellen Sie sich vor, ich könnte zu den Gästen sagen: Sie haben drei Wochen gebucht, das muss auch bezahlt werden – Ihr Problem, wenn Sie früher abreisen. Undenkbar, aber schön wäre es. Zudem war das Dünencafé jetzt sechs Wochen lang geschlossen – und das in den umsatzstärksten Monaten, eine Katastrophe!«
»Das Wetter kann ja nicht für immer schlecht bleiben«, beruhigte Matthis sie.
»Es hängt ja nicht allein am Wetter. Unsere gesamte deutsche Wirtschaft ist in der Krise. Reparationszahlungen, Arbeitslosigkeit, die Unfähigkeit der Politiker …« Sie brach ab, weil ein Ring um ihre Brust lag, der sich mit jedem Wort fester zuschnürte.
»Es wird schon alles bald besser werden«, bekräftigte Matthis ganz nach Leopolds Art. »Ich setze große Hoffnungen auf Hitler. Er verspricht einen Rückgang der Arbeitslosenzahlen, wirtschaftliche Stabilität sowie Ordnung und Sicherheit auf den Straßen.«
Moiken holte tief Luft, sodass der Ring um ihre Brust förmlich zerbarst. »Ausgerechnet dieser Hitler? Der kann doch mit seinem Radau-Goebbels nichts als Unruhe stiften und große Reden schwingen. Überhaupt wird der mit seiner NSDAP nie an die Macht kommen, da kann er noch so viel versprechen.«
»Verzeihung, gnädige Frau, ich würde Ihnen gern beipflichten, aber die Zahlen sprechen leider eine andere Sprache. Die NSDAP hat immerhin bei der letzten Reichstagswahl von allen Parteien die meisten Stimmen erhalten, selbst die SPD kam nur auf unter tausend. Ginge es allein nach unserer Insel, wäre Hitler jetzt schon an der Macht. Es wird auch im übrigen Reich nicht mehr lang dauern, bis die Leute ihm zujubeln. Hindenburg ist alt, seine Tage sind in jeglicher Hinsicht gezählt, und dieser Hitler hat einfach das Zeug zum Führer.«
»Gott bewahre!«, rief sie aus und wollte noch einen Satz hinzufügen, als sie Adams Stimme im Foyer hörte.
»Wovor soll Gott uns bewahren?«, rief er.
Ihr Ehemann kam neugierig näher. Jener Mann, der seinerzeit der erste Gast in ihrem Dünencafé gewesen war. Jener Mann, dessen Charme sie nicht widerstehen konnte. Jener Mann, dem sie ihr Leben zu verdanken hatte, weil er sie aus dem Eis gerettet hatte. Jener Mann, von dem sie geglaubt hatte, dass mit ihm alles besser werden würde.
Ein Mann, dem sie die Schuld an Bernhards Tod gab.
Ihrem Ehemann.
Sein charismatisches Lächeln war geblieben, nur mit dem Unterschied, dass ihr Herz darauf längst nicht mehr reagierte, seitdem sie begreifen musste, dass ihm der Dammbau – sein Lebenswerk – über alles ging. Womöglich sogar über das Leben anderer, das würde sich nie mehr mit Sicherheit klären lassen.
Aus gutem Grund hob sie zu einer Notlüge an. »Vor weiterem Regen soll Gott uns bewahren. Matthis hat mir gerade die Wetteraussichten vorgelegt«, setzte sie zur Bekräftigung hinzu.
»Du hast mal wieder fromme Wünsche«, frotzelte Adam und schüttelte den Kopf. Seine dunklen, leicht welligen Haare waren im vergangenen Jahr deutlich ergraut, überhaupt schien ihn die Vollendung des Jahrhundertbauwerks einige Lebensjahre gekostet zu haben. Rund um die leicht eingefallenen Wangen hatte seine Haut das Aschgrau des Alters angenommen, doch seiner gepflegten Erscheinung tat das keinen großen Abbruch.
Der gute Grund für die Notlüge war der Umstand, dass Adam gleich zum Diner mit ein paar Herren in der Strandvilla verabredet war, die sich allesamt sehr für Hitlers Parteiprogramm interessierten, mit dem er ebenfalls sympathisierte. Darum wusste sie aus Erfahrung, dass ihre Meinung über Hitler nur wieder einen Streit provozieren würde, auf den sie nach diesem nervenaufreibenden Tag gut verzichten konnte.
»Manchmal hat man eben fromme Wünsche«, sagte sie mit einem Schulterzucken. Alle anderen Wünsche waren ohnehin tief in ihrem Herzen verborgen, dachte sie im Stillen.
»Als ob der Regen schuld an der wirtschaftlichen Misere ist«, lachte Adam. »Seit wann bist du so naiv? Die hohe Arbeitslosigkeit und die vielen Pleiten sind das Problem, und der Einzige, der uns aus dieser Wirtschaftskrise retten kann, ist nicht ein wohlgesinnter Wettergott, sondern Adolf Hitler, unser künftiger Führer. Das werden auch diese Kommunisten noch einsehen müssen. Übrigens, meine Freunde aus der NSDAP-Ortsgruppe sind gerade eingetroffen, und stell dir vor, nach der gestrigen Sitzung fanden sie die Reifen ihrer Fahrräder zerstochen vor. Was für ein kindisches Benehmen von der KPD. Als ob sie uns damit einschüchtern könnten.« Er lachte.
»Deine Freunde? Uns?«, horchte Moiken auf. »Bist du etwa der Partei beigetreten?«
Adam setzte eine geheimnisvolle Miene auf. »Sagen wir es mal so, meine Freunde sind auf dem besten Weg dazu, mich davon zu überzeugen. Und weißt du, warum? Der derzeitige Ortsgruppenleiter würde sogar freiwillig zurücktreten, wenn ich die Zügel in die Hand nehmen würde. Das wollen wir heute Abend besprechen. Sie suchen einen Mann mit Charisma und Durchsetzungskraft. Man hält große Stücke auf mich, und ich bin durchaus an dem Amt interessiert, wie du dir denken kannst. Ich will dazu beitragen, dass diese Wirtschaftskrise ein Ende nimmt.«
Moiken schwieg. Ja, das konnte sie sich denken. Aber aus anderen Gründen. Seit dem Ende des Dammbaus fehlte ihm eine Aufgabe, die ihn erfüllte – für die man ihn bewunderte und wegen der man zu ihm aufschaute.
In der Strandvilla würde er immer nur die zweite Geige spielen, auch wenn ihm das Hotel zur Hälfte gehörte, das war ihm klar. Sie hielt die Fäden in der Hand, was die Verwaltung und Gästebetreuung anging, und dieses Zepter würde sie nicht freiwillig hergeben.
Adam war zudem sehr schlecht auf den derzeitigen Reichspräsidenten zu sprechen, seitdem Hindenburg ihm für das Jahrhundertbauwerk lediglich mit einem feuchten Händedruck gedankt und der Damm auch noch dessen Namen erhalten hatte. Leider genug gute Gründe für Adam, ernsthaft in diese Partei einzutreten und sogar den Vorsitz der Ortsgruppe übernehmen zu wollen.
Aber bei der nächsten Wahl würde sich diese Episode wohl erledigt haben, weil die NSDAP niemals die erforderlichen Stimmen erhalten würde. Hoffentlich.
»Wenn deine Freunde schon da sind, was machst du dann noch hier?«, fragte sie spitz.
»Das kann ich dir sagen. Grete hat nur Veuve Cliquot, Heidsieck, Roederer und ein paar Flaschen Rotwein bereitstellen lassen. Haben wir denn nichts Anständiges mehr im Weinkeller?«
Unfassbar, dachte Moiken. Wenn es nach ihr ginge, würde sie den Herren Apfelessig anbieten. Laut sagte sie: »Bester Champagner und Rotwein sind ja wohl angesichts der derzeitigen Lage eine sehr ansehnliche Auswahl.«
Theatralisch verdrehte Adam die Augen. »Was wollen wir denn mit Champagner? Ein guter alter Whiskey muss her!«
»Dann geh doch selbst in den Weinkeller! Du weißt, wo die wertvollen Flaschen lagern, und hast den Schlüssel zu diesem separaten Bereich.«
»Du weißt genau, dass ich keinen Fuß in dieses Spinnengewölbe setze, außerdem müsste ich meinen Schlüssel erst oben aus dem Büro holen.«
Moiken entfuhr ein Seufzer. Sie griff in ihre Handtasche und reichte den Schlüssel an Matthis weiter. »Bring ihn bitte zu Grete. Sie soll den Herren einen schönen alten Whiskey …«
Weiter kam sie nicht, da das Telefon läutete. »Gehen Sie nur, Matthis, damit die Herren nicht verdursten. Ich übernehme das Gespräch.«
Matthis nahm den Schlüssel entgegen und entfernte sich mit einer leichten Verbeugung, während Moiken nach dem Telefonhörer griff – dankbar, das Gespräch mit ihrem Ehemann nicht länger fortsetzen zu müssen.
»Die Strandvilla auf Sylt, herzlich willkommen. Sie sprechen mit Moiken von Baudissin.«
»Ein Gespräch aus Berlin. Ich verbinde«, hörte sie die Dame von der Vermittlung sagen, und dann erklang auch schon die Stimme ihrer Tochter aus dem Apparat.
»Hallo, Mutter!«
»Emma! Ist was passiert?«
Selbst Adam, der sich bereits abgewandt hatte, blieb stehen und sah fragend über die Schulter zurück.
Aber nicht etwa aus Sorge.
Auf Emma war er noch schlechter zu sprechen als auf den Reichspräsidenten – nicht nur, weil Emma die Arbeitsbedingungen auf dem Damm in seinen Augen zu Unrecht mit Fotos in der Zeitung angeprangert hatte, sondern vor allem, weil sie ihn trotz seines Freispruchs weiterhin als Mörder ihres Halbbruders bezeichnete.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte Emma und ließ ein Lachen erklingen. »Ich wollte dir nur mitteilen, dass ich jetzt einen eigenen Apparat habe und zum Telefonieren nicht mehr ins Adlon muss.«
Moiken atmete tief durch. »Das freut mich sehr für dich. Aber zum Plaudern sind solche Gespräche doch viel zu teuer. Schreib mir lieber einen Brief.« Vor allem, weil ich Adam im Nacken habe, setzte sie im Stillen hinzu und hoffte, das Gespräch schnell beenden zu können – obwohl sie von Herzen gern mit ihrer Tochter gesprochen hätte. Schließlich ließ die nur alle paar Monate per Brief etwas von sich hören.
Seit vier Jahren führte Emma das Atelier in Berlin allein, doch ob es gut lief, vermochte Moiken kaum zu beurteilen. Einerseits machte Emma immer wieder ihrem Ärger Luft, wie schwer es sei, als Frau in ihrem Beruf akzeptiert zu werden, andererseits betonte sie, dass die Auftragslage gut sei.
»Ich wollte dir aber persönlich sagen, dass ich nächste Woche zu Besuch komme.« Mit ihrer fröhlichen Stimme übertrug sich Emmas breites Lächeln.
»Uns? Besuchen?« Vor Überraschung brachte Moiken keinen vernünftigen Satz heraus. Am besten hätte sie den Mund ganz gehalten, denn das Stichwort uns ließ Adam natürlich aufhorchen.
»Dich und meinen Vater natürlich. Nicht Adam«, betonte Emma, und Moiken hoffte, dass es nicht bis zu den Ohren ihres Ehemanns vorgedrungen war. Er machte keine Anstalten, sich zurückzuziehen.
»Emma, das Wetter ist zurzeit sehr schlecht hier …«, hob sie an und flehte innerlich, Adam möge sich endlich zu seinen Herren gesellen, damit sie offen mit ihrer Tochter reden konnte. Auch darüber, wo Emma übernachten wollte.
In Boys Fotoatelier gab es nur dieses einfache Bett in einer Kammer, die zugleich als Lager für Requisiten diente. Wie gern hätte sie ihrer Tochter ein Zimmer in der Strandvilla angeboten, es wären sogar mehrere frei, aber angesichts von Adams Einstellung Emma gegenüber gliche dieser Plan einem Himmelfahrtskommando.
»Ich bin doch keine Sommerfrischlerin«, protestierte Emma. »Ich reise also nächste Woche Samstag an, und keine Sorge, ich werde mich von der Strandvilla fernhalten und bei meinem Vater übernachten. Kannst du ihm Bescheid sagen?«
Moiken schluckte. Das wäre eine Gelegenheit, mal wieder unverfänglich mit Boy ins Gespräch zu kommen.
Da er noch kein Telefon besaß, wäre es wirklich sinnvoll, sie würde die fünfzig Meter bis zu seinem Atelier gehen, damit Emma nicht extra ein Telegramm schicken und das Geld dafür bezahlen musste.
Aber fünfzig Meter waren zu einer großen Entfernung geworden, seitdem sie den Vorstellungen von einer gemeinsamen Zukunft abgeschworen und mit Boy die Abmachung getroffen hatte, sich künftig aus dem Weg zu gehen.
Fünfzig Meter.
Die Entfernung zwischen zwei Lebenswelten, in denen es außer der erwachsenen gemeinsamen Tochter keine Berührungspunkte mehr gab.
Wenn sich ihre Wege durch Zufall kreuzten, was selten geschah, so tauschten sie ein paar höfliche Worte aus, die sich um das Wetter, die Arbeit oder Emma drehten, jedoch niemals um die große Liebe, die sie einst füreinander empfunden hatten. Oder immer noch empfanden?
»Freust du dich denn gar nicht?«, fragte Emma. Da erst bemerkte Moiken, wie sehr sie in Gedanken versunken gewesen war.
»Doch, doch, natürlich«, sagte sie schnell. »Ich werde Matthis zu deinem Vater schicken, damit er Bescheid erhält. Ich habe leider viel zu tun. Wir sollten jetzt wirklich Schluss machen. Auf bald dann!«
»Warte, ich wollte noch fragen …«, hörte sie Emma sagen, aber da hatte Moiken bereits den Hörer auf die Gabel gelegt.
Adam sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Wenn ich das deinen Worten richtig entnommen habe, will deine Tochter auf die Insel kommen?«, fragte er lauernd.
»Nein, nein«, entgegnete sie schnell. »Sie hat sich angesichts des schlechten Wetters anders entschieden. Das soll Matthis ihrem Vater ausrichten.« Die Lüge ging ihr glatt von den Lippen, und sie konnte Adam dabei sogar in die Augen sehen. Graugrüne Augen, in die sie sich vor gut zehn Jahren verliebt hatte.
Diese Zeiten waren jedoch längst vorbei, dessen war sich ihr Mann bewusst, doch seine Eifersucht war ungebrochen, obwohl die Ehe in Scherben lag. In seiner Vorstellung war sie sein Besitz – genau wie die Strandvilla.
Er musste nicht erfahren, dass Emma zu Besuch kam, und erst recht nicht, dass sie bei ihrem Vater übernachtete. Adam würde alles tun, um jeglichen Kontakt zwischen seiner Ehefrau und dem Mann, den er zu seinem Feindbild erklärt hatte, zu unterbinden.
»Das freut mich, Moiken, denn ich will Emma wirklich nicht in meiner Nähe haben, das ist dir hoffentlich klar. Aber mich erstaunt zugleich, dass sie sich vom Wetter abhalten lässt, sie ist doch keine Sommerfrisch…«
Weiter kam er nicht.
Von draußen drang Lärm herein.
Männergebrüll.
Da schien eine ganze Horde unterwegs zu sein.
»Was ist da los?«, fragte Moiken erschrocken. »Wo genau kommt das her?«
»Von der Promenade. Den Parolen nach zu urteilen, sind ein paar Kommunisten unseren SA-Männern in die Arme gelaufen und erhalten jetzt ihre verdiente Abreibung. Das muss ich mir ansehen!«
»Warte!« Moiken eilte ihrem Ehemann hinterher auf die Terrasse, wo sie vom ersten Stock aus freien Blick auf die handgreifliche Auseinandersetzung hatten.
Vor der Musikmuschel waren tatsächlich die beiden verfeindeten Parteigruppen aufeinandergetroffen.
Mit Fäusten, Schlagstöcken und allem, was im Umfeld als Waffe zweckentfremdet werden konnte, gingen sie aufeinander los. Es flogen Steine, Blumenkübel und sogar Stühle vom nahe gelegenen Café, wobei die SA-Männer in der Überzahl und deshalb im Vorteil waren.
»Weiter so!«, rief Adam. »Nieder mit den Kommunistenschweinen!«
Moiken packte ihren Mann am Arm, sodass er die Hände nicht mehr vor dem Mund zum Trichter formen konnte. »Bist du wahnsinnig geworden? Misch dich da nicht ein!«
»Aber natürlich! Das ist meine Bürgerpflicht. Ich habe viel zu lange den Mund gehalten!« Adam riss sich los und feuerte erneut die SA-Männer an. »Für Hitler! Für die Partei! Schlagt sie zu Brei!«
Moiken griff ihrem Mann unter den Oberarm, um ihn von der Terrasse zu ziehen, als sie aus dem Augenwinkel sah, wie aus der Gruppe der Kommunisten ein Stein auf sie zugeflogen kam.
Reflexartig ging sie in Deckung, doch für Adam war es zu spät.
Der Stein traf ihn am Kopf. Sofort war sein Gesicht blutüberströmt.
Stöhnend sank er in die Knie, blieb jedoch bei Bewusstsein. Ungläubig fasste er nach seiner Verletzung und betrachtete seine blutrote Hand. »Diese Dreckskommunisten«, keuchte er. »Hast du gesehen, welches von diesen Schweinen es gewesen ist?«, keuchte er.
»Nein«, sagte sie, und es war die Wahrheit. Zugleich bemerkte sie, dass Adams Verletzung kein Mitleid in ihr erregte, obwohl diese schlimm aussah.
Mit seinen Anfeuerungsrufen hatte er den Steinwurf provoziert, und wenn sie sich nicht rechtzeitig geduckt hätte, wäre sie an seiner Stelle verletzt worden. »Soll ich den Arzt rufen?«, fragte sie sachlich.
»Ja! Aber nicht den Nachfolger von Dr. Nicolas, dieser Quacksalber steckt mit dem Pack unter einer Decke. Ruf Dr. Emmerich an! Der ist in der richtigen Partei.« Adam nestelte sein Taschentuch hervor und presste es auf die Wunde. »Das werden mir diese feigen, hinterhältigen Kommunistenschweine noch büßen«, stieß er hervor. »Alle zusammen!«
Mühsam rappelte er sich auf und verharrte einen Moment in gebeugter Haltung. Dabei schien es, als würde neue Kraft in ihn fließen, und er wandte sich der Promenade zu.
»Heil Hitler«, skandierte er – seine Hand mit dem blutigen Taschentuch in Richtung seiner Feinde ausgestreckt.
Zum verabredeten Zeitpunkt betrat Frieda den vollgestellten Dachboden der Strandvilla. Unter vergilbten Laken ruhten hier seit dem großen Krieg die von den einquartierten Soldaten beschädigten Tische, Lampen, Stühle und Kommoden wie unter einem Schleier des Vergessens – einst eingelagert in der Hoffnung auf bessere Zeiten, in denen sich Geld für die Instandsetzung erübrigen ließ.
Im Zwielicht schob Frieda leise einen Fuß vor den anderen über den staubigen Holzboden. Besser kein unnötiges Geräusch verursachen, obwohl ihr Leopold und Wilma versichert hatten, dass sich kein Laut in die darunterliegenden Personalzimmer übertrug.
Doch ihre einzigen beiden Mitwisser waren fünfundachtzig Jahre alt, und wer wusste schon, wie gut sie noch hörten.
Matthis wartete bestimmt schon im hinteren Teil des Dachbodens auf dem Sofa mit dem zerschlissenen roten Samtpolster. Das Sofa war letzte Woche zu neuen Ehren gekommen und schweigsamer Mitwisser einer zarten körperlichen Annäherung zwischen zwei Menschen.
Nachdem es ihre Mutter nun nicht anders wollte, mussten die Treffen eben weiter heimlich stattfinden.
Mit Herzklopfen bahnte sich Frieda im Zickzack einen Weg zu ihrem Ziel und umschiffte dabei auch ein paar schwarzbraune Holztruhen, die in goldenen Lettern mit Dammbau oder Adam von Baudissin beschriftet waren.
Matthis hatte sehr bestürzt reagiert, als sie ihm erzählt hatte, welche Worte am Strand gefallen waren. Er hatte ihr sofort versichert, dass keiner sie auseinanderbringen könne, und nach kurzer Beratschlagung hatten sie einen Plan geschmiedet.
Beide wollten sie so tun, als ob sie der Beziehung abgeschworen hätten, um Ruhe zu gewinnen. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um den mütterlichen Segen zu erhalten.
Alles hatte damit begonnen, dass Matthis ihr am vergangenen Sonntag nach dem Kirchgang das erste heimliche Treffen auf dem Dachboden vorgeschlagen hatte. Als sie daran dachte, wie er kurz ihre Nähe gesucht hatte, um ihr vollkommen nervös diesen Vorschlag zu machen, lief wieder ein Kribbeln über ihre Arme, so als würde jemand Sand über ihre Haut streuen.
Atemlos hatte sie seinem Vorschlag zugestimmt, vor Aufregung nur ein Nicken zustande gebracht, wo sie doch sonst um kein Wort verlegen war.
Unzählige schöne Gespräche hatten sie bis zu diesem Tag an der Rezeption geführt, immer wieder hatte Frieda einen Grund gefunden, Matthis dort aufzusuchen. Es ging zum Beispiel um Anmerkungen zu den Aufträgen für die Druckerei, die nicht wichtig genug waren, um diese direkt mit ihrer Mutter zu besprechen, aber als Vorwand für eine Unterhaltung mit Matthis eigneten sie sich perfekt.
Bereits nach wenigen Sätzen wechselten sie stets ins Private, tauschten sich über alle möglichen Themen, ihre persönlichen Ansichten, Vorlieben und Abneigungen aus und entdeckten dabei immer mehr Gemeinsamkeiten.
Und dann war der aufregende Sonntag vor einer Woche gekommen. Das erste Treffen.
Ungestört mit Matthis reden, nicht mehr schnell das Thema wechseln, sobald Gäste, Bedienstete oder gar ihre Mutter das Foyer betraten, und dann, endlich, die erste zarte Berührung ihrer Hände.
Zum ersten Mal hatte sie den Kopf an seine Schulter gelehnt. Zum ersten Mal hatte er den Arm um sie gelegt, sie hatte seine Nähe gespürt, den Kopf weiter auf seine Brust sinken lassen, seinen Herzschlag gehört und die Vibrationen seiner tiefen Stimme gefühlt – die Resonanz seiner Worte, mit denen er ihr versprochen hatte, sie nie mehr loszulassen.
Das, was sie schon als kleines Mädchen gewusst hatte, war Realität geworden. Ihr gemeinsamer Weg hatte begonnen, auch wenn er noch nicht mit einem Kuss besiegelt worden war.
Dafür war ja noch Zeit. Zunächst war es ihr viel wichtiger gewesen, dass ihre Mutter die Neuigkeiten erfahren und der Beziehung ihren Segen geben sollte, denn so schön dieses Treffen auf dem Dachboden auch gewesen war, sie hatte sich nicht wohl dabei gefühlt, ihre Mutter mit solchen Heimlichkeiten zu hintergehen.
Dass es nun ausgerechnet am Strand zu dieser spontanen Aussprache gekommen war, mochte sicherlich etwas ungeschickt gewesen sein, aber nie hätte sie geglaubt, dass es ein Fehler sein würde, ihre Mutter einzuweihen.
Natürlich hatte sie nicht vergessen, was ihre Mutter vor vielen Jahren über eine mögliche Beziehung zu Matthis gesagt hatte, aber sie hatte es wirklich darauf geschoben, dass sie noch ein Kind gewesen war und ihre Mutter es als Schwärmerei abgetan hatte. Natürlich kannte sie auch die Regeln ihrer Mutter, deshalb war sie immer vorsichtig gewesen, wenn es um die Nähe zu Matthis ging. Allerdings hätte sie nie geglaubt, bei ihr tatsächlich auf so harte Ablehnung zu stoßen. Ausgerechnet bei ihrer Mutter, die genau wusste, wie viel Schmerz es bedeutete, die große Liebe nicht leben zu dürfen.
Nur noch wenige Schritte, dann durfte sie wieder in Matthis’ Armen liegen – niemand auf der ganzen Welt würde ihr das verbieten.
Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, doch dann entdeckte sie das leere Sofa.
Sie hielt inne.
Matthis war noch nicht da? Er war doch sonst die Pünktlichkeit in Person.
Etwas traurig ließ sie sich auf dem Sofa nieder, doch sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass es sicher nicht lange dauern würde, bis er käme.
Zur Ablenkung betrachtete sie die verhüllten Gegenstände, befreite sie in Gedanken von den Tüchern. Sie stellte sich vor, wie die Möbel in neuem Glanz erstrahlten, ganz nach ihrem Geschmack, und richtete sich damit ihr eigenes Zuhause ein.
Ein kleines Häuschen unweit der Strandvilla, und doch ein eigenes Reich, in dem sie mit Matthis leben würde. Mit einem kleinen Gärtchen vor dem Haus, in dem alles wuchs, womit sie sich selbst versorgen konnten. Nicht immer bekocht werden, sondern selbst am Herd stehen. Nie mehr ein Zimmermädchen täglich in die privaten Räume einlassen, damit es für Ordnung und Sauberkeit sorgte.
Was andere für Luxus hielten, war für sie eine Abhängigkeit, in der sie später nicht leben wollte. Selbst bestimmen, wann es Essen gab. Niemand, der täglich in die Privatsphäre eindrang – und vor allem nach einem langen Tag wirklich Feierabend haben.
Ihre Mutter konnte nie abschalten, war immer in Gedanken bei den Gästen, die auch nicht davor zurückschreckten, um Mitternacht an die Tür zu ihren privaten Räumen zu klopfen, nur um mitzuteilen, dass man sich entschieden habe, das Frühstück nicht um acht, sondern um neun Uhr auf dem Zimmer einzunehmen, da es etwas spät geworden sei und man ausschlafen wolle.
Selbst in solchen Momenten reagierte ihre Mutter freundlich. Vorbei waren die Zeiten, in denen Matthis nach solchen Vorkommnissen nach der Gästekartei griff und herausragend als Bemerkung hinter dem entsprechenden Namen eintragen durfte – als Hinweis auf herausragend schlechtes Benehmen und als Zeichen dafür, dass für solche Personen alle Zimmer der Strandvilla künftig belegt waren, ganz gleich, wie viele tatsächlich noch frei waren.
Wo blieb Matthis nur?
Frieda schob den Ärmel ihres roten Kleids etwas zurück, um einen Blick auf die zarte Uhr zu werfen, die sie von ihrem Stiefvater zur Konfirmation bekommen hatte.
Sie wartete jetzt seit zehn Minuten.
Das war noch kein Grund zur Beunruhigung, redete sie sich ein, obwohl sie von Sekunde zu Sekunde nervöser wurde. Wahrscheinlich hatte Matthis noch einen Botengang zu erledigen, für den er nicht den Pagen schicken konnte. Doch angesichts dieser deutlichen Verspätung musste er wohl etwas in der Friedrichstraße zu erledigen haben.
Also musste sie noch ein bisschen warten, aber sicherlich nicht allzu lange, denn die Wege in Westerland waren kurz, und Matthis würde sich bestimmt beeilen.
Zur Ablenkung träumte sie weiter von dem kleinen Häuschen, in dem sie mit Matthis wohnen würde.
In dieser Welt war alles möglich – auch dass eine Hotelerbin den Portier heiratete. Sie sah sich mit Matthis am Tisch sitzen, draußen sprangen ihre Kinder im Garten herum, ein Mädchen und ein Junge. Die Sonne schien, das Kinderlachen drang mit Möwenschreien vermischt zum geöffneten Fenster herein. Den jüngsten Nachwuchs, wieder ein Mädchen, hielt sie in den Armen, und beide betrachteten sie glückselig das kleine Geschöpf, den Ausdruck ihrer Liebe.
Dann zogen plötzlich dunkle Wolken auf, und das Bild vor ihren Augen verdunkelte sich.
Was sollte sie tun, wenn sich ihre Mutter unerbittlich zeigen sollte? Mit Matthis die geliebte Insel verlassen? Und was würde dann aus der Strandvilla werden?
Die Leitung der Strandvilla zu übernehmen war seit Kindertagen ihr Wunsch, nicht zuletzt, weil es das Erbe ihres Vaters Theodor war. Zwar kannte sie ihn nur von einem Foto, doch sie fühlte sich ihm nah und auch verpflichtet, sein Lebenswerk fortzuführen, für das er zu Beginn des großen Krieges keine Zukunft mehr gesehen hatte.
Was er wohl zu ihrer großen Liebe gesagt hätte? Er hatte schließlich nicht nur Leopold und Wilma in sein Haus geholt, sondern auch sich selbst in eine einfache Frau aus Keitum verliebt. Ihre Mutter sollte als Konditorin eigentlich nur einen Abend vor dem Festbankett aushelfen – und war für immer geblieben.
Frieda durchfuhr ein Gedanke. Wenn ihr Vater, Theodor von Lengenfeldt, eine Frau ohne besondere Herkunft geheiratet hatte – warum sollten für sie als Hotelerbin dann andere Regeln gelten?
Das musste ihre Mutter einsehen.
Aber vielleicht wäre es besser, zuerst mit Adam zu reden? Mit ihrem Stiefvater verstand sie sich gut, auch wenn er sich durch den Dammbau verändert hatte. Aber sie glaubte im Gegensatz zu ihrer Halbschwester Emma und ihrer Mutter nicht, dass Adam etwas mit dem Tod von Bernhard zu tun hatte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er ihn trotz des offenkundig schlechten Gesundheitszustands auf die Baustelle geschickt hatte. Vielmehr glaubte sie Adams Darstellung, dass er Bernhard für die Schicht freistellen wollte und ihm nahegelegt hatte, einen Arzt aufzusuchen.
Ihre erste Begegnung mit ihrem künftigen Stiefvater hatte sie nie vergessen. Es war der Moment gewesen, als er nach dem Krieg zum ersten Mal das Dünencafé aufgesucht hatte, wo sie als kleines Kind mit den Muscheln auf der Terrasse gespielt und das Wort glügglich gelegt hatte. Während sie von ihrer Mutter auf den Rechtschreibfehler aufmerksam gemacht worden war, hatte Adam ihr beigepflichtet, dass das Wort mit runden Buchstaben in der Mitte viel schöner aussähe und es schließlich nicht darauf ankäme, wie das Wort richtig geschrieben werde, vielmehr solle man richtig glücklich sein.
Seine Unterstützung in dieser verzwickten Lage wäre ihr sicher, doch ob es am Ende wirklich ein kluger Schachzug wäre, ihn ins Boot zu holen? Schließlich war die Ehe zwischen ihrem Stiefvater und ihrer Mutter zerrüttet, das war selbst für Außenstehende kein Geheimnis mehr. Deshalb würde sich ihre Mutter bestimmt nicht von ihm ins Gewissen reden lassen, im Gegenteil, wahrscheinlich würde das die Sache nur noch schlimmer machen.
Was Matthis sich wohl unterdessen überlegt hatte, was sie weiter tun sollten?
Wo blieb er nur?
Jede Minute, die verstrich, nährte ihre Angst, dass er es sich doch anders überlegt haben könnte.
Regen prasselte auf das Häuschen nieder, das sie für sich und Matthis eingerichtet hatte, und sie konnte es nur noch von außen betrachten, die Mauern waren undurchdringlich geworden.
Höchstwahrscheinlich war ihre Mutter unterdessen an der Rezeption gewesen, um ihrem Portier ins Gewissen zu reden, aber Matthis hatte hoffentlich wie verabredet reagiert und so getan, als ob sie beide sich entschieden hätten, die Beziehung unter diesen Umständen zu beenden.
Doch was, wenn Matthis Angst vor seiner eigenen Courage bekommen hatte? Wenn er doch nicht riskieren wollte, seinen geliebten Arbeitsplatz zu verlieren? Was, wenn er sich gegen die Liebe und für die Vernunft entschieden hatte?
Dr. Emmerich hatte bei Adam einen Schock und eine leichte Gehirnerschütterung diagnostiziert, die Platzwunde genäht und ihm Bettruhe für die kommenden vierundzwanzig Stunden und nur leichte Kost verordnet.
Doch kaum war der Arzt zur Tür hinaus gewesen, hatte Adam anstelle einer Hühnersuppe nach der gesamten Speisenfolge des geplanten Diners mitsamt einer Flasche Whiskey verlangt.
Nachdem jegliche gut gemeinte Widerrede nicht gefruchtet hatte, hatte Moiken schließlich achselzuckend eingesehen, dass des Menschen Wille sein Himmelreich war, und schlussendlich war nicht sie diejenige, die sich das Essen samt Whiskey anschließend noch einmal durch den Kopf gehen lassen musste.
Wie gut, dass Adam und sie schon seit Jahren räumlich getrennt in der Strandvilla lebten – offiziell natürlich nur, um sich gegenseitig nicht einzuschränken, zum Beispiel, wenn er Ruhe brauchte, sie aber neben der Buchhaltung noch Telefonate führen musste, oder nachts, wenn er schnarchte und sie nicht schlafen konnte.
Aber natürlich war es längst ein offenes Geheimnis, dass die Ehe nur aufrechterhalten wurde, weil es für sie beide aus finanziellen Gründen von Vorteil war.
Der Weg des geringsten Widerstands führte Moiken nun also in die Küche, um Adams Wünsche an Grete weiterzugeben. Damit wäre die Sache für sie dann erledigt, denn sie selbst hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen, und bei Frieda wollte sie eigentlich schon seit einer Stunde sein.
Was für ein Tag, dachte Moiken erschöpft. Erst Friedas Geständnis und dann als Krönung Adams Verletzung und seine Zusage, den Vorsitz der Ortsgruppe zu übernehmen, noch bevor der Arzt eingetroffen war.
Hoffentlich überlegte er sich das noch einmal anders, wenn er sich von dem Schock erholt hatte. Wobei, so richtig glaubte sie nicht daran.
Im Gegenteil.
Dieser neue Posten bot ihm Beschäftigung, Ansehen und eine gewisse Macht, genau das, was ihm fehlte.
Nachdenklich zog sie die Tür zum Küchensaal auf, der aufgrund der Stuckdecke und der Hängeleuchter eher einem Festsaal glich.
Grete stand mutterseelenallein am anderen Ende vor den großen Rundbogenfenstern an der Arbeitsplatte und war offenbar damit beschäftigt, die für das Diner vorbereiteten Speisen aus den Töpfen in Vorratsbehältnisse umzufüllen.
Als sparsame Küchenvorsteherin war sie nicht nur darauf bedacht, kein Essen verkommen zu lassen, sondern auch, bei der Personaleinteilung sorgsam zu haushalten, indem sie Überstunden nach Möglichkeit vermied. Deshalb hatte sie die Bediensteten sogleich in den Feierabend geschickt, nachdem das späte Diner abgesagt worden war, und sich allein die Arbeit des Aufräumens aufgehalst.
Wenn man die hübsche Grete heute so sah, in ihrem adretten, knielangen blauen Kleid mit der geblümten Schürze, ihren glänzenden dunkelblonden Haaren, die sie in einer aufwendigen Flechtfrisur hochgesteckt trug, dann konnte man kaum glauben, dass sie noch vor sechs Jahren in Berlin als Gossen-Grete mit ihren Kindern in einem Bretterverschlag gelebt und den Müll nach verwertbaren Essensresten durchsucht hatte.
»Guten Abend, Frau von Baudissin«, sagten in diesem Augenblick zwei artige Mädchenstimmen, Gretes inzwischen neun und elf Jahre alte Töchter, die gleich rechts am Tisch auf der Eckbank saßen, wo sonst das Personal seine Mahlzeiten einnahm.
»Ihr seid so spät noch auf?« Verwundert betrachtete sie die beiden Mädchen, die ihr aus großen blauen Augen muntere Blicke zuwarfen. Beide trugen ihre blonden Haare zu Zöpfen geflochten, die passend zu den Kleidchen von roten Schleifen gehalten wurden.
»Wir helfen unserer Mutter«, verkündete die neunjährige Lene mit vor Eifer glühenden Wangen.
»Wir polieren das Silberbesteck«, ergänzte ihre ältere Schwester Helena und hielt wie zur Bestätigung das Tuch in die Höhe.
»Aber habt ihr denn morgen keine Schule?«
»Doch, aber solange unsere Mutter noch keinen Feierabend hat, würden wir sowieso nur wach in unseren Betten liegen.«
»Ich kann ohne Gutenachtgeschichte nicht einschlafen«, bekräftigte Lene und schlug die Augen nieder, sodass ihre im Vergleich zur Haarfarbe sehr dunklen Wimpern besonders auffielen.
»Deshalb machen wir uns lieber nützlich und verdienen uns ein paar Pfennige dazu. Meine Schwester spart nämlich auf die Puppe mit dem blauen Seidenkleidchen, die sie bei H.B. Jensen im Schaufenster gesehen hat, und ich würde mir so gern den Weltatlas kaufen, der bei Julius Meyer ausgestellt ist.«
Als der Name des Buchhändlers fiel, ihres väterlichen Freundes, der ihr beim Aufbau des Dünencafés mit Rat und Tat zur Seite gestanden hatte, verspürte Moiken einen Stich.
Vor drei Jahren hatten sie Julius zu Grabe tragen müssen, wobei es für ihn mit seinem Rheuma zuletzt eine Erlösung gewesen war. Sie tröstete sich damit, dass er ein erfülltes und glückliches Leben gehabt hatte und sie auf wundervolle Erinnerungen mit ihm zurückblicken konnte, auch wenn ihr beim Gedanken an ihn jetzt wieder die Tränen in die Augen stiegen.
Immerhin wurde seine Buchhandlung von seiner wesentlich jüngeren Frau weitergeführt, das war ein kleiner Trost.
Ebenfalls berührt war sie vom Fleiß der Mädchen und von dem Eifer, mit dem diese an der Erfüllung ihrer teuren Wünsche arbeiteten. Spontan fasste sie einen Entschluss, den sie allerdings zunächst noch für sich behalten wollte.
»Dann will ich mal eurer Mutter helfen, damit ihr bald ins Bett kommt und für die Schule ausgeschlafen seid«, sagte sie und schenkte den Kindern noch ein Lächeln.
Während sie den Küchensaal mit raumgreifenden Schritten durchquerte, kamen ihre Erinnerungen zurück, wie sie vor achtzehn Jahren erstmals diesen Raum betreten hatte – an der Seite von Theodor, der sie kurzfristig als Aushilfskonditorin für sein Neujahrsbankett engagiert hatte. Damals hatte sie zögerlich einen Fuß vor den anderen über diesen schwarz-weiß gekachelten Fliesenboden gesetzt, eingeschüchtert von der Betriebsamkeit der rund zwanzig Köchinnen und Gehilfinnen in schwarzen Kleidern und weißen Schürzen, erstaunt über die vielen neuartigen Küchenutensilien, beeindruckt von ihrem Arbeitsplatz mit dem Elektro-Heater und begeistert von dem Blick durch die großen Rundbogenfenster aufs Meer hinaus – über die Promenade bis zu dem heruntergekommenen Pavillon.
Es erschien ihr, als ob es gestern gewesen wäre, wie sie sich in einem Tagtraum plötzlich als Betreiberin eines Cafés gesehen hatte. Ein Lebenstraum, der mittlerweile in Erfüllung gegangen war – doch zu welchem Preis?