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Möwerich Ahoi schlägt Alarm: Seine frisch Angetraute findet in der Hochzeitsnacht ein Baby im gemeinsamen Nest. Allerdings kein Möwenküken - sondern einen menschlichen Säugling. Auf der Suche nach den Eltern gerät die Möwentruppe in aberwitzige Verwicklungen und turbulente Situationen - und kommt einem spektakulären Entführungsfall auf die Spur, der ganz Sylt erschüttert.
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Seitenzahl: 274
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Sina Beerwald, 1977 in Stuttgart geboren, hat sich bisher mit sieben erfolgreichen Romanen einen Namen gemacht. 2011 wurde sie Preisträgerin des NordMordAward, des ersten Krimipreises für Schleswig-Holstein. Vor sieben Jahren wanderte sie mit zwei Koffern und vielen kriminellen Ideen im Gepäck auf die Insel Sylt aus und lebt dort seither als freie Autorin. 2014 erhielt sie den Samiel Award für ihren Sylt-Krimi »Mordsmöwen«. www.sina-beerwald.de
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Ein Projekt der AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur.
© 2015 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: fotolia.com/paul prescott Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Marit Obsen eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-773-4 Sylt Krimi Originalausgabe
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Für Lauris
Dramatis Laridae
Ahoi: Nach elfsiebenneunzehn Eroberungsversuchen hat sein Traumweibchen Suzette endlich seinem Antrag, mit ihm eine Dauerbrutpartnerschaft einzugehen, zugestimmt. Die Feierlichkeiten zum großen Hochzeitsfest stehen unmittelbar bevor. Allerdings lautet Ahois persönliche Steigerungsform von Katastrophe Balzwalzer. Eines ist sicher: Darüber werden die Gäste noch lange reden. Seine Hochzeitsnacht hat er sich jedoch definitiv anders vorgestellt.
Suzette: Liebt ihren Ahoi und das Verwöhnprogramm mit Algen- und Schlammpackungen im »Watt ’n’Spa« in Keitum. Volle Windeln auf dem Kopf dagegen mag sie gar nicht. Sie will brüten, allerdings nicht in einem Nest, das sie sich mit einem Baby teilen muss. Vor Menschen hat sie große Angst, seit ihre Geschwister durch Möweneierdiebe ums Leben kamen.
Baron Silver de Luft: Sieht keine zwei Meter mehr weit und hört schlecht– üble Nachrede, sagt er. Seit Ahoi zum Scheff gewählt wurde, ist er renitenter Rentner und Scheff Adee der Mordsmöwen-Bande, weswegen er immer noch den Helm seines Großvaters trägt, der Hauptfischwebel im Zweiten Möwenkrieg war. Böse Zungen behaupten, es handle sich um eine rostige Thunfischdose.
Harry: Steht auf wilde Hühner. Früher Türsteher vor einer Bäckerei, heute der Mann fürs Grobe mit weichem Herz und Spannweite ein Meter sechzig. Alleinerziehender Vater. Sein pubertierender Sohn wird bald flügge, und Harry kann so gar nicht loslassen.
Grey: Die Jungmöwe im Team. Badet gern in Fischsuppe, findet Kinderspielplätze toll und hat auch sonst noch ziemlich viele Flausen im Gefieder– dafür liefert er aber manchmal auch die rettende Idee.
Alki: Hat erfolgreich eine Alkoholentzugstherapie auf dem Autozug absolviert. Am Bahnhof lernte er seine Frau Spatz kennen, seither sind die beiden unzertrennlich. Wo die Liebe eben hinfällt. Er beabsichtigt, auf der Hochzeitsfeier abstinent zu bleiben und höchstens mal von den Früchten in der Bowle zu naschen.
Frau Spatz: Bevor sie ihren Alki kennenlernte, arbeitete sie als Dreckspatz auf dem Westerländer Bahnhof. Sie ist eine liebevolle Gefährtin, die aber schimpfen kann wie ein Rohrspatz, besonders wenn man sie kleine Federkugel nennt. Wenn es darauf ankommt, versammelt sie eine wahre Spatzenarmada hinter sich.
Jonathan: Kommt vom anderen Ufer– ich denke, Sie verstehen mich. Obwohl er nie zurück auf die Insel wollte, hängt er seinen schlecht bezahlten Job als Fotomodell auf einem Kreuzfahrtschiff an den Nagel und bittet seinen alten Freund Ahoi um einen folgenschweren Gefallen.
Balthasar: Die schlauste Möwe von allen. Hat drei Silvester an der Unität studiert und fliegt nur nach Navi. Ein Frühstück ist für ihn erst mit einer geklauten Tageszeitung perfekt. Plant eine Hochzeitsrede über die philosophische Frage, wer zuerst da war– die Möwe oder das Ei.
Adebar Klapper: Macht eine Bruchlandung neben Ahois Nest. Hat als Storch ziemliche Auslieferungsschwierigkeiten auf dem hart umkämpften Babymarkt und muss seine Prioritäten überdenken. Hinterlässt Ahoi am Ende ein großes Geschenk. Ob der will oder nicht. Einem geschenkten Vogel schaut man schließlich nicht in den Schnabel.
Das Windelding:
EINS
Gestatten, mein Name ist Ahoi. Wobei ich mir dessen gerade gar nicht so sicher bin, denn gestern war mein Jungmöwenabschied, den wir auf Kampens Whiskymeile ausgiebig begossen haben. Gemeinsam mit Harry, Grey und Balthasar habe ich mich in die Weingläser der Touris gestürzt, bis wir aus dem Lokal geflogen sind. Per Fußtritt. Fragen Sie bitte nicht genauer, aus welchem Lokal. Besser auch nicht, wo ich jetzt bin. Und schon gar nicht, wie ich heiße.
Ich weiß nur so viel: Meine große Vogelhochzeit steht unmittelbar bevor. Doch ich habe keine Ahnung, wie ich als Bräutigam mit diesen Kopfschmerzen die Hochzeitszeremonie durchstehen soll.
Ja was, denken Sie etwa immer noch, eine Möwe könnte keine Kopfschmerzen bekommen? Also noch mal: Warum sitzen wir Möwen manchmal scheinbar grundlos schreiend irgendwo rum? Na? Erinnern Sie sich? Und sagen Sie jetzt nicht, es läge daran, dass Möwen keinen Alkohol vertragen. Genau, Ostwind ist das richtige Stichwort. Ostwind. Davon bekommt jede Möwe Migräne.
Aber zurück zur Hochzeit: Obwohl der Abstand zwischen zwei Fettnäpfchen genau einen Ahoi beträgt, hat mein Traumweibchen Suzette nach elfsiebenneunzehn Eroberungsversuchen endlich meinem Antrag zugestimmt, mit mir eine Dauerbrutpartnerschaft einzugehen. Ich bin damit die glücklichste Inselmöwe weit und breit.
Nicht zuletzt meiner Suzette und der künftigen Küken wegen hatte ich mir nach unserem Abenteuer im letzten Sommer vorgenommen, nicht mehr von räuberischer Erpressung zu leben und eine ordentliche Möwe zu werden, die sich von Schalentieren, Fischen und Wattwürmern statt von erbeuteten Crêpes ernährt.
Aber wie das mit guten Vorsätzen eben so ist.
Ich habe mich wirklich bemüht, im seichten Wasser nach Fischen zu tauchen, und wäre dabei fast ertrunken. Was soll man auch machen, wenn die Eltern einem nix beigebracht haben, nicht mal, wie man den Panzer einer angespülten Strandkrabbe knackt? Richtig, man sitzt mit seinen Kumpels in Hörnum an der Südspitze von Sylt auf dem Dach der Sushi-Bude und lässt sich das Essen servieren. Von den Touristen.
Ich bin Scheff einer Möwenbande, die mein Vorgänger Baron Silver de Luft gern als Chaotenbande bezeichnet. Wir sind acht Möwen– das heißt, eigentlich sieben Möwen und Frau Spatz. Und auch unter veränderten Lebensumständen sind wir ein perfekt eingespieltes Team.
Es geht los.
Unsere Jungmöwe Grey hört bei der Bestellung zu und ruft die Menüfolge aus. Suzette und Frau Spatz übernehmen das Ablenkungsmanöver. Dann ist Greys Vater Harry dran. Mit seiner Flügelspannweite von einem Meter sechzig fliegt er einen engen Bogen um das nichts ahnende Opfer, schießt von hinten über dessen Schulter hinweg und schnappt sich mit beiden Füßen das Sushi.
Fassungslos starrt der Tourist unserem Harry hinterher. Dann sammelt er sich, geht auf seine Frau zu, die an einem Bistrotisch auf ihn wartet, serviert ihr mit einer formvollendeten Bewegung den leeren Teller und sagt: »Bitte schön.«
Harry fliegt derweil das Essen aus der Kampfzone und bittet uns auf einem Strandkorbdach zu Tisch.
Unser Scheff Adee Baron Silver de Luft, der sich vergangenen Sommer in den Ruhestand verabschiedet hat, sieht keine zwei Meter mehr weit und ist in den letzten Monaten zudem halb taub geworden, was er beides niemals zugeben würde. Er bekommt sein Essen wie ein Kükenkind schnabelgerecht vorgekaut und besteht darauf, weiterhin von uns gesiezt zu werden.
Nach einem Beutezug müssen wir uns jedes Mal sein Gemecker anhören, weil die Crêpes, auf die wir es früher abgesehen hatten, viel mehr seinem Geschmack entsprachen als dieses ordinäre Fischzeug. Doch nachdem unser Crêpes-Dealer im letzten Sommer auf mysteriöse Weise verschwand, wurde die Bude verkauft, und wir mussten unsere Ernährung auf den neuen Betreiber umstellen.
Verschwunden, ein gutes Stichwort.
»Wo bleibt Balthasar nur?«, frage ich meinen Kumpel Harry, der neben mir komische Halsübungen macht und wegen gestern ebenfalls ziemlich blass um den Schnabel ist. Harry war früher Türsteher vor einer Bäckerei. Rein durften die Leute, raus auch wieder– aber ohne Brötchen. Er und Balthasar werden heute unsere Trauzeugen sein.
Harry wird Suzette zum Altar geleiten, und Balthasar, der die schlauste Möwe von uns allen ist, weil er drei Silvester an der Unität studiert hat, wird die Rede halten. Klebstoff und Schnabelbinder habe ich besorgt.
Tatsächlich warte ich nicht auf Balthasar, weil ich so scharf auf die Rede wäre. Vielmehr hatte er die Aufgabe, bei Frau Elster in Kampen die Trauringe abzuholen. Und nun lässt er auf sich warten. Genauer ausgedrückt: Es ist nur noch eine Viertelstunde Zeit bis zum Beginn der Trauung.
Harry zuckt mit dem Gefieder. »Keine Ahnung, Balthasar hat doch gestern nur Wasser getrunken und fliegt zudem immer nach Navi, auf einer Insel, auf der es eine Straße von Nord nach Süd und eine von West nach Ost gibt.«
Wir sitzen am Fuße des Hörnumer Leuchtturms, und ich schaue übers Meer, der aufgehenden Sonne entgegen. Keine Spur von Balthasar.
Ein würgendes Geräusch von Harry lässt mich zur Seite springen. »Pass doch auf, du hättest mir beinahe auf die Fliege gekotzt.«
Harry wischt sich den Schnabel im Grünstreifen ab. »Dann hättest du dir eben eine neue gefangen. Gibt doch genug um die Jahreszeit. Wenn dein Selbstgebrannter gestern nicht so nach Wattwurm geschmeckt hätte, ginge es mir jetzt außerdem nicht so mies.«
»Ach, nun bin ich schuld, dass ihr nach dem teuren Zeug in Kampen unbedingt noch einen Absacker bei mir im Braderuper Watt trinken wolltet?«
»Ts, ts, ts«, macht Harry. »Hast du geglaubt, du könntest so eine Luxusbrutstätte bauen, ohne ein anständiges Nistfest mit deinen Freunden zu feiern?«
»Genau, ihr seid meine Freunde und deshalb mal im Ernst: Kannst du bitte schnell zum Nest fliegen und dort die Spuren unseres Gelages beseitigen?«
»Ach, das fällt dir jetzt ein?«
»Ich bin ja froh, dass mir so langsam überhaupt wieder was dämmert. Suzette darf auf keinen Fall das Chaos sehen, sonst ist meine Ehe zu Ende, noch bevor die Hochzeitsnacht stattgefunden hat.«
»Und nun soll ich in deiner Bude klar Schiff machen?«
»Du weißt doch, was Meinungsaustausch bedeutet, oder?«, entgegne ich.
Harry verzieht den Schnabel. Er begreift, worauf ich hinauswill, und lamentiert: »Ich gehe mit meiner Meinung zum Scheff und komme mit seiner Meinung wieder zurück.«
Ich bin kein Typ, der den großen Scheff raushängen lässt, aber irgendeinen Vorteil muss mein Posten ja haben, wenn er mich schon alle Federn kostet.
Wir werden unterbrochen, weil Balthasar endlich angeflogen kommt.
»Himmel! Wo hast du denn so lange gesteckt?«, frage ich, kaum dass er neben mir gelandet ist.
»Gemach, gemach, die Herrschaften. Es sind noch zehn Minuten bis zur Trauung. Ich habe eine Rede vorbereitet, die alles bisher auf dieser Welt Vorgetragene in den Schatten stellen wird. Aber keine Angst, das wird keine dieser langweiligen Hochzeitsreden. Ich werde nicht eure Lebensläufe bis ins Detail vor dem Publikum ausbreiten, das ist ja völlig uninteressant. Viel spannender ist die Frage, wer zuerst da war: die Möwe oder das Ei. Und ich…«
»Balthasar«, stöhne ich und würde am liebsten jetzt schon den Schnabelbinder hervorholen, aber eine Antwort muss er mir noch geben: »Hast du die Fußringe dabei?«
»Die Fußringe. Oha, die habe ich vergessen.’tschuldigung. Ich kann aber auch nicht an alles denken.«
»Nicht an alles– als Trauzeuge jedoch vielleicht an das Wichtigste?« Meine Schnabelfarbe wechselt von Gelb auf Orangerot. »Schwing deine Federn, und zwar im Schusstempo!«
Nachdem Balthasar und Harry weg sind, suche ich tief atmend meine innere Mitte. Jetzt nur nicht panisch werden. Ruhig bleiben, ganz ruhig. Es ist doch alles gar nicht so schlimm. Ich stehe nur ohne Ringe und Brautführer da, und in zehn Minuten beginnt die Trauung. Panik!
Der Standesbeamte wartet schon ungeduldig auf dem Leuchtturm, und ich muss ihm schonend beibringen, dass sich der Beginn der Trauung etwas verzögern wird. Nicht nur ihm muss ich das sagen. Zahlreiche Hochzeitsgäste kreisen bereits um den Ort der Trauung. Alles, was auf der Insel Federn hat, ist eingeladen.
Mit auf dem Rücken verschränkten Flügeln schreitet der Standesbeamte auf dem Geländer des Leuchtturms auf und ab. Gute Laune sieht anders aus.
»Guten Tag, Herr Auerhahn. Mein Name ist Scheff Ahoi, ich bin der Bräutigam. Was für ein schönes Wetter heute für eine Hochzeit, nicht wahr?«
»Da sind Sie ja endlich. Schon mal in den Spiegel geschaut? Ihre Fliege sitzt schief. Und wo bleibt die Braut? Sie sind nicht die einzige Vogelhochzeit heute, hier geht es zu wie im Taubenschlag!«
Ich will etwas erwidern, doch in diesem Moment sehe ich Suzette heranfliegen. Nein, sie fliegt nicht, sie schwebt geradezu am sommerblauen Himmel und malt mit ihren Schwungflügeln Herzen in die Luft. Sie ist so wunderschön, meine Suzette in ihrem reinweißen Federkleid und dem kunstvollen Algenschleier, dass ich ein Tränchen verdrücken muss, als sie an meiner Seite landet. Sanft lege ich meinen Flügel über sie.
Mit einer unauffälligen Schnabelbewegung rückt sie meine Fliege zurecht und schmiegt sich lächelnd an mich. Selbst wenn Suzette wahrscheinlich traurig darüber ist, keinen Brautführer gehabt zu haben, lässt sie mich ihre Enttäuschung nicht spüren.
Auf dem Leuchtturm zu heiraten, ist schon etwas Besonderes. Monatelang haben wir auf einen Termin gewartet. Ich will nicht behaupten, dass ich nun, da es so weit ist, Angst hätte. Es darf nur nichts schiefgehen bei dieser Hochzeit.
Ein frommer Wunsch.
Herr Auerhahn breitet erhaben seine Flügel aus.
Von Harry und Balthasar immer noch keine Spur, doch das kümmert den Standesbeamten nicht. Er nickt in alle Himmelsrichtungen den uns und den Leuchtturm umfliegenden Hochzeitsgästen zu und beginnt: »Wir haben uns heute hier versammelt, um den Bund der Dauerbrutpartnerschaft zwischen Suzette und Ahoi zu besiegeln. Wer etwas gegen die Verbindung dieses Brutpaares einzuwenden hat, möge aufflattern oder für immer schweigen.«
Unser Scheff Adee stößt sich vom Geländer ab und schwingt sich in die Luft. Mir bleibt fast das Herz stehen. Was soll das denn?
Alle Augen sind auf ihn gerichtet, auch die Haubentaucher, die die Zeremonie begleiten, vergessen für einen Moment, mit den Flügeln zu schlagen, und fallen wie nasse Säcke ein paar Meter tiefer.
Baron Silver de Luft schiebt seinen Helm zurück, der ihm bis über die Augen gerutscht ist– ein Erbstück seines Großvaters, der Hauptfischwebel im Zweiten Möwenkrieg war. Für sein Sehvermögen macht der Sitz des Helms, der verblüffende Ähnlichkeit mit einer rostigen Thunfischdose hat, allerdings keinen Unterschied.
Man möchte meinen, unser Scheff hat nicht mehr alle Federn am Flügel. Ein bisschen seltsam war Baron Silver de Luft ja schon während seiner Amtszeit, aber was, zum Geier, ist bitte jetzt in ihn gefahren?
Herr Auerhahn hebt eine Augenbraue und wendet sich dem Aufrührer zu. »Sie haben sich erhoben. Bitte treten Sie vor.«
»Ich soll vorbeten? Das ist ja wohl Ihre Aufgabe, das Gebet zum heiligen Albatros zu sprechen.«
Puh. Mein Herz rutscht an seinen Platz zurück. Unser Scheff Adee ist eben nicht nur nahezu blind, sondern hat wegen seiner Schwerhörigkeit mal wieder nur die Hälfte mitbekommen.
»Es sollte aufflattern, wer etwas gegen die Trauung einzuwenden hat– nicht wir alle zum Gebet«, stelle ich klar. »Herr Auerhahn ist kein Pfarrer. Suzette und ich haben uns entschieden, nur standesamtlich zu heiraten. Eine gelungene Dauerbrutpartnerschaft hängt nicht vom Segen des heiligen Albatros ab.«
»Papperlapapp, immer diese neumodischen Ansichten. Keine Hochzeit ohne Gebet.«
Manchmal weiß ich nicht, ob unser Scheff wirklich nichts mehr hören kann oder ob er sich bloß taub stellt. Demonstrativ faltet er seine Flügelspitzen, vergisst dabei allerdings, dass er keinen Boden unter den Füßen hat. Wie ein Stein saust er abwärts, und wir können jetzt tatsächlich nur noch beten, dass er sein Landefahrwerk rechtzeitig ausklappt.
Den Flüchen aus der Baumkrone nach zu urteilen, hat er sich anscheinend nicht mal den Schnabel geprellt.
»Ich denke, wir können fortfahren«, stellt Herr Auerhahn fest. »Haben Sie die Fußfesseln… ich meine, haben Sie die Ringe bei sich?«
»Ähm, ja«, sage ich und krame in meinem Gefieder, um Zeit zu schinden. Natürlich weiß ich, dass sie nicht da sind. Genauso wenig wie Balthasar. Ich muss Suzette nicht anschauen, um zu wissen, dass meine Sekunden gezählt sind. Gleich wird sie in die Luft gehen. Wie peinlich vor den Heerscharen der uns umkreisenden Gäste, deren Blicke tonnenschwer auf meinen Flügeln lasten.
Da drehen sich alle Köpfe wie auf Kommando nach Norden.
»Ich hab sie«, kreischt Balthasar schon von Weitem. »Ich hab die Ringe!«
Ja hervorragend, vielleicht noch ein bisschen lauter, damit es über die gesamte Insel schallt?
***
Es geschehen noch Zeichen und Wunder.
Suzette und ich sind wenige Minuten nach Balthasars Ankunft tatsächlich verheiratet. Ohne weitere Zwischenfälle.
Einmal noch zur Erinnerung vor der Webcam des Leuchtturms posieren, dann schnäbeln wir uns unter dem ohrenbetäubenden Gekreische der Gäste in den siebten Himmel. Selbiger erwartet uns auch angesichts des Büfetts, das zum großen Fest in Kampen aufgetischt wird.
Ich habe keine Kosten und Mühen gescheut und das Gelände der Kupferkanne angemietet. Von jener Möwe, die über zahlreiche Edelrestaurants und Bars auf Kampens Whiskymeile herrscht und außerdem noch drei oder vier Nistvillen mit Wattblick im Hobokenweg besitzt. Diese Möwe ist niemand Geringerer als der Aufschneider Mogulis, der im vergangenen Sommer mein größter Rivale war. An ihn hätte ich meine Suzette beinahe verloren, und nun konnte ich es mir nicht verkneifen, ihn ebenfalls zu den Feierlichkeiten einzuladen. Ein bisschen Spaß muss sein.
ZWEI
Der sagenumwobene Ort auf der Ostseite von Kampen ist wie geschaffen für ein Hochzeitsfest. Man hat von hier oben einen wunderbaren Blick auf das Watt, in dem sich der Vollmond spiegelt. Es herrscht gerade Flut, und ein Angler fährt mit seinem kleinen Motorboot dicht am Schilfrand entlang.
Suzette und ich stehen inmitten unserer Gäste neben der Kupferkanne und amüsieren uns prächtig. Das Lokal hat für Menschen nur tagsüber geöffnet– heute Abend gehört der von hohen Bäumen umsäumte Platz an der Kliffkante uns allein.
Einige der Bäume sind dem letzten Orkan zum Opfer gefallen, und da die Menschen sie verkehrt herum wieder eingepflanzt haben, recken sie nun ihre mächtigen Wurzelarme ins Mondlicht. Auf einem davon sitzt Balthasar, und er schaut ziemlich verärgert drein, wenn ich das von hier unten aus richtig deuten kann. Es könnte auch sein, dass er gleich vor Wut platzt. Was vermutlich daran liegt, dass er an den Wurzelarm gefesselt und sein Schnabel mit Kabelbinder verschlossen ist.
In seinem früheren Leben muss Balthasar eine Gans gewesen sein, davon bin ich nach seiner fast fünfstündigen Rede fest überzeugt. Harry hat mir in seiner Eigenschaft als Fieze-Scheff geholfen, ihn zu überwältigen, als die Mehrheit der Gäste vor Langeweile bereits Nahtoderfahrungen hatte, und geschworen, ihn nicht vor morgen früh zu befreien, damit wir endlich in Ruhe feiern können.
Um Balthasar herum haben sich zahlreiche Gäste in den Bäumen niedergelassen, schlürfen umschwärmt von Glühwürmchen ihre Austernschälchen und unterhalten sich so angeregt, dass das eigens für die musikalische Untermalung engagierte Basstölpelquintett fast untergeht. Zum Abendessen singen sie nur leise Töne, so wie ich mir das gewünscht habe, aber nachher steigt die Party um das Lagerfeuer.
Ich wünschte allerdings, ich hätte meinen Hochzeitstanz bereits hinter mich gebracht. An meinen ersten Balztango mit Suzette auf dem rauschenden Fest von Mogulis genau an diesem Ort habe ich ziemlich ungute Erinnerungen, formulieren wir es mal so.
Mir bleibt nicht länger Zeit, darüber nachzudenken– die Pflicht ruft. Hochzeitstorte anpicken.
Eine wahre Burgfestung aus Schokoladentorte mit Kirschen und Sahne wartet auf uns. Heute Morgen frisch vor dem Café Wien einem Menschen am Henkel des Transportkartons aus der Hand gerissen. Nur sieht die Torte jetzt anders aus als vor Balthasars Rede. Immer noch prächtig, aber irgendwie verändert. Skeptisch treten wir näher.
Suzette bleibt der Schnabel offen stehen. »Ahoi«, flüstert sie, »kann es sein, dass da Löcher in der Torte sind?«
»Ich glaube, es fehlen ein paar Kirschen. Um genau zu sein, sehe ich keine einzige Kirsche mehr.«
»Und die Möwenfedern, die da oben rausschauen, gehören auch nicht zur Dekoration, oder?«
»Ähm, nein, die waren nicht vorgesehen.« Peinlich berührt und ratlos, wie dieser Fehler passieren konnte, packe ich das Bündel Federn und ziehe daran.
»Aua! Wasch scholl dasch?«, tönt es aus der Torte.
Ein Raunen geht durch die Gästeschar.
Mit einem Ruck befördere ich die Möwe heraus.
Alki!
Ich könnte schreien. So wie der aussieht, müssen wir ihn aufs Büfett stellen, damit sich die Gäste etwas von der Torte nehmen können.
Frau Spatz ist sofort zur Stelle und pfeift ihrem Mann ordentlich die Meinung. Irgendwie kann ich ja sogar ein bisschen verstehen, dass Alki mal eine Auszeit von dem Gepiepse brauchte und er in der Torte Zuflucht gesucht hat. Hoffentlich hat er keinen Rückfall erlitten, denn in den Kirschen war Alkohol.
Alki hat sich früher gern schon zum Mittagessen Schnabel voran ins Weinglas eines Touris gestürzt, weil er ein paar persönliche Probleme hatte. Mit den Frauen war er eigentlich durch, seit ihn mal eine zu einem Gesprächskreis für Möwen mit Alkoholproblemen geschleppt hat. Doch dann hat er einen Entzug gemacht, und während seiner Therapie auf dem Autozug haben Frau Spatz und er sich am Westerländer Bahnhof kennengelernt. Sie war dort als Dreckspatz beschäftigt, und er hat dieses arme kleine Vögelchen sofort in sein Herz geschlossen. Seitdem sind die beiden ein Paar. Ein seltsames Paar. Aber wo die Liebe eben hinfällt.
Frau Spatz schimpft immer noch wie ein Rohrspatz und will gar nicht wieder aufhören. Natürlich hat sie recht, doch die Höhenfrequenz ihrer Predigt grenzt an Möwenquälerei und wäre allenfalls für unseren Scheff Adee erträglich.
Letzterer sitzt ganz in der Nähe der großen Schale mit der Garnelenbowle, in der gut drei Möwen Platz finden würden. Er hat sich wohl schon ordentlich was von diesem hochprozentigen Getränk in den Schnabel gegossen, jedenfalls weist er eine bedenkliche Schräglage auf, was sich auch im Sitz seiner Thunfischdose widerspiegelt. Ich gehe mit Suzette besser mal rüber und erkundige mich nach seinem Befinden.
»Alles in Ordnung, Scheff Adee? Sie wissen doch genau, dass Sie keinen Alkohol vertragen– oder muss ich Sie an die Reise mit dem Kuhtaxi von Keitum nach Hörnum letzten Sommer erinnern?«
»Bloß nich… ich hab aber ja auch nur die Dardanel… die Garanel… die Garnelen rausgepickt. Seeeehr lecker, die Dinger.«
Ich seufze. »Vielleicht sollten Sie sich lieber an die Hochzeitsfischsuppe halten.« Ich deute in Richtung Lagerfeuer, über dem der von Möwen umlagerte Kessel mit dieser Delikatesse hängt. Mich persönlich kann man damit jagen, mich würgt es ja schon, wenn ich nur das Wort Fischsuppe höre. Ich wusste allerdings nicht, dass die Suppe auch nicht den Geschmack unseres Scheffs Adee trifft.
Der macht eine reiherartige Schnabelbewegung. »Bäh, ich esse doch nix, wo… eine Jumö… eine Jungmöwe drin badet.«
»Wie bitte?« Ich runzle die Stirnfedern.
»Unnnsere Jungmöwe Grey wümmt in dem Kessel.«
Jetzt hat der Arme auch noch Halluzinationen. Krebse, Krabben, Makrelen, Muscheln, einfach alles, was sich vor der Küste Sylts an Meerestieren fangen lässt, schwimmt in dieser unübertrefflichen Hochzeitssuppe. Aber ganz bestimmt nicht unsere Jungmöwe Grey.
»Alles klar, Scheff Adee«, sage ich und tätschle ihm begütigend die Schulter. »Dann greifen Sie doch einfach am Büfett zu. Dafür sind allerlei Delikatessen zusammengeklaut worden. Nudeln an Lachssoße, Fischbrötchen nach Möwenart ohne Brötchen und Zwiebeln, Pommes und zum Nachtisch Eiswaffeln und Crêpes. Wir gehen jetzt noch ein paar Gäste begrüßen, und dann können wir uns ja am Büfett treffen.«
Falls Sie dann noch auf den Beinen stehen können, füge ich gedanklich hinzu und wende mich mit Suzette zum Gehen.
»Unn seinem Vater ist das alles egal… alles egal«, ruft uns Baron Silver de Luft hinterher.
Tatsächlich steht Greys Vater Harry bei dem Kessel mit der Fischsuppe, allerdings hat er nur Augen für zwei aufgescheuchte Hühner, die mit ihren ausladenden Hinterteilen ums Lagerfeuer rennen.
Wobei… der Andrang bei der Fischsuppe kommt mir angesichts der übrigen Köstlichkeiten doch etwas merkwürdig vor. Suzette denkt dasselbe, also flattern wir auf und schauen in den Kessel hinein.
Nicht zu fassen. Es ist wahr. Grey liegt in der Suppe auf dem Rücken, paddelt mit den Füßen, macht mit den Flügeln Kraulbewegungen und zieht so seine Kreise durch den Bottich.
»Sag mal, Grey, bist du noch ganz sauber? Raus aus unserer Hochzeitsuppe!«
»Warum? Balthasar hat in seiner Rede gesagt, die sei so lecker, dass man darin baden könne. Und alles, was Balthasar sagt, stimmt. Also darf ich das. Ist nur ein bisschen zu heiß, die Badetemperatur.«
Ich schlage mir den Flügel vor die Stirn und halte nach Greys Vater Ausschau. Der tanzt gerade einen Balztango mit einem der wilden Hühner, und wenn ich seine Absichten richtig beurteile, ist er im Begriff, einen folgenschweren Fehltritt zu begehen.
»Harry, kümmere dich gefälligst um deinen Sohn!«, ruft Suzette.
»Auch als alleinerziehender Vater habe ich mal das Recht auf Vergnügen. Grey ist alt genug und kann schwimmen.«
»Aber nicht in unserer Fischsuppe!«, kreischt Suzette.
»Dann soll der kleine Fischreiher zusehen, wie er da wieder rauskommt. Er ist schließlich auch allein reingekommen.« Harry greift wieder nach den kurzen Flügelchen des Huhns und wirbelt die gackernde Dame um das Feuer herum. Wenn er so weitermacht, können wir am Büfett auch noch Grillhähnchen anbieten.
»Grey, raus da jetzt, sofort!«, schreie ich auf höchster Frequenz, sodass selbst die Basstölpel aus dem Takt kommen.
Das wiederum bringt Harry aus dem Tritt. Er stolpert über ein Hühnerbeinchen, rudert mit den Flügeln, verliert das Gleichgewicht und setzt sich auf seinen Federboden. Genauer gesagt: mit seinem Federboden ins Lagerfeuer.
Autsch.
Mit einem Blick auf das Büfett überlege ich, wie wohl gegrillte Möwe schmeckt.
Ein Schmerzensschrei von Harry schallt über das Gelände. Wild gestikulierend rennt er mit brennendem Hinterteil durch die Menge, scheucht Spatzen, Säbelschnäbler und Austernfischer auf– und rettet sich mit einem beherzten Sprung in die Garnelenbowle.
Die Löschaktion war erfolgreich. Die Schüssel jedoch hat nicht überlebt.
Na ja, Scherben sollen schließlich Glück bringen. Schätze, wir werden morgen am Strand ein paar Federn für ein Toupet für meinen Fieze-Scheff sammeln. Schlimmer kann es jedenfalls nicht kommen, denke ich.
Das gilt allerdings nur, wenn man nicht Ahoi heißt. Denn da vorne steht mein Erzfeind Mogulis. Um ihn herum seine Bodyguards, mit denen man sich besser nicht anlegt, wie ich vergangenen Sommer leidvoll erfahren musste. Die Lachmöwen tragen schwarze Kopfmasken über ihren reinweißen Federkleidern und ihren lustigen Namen ebenfalls nur zur Tarnung. Zum Spaßen sind die nicht aufgelegt.
Suzette starrt entgeistert zu ihrem Ex-Liebhaber hinüber. Mogulis gilt als die reichste Möwe von Sylt und hat damit ziemlichen Eindruck auf Suzette gemacht, obwohl sie normalerweise nicht auf solche Typen steht. Zu meinem Glück hat sie noch rechtzeitig erkannt, dass bei ihm auch nicht alles Fisch ist, was Schuppen hat.
Jetzt tippt sich Suzette ziemlich unmöwendamenhaft an die Stirn. »Der ist ja wohl nicht mehr ganz frisch in der Muschel. Was erlaubt sich Mogulis, auf unserer Hochzeit aufzutauchen? Muss er hier die starke Möwe markieren und uns provozieren? Na warte, dem werde ich die Federn lesen.«
Ich halte sie am Flügel zurück. »Ähm, ich glaube, wir sollten ihn freundlich begrüßen. Ich habe ihn eingeladen.«
»Du hast was? Männer! Habt ihr wirklich nur eure Revierkämpfe im Kopf? Was willst du beweisen?«
Ich stottere herum, weil es natürlich eine dämliche Idee von mir war, ihn einzuladen, um mich vor ihm zu brüsten.
Suzette ringt um Fassung. »Okay, bringen wir die Begrüßung hinter uns, und dann sieh zu, wie du aus der Nummer wieder rauskommst und Mogulis schnellstmöglich dazu bringst, das Fest zu verlassen– und zwar ohne dass es Verletzte gibt.« Sie verzieht ihren Schnabel zu einem Lächeln und geht auf Mogulis zu.
»Welch ein bezaubernder Anblick«, raunt ihr mein Erzrivale beim Näherkommen zu, nimmt Suzettes Flügel und deutet einen formvollendeten Handschwingenkuss an. »Ein wunderschönes Federkleid, ganz hinreißend.«
Er stolziert einmal um Suzette herum, und mich juckt es bereits in den Flügeln, ihn zu verscheuchen. Da fällt sein Blick auf ihren beringten Fuß.
»Oh, was muss mein entzündetes Auge sehen– billigstes Metall mit einer Standard-Nummerngravierung? Eine elegante Möwe wie Sie, liebste Suzette, hat doch wahrlich nicht so etwas Ordinäres verdient, sondern sollte ein Schmuckstück tragen, das ihren Wert unterstreicht.« Er zieht einen glitzernden Ring unter seinem Flügel vor. Diamanten. »Wie gefällt Ihnen mein Hochzeitsgeschenk?«
Die Antwort lese ich an Suzettes funkelnden Augen ab und bin furchtbar enttäuscht.
Suzette nimmt den Ring entgegen, und mir bleibt der Schnabel offen stehen. Sind denn wirklich alle Weibchen so einfach zu ködern? Ich hatte gehofft, meine Suzette wäre anders– vor allem, da sie nach dem Techtelmechtel mit Mogulis genug von ihm hatte und sich wirklich in mich, eine einfache Möwe, verliebt hat.
Ich kann ihr solche Kostbarkeiten nicht schenken. So viele Heringe habe ich nicht auf dem Konto.
Suzette schaut unterdessen den Ring an und dreht ihn hin und her. »Ein wirklich schönes Schmuckstück. Nur ein bisschen zu groß, und für eine Möwe ziemlich unpassend. Ist Ihre künftige Gattin wohl eine dumme Gans? Dann wünsche ich viel Glück in der Ehe und reichlich Nachwuchs. Die Dame wartet sicher schon auf Sie, ihr wird der Ring bestimmt passen.«
»Oh, ich verstehe… die Braut hat heute einen besonders spitzen Schnabel. Aber ein Tänzchen in Ehren kann sie nicht verwehren.«
Ich trete vor und stemme die Flügel in die Hüften. »Oh doch, das kann sie.«
»Ahoi, Ahoi!«, gibt sich Mogulis erstaunt. »Ich habe dich vollkommen übersehen.«
Mir stellen sich die Nackenfedern auf. Ahoi, Ahoi. So hat mich mein Bruder immer gerufen, als wir noch Kinder waren, und mich damit aufgezogen. Und von wegen übersehen…
»Einen schönen guten Abend, Herr Mogulis«, säusele ich, ganz der höfliche Gastgeber. »Sehr freundlich, dass Sie kurz bei unserem Fest vorbeischauen. Nehmen Sie sich gern noch etwas Hummer, bevor Sie gehen. Den Hochzeitsball werde selbstverständlich ich mit meiner Braut eröffnen. Kapelle! Einen Balztango, bitte.«
Ich nehme Suzette unterm Flügel und führe sie auf die Balzfläche.
Was tust du da? Diese panische Frage steht ihr ins Gesicht geschrieben. Und ganz ehrlich: Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich nicht tanzen kann, und meine Braut weiß das auch.
Ich ergreife Suzettes linken Flügel und lege ihren rechten auf meine Schulter.
»Andersherum«, raunt sie mir zu.
Ach stimmt, da war doch was von wegen korrekte Balzrichtung. Ich drehe uns einmal um die halbe Achse.
»Ich meinte deine Haltung«, präzisiert Suzette. »Umgekehrt. Linker Flügel hoch, rechter Flügel auf meinen Rücken… und nicht so nah an mein Hinterteil.«
Leichter gesagt, als getan. Meinetwegen müssten wir uns nicht länger mit diesen Feierlichkeiten aufhalten und könnten gleich ins Nest hüpfen. Aber da ist noch Mogulis. Und gefühlte tausend Augenpaare, die auf uns gerichtet sind. Alle Gäste haben sich im Kreis um uns versammelt, und die Basstölpel stimmen den Balztango an.
Es kann also losgehen. Nur– mit welchem Fuß fange ich an? Dunkel erinnere ich mich daran, dass es auch noch so etwas wie einen Rhythmus gibt– wo ich den allerdings finden soll, ist mir schleierhaft.
»Aua!«, zischt Suzette.
Okay, das war der falsche Fuß.
Da werden Rufe aus dem Publikum laut: »Walzer, Walzer, wir wollen einen Balzwalzer sehen!«
Ach du heiliger Albatros, auch das noch. Es genügt doch, wenn ich mich bei einem Balztango blamiere. Ein Balzwalzer, das ist meine persönliche Steigerungsform von Katastrophe.
Mir schlägt das Herz bis zum Hals, und ich habe das Gefühl, nicht mehr mit meinen eigenen Füßen verbunden zu sein.
Verunsichert hören die Basstölpel auf zu spielen. Eine gespenstische Ruhe legt sich über den Platz. Mitten hinein tönt die Stimme von Mogulis: »Ich glaube, der Bräutigam ist etwas fußlahm. Ich übernehme!«
Das genügt. Alles, nur das nicht. Dem werde ich zeigen, was für ein begnadeter Balztänzer in mir steckt. Also Augen zu und durch.
Vielleicht hätte ich Letzteres nicht allzu wörtlich nehmen sollen.
Wir drehen uns, Suzette und ich, tatsächlich. Irgendwie. Schneller, immer schneller. Es beginnt sogar, Spaß zu machen. Bis wir gegen die ersten Gäste prallen. Ich mache die Augen auf– und die Welt um mich herum dreht sich weiter.
Orientierungslos klammere ich mich an Suzette fest, sie kann mir aber auch keinen Halt geben, torkelt rückwärts– und plötzlich haben wir keinen Boden mehr unter den Füßen. Ich meine, es ist wirklich kein Untergrund mehr da.
Das Kliff.
Wir kugeln den Abhang hinunter und rollen langsam im Watt aus. Zum Glück ist der Angler in seinem roten Boot der Einzige, der uns dabei gesehen hat. Der guckt allerdings nicht schlecht.
Über und über schmutzig rappeln wir uns auf. Suzettes schönes Federkleid! Sie schaut an sich hinunter, fängt an zu lachen und hört gar nicht mehr auf.
»So kann ich auf gar keinen Fall zurück auf das Fest«, japst sie. »Manchmal liebe ich dich dafür, dass du so ein Tollpatsch bist…«
»Aber das ist doch unser Hochzeitsfest«, starte ich einen halbherzigen Versuch, sie zur Rückkehr zu überreden, »wir können doch nicht einfach wegbleiben.«
»Doch, das können wir.«
»Du meinst… ich meine, möchtest du mein Nest sehen?«
Es bleibt festzuhalten, dass ich in meinem Leben schon bessere Ideen hatte.
***
»Hörst du das auch?«, fragt Suzette und dreht sich zu mir um. Ich habe sie nach einem kurzen Spaziergang am Watt entlang durch die Schilfhalme vorausgehen lassen, damit sie unser Liebesnest zuerst sieht.
Es liegt in ruhiger, uneinsehbarer Lage mit direkter Anbindung an das Braderuper Watt, wo es ein reichhaltiges Nahrungsangebot und Spielmöglichkeiten für unsere künftigen Küken gibt.
Den Brutplatz habe ich selbst ausgesucht, fernab irgendwelcher Brutkolonien, wo Suzette keine Ruhe finden würde. Und für das überdimensionale Nest habe ich nur das beste Baumaterial herangeschleppt, damit es meine Liebste möglichst bequem hat.