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Der Physiker Hans Ichting wird nur wenige Tage, nachdem die Videobloggerin Nina Bornholm ihn interviewt hat, tot aufgefunden. Nina zweifelt an der offiziellen Darstellung eines Selbstmords und beginnt zu recherchieren. Bald wird klar, dass Ichting in den USA an einem streng geheimen Projekt mitgearbeitet hat. Doch jemand will um jeden Preis verhindern, dass die Wahrheit über das KALA-Experiment ans Licht kommt. Während sich überall auf der Welt unerklärliche Ereignisse häufen, wird immer deutlicher, dass die Zukunft der Menschheit auf dem Spiel steht. Doch wie kann man ein zukünftiges Ereignis verhindern, dessen verheerende Auswirkungen bereits jetzt spürbar sind?
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Für Jan-Philip, Jörg, Lars und Olaf, die meinen Experimenten viel Zeit geopfert haben.
ISBN 978-3-492-99034-9
© Piper Verlag GmbH, München 2018
Covergestaltung: zero-media.net, München
Covermotiv: FinePic®, München
Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe
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Zeit bin ich, Zerstörerin der Welten.
Aus dem Bhagavad-Gita
T-31:09:03 Hauptkommissar Detlev Jürgensen atmete tief durch. Erneut sah er auf den Ausdruck in seiner Hand, auf dem die Namen der Opfer und eine kurze Beschreibung des Unfallhergangs standen. Viel war es nicht, was man ihm mitgeteilt hatte. Offenbar hatte die zuständige Dienststelle noch nicht alle Details des Unfallhergangs ermittelt. Sollten die Angehörigen Fragen haben, würde er nicht viel sagen können.
Er schluckte und zwang sich, den Klingelknopf zu drücken. Eine Todesnachricht zu überbringen, war auch nach zweiundzwanzig Dienstjahren noch keine leichte Sache. Fünf Mal hatte er das bisher tun müssen, und jedes Mal war er sich vorgekommen, als sei er schuld am Leid der Angehörigen, ihrer Trauer und Verzweiflung.
»Ja bitte?«, kam es aus der Gegensprechanlage. Eine Männerstimme.
»Polizei«, sagte Jürgensen. »Sind Sie der Halter des Fahrzeugs mit dem Kennzeichen LG-PY 2351?«
»Ja. Was ist denn? Bin ich zu schnell gefahren?«
»Darf ich bitte hereinkommen?«
Der Türsummer ertönte. Jürgensen betrat das Mehrfamilienhaus. Ein Fahrrad mit Kindersitz stand im Hausflur. Der Anblick sandte einen Stich in sein Herz. Nervös fuhr er sich durchs Haar und stieg die Treppe hinauf in den ersten Stock.
»Herr Willmers?«, fragte er den etwa fünfzigjährigen Mann, der ihm hinter der halb geöffneten Wohnungstür misstrauisch entgegenblickte. »Mein Name ist Hauptkommissar Jürgensen.«
»Was ist denn?«, fragte Willmers irritiert. »Ist etwas passiert?«
»Können wir das bitte in Ihrer Wohnung besprechen?«
Ein Schatten fiel über Willmers’ Gesicht, als er die Tragweite des Besuchs zu ahnen begann. Er öffnete wortlos und führte Jürgensen ins Wohnzimmer. Kinderspielzeug lag auf dem Teppichboden.
Jürgensen trat der Schweiß auf die Stirn. »Können … können wir uns bitte setzen?«
»Natürlich. Aber sagen Sie mir bitte, was passiert ist. Ist etwas mit meiner Mutter?«
»Es … gab einen Unfall«, brachte der Hauptkommissar heraus. »Ich … ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Frau und Ihr Sohn … sie sind leider verstorben.«
Der Mann starrte ihn mit offenem Mund an. Dann verzog sich sein Gesicht. Doch nicht Trauer oder Schock zeigte seine Miene, sondern Zorn.
»Soll das ein Witz sein? Sind Sie von irgend so einer beschissenen Agentur, die Leute verarscht? Hat meine Schwester Sie beauftragt? Oder ist das hier eine versteckte Kamera?«
Einen Augenblick war Jürgensen zu verblüfft, um zu antworten. Noch nie hatte der Empfänger einer Todesnachricht so reagiert. Es musste eine Art von Verdrängung sein. Er bemühte sich um einen freundlichen, verständnisvollen Ton.
»Herr Willmers, ich weiß, es ist nicht leicht, aber Sie müssen jetzt stark sein. Ich … ich muss Ihnen noch ein paar Fragen stellen …«
»So etwas Geschmackloses hab ich noch nie erlebt!«, brauste Willmers auf. »Was fällt Ihnen ein?«
Aus dem Nebenraum war nun das Weinen eines Kindes zu hören.
»Da sehen Sie’s!«, brüllte der Mann. »Jetzt ist Ihretwegen auch noch der Kleine wach geworden! So eine Unverschämtheit!«
Die Tür öffnete sich, und eine Frau trat ein. Sie war mindestens zehn Jahre jünger als Willmers.
»Was ist los?«, fragte sie.
Willmers zeigte auf den Hauptkommissar. »Irgend so eine makabre Verarschungsscheiße. Der Typ da sagt, er sei von der Polizei, und erzählt was von einem Unfall. Eine Frechheit!«
»Was denn für ein Unfall?«
»Kommt hier rein und behauptet, Nikki und du, ihr wärt tot! Ich rufe jetzt die richtige Polizei. So was kann doch nicht erlaubt sein!«
Jürgensen sah verwirrt zwischen den beiden hin und her. Was zum Teufel war hier los?
»Sie … Sie sind Julia Willmers?«
»Ja. Warum?«
Der Hauptkommissar kramte den Zettel hervor. Schwerer Auffahrunfall mit Personenschaden auf der A7 in Höhe Abfahrt Kassel-Wilhelmshöhe. Wahrscheinliche Verursacherin die Fahrerin des Wagens mit amtl. Kz. LG-PY 2351, am Unfallort verstorben, identifiziert anhand Personalausweis Nr. T220001293 als Julia Willmers, geb. 31. 8. 1985. Weiteres Opfer ist ein etwa dreijähriger, blonder Junge, der mit im Fahrzeug saß, vermtl. der Sohn der Fahrerin.
»Ich … es tut mir leid, aber hier liegt möglicherweise eine Falschinformation vor.« Er wandte sich an Willmers. »Haben Sie Ihr Fahrzeug verliehen?«
»Was? Nein! Können Sie jetzt mit diesem Mist aufhören und endlich gehen? Richten Sie demjenigen, der Sie geschickt hat, aus, dass das eine richtig miese Idee war!«
Jürgensen holte seinen Dienstausweis hervor. »Sie sind im Irrtum, Herr Willmers. Ich bin wirklich Hauptkommissar. Es scheint, als hätte ich falsche Informationen bekommen. Es tut mir sehr leid.«
Willmers nahm den Dienstausweis in die Hand und gab ihn dann mit einem kritischen Blick zurück. »Was ist denn passiert?«
»Ein schwerer Unfall auf der A7 bei Kassel. Eine Frau und ein dreijähriger Junge sind dabei zu Tode gekommen. In solchen Fällen ist es üblich, dass ein Beamter der zuständigen Dienststelle die Angehörigen informiert. Deshalb bin ich hier. Jemand … muss einen Fehler gemacht haben.«
»Einen Fehler? Sie meinen eine Verwechselung? Wie ist das möglich?«
»Das weiß ich leider nicht. Aber ich werde es herausfinden. Frau Willmers, darf ich bitte Ihren Personalausweis sehen?«
»Ja, natürlich. Moment.«
Sie verschwand kurz und kehrte mit ihrer Handtasche zurück, aus der sie den Ausweis kramte. Name, Geburtsdatum und Ausweisnummer stimmten mit den Angaben der dienstlichen Mitteilung überein. Doch die Frau auf dem Foto des Ausweises stand eindeutig quicklebendig vor ihm. Wahrscheinlich irgendein Computerfehler. Trotzdem beschloss Jürgensen, auf Nummer sicher zu gehen.
»Kann ich bitte mal Ihr Fahrzeug sehen?«
»Wenn es sein muss«, sagte Willmers.
Er führte Jürgensen in die Tiefgarage des Mietshauses. Der Hauptkommissar war nicht mehr überrascht, dort einen schmutzigen, aber offenbar unbeschädigten VW Touran mit dem betreffenden Kennzeichen vorzufinden. Er machte ein Foto, das er später den Kollegen in Kassel schicken würde, die diesen Mist verbockt hatten.
»Es tut mir wirklich sehr leid«, sagte er. »Hier ist offenbar ein Irrtum passiert. Bitte entschuldigen Sie den Vorfall.«
»Ach, schon gut«, grummelte Willmers. »Fehler machen wir alle.«
T-28:22:04 John Sparrow sah sich beeindruckt um. Der runde, etwa zwanzig Meter weite Saal hatte sechs symmetrische Auswölbungen, hinter denen halbrunde Balkone lagen. Die gebogenen, mit Stuck verzierten Wände verjüngten sich nach oben zu einer Spitze wie Blätter eines geschlossenen Blütenkelchs. Ovale Fenster ließen warmes Licht herein und gaben den Blick auf eine bewaldete Ebene tief unten frei. In der Mitte erhob sich auf einem marmornen Podest ein großer Thron aus Elfenbein. Links und rechts davon standen zwei Wachen in goldenen Rüstungen, reglos wie Statuen. Doch der Sitzplatz zwischen ihnen war leer.
Er sah an sich herab. Statt Jeans und T-Shirt trug er ein weites, dunkelblaues Gewand, das mit goldenen Symbolen bestickt war. Ein langer, weißer Bart hing von seinem normalerweise glatt rasierten Gesicht herab. Er sah aus wie ein Zauberer aus einem Disney-Film.
Sparrow hörte Schwingen rauschen und drehte sich um. Auf einem der Balkone landete ein rosafarbenes Pferd mit weißen Flügeln und einem Horn auf der Stirn, das in allen Regenbogenfarben schillerte. Auf seinem Rücken saß eine Prinzessin mit langem, blondem Haar in einem prächtigen weißen Kleid. Sie sprang von ihrem geflügelten Reittier und rannte auf ihn zu.
»Dad!«, rief sie erfreut.
»Hallo, Prinzessin!«
»Ich bin keine Prinzessin«, korrigierte sie ihn ernst. »Ich bin die Kindliche Kaiserin!«
»Entschuldigt, Eure Majestät! Aber ich fürchte, für mich werdet Ihr immer meine Prinzessin bleiben.«
Sie lachte. »Möchtest du mit mir einen kleinen Ausflug machen? Wir könnten zusammen auf Fred reiten.«
»Wer ist Fred?«
Sie zeigte auf den Balkon. »Mein Einhornpegasus.«
»Danke, aber ich fürchte, ich habe nicht so viel Zeit.«
»Ja, ich weiß. Schön, dass du trotzdem vorbeigekommen bist.« Es klang ein bisschen traurig.
»Als ich das letzte Mal hier war, sah es noch ganz anders aus«, sagte er, um das Thema zu wechseln. Er deutete mit einem virtuellen Arm auf seinen Bart. »Danke, dass du mich nicht noch älter hast aussehen lassen.«
»Wenn dir dein Avatar nicht gefällt, mache ich dir gern einen neuen.«
»Schon gut, nicht nötig. Hast du das alles ganz allein gebaut?«
»Natürlich, Dad. Das ist doch gar nicht schwer.«
Sie machte ein paar Gesten mit den Armen, und plötzlich stand eine lange Tafel vor ihnen, mit sechs silbernen Gedecken auf jeder Seite, zwischen denen sich köstlich aussehende Speisen türmten.
»Wow!«, rief er aus. »Ich glaube, ich bleibe doch noch zum Essen!«
Sie lächelte ein makelloses, künstliches Lächeln, und er versuchte, sich das echte Lächeln vorzustellen, die schmalen Lippen in ihrem blassen Gesicht, beleuchtet von kaltem Neonlicht. Das Bild des Thronsaals verschwamm, und in diesem Moment war er froh, dass sie nur seinen Avatar sah. In der virtuellen Realität gab es keine Tränen.
Er schluckte. »Wie … wie geht es dir?«
»Gut!«, sagte sie. »Mir geht es prima. Ehrlich.«
»Ich komme dich bald besuchen. In echt.«
»Das musst du nicht, Dad. Hier ist es doch viel schöner.« Sie drehte sich einmal um die eigene Achse, wie um ihm zu zeigen, was sie meinte.
»Ich … ich würde dich so gern in den Arm nehmen, Liebes!«
»Du weißt doch, dass das nicht geht, Dad.«
Er nickte. Einen Augenblick schwiegen sie beide, während er verzweifelt versuchte, ein unverfängliches Gesprächsthema zu finden.
»Wie geht es Mom?«, fragte er schließlich. »Triffst du dich auch manchmal hier mit ihr?«
»Nein. Sie sagt, sie verträgt die Brille nicht. Ihr wird schlecht davon.«
Wahrscheinlicher war, dass ihr schlecht wurde, weil sie wieder Alkohol und Tabletten gleichzeitig genommen hatte.
»Hast du sie in letzter Zeit gesehen?«
»Nein. Aber manchmal chatte ich mit ihr.«
»Ah, okay. Geht es ihr gut?«
»Sie hat mit diesem … Typ Schluss gemacht.« Wahrscheinlicher wohl er mit ihr. »Du solltest sie mal anrufen. Ehrlich. Sie freut sich bestimmt.«
Die Hoffnung, die in dieser Aufforderung mitschwang, schnürte Sparrow die Kehle zu. Sarah hatte ihn vor drei Jahren verlassen, nur ein paar Monate nachdem Alexandras Diagnose feststand. Sie war schon vorher eine labile Persönlichkeit gewesen. Aber dass man ihr die einzige Tochter wegnahm, um diese für den Rest ihres wahrscheinlich nicht mehr langen Lebens im Krankenhaus hinter Glasscheiben wegzusperren, dass sie sie nie wieder küssen, umarmen, ihr durchs Haar streicheln durfte, war zu viel gewesen. Sparrow hatte versucht, die Schmerzen im Stillen zu verarbeiten, wie er es immer tat. Sie hatte das Gegenteil getan, sich mit Alkohol und Tabletten betäubt, war auf Partys gegangen, hatte nach außen hin wie das blühende Leben gewirkt, um andere und sich selbst von ihrer inneren Leere abzulenken.
Irgendwann hatte sie einen Typen aufgegabelt, war mit ihm im Bett gelandet. Sparrow hatte ihr verziehen, obwohl er den Scheißkerl am liebsten umgebracht hätte. Auch die zweite und dritte Affäre hatte er ihr durchgehen lassen, weil er wusste, es war pure Verzweiflung, die sie dazu trieb. Doch dann hatte sie eines Tages einfach ihre Sachen gepackt und war aus dem gemeinsamen Bungalow am Stadtrand von Albuquerque ausgezogen. Dummerweise war der Mistkerl, der sie dazu überredet hatte, Anwalt, und die Scheidung war schmutzig und teuer geworden. Jetzt lebte sie in Boston. Doch offenbar hatte es ihr nicht viel genützt, mehrere tausend Meilen zwischen sich und ihr früheres Leben zu bringen.
»Ja klar, mach ich«, sagte er. Lügen war in der virtuellen Realität so viel einfacher. Er sah sich um. »Bist du hier immer ganz allein?«
»Das hier ist der Elfenbeinturm, Dad. Hier können nur die Bewohner Phantasiens hinkommen.«
Ihre Mutter hatte ihr Die unendliche Geschichte vorgelesen, damals, als die Welt noch heil gewesen war – offensichtlich immer noch Alexandras Lieblingsbuch. Sparrow hatte sich vorgenommen, es irgendwann zu lesen, um seine Tochter besser zu verstehen, war jedoch bisher nicht dazu gekommen. Überhaupt war es lange her, dass er ein Buch gelesen hatte. In seinem Metier kam es auf praktische Fähigkeiten an, nicht auf Bildung.
»Aber du kannst doch woanders hin, oder? Wo andere Kids sind, meine ich.«
»Klar, Dad. Aber nur inkognito. Keiner darf wissen, dass ich die Kindliche Kaiserin bin.«
»Okay. Ich werd’s niemandem verraten. Hast du … denn Freunde hier in der virtuellen Welt?«
Es war die Idee des Klinikpsychologen gewesen, Alexandra eine VR-Brille zu kaufen, zusammen mit einem leistungsstarken Computer. So würde sie sich in dem keimfreien Klinikraum nicht mehr so eingesperrt fühlen. Und es schien tatsächlich zu funktionieren – seit Alexandra sich in der virtuellen Welt bewegte, schien sie einen Teil ihrer früheren Lebensfreude zurückzugewinnen.
»Klar, jede Menge sogar. Mach dir keine Sorgen. Mir geht es gut, wirklich. Vielen Dank noch mal, dass du das alles für mich tust!«
Bevor Sparrow antworten konnte, klingelte sein Smartphone. Der Klingelton war für Layton Morris reserviert, seinen Chef, und Layton war kein Mann, den man warten ließ.
»Ich muss ans Telefon gehen. Wenn ich kann, komme ich gleich wieder.«
»Okay. War schön, dich zu sehen, Dad. Ich hab dich lieb!«
»Und ich dich noch mehr, mein Schatz!«
Er nahm die Brille ab, die Schaumgummipolsterung feucht von seinen Tränen, und kämpfte das Gefühl der Desorientierung nieder, als er sich unvermittelt in dem kleinen Bungalow in Rio Rancho nördlich von Albuquerque wiederfand, der ihm nach der Pracht der virtuellen Realität noch schäbiger vorkam. Mit dem Gefühl düsterer Vorahnung nahm er das Gespräch an.
»Sparrow?«
»Layton hier. Ich habe einen Spezialauftrag für dich. Maximale Priorität. Ich brauche deine Zusage jetzt sofort.«
Maximale Priorität bedeutete, dass der ungenannt bleibende Auftraggeber für Morris sehr wichtig war und dieser Auftrag auf keinen Fall schiefgehen durfte.
»Wie viel?«
»Ich kann dir fünftausend extra geben. Aber nur bei hundertprozentiger Missionserfüllung, klar? Ich habe dich als Ersten angerufen, John. Wir beide wissen, du bist mein bester Mann. Aber die Sache ist eilig. Bist du dabei?«
»Wo geht es hin?«
»Nirgendwohin. Das Ziel ist hier in Albuquerque.«
Fünftausend Dollar Bonus, das war verdammt viel, besonders für einen Einsatz ohne Reiseaufwand. Zu viel vielleicht. Es bedeutete, dass die Sache höchstwahrscheinlich gefährlich war und mit Sicherheit nicht ganz legal. Doch Sparrow war nicht in der Position, so ein Angebot abzulehnen, das wusste Morris genau. Das war es vermutlich, was sein Chef mit »bester Mann« gemeint hatte: Sparrow konnte sich Skrupel nicht leisten. Alexandras medizinische Versorgung kostete jeden Monat mehr, als er verdiente, und seine Ersparnisse reichten nicht mehr lange.
»Okay. Worum geht es?«
»Sei in zwanzig Minuten im Büro.«
Es passte zu Morris’ Paranoia, dass er auch über die gesicherte Smartphone-Verbindung keine Einsatzdetails nannte. Allerdings war es tatsächlich nicht auszuschließen, dass irgendeine Bundesbehörde das Gespräch mitschnitt, obwohl Morris alle erdenklichen Sicherheitsmaßnahmen getroffen hatte. Mit der heutigen Technik gab es absolute Sicherheit nicht mehr, was auch ein Grund dafür war, weshalb Morris Security Services eine hoch profitable Firma war.
Sparrow schrieb eine kurze Chatnachricht an Alexandra und machte sich auf den Weg.
T-28:08:14 Das kleine Büro war so nüchtern eingerichtet wie das eines Abteilungsleiters bei einer Versicherung: der schmucklose Schreibtisch vor einem Fenster mit Blick auf den Campus des DESY, gerahmte Urkunden über einem grauen Sideboard. Auf einem Whiteboard waren kryptische, halb verwischte Symbole und Formeln zu sehen. Ob es sich um geniale Einfälle oder sinnlose Schmierereien handelte, hätte Nina Bornholm nicht sagen können.
Der Mann hinter dem Schreibtisch wirkte zu jung für einen Professor. Er sah eher aus wie ein studentischer Mitarbeiter, der sich ins Büro seines Chefs eingeschlichen hatte. Eine große Brille und dunkelblondes Haar, das ihm ins Gesicht fiel, erinnerten Nina an ein Foto des jungen Bill Gates. Er sah nicht gerade aus wie ein Mann, der die Welt verändern konnte.
Professor Dr. Hans Ichting stand auf und gab ihr die Hand. Er deutete auf den Plastikstuhl vor seinem Schreibtisch.
»Ist nicht sehr bequem, sorry. Ich bekomme nicht oft Besuch.«
Sie setzte sich.
»Professor Ichting, sind Sie einverstanden, wenn ich das Interview aufzeichne und im Internet veröffentliche?«
Ichting lächelte. »Wäre ich nicht einverstanden, hätte ich Sie wohl kaum in mein Büro gelassen.«
Nina sah kurz in einen Handspiegel: Ihre halblangen blonden Haare hatten mal wieder einen Friseur nötig, die Wimpern ihrer hellblauen Augen waren verklebt, der Lippenstift nicht ganz perfekt aufgetragen und das Make-up konnte trotz aller Bemühungen nicht kaschieren, dass ihre gebogene Nase etwas zu groß war. Egal, es würde gehen. Sie tippte an ihre Kamerabrille. Am oberen Rand ihres Sichtfeldes erschien das Aufnahmesymbol. Sie hätte das Interview auch live streamen können, aber es war sicher besser, die Aussagen des Physikers später so zusammenzuschneiden, dass auch Leute ohne Physikdiplom verstanden, worum es ging.
»Willkommen bei Ninas Welt, dem Blog, das hinter die Kulissen schaut«, sagte sie, wobei sie sich den Spiegel vorhielt – die Kamerabrillenversion eines Selfies. »Heute sind wir bei Professor Dr. Hans Ichting, Leiter des Instituts für theoretische Physik am Hamburger Forschungsinstitut DESY. Er ist gerade mal zweiunddreißig Jahre alt und schon ein Forscher von Weltrang. Nach der Umfrage eines bekannten Wissenschaftsmagazins steht er auf Platz fünf der Liste der deutschen Forscher, die die größte Chance haben, irgendwann einen Anruf des Nobelpreiskomitees zu bekommen.« Sie legte den Spiegel beiseite. »Herr Professor, die Besucher meines Blogs interessieren sich für Menschen, die Außergewöhnliches leisten, ohne ständig im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit zu stehen. Erzählen Sie uns, womit Sie sich hier am DESY beschäftigen und warum das Ihre Physikerkollegen in aller Welt in Aufregung versetzt.«
»Nun, ich habe einige Beiträge zur Schleifenquantengravitation verfasst, die von den Kollegen teilweise positiv kommentiert wurden.«
»Können Sie das bitte für Laien verständlich erklären?«
»Das, äh, ist nicht ganz leicht. Wir haben es hier mit recht komplexer Mathematik zu tun. Vereinfacht gesagt geht es darum, die Quantenmechanik und die allgemeine Relativitätstheorie zu einer übergeordneten Theorie zu vereinen.«
»Wenn ich es richtig verstehe, dann funktioniert Einsteins Relativitätstheorie im Großen«, versuchte Nina das zusammenzufassen, was sie im Internet über Ichtings Arbeit gelesen hatte. »Sie erklärt, wie sich Himmelskörper bewegen und dass die Zeit an Bord eines Raumschiffs, das mit annähernd Lichtgeschwindigkeit fliegt, langsamer vergeht. Die Quantenmechanik dagegen erklärt die Dinge im Kleinen. Beide Theorien sind experimentell bestätigt worden, passen aber nicht zusammen – Einsteins Relativitätstheorie versagt, wenn sie die Bewegungen von kleinsten Teilchen beschreiben soll, es kommt dann zu Widersprüchen mit der Quantenmechanik.«
»Das ist korrekt.« Ichting nickte anerkennend.
»Wie genau funktionieren denn nun diese Schleifen … Ihre Theorie?«
»Es ist nicht meine Theorie, ich habe nur ein paar Aufsätze über mögliche mathematische Lösungsansätze geschrieben. Dabei geht es im Wesentlichen um die Entropie als Grundlage für die Emergenz der Raumzeit.«
»Bitte erklären Sie uns das so, dass es meine Zuschauer verstehen.«
»Ich versuche es. Sehen Sie, es ist für uns Physiker ziemlich offensichtlich, dass Raum und Zeit nicht die absoluten Größen sind, als die sie uns im normalen Leben erscheinen. Vermutlich handelt es sich um sogenannte emergente Eigenschaften, die aus bestimmten Zusammenhängen der Quantenmechanik folgen. Basis dafür ist der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, demzufolge die Entropie, also quasi die Unordnung, in einem geschlossenen System immer zunimmt. Jeder Student weiß, dass das Zimmer aufzuräumen mühsam ist, während es quasi von selbst wieder unordentlich wird. Wenn man eine Vase auf den Boden wirft, zersplittert sie in Scherben, aber es passiert nie, dass sich aus Scherben spontan eine Vase formt. Diese Tendenz zur Unordnung ist eine fundamentale Kraft im Universum, die zum Beispiel auch dafür sorgt, dass ein gespanntes Gummiband zurückfedert, wenn Sie es loslassen. Ich beschäftige mich mit der Hypothese, dass diese Kraft auch für das Entstehen von Raum, Zeit und Gravitation verantwortlich sein könnte. Im Prinzip wären Raum und Zeit dann eine Form von Unordnung.«
»Das erklärt einiges«, sagte Nina in der Hoffnung, diese Bemerkung würde später bei ihren Zuschauern einen Lacher auslösen.
Ichting lächelte nicht. »Mir ist bewusst, dass diese Bilder absolut unzureichend und wahrscheinlich bloß verwirrend sind. Von Einstein soll der Ausspruch stammen, man solle alles so einfach wie möglich machen, aber nicht einfacher. Er hat das zwar so nie gesagt, aber es stimmt trotzdem. Ich habe den Gegenstand meiner Arbeit zwangsläufig viel zu einfach beschrieben, weil ich weiß, wenn ich Ihnen die Zusammenhänge so erklären würde, wie sie sich mir darstellen, würden Sie nur noch Bahnhof verstehen. Ohne Grundkenntnisse höherer Mathematik kann man nicht einmal ansatzweise erfassen, worum es hier wirklich geht. Aber das ist okay, es wäre völliger Quatsch, wenn jeder Bäckermeister versuchen würde, Schleifenquantengravitation zu begreifen. Dafür gibt es ja uns theoretische Physiker. Es gibt vielleicht weltweit ein paar Dutzend Menschen, die meine Aufsätze wirklich verstehen. Aber das genügt mir vollkommen.«
Das klang in Ninas Ohren ziemlich arrogant. Andererseits stimmte es wahrscheinlich.
»Ich finde, es ist für die Förderung der Wissenschaft notwendig, dass normale Menschen wie ich verstehen, woran Sie arbeiten und warum das wichtig ist«, erwiderte sie. »Wir leben in einer postfaktischen Zeit, in der sich immer mehr Leute in Aberglaube und Verschwörungstheorien flüchten, in der kaum noch jemand unterscheiden kann, ob eine Nachricht auf Facebook oder Twitter wahr ist oder nicht. Das ist einer der Gründe, warum ich Sie um ein Interview gebeten habe: Ich möchte meinen Zuschauern zeigen, dass nicht alles beliebig interpretiert und zurechtgebogen werden kann, dass es eine absolute Wahrheit gibt und Leute wie Sie, die sich darum bemühen, dieser auf die Spur zu kommen.«
Ichting nickte. »Sie haben recht, es gibt eine absolute Wahrheit. Deshalb bin ich Mathematiker geworden: Weil nur die Mathematik wirklich wahr ist. Alles, was Sie um sich herum sehen – der Tisch, dieser Raum, ich, Sie selbst –, sind nur Illusionen, geistige Interpretationen Ihrer Sinneseindrücke. Selbst Raum und Zeit sind nur Konstrukte unseres Gehirns, ohne die wir nicht in der Lage wären, unsere Empfindungen zu ordnen. Nehmen Sie diesen Stift.« Er hielt einen Kugelschreiber mit dem Aufdruck einer IT-Firma hoch. »Er fühlt sich massiv an, er ist undurchsichtig und hat ein Gewicht. Doch im Grunde besteht er nur aus Schwingungen in Quantenfeldern, die mit den anderen Feldern der Umgebung interagieren. Ein Wesen mit anderen Sinnesorganen, eine Fledermaus zum Beispiel oder eine Fliege, würde diesen Kugelschreiber völlig anders wahrnehmen. Die Realität ist nicht das, was wir sehen. Die einzig wahre Realität sind die mathematischen Gesetze, die dazu führen, dass dieser Gegenstand für uns so aussieht und sich so anfühlt wie ein Kugelschreiber. Es ist wie in einem Computerspiel: Sie sehen Objekte auf dem Bildschirm, und wenn die Simulation gut ist, dann verhalten sich diese wie Dinge in der Wirklichkeit. Aber tatsächlich verarbeitet der Computer nur Zustände, die Informatiker als Nullen und Einsen interpretieren, und die ›Realität‹ ist das Programm des Computers.«
»Sie meinen, unsere Welt ist eine Simulation, so wie in dem Film Matrix?«
»Nein, nein, das ist es nicht, was ich damit sagen will. Wenn wir in einer Computersimulation wären, würde das überhaupt nichts ändern, denn irgendwer müsste diese Simulation ja entworfen und den Computer gebaut haben, auf dem sie läuft. Und selbst wenn diejenigen auch wiederum nur in einer Simulation lebten oder in einer Simulation innerhalb einer Simulation – irgendwo hinter allem müsste es eine letzte Wirklichkeit geben. Und diese sogenannte Realität wäre dann die physikalische Abbildung der zugrundeliegenden Mathematik, der einzigen echten Realität.«
»Das heißt, Sie sind der Ansicht, nur Zahlen und Formeln seien real?«
»Zahlen und Formeln sind nur geistige Konstruktionen, mit denen wir die Zusammenhänge und Zustände eines Systems zu beschreiben versuchen. Real sind nur die mathematischen Gesetzmäßigkeiten dahinter.«
»Aber ist denn dann nicht alles, was Sie tun, nur graue Theorie, ohne jede praktische Anwendung?«
»Es gibt genügend Mathematiker, die sich mit rein abstrakten Problemen beschäftigen, ohne erkennbare praktische Relevanz. Aber das gilt nicht für uns Physiker. Die Mathematik hinter den physikalischen Zusammenhängen ermöglicht es uns, in die Zukunft zu sehen.«
»Wie bitte? Wie soll das gehen?«
»Ganz einfach: Was passiert, wenn ich diesen Kugelschreiber loslasse?«
»Er fällt runter.«
Ichting ließ den Kugelschreiber auf die Tastatur seines Computers fallen.
»Sie haben recht. Aber woher wussten Sie das?«
»Weil … na ja, weil Dinge eben runterfallen, wenn man sie loslässt. Wegen der Schwerkraft.«
»Wegen der Schwerkraft, richtig. Aber wie genau fällt so ein Kugelschreiber? Wie lange dauert es, bis er aufprallt? Reicht seine Energie aus, um eine der Tasten meiner Tastatur herunterzudrücken? Oder ist sie sogar stark genug, dass er die Schreibtischplatte durchschlägt? Nein, werden Sie sagen, weil Sie schon hundertmal in Ihrem Leben gesehen haben, wie leichte Dinge ein paar Zentimeter herunterfallen. Sie haben aus Beobachtung gelernt, Ihr Gehirn hat Regeln abgeleitet, die es Ihnen ermöglichen, vorauszusagen, was passieren wird, wenn Sie zum Beispiel eine Vase auf einen Steinfußboden fallen lassen. Aber diese Regeln gelten nur in Ihrem eng begrenzten Erfahrungsbereich, weil Ihnen die dahinterliegenden mathematischen Gesetzmäßigkeiten fehlen. Ihr Erfahrungswissen nützt Ihnen zum Beispiel nichts, wenn Sie einschätzen sollen, wie sich der Kugelschreiber auf der Oberfläche des Jupiters verhält.«
»Ich komme eben nicht so oft zum Jupiter«, versuchte Nina einen Scherz.
Ichting blieb ernst.
»Erst Newton fand heraus, welche mathematischen Gesetzmäßigkeiten den Fall des Kugelschreibers bestimmen, egal ob hier oder auf dem Jupiter. Bis dahin glaubten die meisten Leute, schwere Dinge fielen schneller als leichte.«
»Stimmt das denn nicht?«
»Nein. Eine Feder fällt langsamer zu Boden als ein Stein, aber das hat nichts mit ihrem Gewicht zu tun, sondern mit dem Luftwiderstand. Ein tonnenschweres Objekt, das wie eine sehr große Feder geformt ist, würde viel langsamer zu Boden fallen als eine Stecknadel.«
»Klingt plausibel.«
»Newton hat gezeigt, warum das so ist. Mit seinen Formeln kann man viele Dinge vorhersagen, zum Beispiel, wie sich eine Raumkapsel bei der Annäherung an den Mond verhält. Aber Newtons Gravitationsgesetze waren unvollständig. Sie gelten nur innerhalb bestimmter Grenzen, sind quasi Spezialfälle einer übergeordneten Theorie. Deshalb sind die Voraussagen, die sie treffen, nicht immer exakt. Unter extremen Bedingungen stimmen die Bewegungen von Körpern nicht mehr mit Newtons Gesetzen überein.«
»Wegen Einsteins Relativitätstheorie?«
»Wegen der physikalischen Zusammenhänge, die Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie beschreibt, um genau zu sein.«
»Aber Einsteins Voraussagen treffen auch nicht immer zu?«, vermutete Nina.
»Die Theorie ist nicht falsch, aber unvollständig. Sie sagt korrekt die Bewegungen von Himmelskörpern und die Existenz schwarzer Löcher voraus, aber sie steht teilweise im Widerspruch zur Quantenmechanik, die auf subatomarer Ebene korrekte Voraussagen trifft. Aber auch unser Wissen über die Quantenmechanik ist ja unvollständig. Deshalb ist unser Blick in die Zukunft quasi getrübt. Bevor wir nicht das übergeordnete mathematische Gebilde kennen, das die Quantenmechanik und die Allgemeine Relativitätstheorie jeweils als Spezialfälle enthält, sind wir nicht in der Lage, sichere Voraussagen über das Verhalten physikalischer Systeme unter allen möglichen Bedingungen zu machen.«
»Nehmen wir an, Sie hätten Ihre Theorie von Allem gefunden. Könnten Sie dann beliebig weit in die Zukunft sehen? Das Universum exakt vorausberechnen?«
»Nein. Und zwar aus zwei Gründen. Einerseits sind die Zusammenhänge viel zu komplex. Vielleicht haben Sie schon mal von der Chaostheorie gehört?«
»Sie meinen den Schmetterlingseffekt? Dass ein Schmetterling im Prinzip mit einem Flügelschlag einen Wirbelsturm auslösen kann?«
»So ungefähr. Die Chaostheorie zeigt, dass ein komplexes System wie etwa das Wetter unter bestimmten Bedingungen praktisch unberechenbar ist.«
»Außer ich plane ein Picknick oder wasche meinen Wagen«, versuchte Nina erneut einen Scherz. »Dann regnet es garantiert.«
Ichting ging nicht darauf ein. »Der zweite Grund ist die prinzipielle Unvorhersagbarkeit bestimmter quantenmechanischer Ereignisse.«
»So wie bei Schrödingers Katze, die gleichzeitig tot und lebendig ist, solange niemand nachguckt?«
»Das ist ein schiefes Bild. In Wahrheit gibt es zwei Katzen in zwei verschiedenen Wirklichkeiten, die eine tot, die andere lebendig. Wir wissen nur nicht, in welcher dieser Wirklichkeiten wir sind, solange wir nicht nachschauen.«
»Wie bitte?«
Ichting seufzte. »Ich glaube, wenn ich jetzt versuchen würde, Ihnen die Viele-Welten-Interpretation der Quantenmechanik zu erklären, würden Ihre Zuschauer in Scharen weglaufen, falls das nicht schon passiert ist.«
»Aber wenn Sie das Universum sowieso nicht berechnen können, welchen Sinn hat es dann, die Genauigkeit der physikalischen Modelle weiter zu verbessern?«
»Wir können nicht das ganze Universum berechnen, aber sehr wohl bestimmte Ereignisse. Sie haben doch ein Smartphone?«
»Natürlich.«
»Sehen Sie, die GPS-Navigation darin würde zum Beispiel nicht richtig funktionieren, wenn die Effekte der Relativitätstheorie nicht berücksichtigt würden. Und ohne Kenntnis der quantenmechanischen Zusammenhänge könnte man auch moderne Mikrochips nicht herstellen. Die nächste oder übernächste Generation von Computern wird vielleicht vollständig auf quantenmechanischen Effekten basieren. Quantencomputer gibt es bereits in der Realität, auch wenn sie noch nicht sehr leistungsfähig sind. All das wäre ohne die Arbeit, die Physiker und Mathematiker in den letzten hundert Jahren geleistet haben, nicht möglich.«
»Und welche neuen Geräte und Anwendungen werden durch Ihre Arbeiten möglich, Herr Professor?«
»Ich bin wie gesagt theoretischer Physiker. Mir geht es in erster Linie darum, die mathematischen Grundlagen zu schaffen, auf deren Basis dann andere konkrete Anwendungen entwickeln können. Aber ich kann mir schon ein paar praktische Anwendungen vorstellen. Wenn es uns gelingt, die Schleifenquantengravitation als vollständige Theorie auszuformulieren, wissen wir höchstwahrscheinlich, woraus die übrigen sechsundneunzig Prozent des Universums bestehen, die nicht aus den uns bekannten Elementarteilchen und Energieformen zusammengesetzt sind. Wir werden dann vermutlich neue, saubere und sichere Energiequellen erschließen können. Vielleicht wird es eines Tages sogar möglich sein, Wurmlöcher zu erzeugen.«
»Wurmlöcher?«
»Ein Wurmloch ist ein theoretisches Gebilde, quasi ein Tunnel durch Raum und Zeit. Im Prinzip könnte man damit sehr große Entfernungen quasi in Nullzeit zurücklegen, also teleportieren, wenn Sie wollen, und sogar in der Zeit rückwärts reisen.«
»Das heißt, Sie glauben, es wird eines Tages Zeitmaschinen geben?«
»Das weiß ich nicht. Aber es gibt kein uns bekanntes Naturgesetz, das Zeitmaschinen prinzipiell verbietet. Die Zeit ist keine absolute Größe, sondern, wie gesagt, eine emergente Eigenschaft quantenmechanischer Prozesse. Dementsprechend gibt es auch keine absolute, vorgeschriebene Zeitrichtung. Wie herum die Zeit fließt, hängt von der Entropie des Systems ab, denn die Zunahme der Unordnung bestimmt die Richtung des Zeitstrahls.«
»Das heißt, wenn ich mein Zimmer aufräume, drehe ich quasi die Zeit zurück?«, fragte Nina verwirrt.
»Na ja, nicht ganz, denn beim Aufräumen führen Sie Ihrem Zimmer Energie zu und erhöhen damit die Entropie, obwohl es so aussieht, als würden Sie sie reduzieren. Aber um bei Ihrem Beispiel zu bleiben: Wenn sich die Unordnung in Ihrem Zimmer spontan in Ordnung verwandeln würde, dann würde das bedeuten, dass die Zeit rückwärts läuft. So, wie eine zerbrochene Vase plötzlich von selbst wieder heil wird, wenn Sie das Video ihres Zersplitterns rückwärtslaufen lassen.«
Nina bekam allmählich Kopfschmerzen von den vielen verwirrenden Bildern.
»Was ist mit Waffen? Könnten Ihre Erkenntnisse nicht auch dazu führen, dass neue Formen der Massenvernichtung entwickelt werden?«
»Natürlich. Wie gesagt, ich bin Theoretiker. Wie meine Erkenntnisse genutzt werden, kann ich nicht voraussagen.«
»Aber was, wenn jemand, sagen wir, ein Terrorist, Ihre Arbeit als Basis nimmt, um die nächste Hyperatombombe zu bauen, und damit dann die Welt zerstört?«
»Die meisten Terroristen haben zum Glück keine Ahnung von höherer Mathematik. Aber selbst wenn: So leicht ist es auch wieder nicht. Um zum Beispiel Antimaterie herzustellen, mit der man theoretisch eine sehr starke Bombe bauen könnte, bräuchte man extrem viel Energie und sehr komplizierte Apparaturen, und man könnte sie auch nicht einfach in einem Aktenkoffer mit sich herumtragen. Außerdem haben wir bereits mehr als genug Atombomben, um die Welt ein paar Dutzend Mal in die Luft zu sprengen.«
»Das heißt, Sie glauben nicht, dass Ihre Forschung gefährlich ist?«
»Wissen ist immer gefährlich«, sagte Ichting lächelnd. »Aber Nichtwissen ist in der Regel gefährlicher.«
T-25:01:44 Reverend Victor Kessler ließ den Blick über die Gemeinde schweifen. Es war ein trauriger Haufen, der sich in der kleinen Kirche versammelt hatte: überwiegend alte Menschen, für die das gemeinsame Kaffeetrinken im Anschluss an den Gottesdienst der soziale Höhepunkt der Woche war. Nur wenige Familien mit Kindern fanden noch den Weg in die Albuquerque Church of the Holy Revelation. In der dritten Reihe sah er ein Mädchen, dreizehn oder vierzehn Jahre alt, das auf seinem Smartphone herumtippte, während der entrückte Blick ihrer Mutter auf Victor ruhte. Er konnte es dem Mädchen nicht verübeln: Es war wahrscheinlicher, dass Jesus ihr eine Botschaft per WhatsApp schickte, als dass ihr aus Victors Mund Erleuchtung zuteilwerden würde.
Er wusste nicht, wann genau er seinen Glauben verloren hatte. Es war ein schleichender Prozess gewesen, kein einmaliges Ereignis. Die Zweifel hatten seinen Geist befallen wie Bakterien. Zu Anfang hatte sein religiöses Immunsystem sie noch bekämpft, doch sie hatten sich ausgebreitet, waren gediehen in der Nährlösung von Fernsehnachrichten und Zeitungsberichten, wurden gestärkt vom Anblick all des Leids und der Ungerechtigkeit auf der Welt. Seine eigenen Worte waren ihm immer öfter leer und verlogen erschienen. Da war kein Heiliger Geist in ihm, der zu diesen Menschen sprach. Es war bloß bedrucktes Papier, das ihm Inspiration lieferte und Grundlage für seine Predigten war, jahrtausendealte Märchen, die er den Leuten erzählte, so plausibel wie die Geschichten von Drachen, Elfen und Hobbits in Der Herr der Ringe.
Victor wünschte sich, es wäre anders. Er wünschte, er hätte seinen Glauben noch, diese wunderbare Blume, die ihm Hoffnung gegeben hatte, Zuversicht, das Gefühl, geliebt zu werden, Teil eines größeren Ganzen zu sein. Doch diese Blume war verwelkt, und höchstens Gott selbst, falls es ihn tatsächlich gab, war in der Lage, sie wieder zum Erblühen zu bringen. Schon längst hätte er sein Amt niederlegen sollen. Er lebte eine Lüge, und das konnte wohl kaum im Sinne Christi sein. Doch er wusste, dass dies das Ende der kleinen Kirche bedeutet hätte. Schlimmer noch, er würde die Menschen enttäuschen, die ihn nun erwartungsvoll ansahen, würde die Bakterien des Zweifels auf sie übertragen, sodass auch ihre Blumen der Hoffnung und des Gottvertrauens abstarben.
Sein Blick fiel auf das Blumengesteck neben dem Altar, das schon halb verwelkt war, und ihm wurde klar, dass er einer gefährlichen Hybris erlag, wenn er glaubte, dass seine Worte einen großen Unterschied machten. Viele der Anwesenden waren wohl eher aus Gewohnheit hier, da durfte er sich keine Illusionen machen. Wenn er ihnen die Wahrheit sagte, wenn er das Priestergewand ablegte, das mittlerweile ebenso fadenscheinig war wie seine Überzeugungen, würden sie einfach in eine andere Kirche gehen, von denen es in Albuquerque Dutzende gab. Niemand brauchte diesen alten, staubigen Bau. Niemand brauchte seine leeren Worte.
Er rang mit sich, suchte nach dem richtigen Satz, nach etwas, das wahr und tröstlich zugleich klang. Doch seine Kehle war zugeschnürt, als drücke ihm der Heilige Geist selbst die Luft ab.
Die Stille zog sich in die Länge. Irritiert begannen die Leute sich umzusehen. Sogar das Mädchen in der dritten Reihe blickte von seinem Smartphone auf.
Die alte Consuela Messante, eines seiner treuesten Gemeindemitglieder, die wie immer in der zweiten Reihe direkt links vom Mittelgang saß, lächelte ihn aufmunternd an. Sie musste weit über achtzig sein, doch die braunen Augen in ihrem runzligen Gesicht waren immer noch hellwach. Wie lange kam sie schon hierher? Ihr ganzes Leben vermutlich. Auf jeden Fall war sie bereits bei seinem Einführungsgottesdienst dabei gewesen, als sein Vorgänger, der alte Reverend Spades, ihn vorgestellt hatte und er noch voller Selbstvertrauen gewesen war, überzeugt von seiner Mission und dem Wert, den er für die Heilige Christliche Kirche darstellte. Zwölf Jahre war das her. Was immer er sagte, sie würde enttäuscht sein, wenn sie nicht mehr herkommen konnte.
Er schluckte den Kloß in seinem Hals herunter, breitete die Arme aus und sagte mit aller Inbrunst, die er aufbringen konnte: »Lasset uns beten!«
Nach dem Gottesdienst ging er wie immer von einem der Tische, die in dem kleinen Nebenraum mit Kaffee, Limonade und Sandwiches gedeckt waren, zum nächsten und unterhielt sich mit den wenigen Gemeindemitgliedern, die er zum »harten Kern« zählte, über ihre Sorgen und Nöte. Dabei stellte er wieder einmal fest, dass diese Menschen, von denen keiner unter sechzig war, trotz all ihrer offensichtlichen Probleme einen unerschütterlichen Lebensmut ausstrahlten. Ob sich dieser auf ihren Glauben gründete oder auf eine positive Lebenseinstellung, konnte er nicht sagen. Womöglich war Letzteres die Voraussetzung für das Erste.
Und keiner brachte diese Lebensfreude so zum Ausdruck wie Consuela Messante. Sie lachte, erzählte anzügliche Witze und tat, als sei sie erschrocken, wenn Victor sie hörte. Sie hatte immer einen guten Rat für alle, die zu ihr kamen, und man sah ihr an, dass es nicht mehr viel im Leben gab, das sie überraschte.
»Sie wirken so nachdenklich, Reverend«, sagte sie, als Victor sich zu ihr setzte. »Haben Sie etwa Liebeskummer?« Sie lachte keckernd.
»Was redest du denn da, Consuela!«, sagte Angela Smith, die etwa siebzig Jahre alt war und einen besonders inbrünstigen Glauben besaß. »Wenn der Reverend nachdenklich wirkt, dann nur, weil du wieder mal gottlose Dinge sagst!«
Victor bemühte sich um ein Lächeln. »Ich glaube, ich bin heute einfach mit dem falschen Fuß zuerst aufgestanden.«
Die alte Dame legte Victor eine runzlige Hand auf den Arm, musterte ihn mit wachen Augen, und er hatte plötzlich das Gefühl, als könne sie in ihn hineinsehen.
»Ich war drei Mal verheiratet, Reverend. Mein erster Mann, Marco, ist im Zweiten Weltkrieg gefallen. Der zweite, Rafael, war Polizist. Er wurde von Drogenhändlern erschossen. Mein dritter, Paolo, ist in meinen Armen an Lungenkrebs gestorben. Hat geraucht wie ein Schlot, der Dummkopf. Gott hat mir drei Mal meinen Liebsten genommen. Aber er hat mir auch immer wieder neue Freude geschenkt, auch wenn es mir nie vergönnt war, Kinder zu bekommen. Ich werde bald diesen Planeten verlassen, und ich gehe mit dem guten Gefühl, dass das Leben auch ohne mich weitergeht.« Sie lächelte. »Es ist ein gutes Leben, das der Herr mir geschenkt hat, auch wenn es nicht immer so aussah.«
Victor musste schlucken. »Haben … haben Sie jemals an Ihm gezweifelt?«
»Jemals? Ich zweifle andauernd!«
Angela Smith sog scharf die Luft ein. »Consuela! Wie kannst du so etwas sagen! Noch dazu vor dem Reverend!«
»Ich kann es sagen, weil es stimmt, meine Liebe. Selbst die heilige Mutter Teresa hat an Gott gezweifelt, wie ihr Tagebuch zeigt. Aus ihrem Beispiel habe ich gelernt, dass es nicht so entscheidend ist, woran man glaubt, sondern was man daraus macht. Selbst ein Ungläubiger kann Gott gefallen, wenn er Gutes tut!«
»Das meinst du doch nicht ernst!« Smith rümpfte die Nase. »Du wirst noch in der Hölle enden, wenn du so weitermachst! Na, ich habe auf jeden Fall keine Zweifel.«
»Das bezweifle ich nicht«, sagte Consuela lächelnd.
Victor empfand tiefe Zuneigung und Dankbarkeit für die alte Dame. Er lächelte ebenfalls. »Ich danke Ihnen, Consuela. Sie haben meine Laune schlagartig gebessert.«
»Hmpf!«, machte Smith.
T-23:11:42 Wie üblich checkte Nina bei einem Morgenkaffee die Zahlen. Gestern war ein eher schwacher Tag gewesen – insgesamt nur etwa fünfhundert Blogbesucher und knapp dreitausend YouTube-Views. Das Ichting-Video war innerhalb einer Woche gerade elftausend Mal angeklickt worden, weit weniger als der Durchschnitt ihrer Videos. Auch das Verhältnis von Likes zu Dislikes war nicht berauschend. Sie scrollte durch die Kommentare. Begriffe wie langweilig und theoretisches Gelaber gehörten noch zu den harmloseren Bemerkungen. Mit dem theoretischen Physiker hatte sie ihre Follower offensichtlich hoffnungslos überfordert. Das Gespräch war auch deswegen weniger gut angekommen, weil Ichting kaum persönliche Details über sich preisgegeben hatte. Der Physiker war im zweiten Teil des Gesprächs, als sie ihn nach seinem Privatleben befragt hatte, sehr zurückhaltend gewesen. Nina hatte gehofft, dass ihre eigene Faszination für die Seltsamkeit des Universums im Video rüberkäme, aber die meisten Zuschauer teilten diese Begeisterung offensichtlich nicht. Hinzu kam, dass etliche Kommentatoren ihre religiösen oder esoterischen Anschauungen durch die moderne Physik verletzt sahen.
Die Physiker kommen auf immer bescheuertere Ideen, um an ihrer absurden Urknalltheorie festzuhalten, hatte jemand geschrieben. Strings, die in sieben winzigen, aufgewickelten Dimensionen schwingen – was für ein Quatsch! Statt endlich zu akzeptieren, dass die Schöpfung eben nicht rein mathematisch erklärbar ist, versuchen diese Theoretiker krampfhaft, durch abenteuerliche Konstruktionen ihre materialistische Weltanschauung zu retten.
Natürlich erzeugten solche Meinungen gehässige Gegenreaktionen von Atheisten und Anhängern der modernen Physik, die allen Kreationisten einen Besuch beim Psychiater empfahlen. Doch insgesamt waren es deutlich weniger Kommentare als bei den meisten anderen Beiträgen. Nina nahm sich vor, in Zukunft um Naturwissenschaftler einen Bogen zu machen und sich doch wieder auf B-Promis aus der Riege der Modeschöpfer und Schriftsteller zu konzentrieren, die bisher die positivste Resonanz hervorgerufen hatten. Zwar widerstrebte es ihr, sich nur nach dem Publikumsgeschmack zu richten, aber sie war nun mal auf die YouTube-Werbeeinnahmen angewiesen, die auch so schon spärlich genug waren.
Sie war gerade im Begriff, den Browser zu schließen, als ihr Blick auf einen Eintrag fiel, der erst ein paar Minuten alt war: Dieser Ichting hat sich offenbar umgebracht. Hoffe, das lag nicht an den Kommentaren zu diesem Video. Ein Link zu einem Online-Nachrichtenmagazin war angegeben.
Erschrocken klickte sie auf den Link und las den kurzen Bericht:
Physiker tot in Badewanne gefunden
Am Montagmorgen wurde Professor Hans Ichting, Leiter des Instituts für theoretische Physik am DESY in Hamburg, von einer Reinigungskraft leblos in seiner Badewanne aufgefunden. Der Notarzt konnte nur noch den Tod feststellen. Nach Angaben eines Sprechers geht die Polizei von einem Suizid aus.
Ichting gehörte zu den international renommiertesten theoretischen Physikern, war jedoch in der Öffentlichkeit nahezu unbekannt. »Wir verlieren mit ihm einen hochgeachteten und geschätzten Wissenschaftler, Kollegen und Freund«, sagte ein Sprecher des Hamburger Forschungsinstituts. »Sein tragischer Tod ist ein großer Verlust für die Physik und macht uns alle sehr betroffen. Den Angehörigen drücken wir unser tiefstes Mitgefühl aus.«
Die Beerdigung findet im engsten Familienkreis statt. Von Beileidsbekundungen bitten die Angehörigen abzusehen. Spenden werden an die Organisation Ärzte ohne Grenzen erbeten, die auch Ichting unterstützt habe.
Nina starrte ungläubig auf die Meldung. Ihr erster Gedanke war, dass es sich um Fake News handeln müsse, vielleicht gar um einen üblen Scherz. Doch eine Google-Suche bestätigte die Tatsache: Ichting war nur fünf Tage nach der Aufzeichnung des Interviews gestorben.
Das konnte doch nicht sein! Der Physiker mochte ja etwas spröde gewesen sein, aber er hatte alles andere als depressiv gewirkt. Natürlich konnte sie nicht wissen, was in seinem Inneren vorgegangen war, und es gab schließlich manisch-depressive Menschen, die von einem Extrem ins andere fielen. Ein Genie wie Ichting mochte durchaus psychische Probleme haben. Aber Selbstmord?
Sie starrte auf die Überschrift des Artikels. Physiker tot in Badewanne gefunden. Die Titelseite der Bild-Zeitung vor über dreißig Jahren erschien vor ihrem geistigen Auge: Barschel tot im Hotel. Er lag in der Badewanne. Sie hatte ihre Masterarbeit in Journalistik über den Umgang der Medien mit dem Tod des Politikers geschrieben.
Ein Gefühl der Unwirklichkeit überkam sie. Erschüttert stand sie auf, kramte den Ausdruck ihrer Arbeit aus einem Regal und blätterte die Seite mit dem Foto der Zeitung vom 12. Oktober 1987 auf. Über der Schlagzeile stand etwas kleiner: Selbstmord? Mord? Unfall?
Bis heute war nicht endgültig geklärt, was damals im Hotel Beau-Rivage in Genf wirklich geschehen war. Die offizielle Erklärung lautete weiterhin, dass Uwe Barschel sich das Leben genommen hatte, um der Schmach zu entgehen, die eine Untersuchung der kurz zuvor aufgedeckten Manipulationen im Wahlkampf um das Amt des Ministerpräsidenten Schleswig-Holsteins mit sich gebracht hätten. Auch Nina hielt diese These für am wahrscheinlichsten, doch es hatte eine Menge Ungereimtheiten gegeben: eine verschwundene Weinflasche, einen abgerissenen Hemdknopf, die seltsame Lage eines Schuhs und diverse andere Auffälligkeiten deuteten viele, darunter auch Barschels Witwe, bis heute als Indizien eines Mordes.
Hatte Ichting sich wirklich umgebracht? Wenn ja, warum? Und was, wenn nicht? Wer sollte einen international renommierten Wissenschaftler wie ihn ermorden wollen? Religiöse Eiferer vielleicht? Hatte Ichting mit einer seiner Bemerkungen radikale Islamisten gegen sich aufgebracht? Aber solche Fanatiker hätten ihn einfach erschossen oder in die Luft gesprengt, statt zu versuchen, den Mord wie einen Selbstmord aussehen zu lassen.
Ihr fiel ein Satz aus dem Interview ein: Mir geht es in erster Linie darum, die mathematischen Grundlagen zu schaffen, auf deren Basis dann andere konkrete Anwendungen entwickeln können.
War es denkbar, dass Ichting hatte sterben müssen, weil er etwas herausgefunden hatte, von dem jemand nicht wollte, dass es bekannt wurde? Er hatte davon gesprochen, dass mithilfe seiner Theorien vielleicht neue, sichere und saubere Energiequellen entdeckt werden könnten. Oder auch neuartige Waffen …
Aber das waren paranoide Verschwörungstheorien. Außerdem ging sie das alles gar nichts an. Es war ein tragischer Zufall, dass sie Ichting nur wenige Tage vor seinem Tod interviewt hatte.
Doch als sie versuchte, sich wieder anderen Themen zuzuwenden, stellte sie fest, dass die Nachricht sie nicht mehr losließ. Ein Bauchgefühl sagte ihr, dass Ichting nie und nimmer Selbstmord begangen hatte. So oft sie sich auch einredete, es sei Sache der Polizei, die Umstände seines Todes aufzuklären, das nagende Gefühl blieb.
Schon als Kind hatte Nina gern Detektiv gespielt. Sie hatte eine Zeit lang mit dem Gedanken gespielt, zur Polizei zu gehen und Verbrecher zu jagen, doch ihr Vater, der bei der Würzburger Stadtverwaltung arbeitete, hatte ihr davon abgeraten – sie sei viel zu ambitioniert für den Staatsdienst, hatte er gemeint, wobei »ambitioniert« wohl eine freundliche Umschreibung für »dickköpfig« gewesen war. Schließlich hatte Nina in Hamburg Journalistik studiert mit dem Ziel, eines Tages in der Redaktion eines großen Nachrichtenmagazins zu arbeiten und Skandale aufzudecken. Doch der Niedergang des Printjournalismus hatte ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Eine Zeit lang hatte sie es als freie Journalistin versucht, doch die Honorare waren erbärmlich, und es gab kaum interessante Aufträge. Als sie gesehen hatte, dass manche YouTuber Millionäre geworden waren, indem sie allerlei Ungereimtheiten in die Kamera quatschten, hatte sie beschlossen, ihr Glück als Videobloggerin zu versuchen. Es hatte lange gedauert, aber mittlerweile hatte sie eine treue Gemeinde von etwa dreißigtausend Followern, erzielte bescheidene Werbeeinnahmen und bekam regelmäßig Anfragen für bezahlte Produktrezensionen. Der große Durchbruch war bisher allerdings ausgeblieben.
War der vermeintliche Selbstmord des Hans Ichting vielleicht ihre große Chance?
Noch während sie den Gedanken hatte, schämte sie sich dafür. Wie konnte sie das Leid dieses bedauernswerten Genies als Erfolgschance betrachten? Außerdem war das mehr als unrealistisch. Sie neigte zu Tagträumen, das war schon immer ihr Problem gewesen. »Du siehst zu viel in den Wolken«, hatte ihr Vater einmal gesagt. »Das sind bloß Dampfschwaden am Himmel.« Er war stets der Realist gewesen, der nüchterne Analytiker, sie dagegen die Romantikerin. Das war ihr auch bei ihrer letzten Liebesbeziehung zum Verhängnis geworden: dass sie sich so sehr für etwas oder jemanden begeistern konnte und dabei alle negativen Vorzeichen ausblendete, bis ihr die Sache schließlich um die Ohren flog.
Und dennoch … Was, wenn niemand außer ihr Zweifel an der Selbstmordgeschichte hatte? Die Schweizer Polizei hatte schließlich im Fall Uwe Barschel auch fürchterlich geschlampt und wichtige Spuren verwischt. Was, wenn doch irgendjemand Interesse an Ichtings Tod gehabt hatte?
Schließlich gab sie ihren Widerstand auf und scrollte noch einmal durch die Kommentare. Dabei stieß sie auf einen Eintrag, den sie bisher nur überflogen und nicht ernst genommen hatte:
Die moderne Physik hat uns Hiroshima gebracht, Nagasaki, Sellafield, Tschernobyl, Fukushima. Ein paar Mal schon sind wir ganz knapp an einem globalen Atomkrieg vorbeigeschrammt, und die Idioten in Washington, Moskau und Peking haben offensichtlich kein bisschen daraus gelernt, von den Hitzköpfen in Pjöngjang, Tel Aviv, Teheran und Riad ganz zu schweigen. Als Nächstes statten wir diese Bomben mit künstlicher Intelligenz aus. Und dann? Wann begreifen wir endlich, dass jeder vermeintliche Fortschritt der Wissenschaft in Wahrheit ein weiterer Schritt in Richtung Abgrund ist? Ted Kaczynski hat es als Erster erkannt. Doch einer allein kann den Wahnsinn nicht stoppen …
Ted Kaczynski, war das nicht der Unabomber? Wikipedia bestätigte ihre Vermutung: Kaczynski hatte während eines Zeitraums von fast siebzehn Jahren insgesamt sechzehn Briefbomben an Wissenschaftler und Vorstände von Fluggesellschaften verschickt und dabei drei Menschen getötet und dreiundzwanzig verletzt. Nach einer jahrelangen Jagd mit beispiellosem Polizeiaufgebot war er schließlich 1995 gefasst worden. Er hatte seine Taten mit einem Manifest begründet, in dem er vor der Versklavung der Menschheit durch Maschinen oder eine industrielle Elite warnte.
War es denkbar, dass Kaczynski einen Nachahmer in Deutschland hatte, der versuchte, bedeutende Wissenschaftler auszuschalten, dabei jedoch subtiler vorging als der Unabomber? Der Beitrag war von jemandem mit dem Usernamen Fünfnachzwölf erstellt worden. Was, wenn der Absender …
Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. Du siehst zu viel in den Wolken, Nina.
T-21:12:05 Sparrow schraubte den Schalldämpfer auf seine Smith & Wesson-M & P-Pro-Pistole. Dann zog er die schwarzen Lederhandschuhe an und setzte sich auf die abgewetzte Wohnzimmercouch.
Er musste nicht lange warten, bis er den Haustürschlüssel hörte. Schlurfende Schritte im Flur. Sparrow knipste die Stehlampe neben dem Sofa an, sodass die Zielperson den Lichtschein durch die halb geöffnete Wohnzimmertür sehen konnte.
»Schatz, bist du noch wach?« Die Stimme war schwer von Alkohol.
Die Zielperson wankte ins Wohnzimmer. Als er Sparrow sah, erstarrte er und wurde kreidebleich.
»Guten Abend, Mr Hagrow«, sagte Sparrow ruhig.
»Was … wer … wer sind Sie?«