Das krisenfeste Kind - Verena Friederike Hasel - E-Book

Das krisenfeste Kind E-Book

Verena Friederike Hasel

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Beschreibung

Mit den Methoden von gestern können wir unsere Kinder nicht auf die Welt von morgen vorbereiten. 

Was müssen LehrerInnen und Eltern tun, damit Kinder motiviert sind, Leistung zu bringen, aber auch kritisches Denken erlernen, emotionale Intelligenz entwickeln und ihren Platz in der Welt finden? Die Schulen von heute entscheiden darüber, wie unsere Welt morgen aussieht, und ob unsere Kinder gut durch schwierige Zeiten kommen. Künstliche Intelligenz wird immer mehr Aufgaben übernehmen, zahlreiche Jobs werden wegfallen, andere neu entstehen. Verena Friederike Hasel widmet sich der Frage, was und wie Kinder im 21. Jahrhundert lernen sollten. Sie fährt an Orte in Finnland und Deutschland, wo die Zukunft schon begonnen hat. Sie erklärt die lernpsychologischen Grundlagen neuer Methoden, räumt mit verbreiteten Missverständnissen auf und entwirft ein sehr konkretes Bild davon, wie Lehrer und Lehrerinnen, Mütter und Väter Fähigkeiten wie Selbstregulation, Eigenverantwortung, Kreativität, Gemeinschaftsgefühl und Kommunikationsfähigkeit am besten fördern. Ein privates und politisches, ein theoretisches und praktisches Buch zu einem Thema, das alle umtreibt, denen Kinder am Herzen liegen.

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Seitenzahl: 248

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Inhalt

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ÜBER DIE AUTORIN

Verena Friederike Hasel, geboren 1978 in Berlin, ist Psychologin, Drehbuchautorin und Journalistin. Sie war für den Theodor-Wolff-Preis nominiert und erhielt 2018 den Deutschen Reporterpreis. Sie hat bereits fünf Bücher veröffentlicht, 2019 erschien Der tanzende Direktor, ein erzählendes Sachbuch über die beste Schule der Welt. Sie war Co-Initiatorin des #wirfürschule-Hackathon 2021. Mit ihrem Mann und ihren drei Töchtern lebt sie in Deutschland und Neuseeland.

Über das Buch

Was können Eltern und Lehrer:innen tun, damit unsere Kinder gut durch schwierige Zeiten kommen? Auf welche Fähigkeiten kommt es an, wenn Künstliche Intelligenz immer mehr Aufgaben übernimmt und die gesellschaftlichen Herausforderungen insgesamt zunehmen? Die Psychologin Verena Friederike Hasel hat herausragende Schulen in Finnland und Deutschland besucht, erklärt die wissenschaftlichen Grundlagen der besten Lernmethoden und beschreibt ganz konkret, wie wir unseren Kindern zu Hause und in der Schule Selbstregulation, Kreativität, Gemeinschaftssinn und Kommunikationsfähigkeit vermitteln können.

VERENA FRIEDERIKE HASEL

DAS KRISENFESTE KIND

LERNEN FÜR DIE WELT VON MORGEN

Für Salome, Penelope, Felicia

und für Konstantin

Inhaltsverzeichnis

Vorwort 9

1  Frühlingswache und Wohlfühldienst 20

2  Ich liebe einen Lehrer 37

3  Schmutzige Hände 54

4  Der schönste Tigerschwalbenschwanz der Welt 71

5  Steckspiele, Somawürfel und Zensuren 85

6  Der Matthäus-Effekt 91

7  Trampelpfade im Hirn 99

8  Der singende Direktor 109

9  Eine Bauanleitung für JohanN 115

10  Lieblingsfach Sozioemotionales Lernen 121

11  Nasebohren und Selbstgespräche 132

12  Wenn Affen sich lausen und Kinder gemeinsam singen 143

13  Kreativität kann uns retten 153

14  Technologien benutzen (anstatt sich von ihnen benutzen zu lassen) 160

15  Ein Schlüssel für die Schüler 165

16  Zimmer im Wald 172

17  Vom Wert der Selbstwirksamkeit 179

18  Kippbilder und Komplexität 182

19  Große Party unterm Schwungtuch 186

20  Der Krise einen Sinn geben 191

21  Zukunftstage 211

Literatur 217

Dank 221

Vorwort

Vor einigen Jahren, ich lebte damals in Neuseeland, schrieb ich ein Buch mit dem Titel Der tanzende Direktor. Darin erzählte ich von einem Schulsystem am anderen Ende der Welt, in dem vieles passiert, wovon man in Deutschland träumt.

Eine Klasse, die sich mit ihrem Lehrer am Strand trifft, um dort gemeinsam den Sonnenaufgang zu erleben. Schulanfänger:innen, die ihr erstes naturwissenschaftliches Experiment mit Schokolade machen, und Abiturient:innen, die von ihrem Lehrer auf Mountainbike-Tour genommen werden, damit sie die Newtonschen Gesetze verstehen.

Inzwischen ist die 9. Auflage dieses Buchs erschienen, der Direktor tanzt also stetig weiter, und immer noch erreichen mich Zuschriften von Leser:innen. Neulich erst schrieb mir eine Frau, das Buch habe ihr Mut gemacht, dass Schule doch etwas bewirken könne.

Solche Nachrichten freuen mich – und zugleich machen sie mich traurig. Offenbar gibt es da eine große, unbeantwortete Frage.

Wie muss Schule sein, um Kinder fürs Leben zu wappnen?

Was geben wir Kindern fürs 21. Jahrhundert mit?

In diesem Buch begebe ich mich auf eine Reise an Orte, die Antworten geben. Sie führt mich nach Finnland, weil das dortige Bildungssystem eines der besten ist, aber ebenso durch Deutschland, da auch hier fast unbemerkt manches Schulwunder geschieht. Ich erzähle Geschichten vom Gelingen, denn negative kennen wir alle zur Genüge. Jetzt geht es darum herauszufinden, wie man es besser und richtig macht.

In den kommenden Jahren wird Künstliche Intelligenz immer mehr Aufgaben übernehmen, zahlreiche Jobs werden wegfallen und neue entstehen. Darauf müssen wir unsere Kinder vorbereiten, und deshalb zeichne ich in diesem Buch ein sehr konkretes Bild davon, wie Lehrer:innen, Mütter und Väter Fähigkeiten wie Selbstregulation, Empathie, Resilienz und Gemeinschaftsgefühl fördern können.

Wie wir jetzt mit unseren Kindern umgehen, entscheidet darüber, wie sie später zurechtkommen; was sie heute lernen, prägt die Welt von morgen.

Es geht mir aber auch um eine merkwürdige Leerstelle in unserem Denken, Reden und Handeln. Wir haben einen blinden Fleck, den wir dringend beseitigen müssen, da er vieles verbirgt, was wir unbedingt wissen sollten, um unsere Kinder innerlich reich auszustatten.

Als Psychologin beschäftige ich mich intensiv mit Lern- und Kognitionspsychologie und bin beglückt über die reichhaltigen Erkenntnisse auf diesem Gebiet. Tatsächlich gibt es nur wenig, das mit dem menschlichen Gedächtnis, unseren sozioemotionalen Fähigkeiten, unserer Motivation und Kreativität zu tun hat und bislang nicht untersucht wurde. Doch Forschung und Praxis, Wissenschaft und Alltag sind wie zwei getrennte Welten, und ganz zentrale psychologische Prinzipien, die das Potenzial hätten, unser Verhalten Kindern gegenüber von Grund auf zu verändern, kommen in Elternhäusern und Schulen nicht an. Selbst weitreichende politische Entscheidungen in der Bildung werden ohne die nötige fachliche Expertise getroffen.

Deshalb erkläre ich die Grundlagen von Lern- und Entwicklungspsychologie, räume mit verbreiteten Missverständnissen auf und schlage eine Brücke zwischen theoretischen Erkenntnissen und dem echten Leben.

Dieses Buch richtet sich an Lehrer:innen, Erzieher:innen, Politiker:innen, Mütter und Väter und schlichtweg an alle, denen die heranwachsende Generation am Herzen liegt. Es wird Zeit, dass wir unsere Kräfte bündeln und das vorhandene Wissen nutzen, damit unsere Kinder das bekommen, was sie fürs 21. Jahrhundert brauchen.

Vor einiger Zeit war ich abends im Konzerthaus. Ich saß recht weit vorne, konnte die Bühne gut erkennen und hatte alle Musiker:innen deutlich im Blick. Nachdem das Orchester Platz genommen hatte, betrat der Pianist die Bühne. Er wirkte schüchtern und tat mir etwas leid, da er nicht recht zu wissen schien, wo er mit seinen Armen und Beinen hinsollte. Nach einer Weile setzte er sich, weiterhin in sich selbst verknotet.

Doch sobald die Geiger:innen ihre Instrumente ans Kinn hoben und zu spielen begannen, geschah etwas mit ihm. Er schloss die Augen, wie Kinder es tun, wenn man ihnen einen Löffel mit einer besonders köstlichen Speise entgegenstreckt, sein Körper faltete sich auf und ließ sich in die Musik hineinsinken, und seine Arme wirkten nicht mehr wie angeschraubt, sondern bewegten sich hin und her, als seien die Geigentöne, die nun erklangen, ein Tanzpartner, dem man folgen müsse.

Dann hatte er selbst seinen Einsatz, und sein Körper hielt schlagartig inne. Einen Augenblick lang befürchtete ich, dass sich erneut eine Klammer um seinen Körper legen würde, aber stattdessen senkte er seine Hände wie in Zeitlupe auf die Tasten des Konzertflügels und tat das so ehrfürchtig, zärtlich und vorsichtig, dass ich mich wiederum an ein Kind erinnert fühlte, dieses Mal an eines, das die erste Seifenblase seines Lebens sieht, sich ihr behutsam nähert und sie versucht zu berühren, ohne dass sie kaputtgeht.

Als die Tasten des Instruments unter dem sanften Druck seiner Finger nachgaben, zeichnete sich im Gesicht des Pianisten die Verzückung ab, die ein Mensch erleben würde, falls eine Seifenblase einmal nicht zerplatzt. Für einen Moment schloss er die Augen, um sie im nächsten wieder zu öffnen, als müsse er sich vergewissern, dass alles noch da war und er diese Schönheit nicht nur träumte. Dann lächelte er, glitt nicht allein mit den Fingern, sondern dem ganzen Körper übers Klavier, sprang manchmal sogar auf – und war wieder wie ein Kind, dieses Mal wie eines, das vor Begeisterung keine Sekunde still sitzen kann.

Als der Pianist schließlich die letzten Takte spielte, fielen ein paar Tropfen auf die Tasten des Flügels.

Vielleicht war es Schweiß. Vielleicht aber auch Tränen des Glücks.

Ich war gerade auf dem Weg ins Büro, als mich morgens die Nachricht eines Freundes erreichte. »Hast Du Chat GPT probiert? Das ist eine große Sache. Wir erleben möglicherweise den Beginn der Singularität.«

Chat GPT ist ein Computerprogramm, das Sprache nicht nur versteht, sondern selbst erzeugt, sodass man mit ihm kommunizieren kann, als handle es sich um einen Menschen. Singularität bezeichnet den Zeitpunkt, von dem an sich Künstliche Intelligenz alleine weiterentwickeln und stetig dazulernen wird – mit für uns unabsehbaren Folgen.

Kaum war ich im Büro angekommen, testete ich Chat GPT, indem ich den Bot aufforderte, ein Pro und Kontra zum Thema Schwangerschaftsabbruch zu verfassen, eine lustige Kurzgeschichte zu schreiben und auf eine Textnachricht zu antworten, die mir eine Freundin geschickt hatte. Der Abtreibungsargumentation fehlten konkrete Zahlen und Fakten, die Geschichte brachte mich nicht zum Lachen, und meine Freundin erkannte sofort, dass die Nachricht nicht von mir stammte. Ich war also nicht sonderlich beeindruckt, vielleicht sogar ein bisschen beruhigt, dass der Bot so wenig konnte. Einige Wochen später schickte mir ein Freund ein Gedicht, ebenfalls von Chat GPT verfasst, das sehr gelungen war. Offenbar hatte sich das Programm durch die zahlreichen Interaktionen mit Menschen, die genau wie ich neugierig gewesen waren, sehr verbessert.

Lernende Systeme wie der Chatbot werden unsere Welt extrem verändern. Nach einer Studie der Universität von Oxford ist damit zu rechnen, dass in den USA fast die Hälfte aller Arbeitsplätze durch Künstliche Intelligenz vernichtet werden. Vor Kurzem entwickelten Schweizer Forscher deshalb einen Automatisierungs-Risiko-Index für Berufe. Er gibt Auskunft darüber, wie leicht ein Job durch KI zu ersetzen ist. Schon jetzt werden Menschen, die Liebe suchen, von Algorithmen verkuppelt, Computerprogramme erkennen Brustkrebs in Gewebeproben zuverlässiger als Ärzt:innen, und Rechtsroboter sollen für Gerechtigkeit sorgen.

In derselben Woche, in der ich den Chatbot kennenlerne, treffe ich abends in einer Bar eine Freundin, mit der ich DALL-E ausprobiere, ein Programm, das binnen Sekunden Bilder im gewünschten Kunststil produziert. Danach liege ich lange wach. Am nächsten Morgen frage ich meine drei Kinder, ob sie im Unterricht über diese Dinge gesprochen hätten. Womöglich haben sie den Chatbot im Deutschunterricht getestet oder DALL-E in der Kunststunde verwendet? Meine Töchter schütteln die Köpfe. Nein, nichts dergleichen. Sie hatten, so sagen sie mir, »Schule wie immer«.

Und diese menschliche Trägheit ist erschreckender als das, was uns durch Künstliche Intelligenz droht.

Wir alle wollen, dass unsere Kinder ein gutes Leben haben.

Wann hören wir also auf, »Schule wie immer« zu machen, und beginnen, ernsthaft darüber nachzudenken, wie man dem Vormarsch der Künstlichen Intelligenz sinnvoll und selbstbewusst begegnet?

Was muss geschehen, damit wir uns eingestehen, dass wir Kinder nicht mit den Methoden von gestern auf die Welt von morgen vorbereiten können?

Auf der Welt gibt es insgesamt mehr als 500 verschiedene Primatenarten. Unter ihnen sind wir Menschen die Einzigen, die einen deutlich abgegrenzten und sehr großen weißen Bereich um die Pupille herum besitzen, die sogenannte Sklera. Dem US-Anthropologen Michael Tomasello zufolge liegt das daran, dass wir unbedingt sehen wollen, was unsere Mitmenschen sehen – und die Sklera es uns ermöglicht, die Blickrichtung einer anderen Person klar zu erkennen. Wissenschaftler sprechen von shared attention. Diese Fähigkeit und dieses Interesse, das uns offenbar innewohnt, ist die Voraussetzung für vieles, was unser Leben und Zusammensein prägt. Ohne shared attention gäbe es keine Empathie, kein Mitgefühl und keinen Perspektivwechsel, und ohne shared attention könnten wir nie voller Freude zusammen mit anderen an einer Sache arbeiten. »Die (…) Grundemotionen – Angst, Freude, Wut – haben wir mit den Affen gemein; die Freude jedoch, etwas (…) zu teilen und gemeinsam zu tun, ist ein menschliches Gefühl«, sagte Tomasello in einem Interview. Hat man mit Kindern zu tun, sollte die Förderung von shared attention, egal ob zu Hause oder in der Schule, eines der großen Lernziele sein, denn eines steht fest: Die Herausforderungen unserer Zeit können wir nur lösen, wenn wir unseren Blick beharrlich in dieselbe Richtung schicken.

Zugleich gibt dieser Fokus auf das Zwischenmenschliche die Antwort darauf, was wir Menschen Künstlicher Intelligenz voraushaben. Die sozioemotionalen Fähigkeiten, die wir besitzen, machen uns viel mehr aus als die Verarbeitungsgeschwindigkeit unseres Hirns – und dieses genuin Menschliche sollten wir in unseren Kindern nähren. Dem World Economic Forum zufolge sind kritisches Denken, Entschlusskraft und Innovationsfreude zentral für die kommenden Jahrzehnte. Ich möchte die Liste gern ergänzen. Um sich durch eine Welt zu navigieren, in der die einzige Sicherheit darin besteht, dass man Unsicherheit akzeptieren muss, benötigen unsere Kinder Verantwortungsbewusstsein, Ambiguitätstoleranz, Fantasie und Vertrauen – sowohl zu anderen als auch zu sich selbst.

In Japan gibt es seit vielen Jahrhunderten die Kunst des Kintsugi. Bekommt eine Schale einen Sprung, oder fällt ein Gefäß zu Boden und zerbricht, setzt man die Scherben unter Verwendung eines speziellen Lacks und pulverisierten Goldes wieder zusammen – Kintsugi, zu Deutsch Goldverbindung, kaschiert die kaputten Stellen also nicht, sondern hebt sie durch das Gold sogar hervor.

Das heutige Leben ist selten aus einem Guss und weist etliche Bruchstellen auf. Das fordert seinen Tribut. Weltweit leidet jedes siebte Kind, das zwischen 10 und 19 Jahren alt ist, an einer psychischen Krankheit, und unter den 15- bis 19-Jährigen ist Selbstmord die vierthäufigste Todesursache. Deshalb müssen wir alles daransetzen, unseren Kindern psychische Stabilität zu vermitteln, sodass sie die Veränderungen und Wechsel, Rückschläge und Richtungswechsel meistern können, mit denen sie um einiges häufiger konfrontiert sein werden als wir in unserem Leben. Falls uns das gelingt und wir Kindern die Überzeugung mitgeben, dass man Brüche nicht verbergen muss und Unvollkommenes besonders leuchten kann, haben wir schon unfassbar viel geschafft.

Nun stehen wir, was die Entwicklung von Kindern betrifft, seit Jahren vor einem großen Paradox. Einerseits belegen inzwischen etliche Studien, dass schon Babys äußerst kompetent sind. Dafür nur ein Beispiel: Versteckt man vor den Augen eines zwölf Monate alten Babys eine Blume und einen Dinosaurier und holt anschließend zwei Dinosaurier hervor, schaut das Kind deutlich länger hin, als wenn man lediglich einen Dinosaurier zutage fördert. Offenbar wundert sich das Kind und versucht zu verstehen, wie aus einem Dinosaurier zwei werden konnten.

Andererseits sind zwei Drittel aller Zehnjährigen auf der Welt nicht in der Lage, eine einfache Geschichte zu lesen, in einem wohlhabenden Land wie Deutschland fehlen einer internationalen Studie zufolge, die 2023 veröffentlicht wurde, jedem vierten Kind in diesem Alter basale Lesekenntnisse, und manche Untersuchungen deuten darauf hin, dass das Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten im Laufe der Kindheit eher schwindet als wächst.

Und dabei war jedes Kind, das nicht rechnen und lesen kann und an sich zweifelt, einmal wie eines der Babys im Dinosaurier-Blumen-Experiment – neugierig und lerneifrig, der Welt zugewandt und davon überzeugt, des Rätsels Lösung zu finden.

Kommen den Kindern diese guten und absolut wünschenswerten Eigenschaften einfach abhanden?

Oder werden sie ihnen genommen?

Ich befürchte, wir sind dafür verantwortlich, dass Kinder sie verlieren, und deshalb muss sich Schule von Grund auf wandeln, wenn wir unsere Kinder krisenfest machen wollen.

Im Laufe ihres Lebens verbringen Kinder etwa 12 000 Stunden in der Schule – das ist mehr Zeit, als manche mit ihren Eltern haben. Umso unverzichtbarer ist es, von dem abzurücken, was meine Kinder »Schule wie immer« nennen, und die Klassenzimmer im ganzen Land stattdessen zu Orten zu machen, an denen Neugier auf die Welt, aber auch Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten geweckt werden.

Einige Schulen, die das auf vorbildliche Weise umsetzen, habe ich besucht. Manche haben Sozioemotionales Lernen als Fach, andere haben den Unterricht nach draußen in den Wald verlegt, aber trotz aller Unterschiede haben sie eine Gemeinsamkeit. Sämtliche Schulen, an denen ich zu Gast war, nehmen eine wichtige psychologische Erkenntnis ernst, die oft ignoriert wird. Der Selbstbestimmungstheorie von Edward Deci und Richard Ryan zufolge sind Menschen motiviert, falls drei Grundbedürfnisse erfüllt sind: Kompetenz, Autonomie und Verbundenheit.

Dieses Wissen muss auch in Elternhäusern einziehen, damit Mütter und Väter ihren Kindern gegenüber »Kannst du nicht einmal …?«- und »Warum machst du nicht endlich …?«-Sätze meiden und Sog statt Druck erzeugen. Außerdem sollte ihnen eine Grundregel dabei stets bewusst sein: Kinder bedürfen unserer Liebe besonders, wenn sie sich von uns zu entfernen scheinen.

Zuletzt muss sich das Verhältnis der zwei Mikrowelten ändern, die jede Kindheit prägen. In Zeiten, in denen Lernen nicht mehr an einen Ort gebunden ist, sondern überall stattfindet und es nicht um Algebra und Französisch allein, sondern um die Entwicklung der gesamten Persönlichkeit geht, dürfen sich Schule und Zuhause nicht mehr antagonistisch gegenüberstehen, und Eltern und Lehrer:innen sollten sich nicht misstrauisch beäugen, sondern eng zusammenstehen.

Gemeinsam müssen wir Kindern zeigen, was Lernen bewirken kann. Im Hirn eines Menschen, der etwas entdeckt, durchdringt und begreift, wird der Neurotransmitter Dopamin freigesetzt. Und Dopamin macht nicht nur für den Moment glücklich, sondern weckt auch das starke Verlangen nach mehr.

Mit anderen Worten: Wer einmal erlebt hat, wie toll Lernen ist, wird immer wieder lernen wollen.

1  Frühlingswache und Wohlfühldienst

Ein Donnerstagmorgen in Helsinki, es regnet in Strömen, und Mari, die Lehrerin, zieht ihre Gummistiefel aus, bevor sie auf dicken Socken den Raum der Drittklässler:innen betritt. An den Wänden kleben bunte Plakate, auf denen steht, an welchen Eigenschaften man lernende Menschen erkennt: Lerner:innen stellen Fragen, Lerner:innen denken kritisch, Lerner:innen sind um Ausgewogenheit bemüht.

Heute hat Mari den Kindern Kunst mitgebracht, zwei Bilder, Joan Mirós Garten und Piet Mondrians Composition C (No.III) with Red, Yellow and Blue. Mondrians Gemälde reduziert die Welt auf einige Farben und Linien, Miró dreht dagegen auf. Sein Garten ist voller wilder geometrischer Formen und schreit vor lauter Farbigkeit.

Gemeinsam schauen sich Mari und ihre Klasse die Bilder an, aber still, darauf legt Mari Wert. Dann bittet sie die Kinder, die Hefte herauszunehmen und sich von ihrem Pult einen Stift zu holen. Anders als in Deutschland gibt es in Finnland am Ende der Sommerferien nämlich keine langen Listen mit Dingen, die Eltern für ihre Kinder besorgen sollen. Finnische Schulen stellen den Kindern alle nötigen Utensilien zur Verfügung, damit sich keiner schämt, weil die Eltern nicht genug Geld haben oder sich nicht ausreichend kümmern, und so steht auf Maris Pult ein großer Karton mit Stiften, Radierern und Klebestiften.

Vor Mari liegt auch ein Heft, das sie nun aufschlägt, und über den Projektor können die Kinder genau beobachten, was sie tut. Links oben auf die Seite schreibt sie sorgfältig das Datum und fügt sehr langsam und ordentlich die Überschrift hinzu: »Was ich fühle, wenn ich Kunst betrachte.« Die Kinder beugen die Köpfe über ihre Hefte und schreiben mit Mari den einleitenden Satz: »Ich wurde gebeten, zwei Kunstwerke zu vergleichen und aufzuschreiben, was für Gefühle sie in mir auslösen.«

Danach legt Mari ihren Stift nieder.

»Ab hier macht ihr alleine weiter. Ihr dürft schreiben, was ihr wollt, aber ihr müsst es gut ausdrücken, damit ich wirklich verstehe, was ihr fühlt.«

Ein paar Minuten lang sammelt Mari mit den Kindern Formulierungen, die hilfreich sein könnten, zum Beispiel »mir ist aufgefallen« oder »ich bevorzuge«, doch wann immer die Kinder ihr mitteilen wollen, was ihnen aufgefallen ist und was sie bevorzugen, gebietet Mari ihnen Einhalt. »Nicht verraten«, sagt sie. Ihre Gedanken und Gefühle für sich zu behalten, das fällt den Kindern äußerst schwer, sie möchten ihrer Lehrerin so viel über die beiden Bilder erzählen, aber Mari schüttelt lächelnd den Kopf. »Hebt euch das für eure Aufsätze auf. Ich freue mich darauf, sie zu lesen. Ich möchte wirklich gern mehr über eure Gefühle erfahren.«

Im Raum wird es still, und Mari schaut auf die Uhr.

»Ich gebe euch 20 Minuten, dann möchte ich mindestens sechs Sätze hören.«

Die Kinder beginnen zu schreiben, nur in einer Ecke flüstert ein Junge mit seinem Nachbarn, und Mari reagiert sofort.

»Leo, ich sehe, du hast Schwierigkeiten, dort drüben zu lernen. Bitte setz dich an den runden Tisch. Danke.«

Nach zehn Minuten geht sie durch die Reihen und liest, was die Kinder geschrieben haben. »Ich weiß nicht, was da los ist auf dem Bild, ich verstehe es nicht, aber die Farben machen mich glücklich«, steht in dem Heft eines Mädchens über Mirós Garten, und ein Junge notiert über Mondrian: »Das Bild ist so aufgeräumt, ich fühle mich ganz sauber, wenn ich es ansehe.« Das Mädchen neben ihm schwärmt dagegen vom Garten. »Es sieht aus, als ob Monster auf einem Feld eine Party machen. Das Bild ist verrückt, und ich bekomme Kopfweh davon, aber es ist ein gutes Kopfweh.«

Ein Stockwerk darunter hat eine fünfte Klasse gerade Naturwissenschaften. Auf dem Flur steht ein großer, alter Rechenschieber mit bunten Kugeln, und die Kinder sitzen an Holzpulten, die man aufklappen kann, doch auf diesen altmodischen Tischen befinden sich neue Notebooks, und ein Mädchen, das gerade mit den Eltern im Ausland ist, nimmt digital an der Stunde teil.

Die Merkmale von Lerner:innen hängen hier nicht an der Wand, sondern Noah, der Lehrer, hat mit seiner Klasse Aufsteller aus Pappe gebastelt, auf die sie »kritisches Denken«, »Risikobereitschaft«, »Ausgewogenheit« und all die übrigen Begriffe geschrieben und danach gut sichtbar im Raum verteilt haben. Wann immer jemand der Meinung ist, dass ein Klassenkamerad oder eine Klassenkameradin eine dieser Eigenschaften gerade vermissen lässt, steht er auf, holt das entsprechende Schild und stellt es der Person als stumme Erinnerung und Ermunterung auf den Tisch.

In den vergangenen Wochen haben sich die Kinder mit dem Zeitalter der Jäger und Sammler beschäftigt, und zwar mithilfe von Unterlagen, die ihnen die ehemalige fünfte Klasse zusammengestellt hat. Die Kinder haben erfahren, dass Jäger und Sammler mit Speeren jagten, mehr Freizeit als die sesshaften Menschen hatten und ein kleines Volk in Afrika diese Lebensweise bis heute beibehalten hat, dann haben sie sich in Kleingruppen Jäger-und-Sammler-Rätsel füreinander ausgedacht. »Bereitet euch in eurer Gruppe aufs Quiz vor«, stand für den heutigen Tag im digitalen Wochenplan. Die Gruppe mit den meisten Punkten darf, so hat es die Klasse mit ihrem Lehrer Noah abgesprochen, eine der sechs möglichen Belohnungen aussuchen, die an der Wand hängen, zum Beispiel »Picknick«, »Film« oder »Noah singt für uns«. Die letzte Belohnung ist der klare Favorit der Kinder, und Noah hat lachend ein kleines »vielleicht« dahintergesetzt.

Jetzt würden die Kinder am liebsten schnell mit den Rätseln beginnen, sie kichern bei der bloßen Vorstellung, dass ihr Lehrer ihnen bald ein Ständchen bringen wird, doch Noah sagt, er müsse sie vorher etwas fragen.

»Wie habt ihr euch auf die Rätsel vorbereitet?«

»Na, wir haben gelernt«, sagt ein Kind verwundert.

Noah nickt. »Ja, aber wie habt ihr dieses Lernen in der Gruppe organisiert? Hattet ihr eine Strategie?«

Verständnislos sehen die Kinder ihn an.

Noah versucht es erneut.

»Wer hat sich den Stoff innerhalb der Gruppe so aufgeteilt, dass jeder nur einen Teil lernen musste?«

Keiner meldet sich.

»Wer hat den gesamten Stoff gelernt?«, fragt Noah.

Alle melden sich.

Noah grinst.

»Ich habe euch ganz bewusst gesagt, dass das ein Gruppenquiz ist. Ihr hättet also nicht alles lernen müssen. Ich wollte, dass ihr« – er zeigt auf den Aufsteller – »kritisches Denken übt und euch überlegt, wie ihr es schlau anstellt. In einer Gruppe muss nicht jeder alles machen. Man kann sich aufeinander verlassen.«

»Was, wenn jemand ein Blackout hat?«, fragt ein Schüler.

»Guter Punkt«, sagt Noah. »Dann muss man improvisieren. Überhaupt müssen wir im Leben stets flexibel sein.«

Er sieht die Kinder an.

»Wie oft ändere ich meinen Unterrichtsplan, wenn etwas nicht funktioniert?«

»Ständig!«, rufen sie.

Als die Pausenklingel läutet, fallen die Regentropfen wie lange, dicht gehängte Fäden vom Himmel, und die Kinder erheben sich nur äußerst widerwillig von ihren Plätzen. Ich kann sie verstehen, so gemütlich, wie es in ihrem Klassenzimmer ist. Viel Platz haben sie zwar nicht, aber sie haben sich den beengten Raum mit Noahs Hilfe auf wunderbare Weise zu eigen gemacht. Vorne neben der Tafel haben sie einen vertikalen Garten an der Wand befestigt, aus Holzpaletten hergestellt und mit genau der gleichen Anzahl von Töpfen, wie es Kinder in der Klasse gibt, sodass alle ihre eigene Pflanze haben. Entlang der Seitenwand des Raums stehen große Kartons, welche die Kinder mit Kissen und Decken ausgepolstert haben, damit sie darin sitzen und lesen können, darüber hängt ein Schild mit den Klassendiensten. Es gibt die üblichen Pflichten, die man in vielen Ländern kennt, Arbeitsblätter verteilen, sich um den Müll kümmern – und eine außergewöhnliche Aufgabe. Zwei Kinder sind dafür zuständig, dass niemand in den Hofpausen alleine spielt. Der sogenannte Wohlfühldienst.

Bei diesem Regen will heute trotzdem niemand nach draußen. Da hilft auch kein Wohlfühldienst.

»Können wir nicht ausnahmsweise drinnen bleiben?«, fragt ein Junge.

Noah schüttelt den Kopf. »Ihr kennt die Regeln. In den Pausen müsst ihr raus.« Er deutet auf den »Ausgewogenheits«-Aufsteller. »Es geht um die Balance. Einen kompletten Tag drinnen sein, das ist nicht gesund für euch.«

Mit diesen Worten schiebt er sie auf den Flur hinaus, schickt sie aber nicht allein in den Regen, sondern begleitet sie, in der Hand einen großen Regenschirm, unter den sie abwechselnd schlüpfen dürfen.

Zwanzig Minuten später, sie sind gerade ins Trockene zurückgekehrt, verkündet Noah, dass eine Klassendebatte stattfinden werde. Das Thema: Sind Regeln wichtig oder nicht?

»Eure persönliche Meinung spielt keine Rolle«, sagt er. »Ihr müsst überzeugende Argumente für beide Seiten finden. Und dafür benötigen wir zwei Gruppen.«

Sofort beginnen die Vorbereitungen. Zunächst melden sich die Kinder, die eines der Teams leiten wollen. Sobald die Namen aller, die sich für diese Aufgabe interessieren, an der Tafel stehen, wird abgestimmt, allerdings mit geschlossenen Augen. Nach der Wahl der Leiterinnen gewährt Noah den Kindern zwei Minuten, um vier weitere Rollen in jeder Gruppe zu besetzen: einen Zeitwächter, einen Mediator, einen Protokollanten und eine Person, die am Ende die Ergebnisse vorstellt. Die Gruppenleiterinnen fragen, wer welches Amt übernehmen möchte, wieder folgt eine Abstimmung mit geschlossenen Augen, die gewählte Person wird beglückwünscht, die unterlegene bedauert und zugleich ermuntert, es das nächste Mal erneut zu probieren. Dann spielen die beiden Leiterinnen »Stein, Schere, Papier« gegeneinander, und die Gewinnerin darf zuerst einen der kleinen Zettel ziehen, die Noah vorbereitet hat. »Regeln spielen eine wichtige Rolle in unserer Gesellschaft«, steht darauf. Die zweite Gruppenleiterin bekommt den anderen. »Regeln sind überbewertet«, hat Noah darauf notiert.

Nun beginnt die eigentliche Arbeit, das Sammeln der Argumente. Dass es trotzdem sehr still im Klassenzimmer ist, liegt daran, dass Noah den Kindern beigebracht hat, wie man so eine Teamaufgabe auf schriftlichem Weg löst. Alle sitzen vor ihren Notebooks, haben ein gemeinsames Dokument geöffnet und führen ihre Unterhaltung im Chat. »Wir haben zu viele Informationen.« – »Wir brauchen unbedingt Quellen für alles.« – »Wer ordnet die Punkte?«

Während die Gruppe, die zugunsten von Regeln argumentieren soll, zügig vorankommt, hat das andere Team Probleme. Noah beobachtet die Kinder erst aus der Ferne, nach einigen Minuten geht er an ihren Tisch. »Ich merke, dass ihr euch richtig anstrengen müsst«, sagt er. Eine Weile hört er ihrem Gespräch im Stehen zu, dann setzt er sich an ihren Tisch, und nachdem sie weitere fünf Minuten erfolglos nach stichhaltigen Argumenten gegen Regeln gesucht haben und ihre Stimmen vor Ungeduld und Frustration hochpeitschen, sagt er, dass man in der Wirtschaft oft den Sinn von Regeln bezweifle. Mehr verrät er nicht, und das ist auch nicht nötig, denn prompt beginnen die Kinder, online in Zeitungsartikeln zu recherchieren, und bald haben sie den ersten Einwand: Das Befolgen von Regeln ist aufwendig und oft mit hohen Kosten verbunden. Der Ton in der Gruppe bleibt trotzdem schroff und schrill, und vor allem eine Schülerin macht alles mit extremer Heftigkeit. Anstatt ihr Heft abzulegen, pfeffert sie es auf den Tisch, und ihren Stuhl schiebt sie nicht zurück, sondern katapultiert ihn nach hinten.

Noah schaut sie an.

»Geh bitte kurz auf den Schulhof und verschaff dir Bewegung«, sagt er.

Als sie nach ein paar Minuten zurückkommt, nimmt er sie kurz zur Seite.

»Besser?«, fragt er freundlich, und sie nickt.

Zwei Unterrichtsstunden nur, und doch kann man in ihnen eine Menge über den richtigen Umgang mit Kindern lernen, egal ob in der Schule oder zu Hause.

Nehmen wir zuerst Maris Unterricht.

Zunächst einmal fällt auf, dass man das, was sie da macht, gar nicht so richtig einem Fach zuordnen kann. Es ist definitiv nicht Schule wie immer, aber handelt es sich um eine Kunststunde, da sie berühmte Bilder betrachten, oder ist es eher Finnisch, weil die Kinder einen Aufsatz schreiben? Tatsächlich soll die Stunde weder das eine noch das andere sein. Das landesweit geltende Curriculum sieht nämlich vor, dass ein Teil des Unterrichts aus multidisziplinären Lernmodulen besteht, also fächerübergreifend und themenbezogen ist.

In Finnland ist diese Art des Lernens keine Reaktion aufs 21. Jahrhundert, sondern hat eine lange Tradition. So hat schon die Direktorin an Maris Schule in ihrem Studium vor vielen Jahren Texte von Aukusti Salo gelesen, einem berühmten finnischen Pädagogen, der die Auffassung vertrat, dass Kinder in Alltagssituationen am besten lernen. »Damals wurde uns beigebracht, mit den Kindern in die Natur zu gehen und einen Ahornbaum anzuschauen, um dann seine Blätter zu zählen, seine Farben zu malen und über ihn zu schreiben, ihn also für alle Fächer zu verwenden«, sagt die Direktorin. Das habe ihr unmittelbar eingeleuchtet. »Im echten Leben sind die Themen ja auch nicht voneinander getrennt.«

An ihrer Schule haben sie deshalb sechs übergeordnete Themenfelder geschaffen, die in allen Klassenstufen unterrichtet werden und Brücken zwischen den einzelnen Fächern bauen. Im Themenfeld »Den Planeten miteinander teilen« halten die Erstklässler:innen eine Frühlingswache ab und sammeln in der Nachbarschaft Hinweise auf den Beginn der Jahreszeit, die Beschäftigung mit Miro und Mondrian in der dritten Klasse gehört zu »Wie wir uns ausdrücken« und in »Wie wir uns organisieren« geht es in der vierten Klasse um Demokratie und Antike und in der fünften um Geld und Finanzen.

Insofern ist das, was ich beobachte, nicht die zufällige gute Idee einer einzelnen engagierten Lehrerin, sondern Mari muss genau auf diese Weise unterrichten, um ihrem Arbeitsauftrag gerecht zu werden. Nur weil sie Sehen, Fühlen und Beschreiben miteinander verbindet, wird aus ihrer Stunde eines der multidisziplinären Lernmodule, welche das finnische Bildungsministerium verlangt.

Verweilen wir für einen Moment bei der Aufgabe, die Mari stellt. Indem sie die Kinder bittet, darüber zu schreiben, was sie angesichts der Bilder empfinden, wirft sie ihnen einen emotionalen Anker für ihre Kunstbetrachtung zu – und das hat gleich mehrfache Wirkung: Die Kinder üben Introspektion, sie sammeln Erfahrungen in der Kommunikation über Gefühle, und erleben vielleicht zum ersten Mal, was Kunst in ihrem Inneren anstellen kann. Diese Verknüpfung können Eltern im Alltag ebenfalls wunderbar herstellen – zum Beispiel, indem sie ihren Kindern beim nächsten Besuch einer Ausstellung vorschlagen, die einzelnen Gemälde den verschiedenen Grundemotionen zuzuordnen, oder sie auffordern, ein Bild zu suchen, das ihrer momentanen Stimmung entspricht.

Wie unmittelbar und authentisch der Zugang ist, den Kinder auf diese Weise finden, zeigen die Texte, die in Maris Stunde entstehen.

Dass man von einem Bild zwar Kopfweh bekomme, es sich dabei aber um ein Kopfweh der guten Art handele – ist so ein Satz nicht selbst ein kleines Kunstwerk?