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Die verstörende Geschichte einer jungen Frau, die immer mehr den Zugang zur Realität verliert und sich in eine Welt hineinbegibt, in der eine ganz eigene Logik gilt. Als Nina Mutter wird und spürt, dass sie nicht nur Liebe für ihr Kind empfindet, ist sie verunsichert. Sie sucht Anschluss in Mütter-Cafés und Babykursen, aber fühlt sich isoliert. Überall sind Frauen, die selbstverständlich und mühelos liebevoll mit ihren Kindern umgehen. Die stets genau wissen, was richtig ist und was nicht. Für die jeder Zweifel schon ein Tabubruch ist. Nach und nach bricht Nina den Kontakt zu ihren Mitmenschen ab, unfähig, eine Verbindung zu anderen herzustellen. Als sich für sie alles nur noch auf ihren wenige Monate alten Sohn konzentriert, nimmt eine fatale Entwicklung ihren Lauf. In atemlosen Sätzen, die auf beklemmende Weise die Kraft der Einbildung erlebbar machen, wird aus der Perspektive einer Frau erzählt, deren Ängste durch ein Umfeld verstärkt werden, das bei bestimmten Themen keine Ambivalenz erträgt.
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Das Buch
Als Nina Mutter wird und spürt, dass sie nicht nur Liebe für ihr Kind empfindet, ist sie verunsichert. Sie sucht Anschluss in Mütter-Cafés und Babykursen, aber fühlt sich isoliert. Überall sind Frauen, die selbstverständlich und mühelos liebevoll mit ihren Kindern umgehen. Die stets genau wissen, was richtig ist und was nicht. Für die jeder Zweifel schon ein Tabubruch ist. Nach und nach bricht Nina den Kontakt zu ihren Mitmenschen ab, unfähig, eine Verbindung zu anderen herzustellen. Als sich für sie alles nur noch auf ihren wenige Monate alten Sohn konzentriert, nimmt eine fatale Entwicklung ihren Lauf.
In atemlosen Sätzen, die auf beklemmende Weise die Kraft der Einbildung erlebbar machen, wird aus der Perspektive einer Frau erzählt, deren Ängste durch ein Umfeld verstärkt werden, das bei bestimmten Themen keine Ambivalenz erträgt.
Die Autorin
Verena Friederike Hasel, Jahrgang 1978, ist in Berlin geboren und aufgewachsen. Sie studierte Psychologie mit Schwerpunkt Forensische Psychologie an der FU Berlin und Drehbuch an der Berliner Filmhochschule. Heute arbeitet sie als Autorin für den Tagesspiegel und Die Zeit. Sie ist verheiratet und hat drei Töchter. Lasse ist ihr erster Roman.
Verena Friederike Hasel
Roman
Ullstein
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ISBN: 978-3-8437-1184-5
© 2015 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinUmschlaggestaltung: Büro für Gestaltung, Cornelia NiereUmschlagabbildung: © plainpicture/ Millennium/ Emilio Brizzi
E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Das erste Mal begegne ich Lennart im Krankenhaus. Mit schrecklichen Bauchschmerzen bin ich eingeliefert worden. Eine Blinddarmentzündung, ich solle gleich dableiben, sagt man mir, schiebt mich in den Operationssaal, und da steht Lennart im makellos weißen Kittel.
»Ich muss Ihnen den Blinddarm entfernen«, sagt er, »aber keine Sorge, es bleibt nur eine kleine Narbe und danach wird Sie nichts mehr plagen.« Als die Narkose zu wirken beginnt, ist er so dicht über mich gebeugt wie sonst nur die Männer, mit denen ich Sex habe, nur hat sich von denen noch keiner drum geschert, was mir innen drin weh tut.
Ein paar Tage nach der Operation habe ich mündliche Prüfung, Thema ist die Hohe Minne. »Deine letzte Chance«, hat mein Professor gesagt. Am Morgen der Prüfung sitze ich zu Hause am Küchentisch, vor mir siebzehn engbedruckte DIN-A4-Blätter. Alles, was dort steht, muss ich in zwei Stunden auswendig wissen. Ich schiebe das Papier beiseite und öffne den Laptop. Es dauert nicht lange, und ich habe Lennarts E-Mail-Adresse gefunden, ich kopiere sie in mein Mailprogramm und beginne zu schreiben. »Die Narbe heilt gut. Bald kann ich wieder in den Bikini.« Ich streiche das mit dem Bikini und schreibe es wieder hinein, setze eine Anrede dazu und lösche sie wieder, probiere, wie es klingt, wenn ich schreibe, ob wir mal zusammen ausgehen wollen, schaue das Kinoprogramm und die Spielpläne aller Theater durch, lese Opernkritiken und Ausstellungsrezensionen und frage am Ende, ob er mal was trinken gehen will, und als ich die Mail endlich abschicke, ist es so spät, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich es noch rechtzeitig zur Prüfung schaffe, und weil mein Professor Unpünktlichkeit auf den Tod nicht ausstehen kann, beschließe ich, besser gar nicht mehr hinzugehen.
Stattdessen klingele ich bei Sanne, doch sie ist nicht zu Hause, wie so oft, seit sie das Praktikum bei dieser Pharmafirma macht. Überhaupt ist das ganze Haus still, dabei ist es erst kurz vor elf. Im letzten Sommer hörte man um diese Tageszeit aus allen Wohnungen Musik, Electro aus der von Balz, Drum ’n’ Bass aus der von Tom und R ’n’ B aus Melanies, und aus den Brausen kam kaum Wasser, weil alle zur gleichen Zeit duschten. Danach trafen wir uns im Hof und frühstückten zusammen. In die Uni schafften wir es erst am Nachmittag. Bis vor einigen Monaten. Da fing es an, dass Balz schon frühmorgens in die Bibliothek fuhr, um für sein juristisches Staatsexamen zu lernen, und Sanne ganze Tage im Labor verbrachte, wo sie eine Versuchsreihe für ihre Abschlussarbeit machte. Auch die anderen haben tagsüber neuerdings oft zu tun, und anstatt uns zu sehen, schreiben wir uns nun Mails, zum Beispiel, wenn wieder mal ein Paket verschwunden ist.
Die Eltern der anderen schicken nämlich ständig Pakete, zu Weihnachten, Ostern oder einfach mal so, und ständig kommen sie abhanden, zuletzt eins für Sannes Geburtstag. »Schon wieder«, lautete die Betreffzeile der E-Mail, in der sie uns davon erzählte. Sie habe das Paket ihrer Mama auch nicht bekommen, schrieb Melanie zurück, und Julchen schrieb, dass man sich wirklich mal bei der Post beschweren müsse, und Till schrieb, dass es vielleicht gar nicht das Versagen der Post sei, wenn man bedenke, dass die Haustür nicht richtig schließe und jeder einfach so reinspazieren könne. »Wirst du etwa Spießer?«, schrieb Julchen zurück, und so ging es hin und her, bis von Sannes E-Mail-Adresse die automatische Rückantwort kam, dass sie im Urlaub sei. »Wo bist du denn? Und mit wem?«, mailte ich ihr, bekam aber wieder nur die automatische Antwort, dass sie verreist sei, und so etwas hatte ich von ihr noch nie bekommen, das klang ja fast, als bekomme sie wichtige E-Mails, dringende Nachrichten, die unbedingt beantwortet werden mussten, und nicht bloß Post von uns.
Ansonsten hatte ich die vielen Nachrichten gar nicht kommentiert. Überhaupt antworte ich eigentlich nie auf die Rundmails wegen der Pakete, genau wie Heiner, wobei er im Gegensatz zu mir auch auf andere Nachrichten nicht reagiert. Seinen E-Mail-Account hat er sich erst vor einem Dreivierteljahr von Balz einrichten lassen, weil der fand, das Haus brauche dringend einen E-Mail-Verteiler, den Lotte-Letter nennt er ihn, weil unser Haus wegen des Namens der Straße, in der es steht, bei uns nur die Lotte heißt, aber ob Heiner seine Mails überhaupt checkt, weiß ich nicht. Überhaupt weiß ich nicht viel über ihn.
Jetzt gerade ist er außer mir wahrscheinlich der Einzige in der Lotte. In diesem Sommer war er tagsüber fast immer im Hof, wo er Möbel abschleift, die Kaninchen füttert und in einer Wanne Bonsais züchtet, aber auch wenn ich gern Gesellschaft hätte, will ich nicht zu ihm runtergehen, denn Sanne und ich haben uns eigentlich immer nur über ihn lustig gemacht.
Die nächsten Tage kontrolliere ich meine E-Mails jede halbe Stunde, die Nachricht meines Professors lösche ich ungeöffnet, dafür lese ich Lennarts Doktorarbeit. Ich habe sie im Netz gefunden, »Langzeitergebnisse nach proximaler Humerusmehrfragmentfraktur: Osteosynthese vs. Humeruskopfersatz« ist das Thema, und ich verstehe rein gar nichts, aber es ist trotzdem schön, etwas zu lesen, das er geschrieben hat, und besonders gut gefällt mir die Danksagung, denn darin erwähnt er nur seine Mutter und sonst keine Frau.
Als am vierten Tag seine Antwort-Mail in meinem Postfach ist, schließe ich kurz die Augen und stelle mir vor, wie unser Wiedersehen ablaufen wird. Ganz leicht ist das nicht, schließlich habe ich keine Ahnung, worüber wir reden werden, wahrscheinlich muss ich seine Doktorarbeit vorher noch einmal lesen, aber auf jeden Fall wird er mir am Ende seinen Arm um die Schulter legen, und weil das so eine schöne Vorstellung ist und sie möglichst schnell wahr werden soll, öffne ich die Augen wieder. Lennarts E-Mail ist kurz. Sehr kurz sogar. Wenn man es genau nimmt, besteht sie nur aus einer Zeile: »das freut mich. leider habe ich gerade wenig zeit, sorry.«
Ist das eine Abfuhr oder nicht, ich bin mir nicht sicher. Einerseits fühlt es sich danach an. Andererseits kann es ja sein, dass er eigentlich Lust hat, mich zu sehen, und es trotzdem nicht schafft, schließlich ist er Arzt und muss Menschenleben retten, und ich lese die E-Mail wieder und wieder und dann rufe ich Sanne an, um ihr die Nachricht vorzulesen, denn so haben wir das immer gemacht, aber sie geht nicht ans Telefon.
Gerade als ein neuer Prüfungstermin angesetzt worden ist, meldet sich Lennart wieder. Ob ich immer noch Lust hätte, etwas trinken zu gehen, schreibt er, und eigentlich kann ich gerade keine Ablenkung brauchen. Mein Professor war ausnahmsweise mal richtig wütend, als ich nach der versäumten Prüfung in seine Sprechstunde kam, und es hat eine ganze Weile gedauert, bis er mich wieder mit diesem stillen Wohlgefallen angesehen hat, mit dem er mich sonst immer betrachtet.
Dass ich schön bin, habe ich etliche Male gehört, schön selbst in Situationen, die anderen nicht stehen, unangestrengt schön. »Man muss schon masochistisch veranlagt sein, um mit dir auszugehen«, sagt Sanne immer – oder zumindest hat sie das immer gesagt, als wir noch zusammen ausgingen. Aber ich glaube, eigentlich hat sie es genossen, mit mir unterwegs zu sein, weil ich meist auf der Gästeliste stand und sie, als ich mit dem Schauspieler geschlafen habe, nebenan wenigstens was mit seinem Freund hatte. Die Leute, mit denen sie jetzt ihre Abende verbringt, kenne ich nicht, ich weiß nur, dass sie oft essen gehen, nicht nur einen Döner oder Sushi, sondern richtiges Essen mit einem Gruß aus der Küche vorneweg und einer Nachspeise hinterher, und deshalb bin ich ganz überrascht, als Sanne an dem Abend, für den ich Lennart in die Lotte eingeladen habe, auch da ist. Überhaupt sind heute alle im Hof, ganz so, als sei keine Zeit vergangen und als hätte mich Sanne, die ich vor Jahren in der Mensa der Uni kennengelernt habe, gerade das erste Mal in die Lotte mitgenommen. Balz liegt in der Hängematte und dreht sich einen Joint, Heiner gießt seine Bonsais, Julchen schimpft darüber, dass Till seine Rostbratwürstchen zu ihren Tofuwürstchen auf den Grill getan hat, Melanie liegt im Gras und küsst einen Typen, der sich selbst als »Melanies aktueller Freund« vorstellt, und Sanne gibt Tom einen ihrer Pumps, weil er keinen Öffner für sein Bier hat. Und mittendrin sitzt Lennart mit Hosen, die nach unten hin enger werden und ein bisschen zu kurz sind, und ich sitze neben ihm und bin ganz froh.
»Schön habt ihr’s hier«, sagt Lennart mit einem Mal in die Runde, und da hören alle auf zu reden und schauen ihn an, wie er so wohlerzogen zwischen uns sitzt, als Einziger mit Plastiktüte unter dem Po. Balz kann bestimmt kaum an sich halten, da bin ich mir sicher. Er liebt es, über Leute herzuziehen, die er spießig findet, und wenn er erst einmal anfängt, sich über Lennart lustig zu machen, macht Tom garantiert mit, und dann ist alles schlimm. Aber zum Glück sagt Balz nur, ja, das stimme, wir hätten es wirklich schön, und Tom ruft: »Darauf trinken wir einen!«, und dann prosten wir uns mit unseren Bierflaschen zu und Balz rückt näher an Lennart heran. »Willst du die Geschichte der Lotte hören?«, fragt er, ganz so, als wolle er ein guter Gastgeber sein, und dann erzählt er, wie er das Haus in den Neunzigern fand, unsaniert und zu mieten für einen Appel und ein Ei, und wie er nach und nach immer mehr Leute nachholte, erst Sanne, die er noch aus Münster oder Wuppertal oder Saarbrücken kannte, wo genau er herkommt, will Balz nämlich nicht verraten, er macht daraus genauso ein Geheimnis wie manche Leute aus ihrem Alter, und dann Tom, der Architektur studierte. »Wisst ihr noch, wie er erst einmal die Statik der Balkone überprüft hat?«, fragt Balz in die Runde, und von da an beginnen die meisten Sätze so, »wisst ihr noch?«, und dann folgen Geschichten über jeden Einzelnen von uns und seinen Platz in der Gruppe.
Zum Beispiel, dass Melanie von den Veranstaltungen, auf denen sie in den Semesterferien als Hostess jobbt, immer haufenweise Give-aways in die Lotte mitbringt, mal Wasserbälle von der Tourismusbörse, mal eine ganze Tüte Stützstrümpfe vom Orthopädenkongress, und dass sie diejenige in der Lotte ist, zu der die Männer gehen, wenn mal das ansteht, was Balz einen Lackaffentermin nennt, und sie eine Krawatte brauchen, weil Melanie für solche Gelegenheiten extra eine in ihrem Kleiderschrank aufbewahrt, eine Lotte-Gemeinschaftskrawatte sozusagen, und sie auch die Einzige ist, die weiß, wie man das Ding bindet. Und dass Julchen und Till sich zwar ständig streiten, aber beide so gern kochen, dass sie irgendwann beschlossen haben, jeden ersten Donnerstag im Monat ein dreigängiges Menü in der Lotte anzubieten, und dass anfangs nur Freunde kamen, aber dann auch Freunde von Freunden und inzwischen sogar Fremde, so viele, dass Julchen und Till seit ein paar Monaten Geld von ihren Gästen verlangen, fünfzehn Euro pro Person, zu entrichten in eine kleine Pappschachtel mit der Aufschrift »Spende für den Verein Lotteküche«, weil Balz Julchen und Till gesagt hat, dass es auf keinen Fall so wirken dürfe, als ob sie ein Restaurant betrieben, so etwas sei ohne Gewerbeschein und Ausschanklizenz nämlich verboten. Und während dieser Geschichten geht der Joint herum, selbst Lennart nimmt ihn nach kurzem Zögern, ich wende Würstchen und denke mir, dass so oder so ähnlich ein Familienfest sein muss, und als der Himmel schwer und dunkel wird, lege ich mich ins Gras, das schon herbstklamm ist, lasse die Stimmen über mich hinwegmurmeln und schließe die Augen.
Irgendwann kommt der Moment, auf den ich insgeheim gewartet habe. »Und wisst ihr noch, wie Nina diese Polizisten, die unsere Hofparty auflösen wollten, von wegen Lärm und so, becirct hat? Der eine wäre am liebsten gleich dageblieben!«, sagt Sanne, die gute Sanne, auf sie ist eben doch Verlass, und dann erzählt sie, wie ich den einen Polizisten, der sagte, unsere Feier sei zu laut, einfach unterbrach und sagte, er sähe so stark aus, ob er mir nicht helfen könne, den Tisch aus meiner Wohnung nach unten zu tragen, und er erst ganz perplex war, dann aber tatsächlich mit in meine Wohnung kam, erst den Tisch runterschleppte und dann auch noch Stühle und Bierkästen. Und Balz, Melanie und die anderen ergänzen Sannes Worte, sie reden durcheinander und wenden sich dabei an Lennart, der gar nicht weiß, in welche Richtung er zuerst nicken soll, und als sie fertig erzählt haben, schauen sie ihn erwartungsvoll an, und Lennart nickt erst Sanne und dann mir zu. »Toll«, sagt er, und als ihn alle weiter anschauen, als ob sie immer noch nicht zufrieden sind, da legt er seine Hand auf meine.
Später will Lennart noch meine Wohnung sehen. Vor dem großen Bücherregal bleibt er stehen. »Wow«, sagt er, »wow. So viele Bücher. Welches kannst du denn empfehlen?« Ich nehme das nächstbeste zur Hand und lese ihm die erste Seite vor. Er setzt sich so dicht neben mich, dass ich sein Parfum riechen kann, dann will er mehr hören, dabei am besten liegen, und es wird gerade richtig schön, da sagt er, nun müsse er aber dringend los. »Darf ich mir das Buch mal ausleihen?«, fragt er noch, und ich sage ihm nicht, dass all diese Bücher von meiner Mutter sind und ich sie deshalb eigentlich nie verleihe, ich sage ihm auch nicht, dass ich keins von ihnen so richtig gelesen habe, selbst das nicht, was ich ihm empfohlen habe, sondern immer nur schaue, was meine Mutter in die Bücher hineingeschrieben hat. Manchmal sind es nur Ausrufezeichen und Unterstreichungen, manchmal stehen aber auch Buchstaben und Kürzel am Rand, und dann gibt es noch Stellen, die dick unterstrichen und mit Ausrufezeichen versehen sind und von denen ich glaube, dass meine Mutter bei ihnen vielleicht an mich gedacht hat.
Würde mich freuen, wenn wir uns wiedersehen, hat Lennart zum Abschied gesagt, und weil er das so gesagt hat und ich weiß, dass er den Rest der Woche Nachtdienst hat, fahre ich gleich am nächsten Abend ins Krankenhaus. Lennart sitzt mit zwei Kollegen in der Küche, der eine hat einen Hintern, der platt und breit ist wie ein Autoreifen, aus dem die Luft herausgelassen wurde, der andere spillerige, feuchte Finger, die er sich ständig an der Hose abwischt. Ich habe mir Smokey Eyes geschminkt und trage die schwarzen Stiefel, die Sanne immer meine »Fick-mich-Stiefel« genannt hat. »Die beiden sind bestimmt ganz neidisch auf mich«, flüstert Lennart, als wir in sein Dienstzimmer hinübergehen, und weil ich wie immer, wenn mir ein Mann so richtig gut gefällt, nicht weiß, was ich sagen soll, sage ich gar nichts, sondern ziehe mir stattdessen den Pulli über den Kopf.
»Nina, nicht, hier kann doch jeden Moment jemand reinkommen«, sagt Lennart. Aber ich will mich nicht wieder anziehen und vor ihm sitzen und nach einem Gesprächsthema suchen müssen und schiebe ihn deshalb Richtung Wand. »Nina, wir sollten wirklich«, beginnt Lennart noch einmal. »Du willst es doch besorgt bekommen«, unterbreche ich ihn und greife dorthin, wo ich unter dem Kittel seinen Schwanz vermute. Er stöhnt, und ich knöpfe zuerst seinen Kittel und dann seine Hose auf, schiebe sie runter, um an seinen Schwanz zu kommen, aber kriege sie nicht gleich über seine Oberschenkel. Weiß und massig sind sie, und ich denke, dass das die Sorte Männerkörper ist, die auch kleine Eiterpickel auf den Pobacken hat, und das rührt mich so, dass ich flüstere: »Lass mich an deinem geilen Schwanz lutschen«, und da richtet sich sein Schwanz auf, und ich knie mich mit einer federnden Bewegung nieder.
Lennarts Schwanz riecht nach abgestandenem Urin, ich kämpfe gegen eine kleine Übelkeit an und nehme ihn dann so tief in meinen Mund, dass er dort anlangt, wo es weh tut, wenn ich eine Mandelentzündung habe. Lennart stöhnt lauter, und ich beginne Hand und Mund im Rhythmus zu bewegen, und jedes Mal, wenn ich meine Lippen erneut über die Schwanzspitze stülpe, überlege ich mir eine Sache, die ich ab morgen anders machen will. Nicht mehr ganze Vormittage im Internet surfen. Regelmäßig in die Uni gehen. Nicht mehr lügen. Nicht mehr mit meinem Professor schlafen. Nicht mehr Sannes Tagebuch lesen. Nicht mehr die Pakete der anderen öffnen. Und ich bin noch gar nicht zu den wirklich wichtigen, wirklich schlimmen Sachen gekommen, da wird aus Lennarts Stöhnen ein Japsen, sein Schwanz verdickt sich, und ich bereite mich auf den üblen Geschmack vor, der sich gleich ausbreiten wird in meinem Mund, schlucke einmal, schlucke zweimal und lecke dann die Blutwülste auf Lennarts Schwanz ab, als könne ich nicht genug bekommen von seinem Sperma.
Danach lehnt sich Lennart mit dem Rücken an die Wand und schließt die Augen. Ich schmiege mich an seine Beine und denke an diesen Satz, den ich irgendwo einmal gelesen habe und den ich so gern einmal zu jemandem sagen würde: »Liebster, ich berge meinen Kopf in deinem Schoß.« Vielleicht kann ich ihn ja bald zu Lennart sagen, und gerade als ich mir das vorstelle, kommt Bewegung in seinen Körper. Die Hose noch heruntergelassen, geht er zum Waschbecken, seift sich Eier und Schwanz ein, bis sie schäumen, und dabei schnaubt und räuspert er sich die ganze Zeit, Männlichkeitsgeräusche nach erledigter Arbeit. Als er die Hose wieder hochzieht, spannt sie an seinem Bauch, aber er gibt sich keine Mühe, das vor mir zu verbergen. Vielleicht merkt er es auch gar nicht, so beschäftigt ist er mit Handgriffen, die ihm wohlvertraut sind und mich ausschließen, und ich wünschte, ich hätte ihm den Höhepunkt verweigert.
»Brauchst du eins?«, fragt er und hält mir ein Kleenex entgegen. »Nein«, sage ich. Lennart streicht mir über den Kopf, so beiläufig, als geschehe es aus Versehen, hebt meinen Pulli vom Boden auf und streckt ihn mir hin wie vorher das Kleenex. Ich ziehe ihn über den Kopf, dann stehen wir angezogen und stumm voreinander. »Na«, sagt er nach einer Weile, und weil mir nichts anderes einfällt, antworte ich: »Ich habe einen Krampf im Bein.« Nun ist er es, der sich niederkniet. Er öffnet meine Stiefel, zieht meine Strumpfhose runter und massiert meine Wade, es ist das erste Mal, dass er meinen Körper richtig berührt, und ich schließe die Augen. »Das habe ich ganz oft«, flüstere ich, und jetzt könnte er erwidern, dass er mich dann wohl von heute an häufig massieren müsse oder sonst etwas Zukunftsweisendes, aber das tut er nicht.
»Du musst was gegen deinen Magnesiummangel unternehmen«, sagt er stattdessen, lässt mein Bein schon wieder los und durchquert den Raum. Der Kittel weht, der Moment, in dem alles zu sehen war, die hängenden Eier, die schweren weißen Beine, ist lang vorbei. Lennart öffnet einen Schrank, nimmt Tabletten heraus, löst eine davon in Wasser und bringt mir das Glas. Ich umschlinge ihn. »Das war so schön vorhin«, flüstere ich, »das machen wir ganz bald wieder, ja?«, und atme in seine Halsbeuge. Lennart rückt ein Stück von mir ab. »Na, ich hab doch zu danken«, sagt er, und in diesem Satz ist so wenig Gefühl, dass ich mir wieder ans Bein greife. Aber Lennart ist schon auf dem Weg zu seinem Computer. Bei einer lang geplanten Studie seien Probanden abgesprungen, sagt er, als er ihn hochfährt, sehr ärgerlich, darum müsse er sich jetzt kümmern. »Soll ich dir Gesellschaft leisten?«, frage ich. »Ich kann ja hier auf der Liege schlafen.« Lennart lächelt, aber ich weiß nicht, ob dieses Lächeln mir gilt, denn er schaut dabei auf den Bildschirm und antwortet so langsam, als lese er gerade etwas. »Du bist ja lieb …, aber geh mal besser nach Hause.«
Ich setze ein Bein vors andere, so langsam wie möglich, aber zur Tür ist es trotzdem nicht weit, und als ich dort angekommen bin, fixiert Lennart immer noch den Computer. Vielleicht liest er gerade die E-Mail einer anderen Frau, vielleicht empfängt er hier regelmäßig Patientinnen. »Also, man sieht sich«, sage ich und drehe mich weg, Richtung Tür, da steht Lennart mit einem Mal hinter mir. »Hey, alles ok?«, fragt er und umfasst mich von hinten, seine Hand liegt auf meiner Hüfte, schön sieht sie da aus. Nun könnte doch noch alles gut werden. »Nimm meinen Schlüssel und warte zu Hause auf mich«, könnte er sagen, »dann frühstücken wir zusammen, wenn ich hier fertig bin, und morgen frühstücken wir auch zusammen und übermorgen auch und überübermorgen auch«, und für jeden weiteren Tag unserer Zukunft könnte er mir einen Kuss geben, aber sein Telefon klingelt, er deutet bedauernd auf den Apparat, flüstert: »Das war der Wahnsinn mit dir, wir sprechen bald«, und geht dann ran.
Ich laufe den Krankenhausflur hinunter Richtung Ausgang. Alles ist hell erleuchtet und riecht nach Sauberkeit, und all die Worte, die hierher gehören und die Lennart und seine Kollegen vorher in der Stationsküche benutzt haben wie Nachtdienst und Rufbereitschaft, klingen so beruhigend nach Menschen, die immer da sind und nie nachlassen in ihrer Aufmerksamkeit.
Seinen Schwanz steckt Lennart fünf Tage später in mich rein. Dieses Mal sind wir in seiner Wohnung und liegen auf dem flauschigen Teppich direkt vor dem Glasregal mit der medizinischen Fachliteratur. Er habe schon immer Arzt werden wollen, sagt er, dann lasse ich ihn in mich eindringen. Ich tue Dinge, die er augenscheinlich nicht kennt. »Mein Gott, Nina«, sagt er, »oh mein Gott«, und als ich ihm später, als wir fertig sind, die Augenbinde wieder abnehme, sagt er meinen Namen noch einmal. »Nina.« Und: »Was willst du bloß mit einem wie mir?« Dieser Satz klingt endlich so, als könne daraus das Gespräch werden, nach dem ich mich sehne, ein Gespräch, in dem seine Gefühle vorkommen, stattdessen steht er auf, um sich zu waschen, und ich breite die langen Fransen des weichen Teppichs auf meinem Bauch aus.
Später ruft er mich in die Küche. Alles ist weiß und rein und verschwindet hinter Schranktüren, außer der Kaffee-, der Eis- und der Küchenmaschine, die auf der Arbeitsfläche stehen. Mit der Küchenmaschine macht Lennart nun ein Pesto, und ich lasse in der Zwischenzeit die Nudeln verkochen. »Macht doch nichts«, sagt Lennart, gibt mir einen Kuss und nimmt sich sogar eine zweite Portion von den viel zu weichen Nudeln, und da erzähle ich ihm, wie ich als Kind davon träumte, Spaghetti bolognese auf einem Picknicktuch mitten im Wohnzimmer zu essen. Ich bin mittendrin, ihm zu schildern, was für eine Decke es sein sollte, nämlich eine karierte, und es ist gut möglich, dass ich ihm sogar von meiner Mutter erzählt hätte, irgendwie ist mir fast ein bisschen danach zumute, weil er mich mitten beim Essen geküsst hat und es keiner dieser Küsse war, mit denen Männer nur ihren Schwänzen den Weg bereiten, sondern einfach so richtig ein Kuss zwischendurch, und er außerdem auch gar nicht böse war, dass ich die Nudeln verdorben habe, aber er sagt: »Moment mal« und geht hinaus. Ich höre ihn rumoren, dann ruft er: »Kommst du mal?«, und als ich ins Wohnzimmer gehe, liegt dort eine Picknickdecke auf dem Boden. Lennart fängt an, zwischen Küche und Wohnzimmer hin und her zu gehen, holt Teller, Gläser und sogar eine Kerze. »Setz dich doch«, sagt er, »setz dich«, und das tue ich, aber muss dann weinen und kann nicht mehr aufhören. Als ich es schließlich doch schaffe, ist die Kerze fast heruntergebrannt. »Macht doch nichts«, sagt Lennart schon zum zweiten Mal an diesem Abend, will dann aber schnell schlafen gehen, und ich kann nichts anderes tun, als es ihm noch einmal mit dem Mund zu machen. »Nina«, murmelt er da wieder, »Nina«, so als sei mein Name eine Verheißung.
Man soll es ja genießen, dieses Herzklopfen und die erste Zeit, aber ich weiß einfach nicht, wie. Inzwischen kennen Lennart und ich uns seit siebeneinhalb Wochen, und noch immer hat er mir nicht gesagt, was das ist mit uns, und sehen tun wir uns auch nicht besonders oft, vor allem seit sich Lennarts Wunsch erfüllt hat und er auf eine andere Station gewechselt ist, wo er nun noch mehr arbeitet als zuvor.
Neulich, als ich es vor Sehnsucht nicht mehr ausgehalten habe, bin ich wieder zum Krankenhaus gefahren, wurde auf dem Gang aber von einem Pfleger aufgehalten. Da könne ja jeder kommen, hat er gesagt, und Lennart, der ihm hätte sagen können, dass ich nicht jeder bin, war nirgendwo zu sehen. Als ich Lennart später davon erzählte, sagte er nur, dass auf der neuen Station eben andere Regeln gelten würden, noch nicht einmal den Namen des Pflegers wollte er wissen, dabei hatte ich ihn mir extra gemerkt, weil ich mir sicher war, dass Lennart ihn zur Rede stellen würde.
Zu unserer letzten Verabredung vor fünf Tagen ist Lennart eine Viertelstunde zu spät gekommen, und zwanzig Minuten später hatten wir schon fertig miteinander geschlafen, Lennart fragte, ob ich nicht noch was für die Uni tun müsse, und setzte sich selbst an irgendeinen Artikel für ein Fachjournal, »ein wichtiges Paper«, sagte er. Für heute habe ich vorgeschlagen, dass wir erst einmal essen gehen, und Lennart ist sechsundzwanzig Minuten zu spät gekommen, hat mir zur Begrüßung einen staubtrockenen Kuss auf den Mund gegeben, und nun fischt er mit den Stäbchen nach einer der Teigtaschen in seiner Brühe. Meine Hand liegt unberührt neben seiner, und ich habe das Gefühl, dass dringend etwas passieren muss.
»Vielleicht gehe ich für ein Jahr nach Frankreich«, sage ich. »Echt?«, fragt Lennart und erwischt eine Teigtasche. »Kannst du denn Französisch?« – »Nein, deshalb will ich ja hin«, sage ich. Lennart nickt und seufzt, weil ihm die Teigtasche wieder zwischen den Stäbchen herausgeflutscht ist. »Die Provence ist sehr schön«, sagt er und macht weiter mit seiner Fischerei, als gäbe es nichts Wichtigeres an diesem Tisch. »Vielleicht gehe ich schon sehr bald«, sage ich, und da endlich legt Lennart die Stäbchen beiseite. Jetzt hat er seine Hände frei und könnte nach meinen greifen, stattdessen nimmt er eine Gabel und sticht mit ihr in die Teigtasche. »Aber nicht jetzt sofort, oder? Denn vorher solltest du das hier dringend noch probieren«, sagt er und hält mir die Gabel entgegen, an deren Zinken die Teigtasche aufgespießt ist. »Nein, danke«, sage ich, »und außerdem, ich habe nicht viel Zeit heute, ich muss nach Hause und lernen.«
Die Autofahrt zurück ist voller Einsilbigkeiten, Lennart schaut größtenteils auf die Straße und ich schaue aus dem Fenster, und weder am nächsten noch am übernächsten Tag höre ich etwas von ihm. Damit ich nicht in Versuchung komme, ihn anzurufen, lösche ich seine Nummer aus meinem Handy, treffe sogar eine andere Verabredung, sage sie dann aber im letzten Moment ab und rufe mir ein Taxi. Als Lennart die Tür zu seiner Wohnung öffnet, ist es hinter ihm hell und licht, der Computer ist an, und auf dem Tisch steht ein Glas Wein. Er kann auf eine Weise allein sein, wie ich es nicht vermag. Er muss ein Geheimnis haben.
Als am nächsten Morgen der Wecker klingelt, rühre ich mich nicht, und auch als Lennart an mir rüttelt, bleibe ich liegen. Irgendwann klappt die Wohnungstür zu, und ich stehe auf und öffne die einzige Tür in Lennarts Wohnung, die immer geschlossen ist. Das Zimmer dahinter ist klein, an der Wand stehen Umzugskartons und ein Regal mit neonfarbenen Ordnern und Karteikästen, und ganz oben, ein bisschen nach hinten geschoben, ist eine kleine Schatulle mit einer silbernen Schnalle.
Als ich sie öffne, bin ich einen Moment lang enttäuscht. Meine Erinnerungskiste zu Hause quillt über, allein die Dinge, die mit Lennart zu tun haben, seine Doktorarbeit, seine E-Mails, die ich mir ausgedruckt habe, die Restaurantquittungen, füllen sie bis unter den Rand, alles andere musste ich in zwei Schuhkartons auslagern. Lennarts Schatulle ist dagegen gerade mal zur Hälfte gefüllt. Um der Chronologie willen fange ich unten an, dort liegen meist die ältesten Sachen, habe ich festgestellt, und bei Lennart ist es ein Brief seiner Mutter. »Deine Doktorarbeit hat einen Ehrenplatz im Regal bekommen, wir sind alle so stolz und reden pausenlos von Dir«, steht darin. Darüber finde ich einen Bierdeckel mit Unterschriften, ein Foto von vielen Menschen in weißen Kitteln und eine Postkarte. Ein Sandstrand, eingefasst von Palmen, auf der Rückseite: »Lenni«, in Schnörkelbuchstaben geschrieben, und ein großes Herz. Wie schön das sei, keine Gefäßwandspannungs-Berechnungen mehr, keine Fragen zum holokrinen Sekretionsmodus, dafür Costa Rica, das Meer und viele Cocktails. Aufs Wiedersehen freue sie sich sehr, abholen müsse er sie nicht, Larissa setze sie ab, sie lasse auch grüßen, »viele Küsse, Deine Puck«. Von solchen Karten gibt es noch etliche mehr, unterzeichnet sind sie mit Puck oder Elisabeth und einige Male mit »dein Schatz«, vorne drauf sind Strände, Berge und Wüsten und hintendrauf Sätze, die in leichtem Ton vor sich hin plaudern, bis kein Platz mehr ist. Wie kann man so viele Karten schreiben, über so viele Jahre, ohne dass es je um Probleme geht? Dafür kehrt ein anderer Satz immer wieder. Sie seien auf einem Basar gewesen und am Stand mit den Hüten, da habe sie einfach zuschlagen müssen, »Du weißt ja, wie ich bin mit Hüten«. Oder sie habe einen schrecklichen Sonnenbrand, weil sie beim Beachvolleyball die Zeit vergessen habe, »Du weißt ja, wie ich bin auf dem Feld«. Oder sie habe in Indien im Bus über Land ein hinreißend süßes Mädchen in zerrissenen Kleidern gesehen, »Du weißt ja, wie ich bin mit Kindern«. Irgendwo zwischen all den Karten finde ich auch ein Foto. Zwei Frauen sind darauf zu sehen. Die ältere, die Lennarts Augen hat, wird umarmt von der jüngeren, die eine Pelzmütze trägt, es schneit, und beide lachen in die Kamera. Ich stecke das Foto in meine Unterhose und stelle die Schatulle zurück ins Regal.
»Du weißt ja, wie ich bin.« Es gibt keinen Zweifel, dass Lennart und Puck eine Sache sind und er und ich eine andere. Von Puck wusste Lennart alles, von mir weiß er nur, dass ich ein Loch zwischen den Beinen und immer Zeit für ihn habe. Niemals liegt er nachts wach und betrachtet mich, wenn es anders wäre, hätte ich es mitbekommen, so oft wie ich ihn anschaue in der Nacht. Und was ich alles weiß über ihn. Dass er seine Schuhe auf dem Flur geraderückt zum Beispiel, ganz egal, wie sehr er in Eile ist, dass er mit dem kleinen Finger in der Nase bohrt, wenn er Papers schreibt, die Popel kurz mustert und dann verspeist, bei der Arbeit ehrgeizig ist, beim Sex manchmal Schluckauf bekommt und Gerhard Richter und die Schweizer Berge mag. Und Puck wahrscheinlich, Puck mehr als alles andere.
Das Bild von ihr und Lennarts Mutter lege ich zu Hause auf den Klappstuhl neben mein Bett und betrachte es jeden Abend vor dem Einschlafen. Und obwohl ich es mir so oft anschaue, entdecke ich mit der Lupe manchmal noch neue Details, zum Beispiel die winzigen Perlenohrringe, die Puck unter ihrer Pelzmütze trägt. Wenn ich dann später das Licht ausknipse, stelle ich mir meine erste Begegnung mit Lennarts Mutter vor. »Was für ein außergewöhnlich schönes Mädchen«, würde sie Lennart gleich nach dem Händeschütteln zuflüstern, dann würden wir gemeinsam essen, später spazieren, die Mutter würde mich nach meiner Familie fragen und ich würde erzählen, bis sie mich in den Arm nähme. »Das wusste ich ja gar nicht, das ist ja furchtbar«, würde Lennart ganz erschrocken sagen und wieder zu Hause, würde seine Mutter ihn beiseitenehmen und dafür tadeln, dass er nie nachgefragt hat. »Deine Nina ist nicht nur bildschön, sondern auch sehr tapfer. Wirklich ein ganz anderes Format als Puck«, würde sie zu ihm sagen, und mich würde sie zum Abschied fest umarmen und bitten, bald wiederzukommen.
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