Das Labyrinth von Ragusa - Gisbert Haefs - E-Book

Das Labyrinth von Ragusa E-Book

Gisbert Haefs

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Beschreibung

Eine gefährliche Reise quer durch das aufgewühlte Europa des 16. Jahrhunderts

Venedig 1538: Nach blutigen und bewegten Jahren, in denen Jakob Spengler die Mörder seiner Eltern suchte, sind Friede und Sesshaftigkeit ein willkommenes Geschenk für ihn. In der Lagunenstadt hat er sich mit seiner Frau Laura und den gemeinsamen Kindern ein neues Leben aufgebaut. Doch dann dringt der Admiral des osmanischen Sultans mit einer mächtigen Flotte im westlichen Mittelmeer vor und bringt Venedigs Seehandel zum Erliegen. Die Venezianer sind in einer verzweifelten Lage; sie benötigen genaue Informationen über die Vorgänge auf dem Balkan. Da erhält Jakob Spengler den Auftrag, nach Ragusa, dem heutigen Dubrovnik, zu reisen, um dort dem rätselhaften Schicksal einiger verschollener Mittelsmänner auf die Spur zu kommen. Und im Labyrinth der Hafenstadt stößt Spengler auf den Mann, der einst der Drahtzieher für die Ermordung seiner Eltern war …

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Seitenzahl: 405

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Inhaltsverzeichnis

EINS - Ein guter Tag zum SterbenZWEI - Venezianische MaskenDREI - Abschied und AufbruchVIER - Schiffe und FischeFÜNF - Musik und MordSECHS - Die Wächter von DubrovnikSIEBEN - Klänge und FragenACHT - Bronze, Zimt und HemmnisseNEUN - Neue Fragen und eine BotschaftZEHN - Ein alter FreundELF - Die Geheimnisse der MusikerZWÖLF - Einladung zu einem FestDREIZEHN - Seltsame SpieleVIERZEHN - Die Vorzüge der FluchtFÜNFZEHN - Der Weg nach Herceg NoviSECHZEHN - Ferman, Pfeil und BogenSIEBZEHN - Kassem ben AbdullahACHTZEHN - Zwei Degen in PristinaNEUNZEHN - Berge, Schreiber und andere HindernisseZWANZIG - Das Ende des Mauren OteroEINUNDZWANZIG - Zurück ins LabyrinthZWEIUNDZWANZIG - Ein Harem in TrebinjeDREIUNDZWANZIG - Steine und KlingenVIERUNDZWANZIG - Wunde und WünscheFÜNFUNDZWANZIG - Ein ehrenhafter HandelSECHSUNDZWANZIG - Der Untergang des RegimentsSIEBENUNDZWANZIG - Die Schlangengrube von OrebićCopyright

EINS

Ein guter Tag zum Sterben

Dies ist ein guter Tag zum Schreiben. Grauer Himmel, ein Herbststurm über der aufgewühlten Meerenge, Wind, der den Regen fast waagerecht gegen das Fenster weht – ein Tag für Feuer und warmen Würzwein. Auf dem Markt hieß es gestern, weiter nördlich auf dem Festland fürchte man, es werde bereits jetzt, Mitte Oktober, den ersten Schnee geben.

Vor Jahren hörte ich einen Dichter sagen, schreiben sei immer auch ein wenig sterben. Er könnte heute sagen, es sei ein guter Tag zum Sterben. Inzwischen ist er tot und weiß es vielleicht besser, falls es denn irgendein Jenseits gibt, in dem jemand noch etwas wissen kann. Ich habe getötet und bin mehrmals beinahe gestorben, und nun, da ich dies aufzeichne, glaube ich, der Poet war ein Trottel. Aber er schrieb ja, wie er sagte, mit Herzblut. Wahrscheinlich schrieb er auch nur auf gegerbter Hirnhaut. Und allein, um zu schreiben.

Ich nehme Papier und Tinte. Nur Narren schreiben für ... nichts. Und da sie für nichts schreiben, kennen sie nichts, das wichtiger wäre. Schreiben für die Liebe einer Frau, für Geld, um Wissen zu hinterlassen, meinethalben zur Ehre eines mutmaßlichen Gottes, zum Ruhm der Sippe, der Stadt oder des Reichs, all dies, ja, aber schreiben, um zu schreiben? Und selbst wenn, wäre es dann nicht eher ein Zeugen als ein Sterben? Vielleicht bin ich einfach nicht Narr genug, oder zu sehr Trottel.

Schreiben vor dem Sterben, um etwas zu hinterlassen. Es ist a Oktober; mein Tod ist für den frühen November angekündigt. Sie werden kommen, das ist gewiß; irgendwann zwischen dem ersten und zehnten November, abhängig vom Wetter und den Straßen oder dem Seegang. Die Aussicht auf Wegelagerer oder einen Schiffbruch, die Hoffnung auf ein Messer in der Nacht oder über die Maßen gefräßige Bohrwürmer? Erdbeben, Schlangenbisse, stürzende Felsen, ein Schlagfluß? Nichts ist unmöglich, aber man kann den Zufall nicht berechnen – den Zufall, der auch den kostbarsten aller Schätze treffen müßte, der sich in der Gewalt des Feindes befindet. Daher hoffe ich, daß ein anderer Zufall diesen Zufall verhindern möge, und ich verlasse mich lieber auf die Verheißung, die berechenbare Drohung. Ich werde Vorkehrungen treffen, so gut es geht; mehr kann ich nicht tun.

Deshalb schreibe ich dies. Es gibt den ersten Bericht, den ich vor Jahren für Lorenzo Bellini und die Archive der Serenissima angefertigt habe; eine Abschrift davon liegt in einer Truhe des Hauses in Mestre. Dies hier ist nicht für Bellini und Venedig; es ist für Laura und natürlich für die Kinder, falls sie einmal wissen wollen, was ihr Vater tat und dachte. Warum er unter diesen Umständen starb. Gestorben ist. Sterben wird. So nah einer venezianischen Festung, so fern von ihnen. Der alte Goran hält mich für eine besondere Art von Trottel, den ehrenhaften Affen, wie er es nennt; er wird jedoch zusehen, daß dies hier in die richtigen Hände gelangt. Ich hoffe, ich habe ihm genug dafür bezahlt; aber das wird er mir schon mitteilen.

»Affe«, sagte er gestern abend, als wir übers Meer in den Sonnenuntergang blickten und tranken.

»Du wiederholst dich«, sagte ich.

Er rieb die Falten um seinen Mund, als wolle er sie vertiefen. »Was richtig ist, kann man nicht oft genug wiederholen. Warum verbirgst du dich nicht? In Deutschland, Frankreich, England, wo auch immer?«

»Sie würden mich auch dort finden. Und auf dem Weg dorthin würden sie viele andere töten. Meine Frau, meine Kinder, dich.«

»Ah, sorg dich nicht um mich; ich sterbe sowieso bald. Hoffentlich reich. Und Frau und Kinder?« Er hob die Schultern. »Such dir eine andere Frau und mach mit ihr neue Kinder. Niemand ist unersetzlich.«

»Sie sind einzigartig, und sie hätten es nicht verdient, meinetwegen zu sterben.«

»Einzigartig?« Er kicherte. »Jeder ist einzigartig, du, sogar ich. Und deshalb sind wir auch alle gleich, in der Einzigartigkeit. Warum bist du nicht bei ihnen geblieben, statt diese dumme Reise anzutreten? Nur, um mich zu bezahlen?«

»Das habe ich dir doch schon erklärt. Fünfmal, zehnmal oder noch öfter.«

»Auch beim nächsten Mal würde es nicht sinnvoller.«

In dieser Nacht konnte ich kaum schlafen. Es lag sicher nicht an Gorans Äußerungen; die Fragen, die er aufwarf, hatte ich mir selbst schon zu oft gestellt, als daß ich deshalb schlaflos bliebe. Vielleicht lag es am Vollmond über der schmalen Wasserstraße, die Orebić, das die Venezianer (wie die ganze Halbinsel Pelješac) Sabbioncello nennen, vom immer noch venezianischen Curzola trennt. Goran sagt »Korcula« und verflucht Venedig. Venedig, trotz aller Rückschläge immer noch mächtig, drüben gewissermaßen zu sehen, in Reichweite und doch für mich unerreichbar.

Keine zwei Jahre sind vergangen, seit Bellini mich Anfang 1538 in der Druckerei aufsuchte. In der Geschäftsstube, genauer. Aus den Werkräumen drang das übliche Gemenge aus Gemurmel, Rascheln und Klappern. Es roch nach Staub, Leim und Farbe. Bellini schnüffelte, als wolle er die Gerüche zerlegen und feststellen, ob nicht darunter doch ein Hauch von Wein sei. Er musterte die Stapel frischer Bögen, die ich am Vortag mit dem Boot von der Papiermühle in Mestre hergebracht hatte, sah mich an und deutete auf einen Stuhl.

»Ist das der Platz für unerwünschte Gäste?«

»Wieso unerwünscht? Selten, aber nicht unwillkommen. Setz dich.«

»Du weißt ja nicht, was ich von dir will.«

»Ich habe es zu einer gewissen Geläufigkeit im Neinsagen gebracht.«

Er lachte und ließ sich nieder. »Das stimmt. Beim ersten Mal hier warst du nicht sehr gesprächig, aber dafür hast du prächtig geblutet.«

»Unsere Vorstellungen von Pracht sind ziemlich verschieden. Wein?«

Er nickte, und während ich zum Regal ging, dachte ich an jenen ersten Besuch – an die beiden Totschläger in der dunklen Gasse, an die Verletzungen, den Weg zu Lauras Druckerei, gestützt auf Bellini, der einen Brustpanzer trug, Lauras Hände und das blutbesudelte Papier auf dem Boden ... Ich zog den umwickelten Holzpfropfen aus der Flasche und goß zwei Becher voll.

»Was führt dich her?«

Bellini trank einen Schluck. »Sollen wir nicht zuerst noch ein bißchen um die Dinge herumreden?«

Ich schüttelte den Kopf. »Schluck den Wein und spuck die Wörter.«

»Na gut.« Er machte eine Pause, als müsse er Wörter wägen und zählen. »Die Serenissima ist in Gefahr und bedarf deiner Hilfe«, sagte er dann.

»Die Serenissima hat mehr als genug tüchtige Hände. Nicht zuletzt deine.«

Er grunzte leise. »Meine werden hier gebraucht. Und dort, wo deine kräftigen Finger viel Gutes tun könnten, haben wir keine Hände.«

Ich lehnte das Gesäß an die Tischkante. »Wo hättet ihr denn keine Hände? Eure Pfoten sind doch überall, von England bis Armenien.«

»Irgendwo dazwischen gibt es ein paar Gegenden, aus denen wir die Hände haben zurückziehen müssen.« Er betrachtete seine Finger; dann strich er sich mit der Rechten das üppige Haar aus der Stirn.

»Zum Beispiel wo?«

Er seufzte. »Kannst du dir wohl denken. Du weißt doch, was um das Meer herum geschieht.«

»Es war ja lange genug ruhig.«

Im Rückblick erscheint es mir beinahe unglaubwürdig, daß so lange so wenig geschehen sein soll und danach in so kurzer Zeit so viel. Als ich den ersten Bericht für Bellini beendete und mein Heim fand, war der Herbst des Jahres 1531 schon fast vorüber. Laura nahm mich auf, die Kinder mußten sich an mich gewöhnen – den Vater, den sie nie zuvor gesehen hatten. Und ich gewöhnte mich an waffenlose Seßhaftigkeit, an eine Familie, an Geschäfte und venezianische Umgangsformen.

Laura war damals achtundzwanzig, jung und strahlend; ich war siebenundzwanzig und fühlte mich wie fünfzig, aber mit jedem Monat in ihren Armen fiel ein Jahr der Plagen und des Mordens von mir ab – ein Vorgang der angenehmen Verminderung, de zum Glück endete, ehe ich rückwärts hüpfend das Knabenalter erreichte. Die Zwillinge wurden im Oktober 1531 zwei Jahre alt; ich habe irgendwann ausgerechnet, wann wir gleichaltrig sein würden, wenn meine innere Verjüngung weiterginge, weiß aber nicht mehr, zu welchem Datum ich gelangte.

Fast sechzigtausend Goldgulden hinterließ mir mein Vater bei den Fuggern und Welsern. Ich hatte alles von Augsburg nach Venedig übertragen; in Zechinen umgerechnet, waren mir nach den Jahren der Reisen und der Rache etwa zwei Drittel geblieben, an die fünfunddreißigtausend Zechinen. Alles andere, dazu mein Anteil an den Schätzen, die ich und ein paar Gefährten einer Mörderbande in den Wirren der Plünderung Roms abgenommen hatten, war aufgezehrt worden  – leben, überleben, Bestechungen, Fahrten ... Da eine gewöhnliche Familie mit etwa hundert im Jahr bescheiden leben kann, fühlte ich mich immer noch reich und frei von der Pflicht oder Versuchung (falls es da einen Unterschied gibt), den Besitz zu mehren.

Das Haus auf dem Festland, in Mestre, hatte ich Jahre zuvor gekauft und Laura überschrieben, die nebenan die Papiermühle samt einem weiteren Haus und in Venedig die Drukkerei besaß. Wir haben nie ausgerechnet, wer von uns mehr wert sei; wozu auch? Ein kluger Mann hat einmal geschrieben, er wünsche an jedem Abend den Moment des vergangenen Tages zu wissen, da sein Leben den geringsten Wert hatte; das ist, wenn Reinheit der Absichten und Sicherheit des Lebens Geld wert seien, er am allermeisten würde gegolten haben. Wert sein, gelten – für wen? Für die Nachbarn? Die Steuereintreiber? Die Stadt? Die Kinder? Die Inquisition?

Um von dieser unbehelligt zu bleiben, ließen wir uns kurz nach meiner Heimkehr trauen. Wir zahlten Steuern und Abgaben, bedachten die Armen und die Kirche – Laura tat letzteres, weil sie es wollte; ich tat es, um von den Schwarzröcken in Ruhe gelassen zu werden.

Ruhe: ein seltsames Gefühl, ein Zustand, an den ich mich erst gewöhnen mußte. Keine Rücksicht auf die Welt zu nehmen, die keine Rücksicht auf uns nahm ... Im Ghetto, wo ich einen jüdischen Geschäftsfreund besuchte, erfuhr ich 1532 vom »Religionsfrieden«, den Kaiser Karl und die deutschen Protestanten in Nürnberg eingegangen waren; er richtete sich nicht nach innen, sondern nach außen, gegen die Türken, und er nützte weder den Juden noch sonst jemandem innerhalb der Städte. Der Admiral Andrea Doria plünderte für den Kaiser die türkische Küste, und 1534 vergaßen die Venezianer, daß sie im Frieden mit dem Osmanischen Reich lebten: Sie überfielen osmanische Schiffe und klagten bald darauf laut, als die Türken nach den Inseln griffen, die Venedig im östlichen Mittelmeer zu besitzen wähnte. Der Tanz mit wechselnden Partnern ging weiter: Papst, Kaiser, Frankreichs Franz, Venedig, Englands Heinrich, heute miteinander, morgen gegeneinander verbündet. Des Sultans Admiral Khaireddin, den wir Barbarossa nannten, ließ neue Schiffe bauen und nahm Tunis ein; damit besaß der Sultan nun ganz Nordafrika. François I. schickte Jacques Cartier aus, Nordamerika zu erkunden; Karl V und Andrea Doria eroberten 1535 Tunis; ein Jahr darauf unternahm der Kaiser einen Versuch, die Provence dem Reich anzugliedern, und François griff daraufhin die spanischen Niederlande an und besetzte Savoyen und Piemont. Zugleich schloß er – das hörten wir erst später – ein geheimes Abkommen mit dem Sultan; ein Jahr darauf besiegte Barbarossas Flotte die Flotte des Reichs und plünderte Italiens Küsten.

Venedig rüstete, weil der Seehandel, von dem die Serenissima lebte, fast zum Erliegen gekommen war; der Papst rüstete, François und Karl ebenfalls, die Kinder wurden größer, Lauras Geschäfte gingen trotz allem gut, wir verbrachten einige Monate in den Bergen, bis die Pest in Venedig abgeklungen war, ich spielte hin und wieder auf der Fiedel und focht mit seßhaft gewordenen Kämpfern, um nicht zu schnell alt und steif zu werden, und Laura beteiligte sich daran: Sie wollte mit Messer und Degen umgehen können, weil es ihr, wie sie sagte, Vergnügen bereitete; es sei eine Art Tanz, und da ich nicht gern tanzte, sei dies die einzige Möglichkeit, sich mit mir in einer Art Reigen aufrecht zu balgen. Dann lächelte sie auf jene Art, die mich immer dazu brachte, sie sofort zum waagerechten Reigen zu bitten. Am nächsten Tag beschaffte ich zwei der neuen spanischen Degen aus wunderbarem Toledo-Stahl – Stechdegen, deren Spitze durch ein Stückchen Kork oder einen Ball unschädlich gemacht werden konnte. Ich zog mein gutes altes Nahkampfschwert mit scharfer Spitze und scharfer Schneide vor, den Haudegen, aber für den aufrechten Reigen mit Laura nahm ich natürlich die neue, gesicherte Waffe.

Es war wenig geschehen für Laura und mich, nicht für die Welt; aber wen kümmert die Welt, wenn es ihm erträglich geht? Jener Dichter, den ich eingangs erwähnte, hat mir gesagt, er könne nur dann bewegende Verse schreiben, wenn er unglücklich sei. Hungrig, verzweifelt, aussichtslos verliebt. »Denk an Dante«, sagte er. »Wen interessiert sein Paradies? Ein langweiliger Ort; aber die Hölle ... Wir alle brauchen ein bißchen Hölle, auch wenn nur wenige darin so groß werden wie Dante.« Mag sein, daß er recht hatte. Rings um Venedig war in diesen für uns ruhigen Jahren jederzeit genug Hölle, aber wir konnten uns in einem kleinen alltäglichen Paradies aufhalten. »Ruhig?« Bellini verzog das Gesicht. »Es mag dir so vorgekommen sein, aber ruhig war es nie, mein Freund.«

»Ich war lang genug in verschiedenen Gelassen der Hölle«, sagte ich. »Ich habe nicht die Absicht, freiwillig dorthin zurückzukehren und weitere Kammern zu erkunden.«

»Auch dann nicht, wenn dein behagliches Paradiesgärtchen nicht anders vor Wildschweinen und Plünderern geschützt werden kann?«

»Tja.«

Bellini verschränkte die Arme auf dem Tisch und sah mich schweigend an. Ich überlegte, wie alt er sein mochte; irgendwie schien er sich seit unserer ersten Begegnung vor zwölf Jahren nicht verändert zu haben. Damals war er wohl knapp über dreißig gewesen, ein eleganter junger Offizier, und so sah er immer noch aus. Die Zeit hatte allenfalls ein paar Schleifspuren um seine Augen hinterlassen. Seine Augen, die unvermindert scharf und durchdringend blickten.

»Bist du immer noch, was du warst – capo?«

Er hob eine Braue. »Solange es dem Rat der Zehn gefällt. Und Seiner Exzellenz.«

»Wie alt ist der Doge inzwischen?«

»Muß dieses Jahr achtzig werden. Ungefähr.«

Andrea Gritti, seit 1523 Doge, zuvor ein guter Generalkapitän und ein listiger Politiker, war einige Zeit vom jungen Lorenzo Bellini geschützt und bewacht worden; nach der Wahl zum Dogen hatte er ihn als Mann seines Vertrauens zum Unterführer der städtischen Ordnungshüter machen lassen.

»Und wenn er irgendwann stirbt? Meinst du, der nächste Doge übernimmt dich? Oder wird er einen neuen Mann suchen?«

»Irgendwann stirbt jeder; der Nachfolger ist ungewiß, ebenso seine Absichten.« Bellini machte eine wischende Handbewegung. »Aber wir wollten nicht von meiner Zukunft reden, sondern von unser aller Gegenwart.«

»Meine Gegenwart ist hier.« Ich ging zur anderen Seite des Tischs und setzte mich auf einen Stuhl. »Die Druckerei, die Papiermühle in Mestre, die Familie.«

»Keine Gefühle von Dankbarkeit?«

»Dankbarkeit?«

Bellini kniff ein Auge zu und nickte. »Dafür, daß Venedig dir Zuflucht geboten hat.«

Ich lachte halblaut. »Meine Dankbarkeit dafür habe ich durch gründliche Beteiligung am Zoll- und Steueraufkommen der Republik bekundet. Und dadurch, daß ich einigen Leuten Brot und Arbeit gegeben habe.«

Er seufzte. »Schon recht. Willst du dir nicht wenigstens anhören, wozu wir dich brauchen?«

Ich zögerte.

»Oder fürchtest du, es könnte dich am Ende reizen? Irgendwie erscheint mir nach den Jahren des Suchens und Kämpfens deine Seßhaftigkeit ... unglaubwürdig.«

»Ich habe zu Ende gekämpft«, sagte ich. »Alles, was ich gesucht habe, ist hier. Und in Mestre.«

»Eine schöne Frau, der eine Papiermühle und eine Drukkerei gehören? Zwei angenommene Kinder?«

»Ich will dir etwas verraten. Sie sind nicht angenommen.«

»Ah.« Er hob die Brauen und starrte mich an. »Sie war doch zweimal verheiratet, ehe du dich hier niedergelassen hast.«

»Ihr Vater hatte die Druckerei und Schulden, und dann ist er gestorben. Der Herr der Papiermühle hat Druckerei, Schulden und Laura ... übernommen, sagen wir mal, und dann ist er gestorben. Ich wollte sie heiraten, aber sie verlangte, daß ich, wie du sagst, seßhaft werde. Ich hatte aber noch etwas zu erledigen. Dann hat sie diesen Marco geheiratet. Er war gut zu ihr, er ist früh gestorben, und ich glaube, er hat bis zum Schluß nicht gewußt, daß die Kinder nicht von ihm sind.«

Bellini trank einen großen Schluck und setzte den Becher hart auf den Tisch. »Warum erzählst du mir das? Es ist doch euer Geheimnis.«

»Kein Geheimnis«, sagte ich. »Man muß es nur nicht jedem ins Ohr brüllen. Und ich sage es dir, damit du es verschweigst. Und damit du merkst, daß ich dir vertraue.«

»Vertrauen?« Er gluckste. »Das heißt, du erwartest, daß ich dir ebenfalls vertraue, wie? Und offen mit dir rede? Ohne Vorbehalte und Geheimnisse?«

Ich schüttelte den Kopf. »Herr der Ordnung und der Kenntnisse – halte mich nicht für einfältig.«

»Nicht? Wofür denn?« Dabei grinste er breit.

»Du bist nicht zu mir gekommen, um über die Sauberkeit der Straßen oder den Schmutz in den Kanälen zu reden. Auch nicht, um mich zum Leibwächter eines eurer Edlen zu machen.«

Er hob die rechte Hand. »In Venedig gibt es keine Edlen. Wie du wissen solltest.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Nennt es, wie ihr wollt. Die Handelsfürsten sind auch Fürsten, selbst wenn sie sich nicht als edle Aristokraten, sondern nur als ›Vornehme‹ gebärden. Du bist gekommen, um mit mir über die Verwerfungen der Meeresfläche und die Wogen an Land zu reden. Daraus schließe ich, daß du nicht nur für die innere Ordnung der Republik zuständig bist, sondern auch für eure Spitzel überall.«

Er spitzte die Lippen, als wolle er pfeifen. »Nicht ›zuständig‹, das wäre ein zu großes Wort. Sagen wir, ich bin ein wenig beteiligt.«

»Dann sagen wir ferner, daß wir jetzt lange genug herumgeredet haben, o Unzuständiger. Was willst du von mir?«

Bellini beugte sich vor und stützte die Ellenbogen auf den Tisch. »Die Heilige Allianz«, sagte er. »Der Kaiser, der Papst, die Johannesritter, Venedig. Arg unheilig, wenn du mich fragst, aber ... Dieses Jahr wird es zum blutigen Tanz der Schiffe und Schwerter kommen. Wir stellen Schiffe und Soldaten, und wahrscheinlich wird der Kaiser wieder den alten Genuesen mit dem Befehl betrauen.«

»Andrea Doria? Ja, vermutlich. Und?«

Bellini bleckte die Zähne. »Wir alle zusammen gegen die Türken, und keiner weiß, was die Franzosen hinter unserem Rücken anstellen werden.«

Da er nicht weitersprach, sagte ich: »Willst du mich nach Frankreich schicken? Damit ich nette Zwiesprache mit François halte, der mir ohne Zweifel anvertrauen wird, was er zu tun beabsichtigt?«

Er knurrte leise. »Unsinn«, sagte er dann. »Kurz und klar: Wir haben viele Stützpunkte verloren, an die Osmanen. Und in den letzten Monaten hat sich unter unseren Kundschaftern das große Schweigen ausgebreitet. Die Republik wird in einen Krieg ziehen müssen, ohne etwas über die Gegenseite zu wissen.«

»Ah.« Ich überlegte einen Moment. »Willst du damit sagen, daß die Türken all eure Spione erwischt und geknebelt haben?«

Er lachte, aber es klang nicht fröhlich. »Geknebelt? Man könnte es anders ausdrücken, aber lassen wir es dabei. In Ragusa sind noch ein paar Kaufleute, wie immer, aber sie erfahren nichts. Und natürlich gibt es verwegene Männer in dem Gebiet, das man Venezianisches Albanien nennt, aber jenseits davon?« Er schüttelte den Kopf. »Einige unserer Kundschafter haben die osmanischen Lande verlassen können; von den anderen wissen wir nichts.«

Ich schloß die Augen. »Das heißt, die Türken haben eure Spione umgebracht. Und jetzt suchst du einen, der kein Venezianer ist, so daß man ihn nicht sofort für einen Spion hält. Und da hast du gedacht, Giacomo Spengler, dein alter Freund Jakko, heißt ja eigentlich Jakob und kommt aus einem vergessenen Flecken in Deutschland, und er könnte doch ein bißchen mit den türkischen Offizieren plaudern.« Ich öffnete die Augen wieder und schaute Bellini an. »So ungefähr?«

Er lächelte, als hätte ich ihm ein paar besonders nette Worte gesagt. »Man könnte es so ausdrücken.«

»Ihr müßt arg verzweifelt sein.«

»Die Serenissima ist nicht verzweifelt. Sie ist nie verzweifelt. Sie zweifelt nur ein wenig.«

»Sie haben euch die Hände abgehackt. Die Hände, die ihr in deren Angelegenheiten gesteckt hattet. Und jetzt willst du, daß ich mir den Kopf abhacken lasse?«

»Du mußt das nicht so finster sehen. Ein kluger, erprobter, waffentüchtiger Mann, der vieles überstanden hat, könnte zweifellos durch die Schluchten des Balkan reiten und heil wieder zurückkommen.«

»Vor allem, wenn er ein Deutscher ist, oder ein Finne, oder ein Isländer – alles, nur kein Venezianer?«

Er nickte.

»Nein.«

Er nickte wieder. »Ich habe es mir gedacht, aber ich mußte es versuchen. Und ich wollte dafür sorgen, daß du im nächsten Jahr, wenn türkische Galeeren hier anlegen und die Janitscharen deine Kinder schlachten, nicht das Gefühl hast, du hättest beizeiten etwas tun können.«

Laura kam von ihren Erledigungen zurück, als Bellini gerade aufbrach. Er verneigte sich vor ihr, und sie wechselten die gewöhnlichen höflichen Worte.

»Was wollte der denn?« sagte sie, als er gegangen war.

»Wein.«

»Ich auch.« Sie lachte, holte sich einen Becher und ließ mich eingießen. »Nur Wein?« sagte sie dann.

»Und Wahn.«

Sie blinzelte. »Wein und Wahn? Welche Mischung. Magst du das erläutern?«

»Es geht um den Krieg. Die Heilige Allianz, dies unheilige Bündnis gegen die Türken. Offenbar sind ihnen, ah, uns, den Venezianern, meine ich, die Kundschafter abhanden gekommen.«

Sie schwieg einen Moment, trank, sah mich nachdenklich an. »Hat er wenigstens etwas geboten?«

»So weit sind wir gar nicht gekommen. Er hat etwas vom Schutz der Republik gesagt und von Dankbarkeit. Warum fragst du? Brauchen wir Geld? Soll ich mich dafür bezahlen lassen, daß ich die Wasseruhr meines Lebens anbohre? Einen schnellen Tod in der Ferne suche?«

»Heute ist kein guter Tag, um über das Sterben und den Weg dorthin zu reden.«

»Wann denn?«

»Wenn schon, dann lieber gar nicht.«

ZWEI

Venezianische Masken

Jahrelang hatte Laura sowohl die Druckerei in Venedig als auch die Papiermühle außerhalb von Mestre von den alten, erfahrenen Meistern leiten lassen. So hatte man den Gesetzen genügt, welche die Geschäftstätigkeit von Frauen einschränken; und auch die betreffenden Zünfte, die keine Frauen aufnehmen, konnten keine Einwände erheben.

Natürlich hatte Laura die beiden Meister gelenkt, die die Geschäfte leiteten. Mein Anteil an ihnen war gering, gewissermaßen läaßlich. Ich hatte einige Einfälle beigetragen, zum Beispiel jenen, den Reichen und Mächtigen besonderes Papier anzubieten, mit ihren jeweiligen Wappen oder Emblemen als Wasserzeichen, in der ihnen gemäßen Schrift bedruckt mit Name, Wohnsitz und allem, was ihr Herz, ihre Eitelkeit oder ihre Gier zusätzlich begehren mochten. Und natürlich las ich hin und wieder etwas, von dem ich fand, es sollte gedruckt und verbreitet werden, oder ich zechte mit einem Dichter, der daraufhin beschloß, sein nächstes Werk – Verse, eine Komödie, ein paar Pamphlete – der ebenso ruhmreichen wie trinkfesten Druckerei Rinaldi zu übergeben.

Gelegentlich tat ich Handlangerdienste, war aber nach den Jahren des Reisens und Kämpfens durchaus fröhlich, in einiger Muße neue Künste zu erlernen: seßhaftes Eheleben, Kochen und Erziehung der Kinder. Natürlich befiel mich zuweilen etwas, das Rastlosigkeit sein mochte, Fernweh, Reiselust oder einfach Überdruß ob des Alltäglichen. Bei derlei Anfällen griff ich zur Fiedel, zum Wein, zu neuen Büchern, oder ich suchte Gegner für heftige Fechtübungen. Manchmal fragte ich mich, ob ich dieses Leben noch lange ertrüge, wenn nicht die Zwillinge – Laura und Giacomo – meiner (oder eines anderen) bedurft und mich durch ihre Liebe, ihre Neugier, ihren Witz und Einfallsreichtum im Übermaß belohnt hätten.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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