Troja - Gisbert Haefs - E-Book
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Troja E-Book

Gisbert Haefs

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Beschreibung

Parallel zur 150-Millionen-Dollar-Kinoproduktion "Troja" von Wolfgang Petersen ("Das Boot", "Der Sturm") mit Brad Pitt, Eric Bana und Orlando Bloom in den Hauptrollen kommt auch Gisbert Haefs Roman-Klassiker vom tragischen Niedergang der berühmten Stadt in einer Neuausgabe. Haefs entwirft in seinem Roman ein farbenprächtiges Panorama der späten Bronzezeit.

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DAS BUCH

Wer kennt ihn nicht, den Mythos vom Untergang der blühenden Stadt Troja, die Geschichte vom unerbittlichen Krieg, hervorgerufen durch den Streit um die schöne Helena?

Gisbert Haefs erfüllt diesen Mythos mit neuem Leben und erzählt uns eine ganz andere Version der Geschichte. Er rollt die Sage um Troja aus Sicht einer bunt zusammengewürfelten Freihändlergruppe auf, allen voran der assyrische Händler Awil-Ninurta. Dabei wird schnell klar, dass bei der Belagerung Trojas vor allem wirtschaftliche Interessen im Vordergrund stehen und Helena allenfalls ein willkommener Anlass für den Krieg ist. Ein Krieg, der Teil eines größeren Konflikts ist, in den auch die Hethiter, Zypern und der finstere Herrscher von Azawa verwickelt sind.

Haefs entwirft ein gewaltiges, sinnliches Panorama der späten Bronzezeit voller Schlachten und Intrigen: Troja ist die faszinierende Neuinterpretation eines unsterblichen Mythos.

DER AUTOR

Gisbert Haefs, 1950 in Wachtendonk am Niederrhein geboren, lebt und schreibt in Bonn. Als Übersetzter und Herausgeber ist er unter anderem für die neuen Werkausgaben von Ambrose Bierce, Rudyard Kipling, Jorge Luis Borges und zuletzt Bob Dylan zuständig. Zu schriftstellerischem Ruhm gelangte er nicht nur durch seine Kriminalromane, sondern auch durch seine farbenprächtigen historischen Werke Hannibal, Alexander, Alexander in Asien und die Karthago -Romane.

LIEFERBARE TITEL

Hannibal – Roma – Das Gold von Karthago –

Das Schwert von Karthago – Der erste Tod des Marc Aurel – Caesar – Die Mörder von Karthago – Alexander

(ab Frühjahr 2013) – Alexander in Asien (ab Frühjahr 2013)

Vier Geschichten gibt es. Eine, die älteste, ist die von einer befestigten Stadt, die von tapferen Männern belagert und verteidigt wird. Die Verteidiger wissen, daß die Stadt dem Eisen und dem Feuer übergeben werden wird und daß ihr Kampf sinnlos ist; der berühmteste der Angreifer, Achilles, weiß, daß es sein Los ist, vor dem Sieg zu sterben […] Ref 1

Die zweite Geschichte, mit der ersten verbunden, ist die einer Wiederkehr. Es ist die von Odysseus, der nach zehn Jahren der Irrfahrten auf gefährlichen Meeren und des Aufenthalts auf verzauberten Inseln zu seinem Ithaka heimkehrt; die der Gottheiten des Nordens, die nach der Zerstörung der Erde diese aus dem Meer auftauchen sehen, grün und leuchtend, und auf dem Rasen die verstreuten Schachfiguren finden, mit denen sie zuvor gespielt hatten.

Die dritte Geschichte ist die einer Suche. Wir können sie auch für eine Abwandlung der zweiten halten. Jason und das Goldene Vlies; die dreißig Vögel des Persers, die Gebirge und Meere überwinden und das Antlitz ihres Gottes sehen, des Simurgh, der jeder einzelne von ihnen ist und sie alle. In der Vergangenheit waren derlei Unterfangen glückhaft. Am Schluß raubte immer jemand die verbotenen goldenen Äpfel; am Schluß hatte jemand es verdient, den Gral zu erringen. Heute ist die Suche zum Scheitern verdammt. Kapitän Ahab findet den Wal, und der Wal zerreißt ihn; die Helden von James oder Kafka dürfen nichts erwarten als die Niederlage. Wir sind so arm an Tapferkeit und Glauben, daß selbst das happy ending nur noch ein Erzeugnis der Industrie ist. Wir können nicht an den Himmel glauben, wohl aber an die Hölle.

Die letzte Geschichte ist die von der Opferung eines Gottes. Attis in Phrygien entmannt und tötet sich; Odin, dem Odin geopfert, Er selbst Sich selbst, hängt neun Nächte lang am Baum und wird von einer Lanze verwundet; Christus wird von den Römern gekreuzigt.

Vier Geschichten gibt es. In der Zeit, die uns bleibt, werden wir sie weiterhin erzählen und dabei verwandeln.

Jorge Luis Borges

Inhaltsverzeichnis

DAS BUCHDER AUTORLIEFERBARE TITEL1. DIE IRRFAHRT DES ATHENERS
BRIEF DES KORINNOS (I)
2. GESCHMEIDE FÜR HELENA
ERZÄHLUNG DES ODYSSEUS (I)
3. DER SCHRAUBSTOCK UND DIE KIESEL
BRIEF DES KORINNOS (II)
4. DIE GUNST DES KÖNIGS
ERZÄHLUNG DES ODYSSEUS (II)
5. FLÜCHTIG GEFANGEN
BRIEF DES KORINNOS (III)
6. DJOSERS LAST UND ZAQARBALS LIST
ERZÄHLUNG DES ODYSSEUS (III)
7. DER WEG DURCH DEN WINTER
BRIEF DES KORINNOS (IV)
8. DIE INSEL DER HÄNDLER
ERZÄHLUNG DES ODYSSEUS (IV)
9. HEIMKEHR
BRIEF DES KORINNOS (V)
10. WONNE UND GEWINN
ERZÄHLUNG DES ODYSSEUS (V)
11. SCHATTENDRACHEN
BRIEF DES KORINNOS (VI)
12. DIE TUGEND DER ACHAIER
ERZÄHLUNG DES ODYSSEUS (VI)
13. FRIEDE IM KRIEG
BRIEF DES KORINNOS (VII)
14. SCHWARZE PFEILE
ERZÄHLUNG DES ODYSSEUS (VII)
15. PFORTEN DER FINSTERNIS
BRIEF DES KORINNOS (VIII)
16. UNTERGÄNGE
ERZÄHLUNG DES ODYSSEUS (VIII)
17. SCHLANGEN UND SALZ
BRIEF DES KORINNOS (IX)
18. SOLONS NACHLASSANHANG
1. AUSZÜGE AUS PLATONS TIMAIOS UND KRITIAS
TimaiosKritias
2. HINTERGRUND3. VERZEICHNIS DER WICHTIGSTEN PERSONEN4. GLOSSAR
Copyright

1. DIE IRRFAHRT DES ATHENERS

[589 v. C.] An einem kalten klaren Frühlingsmittag brachte ihn ein Fischer zum Strand der Insel Salamis. Gemeinsam hievten sie das Gepäck aus dem Boot: drei schwere Kisten und einen Reisebeutel. Der Athener gab dem Fischer eine Drachme, zwei Drittel des vereinbarten Preises, und bat ihn, kurze Zeit bei den Kisten zu warten. Die attische Küste lag außer Sicht jenseits des Vorgebirges; Solon hatte nicht zurückgeblickt.

Er war fünfzig Jahre alt. Und er war nun frei. Für sein Volk hatte er Gedichte und Gesetze geschrieben, im Krieg gestritten und im Frieden gefochten, wie es ihm richtig und nötig erschien, ohne den Wünschen der Mächtigen zu erliegen oder dem Sehnen der Machtlosen nachzugeben: Grenzpfahl zwischen den Gruppen, gehetzter Wolf in der Mitte der Meute. Ein Jahr im höchsten Amt, dem des Archon; in diesem Jahr hatte er alle Schulden erlassen, Schuldknechtschaft kleiner Pächter und Schuldsklaverei abgeschafft, die Maße, Gewichte und Münzen neu geordnet, neue Gesetze für alle Lebensbereiche (Gerichte, Wähler, Ämter …) verfaßt, in jener achaischen Sprache, die hundert Jahre zuvor von Hesiodos und Homeros zu Klangfülle und Geschmeidigkeit gebracht worden war: Gesetze für das friedliche Zusammenleben der Stände, Abbild der Götterwelt des Hesiodos und der Heldenwelt des Homeros. Man schwor, all diese Gesetze zu befolgen, und man gab ihm Vollmacht als Schiedsmann, von allen geachtet und drei Jahre lang von allen bekämpft.

Vorbei. Er hatte alles niedergelegt, Briefe geschrieben, Antworten erhalten, seinen Besitz verkauft. Von den Feinden hatte er sich verabschiedet; die Freunde sollten ihn ungestört vermissen, was die Freundschaft mehrt und die Ferne nicht schändet.

Die drei Kisten des freien Händlers Solon enthielten Eisenbarren, Silberstangen und die seit seiner Amtszeit neu geprägten Silbermünzen, deren vorgeschriebenes Gewicht eine Verrechnung mit den Einheiten anderer Gegenden erlaubte und Athen endlich am Fernhandel teilnehmen ließ. Athen und ihn.

Auf dem Strand lagen kleine Fischerboote und ein bauchiges Frachtschiff; nicht weit davon, wie ein gestrandeter Wal, ein Kriegsruderer mit schadhaften Bronzeplatten und dichtem Bewuchs unter der Wasserlinie. Werkzeug, Bretter, Leitern, Bottiche, Schabsteine wie fortgeworfen daneben – Mittagsrast. Aus einem Kessel über dem niederbrennenden Feuer quoll der Ruch von heißem Pech.

Durch den Sand watete Solon hinauf zum Karrenweg. Jemand hatte dort einen Eimer mit Fischgekröse geleert; die Möwen zwischen den stinkenden Resten zerrten und zeterten und ließen sich nicht stören. Als er den Karrenweg erreichte, schüttelte er Sand aus den Sandalen und ging zum Ort.

Vor zehn Jahren hatte er Athens Krieg gegen Megara um Salamis angeführt. Mit jedem Schritt näherte er sich Erinnerungen und entfernte sich von der Bürde. Er atmete tief und roch und schmeckte Salz, Pech, faulen Fisch, Tauwerk und Abfälle, und in allem oder über allem die Verheißung von Weite und Freiheit.

In Salamis, Hauptstadt der Insel, schien sich nicht viel geändert zu haben. Das kaum zu einem Drittel ausgehobene Hafenbecken des Kriegs war verlandet, der in die Bucht getriebene Damm, an dem Kriegsruderer hatten anlegen können, zu albernen Inselchen verfallen. Der Ort selbst, ein Gewimmel heller Häuser, hatte wohl schon vor sechshundert Jahren so ausgesehen, als Aias von hier gen Troja zog.

Das Haus des Fernhändlers Polykles lag an der zweiten Straße, die vom Karrenweg krumm in den Ort streunte: Lehm und Pfützen. Aus einer Garküche hörte Solon tiefes Männerlachen; ein Duftschwall ließ seinen Magen knurren. Er durchquerte den mit tanzenden Steinen belegten Hof hinter der geschlämmten Mauer, zögerte kurz und ging dann ins Lager, ein Gebäude aus unbehauenen Steinen, Sparren und Schindeln. Polykles stand mit Wollmantel und gerunzelter Stirn zwischen Ballen, Kisten und Tongefäßen. Eben wischte er mit dem Ärmel Kreideschrift von einer Steintafel, die er in der Linken hielt. Als er Solons Schritte hörte, wandte er lediglich den Kopf.

»Ah, der edle Staatsmann. Da es gleich ein Mittagessen gibt, sollte mich dein Eintreffen nicht verblüffen. Eßbare Dinge ziehen Geschmeiß an – Fliegen, Sänger und Politiker.«

Solon berührte kurz die Schulter des Händlers. »Alle Ungnade der Götter mit dir, Vertreiber schadhafter Waren. Der Staatsmann ist in Athen geblieben und kann sich also nicht beleidigt fühlen; du sprichst mit dem freien Händler Solon. Aber der hat gewaltigen Hunger.«

Polykles lachte. »Gut, gut. Die anderen warten in der Schänke. Komm.« Er legte die Tafel auf einen Klotz und zog Solon am Arm mit sich.

»Langsam. Mein Reisebeutel und meine Handelsgüter …«

»Wo sind sie?«

»Bei einem Fischerkahn, am Strand. Der Fischer wartet und will heimkehren.«

Polykles hob die Hände. »O ob der rossetummelnden Hast! Geh hin, laß alles am Strand und schick ihn weg. Und dann komm zum Essen.«

Solon blieb stehen. »Alles einfach so liegenlassen?«

Polykles grinste und zog ihn weiter; vor der Schänke ließ er ihn los und sagte: »Wir sind, edler Mann, nicht in der von dir so trefflich verwalteten Stadt mit ihrem Reichtum an Dieben, Dirnen und Dunkelmännern. O nein, sondern auf einer Insel der Harmlosen, wo jeder jeden kennt und alle nur einen Fremden bestehlen würden.«

»Mich, zum Beispiel.« Solon seufzte. »Nun ja, da du es vorschlägst … Und wenn hinterher doch etwas fehlt?«

»Dann nimm es als köstliche Erfahrung; und trau nie wieder einem salaminischen Händler.«

Vier Tage brachten sie damit zu, einander kennenzulernen (beziehungsweise alte Bekanntschaft aufzufrischen), das Frachtschiff am Strand der Bucht zu beladen und auf guten Wind zu hoffen. Polykles, der Besitzer des nicht mehr ganz neuen Schiffs, hatte die Dauer der Reise und sämtliche vorhersehbaren Kosten berechnet und verlangte von den anderen fünf Händlern je 300 Drachmen, ließ sich dann zeternd auf 250 Drachmen herunterhandeln und lächelte, als man sich geeinigt hatte.

»Sie heißt Glauke, nur so nebenbei«, sagte er bei der ersten Besichtigung und Beladung. Er klopfte an die Planken der Bordwand. »Sitzt sie nicht breit und behäbig hier wie eine Amme, die zahlreichen Bälgern beim Buddeln im Sand zuschaut? Eine Schwester meines Vaters … Aus ihrem geräumigen Becken hat sie vierzehn Kinder in die Welt entlassen. Gewaltiger Stauraum. Sie hieß Glauke.«

»Wieviel sind wir? Insgesamt?« Laogoras, der seine Geburtsstadt Iolkos seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, ging zum Bug, stellte sich auf die Zehenspitzen, packte die Oberkante der Bugverschalung und rüttelte daran.

»Laß den Kahn heil. – Wir sind sechs. Dann der Steuerherr des Schiffs; von seiner Kunst hängt unser aller Leben ab …«

»Guter Seemann?«

Polykles verdrehte die Augen. »Würde ich meinen Leib einem schlechten kybernetes anvertrauen? Zenon ist Halbhellene; seine Mutter war Phönikierin. Er stammt aus Kition und hat alles gelernt, was kyprische Phönikier ihm über Meer und Schiffe beibringen konnten. Sein Steuergehilfe Examios. Drei erfahrene Seeleute. Sechs Sklaven – zwei von mir, je einer von euch, außer Solon.«

»Siebzehn also. Und keine Sklavin?« sagte Solon.

Polykles kicherte. »Eine Sklavin und siebzehn Männer? Armes Ding. Nein. Außerdem sind wir alle mit tugendhaften Gattinnen geschlagen. Außer dir, Freund.«

Laogoras musterte den Athener von der Seite. »Keine Frau? Bin ich denn an Bord nachts sicher, oder muß ich mein Spundloch verstöpseln?«

»Sie ist gestorben. Sieben, nein, acht Jahre her. Sei unbesorgt; als Gesäß mag dein Arsch für dich taugen, als Versuchung ist er mir arg widerstehlich.«

Die Glauke war etwa zwanzig Schritte lang und sieben breit. Unter dem erhöhten Heck mit den beiden Seitenrudern gab es einen kleinen Verschlag, zum Schiff hin mit einem Ledervorhang zu verschließen. Diesen Raum beanspruchte Polykles für sich und sein Gepäck. Die anderen hatten sich, so gut es ging, mit Strohsäcken, Mänteln und Lederbahnen auf dem Deck einzurichten, vor und hinter dem Mast, zwischen Ladeluken, Taurollen, Werkzeug, Wasserfässern und allem übrigen festen und beweglichen Gerät. Ein kleiner eiserner Ofen, mit Nägeln und Bolzen gesichert, stand am Fuß des Masts.

Unter Deck, wo ein Mann sich nicht ganz aufrichten konnte, wurden die Vorräte und Waren gestaut und gesichert. Solons Kisten mit Eisen und Silber mußten an Bord gestemmt werden. Der andere Athener, Elphenor, hatte einer kleinen Waffenschmiede die Erzeugnisse eines Jahres abgekauft: Schwertklingen, lange Messer ohne Griff, Speerspitzen, Pfeilspitzen, alle zwischen öligen Lappen in Lederbeuteln oder in Öltuch-Bündeln.

»In Ägypten gibt es wenig Erz und reichlich Krieg«, sagte er. »Bei uns stöhnen die Schmiede über den gräßlichen Frieden, den Politiker wie Solon bewirkt haben.«

»Tröste dich.« Baiton grinste breit. »Wie alle Maßnahmen ist auch diese kurzlebig.« Der hagere graue Korinther hatte sich ebenfalls mit attischen Schmiedeerzeugnissen eingedeckt, allerdings solchen, die nicht von den Launen des Ares abhingen: Stifte, Nägel, Bohrer, Zangen, Hammerköpfe. Polykles und Laogoras ließen große Gefäße laden, die im Stauraum in Gestelle kamen; sie enthielten Öl aus Attika. In einem kretischen Hafen sollte etwa die Hälfte von ihnen gegen Wein für Ägypten getauscht werden.

Pylades schließlich, mit etwa 30 Jahren der jüngste der Händler, war vor kurzem aus Thrakien zurückgekehrt – mit kostbaren Tierfellen und Bernstein aus dem Norden. Er stammte von der Insel Melos, die sie auf dem Weg nach Kreta anlaufen würden; dort wollte er einen Teil seiner Waren gegen bestellte Opfergefäße aus den Töpfereien der Insel eintauschen: Amphoren, Vasen, Kratere mit eingebrannten Inschriften wie Herodotos für Apollon oder Rhodopis dankt Aphrodite. In Ägypten ansässige Hellenen zahlten viel für derlei Weihegaben; jeder Segler brachte neue Listen mit namentlichen Bestellungen zu den Töpfern.

Am Morgen des fünften Tages befand der kybernetes Zenon den Nordwind für ausreichend günstig. Kurz nach Sonnenaufgang schoben sie die Glauke ins Wasser; die Sklaven ruderten das Schiff schräg gegen den Wind aus der Bucht. Solon versank in der Betrachtung attischen Gestades, bis einer der Seeleute ihn rempelte und beiseitestieß, um das Segel zu setzen.

Der Athener beobachtete die entgleitende Küste der Insel und zählte seine Herzschläge. Er schätzte, daß sie in einer Stunde etwa jene Strecke zurücklegen würden, die ein behender Mann ohne Last auf ebenem Boden in fünf Stunden hinter sich brachte. Zenon schien unzufrieden; er ließ die Luken öffnen und wies die Sklaven an, Kisten, Ballen und Gestelle zu verschieben. Danach wanderte er dreimal vom Bug zum Heck und zurück, wiegte den Kopf und ließ die Luken wieder schließen. Solon konnte keinen Unterschied zum vorherigen Verhalten des Frachters feststellen, aber der Halbphönikier lächelte.

»Ah, ein hartes Leben, fürwahr.« Elphenor saß auf einem Strohsack, den Rücken an die Bordwand gelehnt, und ließ sich von seinem Sklaven einen großen Henkelbecher mit Wasser und Wein reichen. »Elendes Los der Seefahrer.« Er trank und rülpste.

Baiton sah zu, wie ein vor dem Eisenöfchen kauernder Sklave sich mühte, mit Bogen und Sehne den in weiches Efeuholz gesteckten Lorbeerstab zu drehen; ein zweiter Sklave neben ihm hielt einen trockenen Schwamm bereit.

»Wehe jenen, die ohne Heimkehr in dunklen Schiffen«, sagte er grinsend, »auf dem weinfarbenen Meer der Götter und Winde Unbill und überhaupt und so weiter. Gib mir auch so ein Töpfchen, Sklave.« Er ließ sich neben dem Athener nieder.

Solon stützte sich auf die Bordwand. »Weinfarben?« Er spuckte über Bord. Die Sonne glomm irgendwo jenseits eines Dunstschleiers. »Bei diesem Licht? Sagen wir rotzgrün, ja? Die rotzgrüne, sackschrumpelnde See.«

»Warum bist du von der Nutzlosigkeit der Ämter zur Ehrlosigkeit des Handels übergegangen?« sagte Pylades. Er hockte auf einer Taurolle und sah zu Solon empor.

»Aus Achtlosigkeit. Oder nenn es Leichtsinn. Was nach den Jahren der Politik noch von meinem Vermögen übrig ist, will ich nun im Handel und auf See verschleudern.«

»Keine Kinder?«

Solon hob die Schultern. »Ein Sohn. Er behält die Hälfte; den Rest habe ich verkauft. Mehr als dieser Sohn war mir nicht vergönnt. Die Götter wissen, ich habe es versucht, bis zur Erschöpfung.« Er lachte; die anderen fielen ein. »Die Felder, die ich pflügte, blieben öde, die Furchen, in die ich säte, lagen brach. Oder umgekehrt. Ich hatte gewissermaßen die Lust des Säens ohne die Mühsal der Ernte.«

Polykles, der aus seinem Verschlag einen Schemel geholt hatte, ließ sich endlich nieder und winkte einem seiner Sklaven. »Wein! – Wieviel von deinem Vermögen hast du im Amt verloren?«

»Wie man’s nimmt. Entweder mein gesamtes Erbe oder alles, was ich als Händler verdient hatte, bevor ich … Also, die Hälfte dessen, was ich vor zehn Jahren besaß.«

Pylades schüttelte langsam den Kopf. »Und du selbst hast den Zugang zu Ämtern so geregelt … Wäre es nicht besser, auch die hohen Ämter für jeden, der dafür taugt, zu öffnen? Und ihn zu bezahlen?«

Solon knurrte nur; Polykles schaukelte auf seinem Schemel vor und zurück, bis ein wenig Wein aus dem Becher schwappte.

»Entsetzliche Vorstellung«, sagte er. »Er würde versuchen, in dem einen Amtsjahr soviel wie möglich zu verdienen, statt für das Gemeinwohl zu arbeiten. Er wäre bestechlich – wahrscheinlich. Nur einer, der reich genug ist, um in diesem Jahr keinen Gedanken auf sein eigenes Wohl verschwenden zu müssen, kann sinnvoll mit Macht umgehen. Wenn überhaupt; wie wir alle wissen, waren die meisten Archonten trotz ihres Wohlstands unfähig. Oder beeinflußbar.«

Endlich gelang es dem Sklaven, Feuer zu machen; fast gleichzeitig brach die Sonne durch den Dunst. Baiton klatschte.

»Ah. Die Rosse des Helios äpfeln!«

Elphenor stöhnte. »Und wenn jetzt einer etwas von der rosenfingrigen Eos erzählt, kreische ich.« Er leerte den Becher, winkte dem Sklaven und bewegte den Hintern auf seinem Strohsack, als ob er lästiges Getier durch Aufsitzen verringern wollte. »Ich kann diese Wendungen nicht mehr hören.«

»Du da, auf deinem erhabenen Pfühl«, sagte Laogoras mit einem Kieksen in der Kehle, »laß nicht dem Gehege deiner Zähne solch flügellahme Worte entfleuchen. Das ist nun mal so, unter uns Achaiern – seit die edlen Herren, die wir in Ämter wählen, statt sie umzubringen, also, seit die mal beschlossen haben, daß dieser blinde, wahrscheinlich taube und sicher heisere Sänger die anderen Götter ersetzt, weil er uns ihr schlechtes Benehmen näherbringt, ist das eben einfach so. Du wirst dich damit abfinden müssen; oder spring aus dem hohlen schwarzbäuchigen Schiff ins weinfarbene Dings.«

»Spottet nicht.« Solon klang so ernst, daß Polykles und Elphenor die Gesichter verzogen, wie bei einer schmerzhaften Störung. »Wir errichten Wälle gegen das Chaos, Wälle aus Worten: Gesetze. Wir haben diese Verse zur Grundlage des Gemeinwesens gemacht. Erziehung dazu, dem Vorbild der Helden der Vorzeit zu folgen. Eintracht unter den Hellenen und Achtung vor den Göttern. Auf diesen beiden Säulen ruht der Boden, der uns trägt. Ohne die Verse von Hesiodos und Homeros würden wir in geschichtsloser Barbarei versinken.«

»Übertreib nicht«, sagte Elphenor. »Ein plattfüßiger Dichter aus Boiotien und ein blinder Sänger aus Smyrna? Götter, deren Hauptbeschäftigungen Ehebruch und Anstiftung zum Mord sind? Und Raufbolde, fünf Jahrhunderte vor Homeros, der von ihnen kaum mehr wußte als wir?«

Die anderen lachten; Solon schüttelte langsam den Kopf.

»In den Taten der Götter und Helden«, sagte er, »sehen wir die Gesetze, die sie brechen und die wir befolgen müssen. Wir, die wir weder Götter noch Helden sind. Vielleicht haben wir uns all dies ausgedacht, um einen Rahmen für das Zusammenleben zu haben. Ein Traum, der uns leben hilft. Sollten wir je erfahren, wie sich die Dinge wirklich zugetragen haben … Ich fürchte mich vor dem Erwachen.«

Sie segelten vorbei an Aigina, verbrachten eine Nacht am Gestade von Hydrea, dann zwei Nächte auf See, was den Halbphönikier Zenon nicht schreckte. Nach zwei Tagen des Handelns und Umladens verließen sie Melos. Im kretischen Hafen Kydonia ergänzten sie Wasser und Vorräte, verkauften Öl und erwarben Wein. Ungewöhnlich günstige Winde erlaubten es ihnen, westlich um Kreta zu segeln, dann nach Südosten. Einen Tag lang dümpelten sie in einer Flaute; sechs Tage, nachdem Kretas Küste hinter ihnen versunken war, erreichten sie, ohne lange an Libyens Nordküste entlangschleichen zu müssen, den westlichen Mündungsarm des Nils. Die anderen priesen Zenon als gottgleichen kybernetes, Vertrauten der Sterne, Liebling der Winde und zuverlässigen Überbrücker des weinfarbenen Meeres. Solon stand an der Bordwand. Er hörte die Lobreden und Scherze, hörte den Halbphönikier behaupten, von Kretas Westspitze aus den Nil genau zu treffen sei eine Kleinigkeit für ihn und seinesgleichen, nahm dies alles aber kaum wirklich wahr.

Er bemerkte nicht einmal die Tränen, die über seine Wangen rannen. Etwas in ihm, nicht er selbst, dachte ihn und sich zurück in die Zeit der ersten Reise. Es war, als gäbe das uralte Ägypten dem Athener die Jugend zurück. Oder jedenfalls die Zeit früher Reife. Fünfundzwanzig Jahre … Dann wischte er sich die Wangen und die Augen. Er sah, daß sie weit vor der Küste schon in braunem Wasser segelten, erinnerte sich daran, daß die Ägypter das Meer das »Große Grüne« nannten, und versuchte, längst vergessene Sprachbrösel aufzubacken, die er damals vom Laib des Ägyptischen geknabbert hatte, ohne sie je wirklich schlucken zu können. Der »schnellfließende Aigyptos« (Elphenor würde wieder stöhnen, dachte er) – der Nil, der Jotru hieß, »großer Fluß«, oder Hapi wie der zuständige Gott; Men-nofer, von den Hellenen »Memphis« genannt, die auch aus Ka-Suut Sais gemacht hatten. Die Ägypter nannten sich Romet, »Menschen«, und ihr Land Tameri; Solon dachte an den Priester in Sais, der viele hellenische Bezeichnungen »feindlich« genannt hatte, weil sie aus Begriffen der assyrischen Besatzer hervorgegangen seien. Damals war er jung und durstig nach Wissen gewesen. Der Durst war geblieben.

Am nächsten Vormittag saß er als alter, mürber Mann am Mastfuß auf einer Taurolle. In den Augen, von fünfzig Jahren morsch, wibbelte wie ätzendes Gewürm das Gleißen der Sonne, gespiegelt von den Kräuselwellen des Flusses. Er wartete darauf, daß ihn das sanfte Schaukeln der Glauke in einen Halbdämmer versetzte, in dem vielleicht der Kopf aufhören würde, schadhafte Trommel zu sein.

Er dachte an die vergangene Nacht, dort verbracht, wo der alten Geschichte zufolge Kanopos, Steuermann des Menelaos, an einem Schlangenbiß gestorben war, obwohl Helena aus ihren Tränen ein Heilmittel gewann. Ah, die Macht von Frauentränen und Männerworten … Peguati, das Fischerdorf auf dem Westufer, hatte sie mit Feuer, Fisch, Fleisch, Musik und viel Bier bewirtet (gegen eine Amphore billigen, geharzten Weins), und das östlich des Mündungsarms gelegene Menuthis, wo es einen Tempel der Isis und einen des Schatzes gab (gottgleich der Herrscher, göttlich die Gier, Götzen die Zöllner und Steuerwächter), entsandte einen Zollaufseher mit drei Kriegern, daß an der Feier nichts fehle. Aus der Festung Rhakotis weiter westlich, in den letzten Jahrzehnten zum Schutz der Küste gegen Seeräuber und zur Bewachung der Handelsstraße nach Kyrene angelegt, kamen abends ionische und karische Söldner, um mit den Kaufleuten zu trinken und mit den jungen Frauen des Orts zu reden. Bis der Schwall des Trunks die Dämme der Ziemlichkeit bersten ließ, bis die Flut aus Heimweh und Lust um die Feuer schwappte und zwischen den Sternspiegelungen versickerte. Ah, die Wucht von Männertränen und Frauenworten …

Elphenor hatte gelitten, in dieser Nacht; auch aus der Sprechweise der Söldner waren geflügelte Wendungen geschlüpft, die Elphenor jaulen ließen, vor allem, da die Männer sie zum Zeichen hellenischer Verbundenheit unaufhörlich abwandelten; und als er längst betrunken war, wollten einige der Kämpfer ihn in die Büsche schieben, mit einer Dorfschönheit, deren Name Helena sei, wie sie versicherten – »damit dein langes Werben endlich ins Ziel gleite«. Pylades dagegen hatte nicht gelitten; er fing alles herumflatternde Wortgeflügel und rupfte es und erzählte wüste Geschichten über sich und Orestes und dreierlei Elektras. Laogoras leugnete entschieden, jemals von Herakles getötet worden zu sein, und insgesamt war es eine sehr wilde Nacht.

Donner weckte ihn, dann das Gelächter der anderen. Er richtete sich auf und sah und roch das Hinterteil des Flußpferds, wenige Armlängen entfernt im Schilf. Baiton sagte, so habe er sich Zeus immer vorgestellt, und Solon erinnerte sich an einen ägyptischen Gesang über Hapis heilsamen Hauch.

Der stetige Nordwind trieb sie gegen den trägen Strom, nach Süden. Nachmittags, als er sich wieder halb lebendig fühlte, beobachtete Solon den Fluß und die Landschaft. Mehrmals sah er große Fische mitten im Strom ruhig und fast zielstrebig flußab schwimmen. Auf einer ufernahen Sandbank erblickte er die ersten Krokodile dieser Reise; sie schienen das vorübergleitende Schiff mit geringschätziger Langeweile zu betrachten: uralte Todesgötter, denen die Hast der Emporkömmlinge, flüchtiger Menschen, allenfalls ein halb gehobenes Lid wert ist. Manchmal stiegen scheinbar mühevoll Stelzvögel aus dem Ried, um in verzaubertem Gleiten zu entschwinden. Irgendwo jenseits des raschelnden Schilfs gab es Hütten oder ganze Dörfer auf Hügeln im Schwemmland; sie waren vom Boot aus nicht zu sehen, und die Glauke schien durch eine menschenleere Ödnis zu segeln. Aber der Würgegriff des Herrschers umklammerte längst auch Schilf und Strom und Küste.

Polykles musterte zum zwanzigsten Mal den Papyrosfetzen, den ihm der Zöllner aus Menuthis in der Nacht ausgehändigt hatte. »Wenn ich nur wüßte«, murmelte er.

Solon streckte die Hand aus. »Laß mal sehen. Ich habe fast alles vergessen, aber vielleicht …«

Zwei längliche Mehrfachzeichen, wie gestempelt, daneben ein Gekritzel von Schreibried und Tinte. Elphenor schaute über Solons Schulter; Baiton lehnte an der Bordwand, sah zu und schob die Unterlippe vor.

»Na, kannst du das lesen?« sagte er; es klang eher gleichgültig  – wie sich ein Adler an eine Krähe wenden mag, die sinnlose Schwimmübungen macht.

»Ein bißchen.« Solon deutete auf einige der Zeichen. »Das ist per-ao, ›Großes Haus‹, oder ›Herr des Großen Hauses‹, woraus wir ›Pharao‹ gemacht haben. Das da, hm … Ungefähr ›vom Pharao eingesetzt‹ oder so, eine Art Amtsstempel. Das da ist, ahhh, tanaju. Das uralte Wort für uns – Danaer. Dann ist hier noch pw-me-rew oder so ähnlich; das müßte Pyemro sein, der Ort, den unsere Geschäftsfreunde inzwischen Naukratis nennen.« Er ließ den Zettel sinken.

»Und was heißt das alles?« sagte Polykles.

»Ungefähr das: ›Der vom Herrscher eingesetzte Zöllner überweist die handeltreibenden Danaer an die zuständige Zollerhebungsstelle in Naukratis.‹ Und sein Name, aber den kann ich wirklich nicht enträtseln. Hat er dir gesagt, wie er heißt?«

Polykles hob die Brauen. »Hat er? Er hat, hab’ ich aber vergessen. Wenn Wumms, irgendsowas.«

Solon gab ihm den Papyros zurück. »Seltsam«, sagte er halblaut. »Eine Festung in Rhakotis, ein Zöllner in Menuthis, aber wir werden sozusagen nach Naukratis gewiesen… Wozu dann überhaupt Zoll an der Mündung? Hast du etwas bezahlt?«

»Nein. Hat mich auch gewundert.«

»Wie war das denn, als du damals hier warst?« sagte Pylades, der auf einem Strohsack hockte und mit seinem leeren Becher spielte. Er blinzelte in die schrägstehende Sonne.

»Damals?« Solon kratzte sich den wuchernden grauen Bart. »Keine Festung Rhakotis. Ein paar Krieger in Menuthis und Peguati. Die haben uns gesagt, wir sollten uns in Pyemro melden und dann weiter nach Sais. Nach den langen Kriegen mußte alles erst wieder aufgebaut werden.« Er schwieg, dachte an die Fahrt, in der fernen Jugend, gestern. In fünf Jahrzehnten des Kampfes hatte der Stadtfürst von Sais, Psamatik, die Fremden vertrieben: dunkle Kuschiten zurück nach Süden, die »Leute aus Tjehenu« zurück in die Wüste Libyens, nach Westen, die furchtbaren Assyrer zurück in den Osten. Von Sais aus einte und heilte er das zerrissene Land. Auch der Seehandel mußte zuerst wieder in Gang kommen; vorher waren Zöllner sinnlos. Solon erinnerte sich an das Gesicht des uralten Herrschers: verwittert, schon entrückt und doch die Welt messend. Nach ihm (bald nach Solons Reise) kam Necho, nun herrschte dessen Sohn, Psamatiks Enkel Psamis, von Sais aus über das Land. Sais, die engen Straßen, Amuns düsterer Tempel, das Gehege mit Löwen und Elefanten. Mückenschwärme, Menschenschwärme – Gestank, Krieger, Händler, Handwerker. Und, wie seltsam, ganz plötzlich im Mund und in der Nase der Duft einer Schreiberin aus dem Tempel der Hathor. Der Duft, der Geschmack, die Fackeln und die Geschenke einer Nacht …

»Ein Vorschlag.« Elphenor räusperte sich. »Wenn das Stempel sind, werden sie öfter verwendet, sonst würde man keine schnitzen. Oder prägen, oder schlagen, oder was immer die hier machen. Kann das heißen, daß alle ›Danaer‹ in Naukratis Zoll bezahlen, während sonstige Fremde und Ägypter gleich an der Mündung abgefertigt werden?«

»Kann das wiederum heißen«, sagte Baiton mit einer Grimasse, »daß wir unsere Waren überhaupt nur in Naukratis verkaufen dürfen? Mir kann’s ja gleich sein, aber was macht ihr beide, mit eurem Metall? Ist doch wohl eher für die königlichen Waffenschmiede gedacht als für den Zwischenhandel, was? Als ich das letzte Mal hier war, fünf Jahre her, hab’ ich Zoll an der Mündung bezahlt und konnte dann machen, was ich wollte.«

Der einzige, der in jüngerer Zeit Ägypten besucht hatte, war Zenon, aber der Steuermann hob nur die Schultern. »Das Schiff, Wind, Wasser, Sandbänke – und die bezahlbaren Frauen im Hafen, das ist mein Anliegen. Ich bin ja kein Händler.«

»Hast du dich nie an einer Fracht beteiligt?« sagte Solon.

»Wozu? Und vor allem womit? Ich vermiete mein Wissen; offenbar weiß ich nicht genug, denn von dem, was ich dafür kriege, kann man sich nicht an Geschäften beteiligen.«

Bald überholten sie einen tiefliegenden Lastkahn. Aus dem Schilf tauchten an beiden Ufern immer mehr Hütten und ganze Dörfer auf, und plötzlich gab es Boote: Fischer, die auf dem Strom mit Wurfnetzen oder im Schilf mit Speeren arbeiteten. Weiter entfernt stiegen Rauchsäulen auf, wurden vom Wind gefällt und zerfetzt.

Nach einer langen Flußschleife sahen sie rechts, am südwestlichen Ufer, eine Bucht mit aufgeschüttetem Kai und Molen, dahinter Häuser aus Stein oder Lehmziegeln. Der rötlich glitzernde Giebel eines Tempels, an den Solon sich nicht erinnerte, überragte die anderen Gebäude.

Das Dorf, das der Athener vor fünfundzwanzig Jahren besucht hatte, war zu einer Stadt geworden. Baiton und Zenon grinsten über sein Erstaunen, als wollten sie sagen: »Wir haben es dir doch geschildert.« Solon murmelte etwas über die gesunden Zweifel, die nur durch eigenen Augenschein zu beheben sind.

Händler aus Miletos hatten den Tempel erbaut, der allen hellenischen Göttern geweiht war, Kaufleute aus Mytilene das Versammlungshaus an der mit Säulen und Bogengang umgebenen Agora. Athener, Spartaner, Thessalier, Rhodier, Kreter, Kyprer, Leute aus allen Städten der ionischen Küste, Phönikier aus Tyros, Sidon und sogar dem fernen Karchedon [Karthago], helle Ägypter, dunkle Kuschiten… Ägyptische Hauptleute befehligten Zoll- und Wachtruppen aus Karien und Lydien, und die Zöllner verlangten fünfzehn Hundertstel des Warenwerts. Während Polykles und die anderen murrend zahlten, zankten Elphenor und Solon so lange und so laut, daß man schließlich einen hohen Herrn aus dem Palast des königlichen Statthalters holte, einen feisten, krötenähnlichen Ägypter. Er roch nach Kinnamon und Narden, trug zahlreiche Ringe und hatte geschminkte Lippen.

Und er überraschte die Athener. »Solon?« sagte er, mit öliger Stimme und einer angedeuteten Verbeugung. »Der große alte Staatsmann, von dessen Weisheit und Wohltaten soviel berichtet wird? Und Metall für die Waffenkammer des Herrschers?«

Eher oberflächlich prüfte er die Waren; dann ließ er zwei Papyrosstreifen von einem Schreiber bestempeln und bekritzeln.

»Sagt dem Fürsten im Per-Ao zu Ka-Suut, daß sein elender Diener edle Gäste so zu behandeln weiß, wie es ihnen zukommt. Diese Binsenblätter sichern euch gebührende Achtung. Niemand darf Abgaben oder Wegzoll von euch verlangen  – aber ihr dürft eure Waren nicht verkaufen, ehe der Herrscher sie gesehen und darüber befunden hat.«

Elphenor wäre gern länger in Naukratis geblieben, beugte sich aber Solons Wünschen. Die anderen Händler würden in etwa zwanzig Tagen aufbrechen, flußauf segeln bis dorthin, wo der naukratische Mündungsarm mit dem nächsten zusammentraf, der an Sais vorüber zum Meer führte, von da flußab zur Hauptstadt des Pharao, wo Solon und Elphenor wieder an Bord gehen sollten. Der junge Athener blickte aus roten Augen ins Morgenlicht; er stank nach Bier und mindestens einer billigen Dirne. Die Sklaven und ein arg unwirscher Zenon (er verfluchte die »Augäpfel stechenden Dornen an den Rosenfingern dieser schmierigen Schlunze, wie heißt sie noch?«) brachten sie mit der Glauke ans andere Ufer.

Dort mieteten sie einen Ochsenkarren samt Treiber, der sie über die erhöhte Straße zwischen Feldern und Dörfern zum nächsten Nilarm geleitete. Am mittleren Nachmittag schleppten sie ihre Kisten und Ballen an Bord einer Fähre und ließen sich übersetzen: nach Sais.

Im Rückblick verschmolzen Empfang und Ehrungen (und zähes Feilschen um Preise) für Solon mit dem Bild der Stadt, ihrer hundert verschiedenen Menschensorten, der halbverfallenen Lehmwälle, der staubigen Lehmgassen, der Häuser und Schänken zu einem wirren Gemenge von Farben und Gerüchen. Nur eines blieb, ein Brandzeichen in der Seele: der Tempel des Amun, die Stimmen der Priester, der Duft von Weihrauch und die Schriften, die die Priester ihm vorlasen.

Und die Fassungslosigkeit, das Entsetzen des Atheners, der seinen Durst nach Wissen hatte löschen wollen und nun in Kenntnissen ertrank, die alle Grundlagen zerstörten, alle Grundmauern fortspülten, auf denen er für sich und Athen Gedanken und Gesetze errichtet hatte.

Empfang und Ehrung gingen der unbeabsichtigten und für den alten Priester des Amun kaum begreiflichen Demütigung Solons voraus und machten diese noch schmerzlicher. Der König, nur kurz in der Stadt, wies seine Diener an, Solon und Elphenor im Gästeflügel des Palasts unterzubringen; Elphenor verschwand bald, um sich durch die Schänken und Freudenhäuser von Sais zu treiben. Am dritten Tag in Sais begann Solons Niedergang.

Am Anfang stand die Begegnung – genauer: Wiederbegegnung; sie hatten sich am Vortag beim Empfang flüchtig beschnuppert  – mit dem alten Phönikier. Ahiram war jenseits der sechzig, mit Augen wie schwarze Sonnen und einem Gesicht wie der brüchige Boden eines trockenen Bachbetts. Er war Steuermann an Bord eines der Schiffe gewesen, die Necho, Vater des jetzigen Pharao Psamik, vor einem Jahrzehnt zur Umrundung Libyens ausgesandt hatte.

»Ich hause im Tempel, wie es Göttern und gottlosen Seeleuten zusteht.« Ahiram grinste ins grelle Nachmittagslicht und zog Solon weiter durch die brodelnden Gassen. Auf einem kleinen dreieckigen Markt, zwischen Verkaufstischen und Ochsenfladen, umschwirrt von Fliegen und von Hühnern umpickt, hatten sie dünnes Bier getrunken und Früchte gegessen. »Der alte Wen-Amun will alles wissen; deshalb hat er mich aufgenommen und läßt mich schreiben. Ich schreibe langsam.« Der Phönikier kicherte. »Wozu soll ich mich beeilen? Sobald mein Bericht fertig ist, wird kein Platz mehr für mich im Tempel sein.«

»Wie lange wart ihr unterwegs?«

Ahiram steuerte den Athener in eine winzige Gasse zwischen Lehmhütten. »Hier lang. Drei Jahre und etliche Monde.«

Während sie durch die immer engere, immer schäbigere Nordstadt zum Tempel gingen, erzählte er vom Kanal, den Necho graben ließ, und den Schiffen, die phönikische Meister in Tyros bauten. Von Tyros durchs Große Grüne zu den Nilmündungen, aufwärts nach Sais, dann zum östlichsten Nilarm und durch den neuen Kanal ins Ostmeer, das Ägypten von den Wüsten Arabiens trennt. Nach Süden, immer nach Süden, zu den Weihrauchlanden, dann nach Südwesten. Er berichtete von Küsten und Inseln, von Dörfern mit dunkelhäutigen Menschen, von Häfen, in denen gute Schiffe lagen – Schiffe von Herrschern, deren Namen keiner in Ägypten je gehört hatte. Vom Regenwind und vom Winterwind, der sie nicht vorankommen ließ, so daß sie lange Monde an Land verbrachten, säten und ernteten, bis endlich ein anderer Wind aufkam. Von den gewaltigen Wogen bei einem Vorgebirge, das an die Form einer Nadel erinnerte, und vom zweiten Winter in einer Bucht zu Füßen eines tischähnlichen Bergs, der dort lag, wo die unendliche Küste des tiefen Südlands nach Norden schwenkte.

Eine Tempelsklavin, nackt bis auf einen knappen Schurz, brachte ihnen Becher und drei Krüge: einen mit kühlem Brunnenwasser, einen mit Saft verschiedener Früchte, einen mit kretischem Wein. Die Frau war gebräunt, wiewohl hellhäutig, hatte zartrote Brustspitzen, duftete nach Öl und Salben und bewegte sich wie ein schönes schlüpfriges Tier, aber Solon nahm sie eher als Störung wahr – Störung in Ahirams Bericht.

Der Tempel des Amun stand auf einem Hügel im Schwemmland, war aus weit hergebrachten Steinen errichtet und überragte die Stadt einschließlich des niedrigen, weitläufigen Palasts. Von der hohen Terrasse, von einem Schirm aus Palmwedeln beschattet, sah Solon das fruchtbare Flußland, die Kähne auf dem Hapi, die Bewohner des Landes Tameri und die zahllosen Fremden in den Gassen und auf den Märkten, aber eigentlich sah er all dies nicht. In seinem Geist entstanden Bilder – unendliche Wasserwüsten, schroffe Küsten, weite Buchten, seltsam geformte Schiffe. Unglaubliche Vögel mit Flügeln, die von einem Ende zum anderen vier oder fünf Mannslängen maßen. Menschengroße Affen, die aus dichten Küstenwäldern Steine und riesige Nüsse nach den lagernden Seeleuten warfen. Feuerberge. Waldinseln. Seehunde und Wale und bunte kreischende Vögel …

»Habt ihr eigentlich nie befürchtet, ihr könntet über den Rand der Erdscheibe hinausgeraten?«

Ahiram sah ihn ausdruckslos an. »Erdscheibe?« Er bewegte sich auf dem knirschenden Schemel und rieb den Rücken an der Steinwand, hinter der seine Gemächer und die der Priester lagen. »Scheibe, umflossen vom gewaltigen Strom des Okeanos? Ha.«

Okeanos war das einzige hellenische Wort des Satzes. Das Gespräch – ein zungenbrecherisches Gemenge aus Phönikisch, Ägyptisch und Hellenisch, mit gelegentlichen Fetzen der alten Verhandlungssprache der Fürsten, Assyrisch—beanspruchte Solons Geist fast ebenso wie der Inhalt von Ahirams Bericht.

»Wieso ha?«

»Als wir aufbrachen, stand mittags die Sonne über uns – im Frühjahr. Im Sommer steht sie dort, wo wir heute sind, hoch im Süden, nicht wahr? Aber im zweiten Sommer, als wir tief im Süden waren, stand sie mittags hoch im Norden.«

»Was! Das ist …« Solon setzte seinen Becher so hart auf den kleinen Tisch, daß Flüssigkeit herausschwappte und den hellen Chiton tränkte.

»Unmöglich?« Ahiram gluckste. »So unmöglich wie die Tatsache, daß dein kurzer Leibrock, den du Chiton nennst und für eine hellenische Leistung hältst, schon vor Jahrhunderten von meinen Vorfahren getragen und kitun genannt wurde? Auch unmöglich, daß wir auf dem unendlichen Okeanos eine Krümmung oder Wölbung der Erde gesehen haben? Auch unmöglich, daß die Sterne, nach denen Seeleute sich nachts richten, dort unten nicht zu sehen sind, hinter der Krümmung der Erde langsam im Norden zurückbleiben? Und daß sie, als wir die andere Küste nach Norden fuhren, viele Monde später langsam wieder aus dem Meer und dem Land auftauchten?«

Solon schwieg eine Weile; schließlich sagte er schwach: »Aber … was bedeutet das für uns, für unsere Kenntnisse?«

»Wen-Amun sammelt alte Aufzeichnungen. Er hat –« Ahiram brach ab und schüttelte den Kopf. »Nein, anders. Du weißt doch, daß die Romet ebenso wie die Babylonier schon Wissen gesammelt haben, als man in den Gegenden, aus denen du kommst, noch nicht einmal Feuer machen konnte? Gut. Sie haben die Sterne und ihre Bewegungen beobachtet, um nur das zu nennen, und die Länge der Rundungen berechnet. Jahr, Mond und so weiter. Wen-Amun sammelt so etwas. Er hat meine Beobachtungen mit den alten Aufzeichnungen verglichen und sagt, es habe schon lange die Vermutung gegeben, daß die Erde eine Kugel ist und sich um die Sonne dreht. Damit ließe sich vieles erklären, was sonst unerklärlich bleibt.«

»Aber …« Solon verstummte. Er trank Saft, Wasser und Wein gemischt, starrte nach innen und hinaus. Weit im Westen sank der Feuerball des Helios. Oder sank er nicht? Der Athener rang mit Dingen, die zu wissen er geglaubt hatte, und mit anderen Dingen, die er nicht glauben mochte, um nicht sein Wissen zu verlieren. Dabei berührte ihn all dies nur mittelbar, wie ein Bericht über Unheil, das entfernten Verwandten zugestoßen ist. Ohne Verblüffung gestand er sich ein, daß es ihn nicht kümmerte, ob die Welt Scheibe sei oder Ball, ausgehöhlte Kugel oder moosbedecktes Dreieck; ob Helios im Feuerwagen über den Himmel raste, oder ob ein Feuer ohne Helios dort stillstand, während sich unten die Erde drehte.

Ahirams Lächeln wirkte nachdenklich, aber das mochte ein Spiel des Zwielichts sein. »Was trübt den inneren Tümpel, den du Geist nennst?«

Der Athener antwortete nicht gleich. Er suchte nach dem Grund dafür, daß er nicht verblüfft, wohl aber bestürzt war, wie getroffen von den Steinen eines über ihm einstürzenden Gebäudes. Dann begriff er, daß nicht Solon der Händler unter den Trümmern litt, sondern der Lehrer und Gesetzgeber. Als habe er es schon immer gewußt, wurde ihm klar, daß er nie wirklich an die Götter geglaubt hatte. Die menschenähnlichen Götter, die keinen Grund hatten, sich auf dem Olympos niederzulassen, wenn die Welt keine Scheibe war und der Olympos nicht Mittelpunkt. Die Ordnung der menschenähnlichen Götter zur Begründung einer heiligmäßigen Ordnung unter den Menschen. Schäbige, streitende, trunksüchtige Götter, von bisweilen übertretenen Gesetzen gebändigt; die Götterwelt als Abbild dessen, was der Gesetzgeber sich bestenfalls für die Menschen erhoffte, nicht umgekehrt. Solon würde ohne Götter weiterleben, nur mit Gesetzen; aber würden die Athener, wenn sie begriffen, daß der Olympos ein unbehauster Dreckklumpen war, nicht auch die Gesetze schmähen, die von diesem Klumpen hergeleitet waren – aus einer Quelle, die nie mehr fließen konnte?

»Du hast einen Stein in diesen Tümpel geworfen«, sagte Solon heiser. »Einen Stein, so groß wie ein Berg. Jetzt gibt es kein Wasser mehr darin.«

Ahiram kratzte sich den Kopf. »Wasser? Stein? Wieso?«

»Die Götter. Und die göttlichen Gesetze der Menschen.«

»Ah.« Der alte Seefahrer grinste. »Solon, Verbreiter von Gesetzen, gefangen in Bewegungslosigkeit? Nicht zurück zu alten Wahrheiten, und voraus keine neuen in Sicht?«

»Nicht einmal Sterne, nach denen ich segeln könnte.«

Es hatte einmal Sterne gegeben; vielleicht gab es sie noch, vielleicht waren sie vorübergehend umwölkt. Der Hader der Götter, in dem von ihnen gebrochene Gesetze dennoch zu erkennen waren, und der Hader der Helden, ausgelöst von Göttern. Feuer, angefacht von Göttern, in denen Helden brannten. Helden, die heimkehren wollten, die aber vom Hauch der Götter weit über das weinfarbene Meer getrieben wurden, in bauchigen Schiffen, listenreich und vieles erleidend. Oder andere Helden, aufbrausende Zerstörer.

Die geflügelten Worte, die Verse aus Erz und Ewigkeit, Gefäß aller Lehren und Vorbilder und Abschreckungen – waren die Worte denn wirklich noch leicht und geflügelt ohne den Hauch der Götter, oder barst nun das Gefäß, sickerte alle Weisheit in den Sand auf der Kugel: Weisheit, die nie Weisheit gewesen war, immer nur Täuschung und Trug?

Leise sagte er: »Aus Furcht vor dem Unbekannten, dem Tod, haben wir Unsterbliche und Leben in der Unterwelt erfunden. Götter und Helden, denen nachzueifern uns daran hindern soll, haltloses Getier zu werden. Götter, die im Mittelpunkt der Erdscheibe hausten. Für die auf einer Kugel kein Platz ist. Bleibt denn ohne Götter wenigstens das Gefüge des Großen Gedichts? Oder nur noch Moira, Herrin des Zufalls, so unergründlich, daß nicht einmal das Denken sich noch lohnen würde?«

Ahiram runzelte die Stirn. »Denken? Lohnen?« murmelte er.

Solon füllte den Becher wieder auf, trank, schwieg. Irgendwann später, als Schatten unten die Gassen verschlungen hatten, sagte er: »Aber zurück zu der Reise. Wie seid ihr heimgekommen?«

»Nach Norden.« Ahiram klang fast erleichtert. »Dorthin, wo bewaldete Inseln vor der Küste liegen und ein Feuerberg die Nacht erhellt. Dort biegt die Küste nach Westen, sehr lange Zeit, später wieder nach Norden. Es gibt dort Mündungen riesiger Ströme, und Städte, in denen Händler aus Qart Hadasht [Karthago] Gold und Elefantenzähne kaufen.«

Ahiram berichtete von Weiten, Wüsten und Gewässern, von kleinen Häfen und großen Inseln. »Dann sind wir in Gadir angekommen, wo die westlichen Phönikier, du weißt, die Herren von Qart Hadasht, Tempel und Festungen gebaut haben und mit den Fürsten von Tarshish um Iberiens Erz streiten. Sie haben uns als ferne Brüder aufgenommen; von dort sind wir durch die westliche Meerenge zwischen den Säulen des Melqart zurück ins Große Grüne gesegelt.«

»Gibt es im Westen auch Säulen?« Solon seufzte. »So viele Nachrichten … Ich dachte, es gäbe derlei nur im Nordosten, an der Enge des Dardanos, wo Herakles bei der Fahrt mit den Argonauten seine Säulen errichtete.«

Bald darauf brachte die Sklavin einen weiteren Stuhl und Früchte, Brot, kalten Bratfisch und drei dampfende, gebratene Hühner. Der alte Priester, den Solon ebenfalls am Vortag im Palast kennengelernt hatte, setzte sich zu ihnen.

Ahiram versuchte, von der Gestalt der Erde zu sprechen, aber der Athener lenkte ab, indem er nach Quellen alten Wissens fragte. Wen-Amun redete in Andeutungen von der Macht der Priester des Amun, ohne Billigung oder Mißbilligung auszudrücken. In den langen Jahren der Fremdherrschaft, sagte er, seien die Tempel Horte des Wissens geblieben und Knoten in einem Netz der Macht geworden, denn die Assyrer im Nordosten von Tameri, die Tjehenu aus der Wüste Libyens im Nordwesten und die Kuschiten im Süden hätten das Land besessen, nicht aber die Götter und ihre Tempel.

»Was weißt du von meinen Vorfahren?« sagte Solon. »Wir haben ja fast alles vergessen.«

Wen-Amun nickte; etwas wie väterliche Herablassung klang in seiner Stimme mit. »Ihr seid ein wenig wie Kinder; das stimmt, edler Solon. Dabei gäbe es vieles, auf das ihr stolz sein könntet. Wenn ihr es nicht vergessen hättet.«

»Stolz? Wir? Was meinst du damit?«

Wen-Amun klatschte in die Hände; ein Sklave erschien und zündete eine Fackel an, die er in ein Holzgestell steckte.

»Licht im Dunkel«, murmelte der Priester. »Das war das Land Tameri, als Die-von-jenseits-der-See alle Küsten verheerten und viele Städte untergingen, auch die deiner Vorfahren. Städte der Tanaju, Solon, überall in Muqannu, sind damals untergegangen, durch Feuer und Zwist von innen.«

»Wie lange liegen diese Dinge zurück?«

»Neuntausend Rundungen ist es her, seit deine Stadt Athen gebaut wurde; andere Orte in Muqannu sind älter. Dieser Ort hier, den ihr Sais nennt, wurde vor achttausend Rundungen gebaut. Die Städte weiter oben am Hapi waren damals schon alt. Und die Ereignisse, von denen wir sprechen, begannen vor etwa siebentausendachthundert Rundungen.«

Solon legte den Kopf in den Nacken und starrte in die Schwärze des Abgrunds zwischen den Sternen. Der Abgrund zwischen den Jahren erschien ihm tiefer. Und schwindelerregend.

»Siebentausendachthundert?« sagte er leise. »So lange?«

Ahiram gluckste. »Du mißverstehst, Athener. Die Romet rechnen nach zweierlei Maß. Die Zeit des Fürsten im Per-ao wird nach Herrschaftsjahren gemessen; aber du sprichst mit einem Priester des Amun, und in den Tempeln zählt man die Monde.«

»Weil sie immer gleich lang sind – oder fast.« Wen-Amun deutete auf die Halbscheibe des zunehmenden Monds. »Dreißig Tage, wie wir heute rechnen.«

»Siebentausendachthundert Monde?« Solon rechnete mühsam. »Das sind etwa… sechshundertvierzig Jahre?«

»Damals gab es, wie heute, viele Städte und Reiche um das Große Grüne. Tameri … die Totenhäuser, die du Pyramiden nennst, waren schon alt.« Der Priester begann eine lange Aufzählung von Namen, von denen Solon die meisten nicht einordnen konnte; Ahiram murmelte bisweilen Übersetzungen und Erläuterungen. So erfuhr der Athener, daß es schon damals Assyrer im Land der Zwei Ströme gegeben hatte; daß Syrien und jene Lande, die heute im Inneren Asiens den Medern gehörten (»ungefähr« – sagte Ahiram – »Syrien, Kilikien und einiges westlich und nördlich davon«), das Großreich des verlorenen Hatti-Volks gewesen seien; daß Ägypten und die Hatti teils im Krieg, teils im Frieden miteinander gelebt und Verträge geschlossen hatten, und daß die von den Phönikiern bewohnten Küstenlande damals den Ägyptern unterstanden.

»Phönikier, wie du sagst, ist euer neuer Name. Wir haben uns immer nach unseren Städten genannt – Männer aus Suru oder Sidunu oder Gublu, für dich Tyros und Sidon und Byblos; oder einfach Chanani, nach dem Land, Chanaanu.« Ahiram blinzelte ins Fackellicht; als er weitersprach, klang seine Stimme ein wenig herablassend, vielleicht gönnerhaft. »Was wäre euer Gespräch ohne mich? Ha. Und Muqannu ist natürlich Mykene, war aber für die Romet früher der Name des ganzen Landes, das du als Hellas zu bezeichnen beliebst. Eine Erfindung, natürlich – Hellas gibt es nicht, ebensowenig wie es ein Land der Phönikier gibt: nur Städte.«

Solon hob abwehrend die Hände. »Langsam, ich bitte euch! Ich ertrinke in fremden Wörtern und Namen. Und bis jetzt weiß ich nichts von dem, worauf wir Hellenen stolz sein könnten, wenn wir es noch wüßten.«

Wen-Amun lächelte spöttisch. »Ohne Kenntnisse keine Erkenntnis, mein Freund. Wie soll ich dir über Dinge aus dem Land der Ströme berichten, wenn du nicht weißt, daß jener Fluß, den du Euphrates nennst, bei den Assyrern Purattu heißt und bei uns Uruttu oder, manchmal, Buranun? Wie …«

»Gib mir, weiser Fürst aller Priester, einen Rahmen, in den die fremden Begriffe passen. Wenn ich ungefähr weiß, worauf sich dies und jenes bezieht, kann ich damit umgehen. Nenn mir nicht die Namen aller Teile in deiner Sprache, Wen-Amun – sag mir, daß es sich um Namen der Teile eines Körpers handelt und mit welchem Teil man hört. Dann höre ich genauer.«

Ahiram schnaubte, beugte sich vor und klopfte dem Athener auf die Schulter. »Fuß«, sagte er. »Der mit dem du riechst.«

Wen-Amun schwieg ein paar Atemzüge lang; dann begann er eine sehr allgemein gehaltene Abhandlung über Ägyptens uralte Kenntnisse ferner Länder und Menschen, »im Großen Grünen und am Rand der Welt«. Die Romet, sagte er, hätten schon sehr lange nicht nur mit den östlichen Ländern gehandelt, Zedernholz und anderes von den Phönikiern bezogen, sondern auch mit dem Süden, dem Norden und dem Westen Beziehungen unterhalten. Tempelharz aus dem Süden, Erze aus dem Norden und Westen, teils auf eigenen Schiffen nach Ägypten geholt, teils von fremden Händlern geliefert, die dafür andere Dinge mitnahmen. Und in den fernen Gebieten habe sich bisweilen Neid geregt, wenn die dort einfach Lebenden sahen, welche Annehmlichkeiten und wieviel Schönheit Romet auf ihren Schiffen und, da sie oft überwintern mußten, auch in ihren Häusern hatten. So seien vor allem aus den kargen Landen des Westens und Nordens immer wieder mutige Männer gekommen, um für den Herrscher der Romet zu kämpfen und mit gutem Leben entlohnt zu werden. Von diesen Kämpfern habe man viele Dinge gehört und aufgezeichnet, ebenso all das, was die eigenen Händler berichten konnten. Aber auch mit anderen reichen Gebieten und ihren Fürsten habe man freundschaftlichen Umgang gehabt – so mit Minu von Kefti (»Minos von Kreta«, sagte Ahiram) und seinen Nachfolgern, mit den Hatti und den Herren der zahlreichen Städte des Landes Muqannu, zu denen auch die Gründer von Solons Heimatstadt gehörten. »Prächtige Bauwerke, gutes Leben in reichen Städten, schnelle große Schiffe und für den Kriegsfall gewaltige Scharen von Streitwagen – auf all dies könntet ihr stolz sein, wenn ihr es noch wüßtet. Und wenn nicht andere eures Volkes all dies zerstört hätten.«

»Ah«, sagte Solon. »Andere unseres Volkes? Wann etwa? Und wer?«

»Die Ärmeren aus dem Norden, die Rauhen – Tanaju aus den Ländern jener, die du Achaier nennst. Jene, die das große Djibu zerstört haben, das Qadimu gründete, und die bald danach in den Osten fuhren, um auch das reiche Wirudja zu plündern.«

Solon schüttelte ratlos den Kopf und blickte den Phönikier an. »Was meint Wen-Amun?«

Ahiram zögerte kurz; dann kicherte er unterdrückt und bemühte sich, das spöttische Grinsen nicht allzu breit werden zu lassen. »Wappne dich, Athener«, sagte er heiser. »Nachkomme und Verehrer der achaischen Helden – wappne dich, Solon.«

»Weshalb?«

»Djibu. Qadimu. Erkennst du die Namen nicht?«

Solon bewegte die Lippen, rollte die Namen mit der Zunge im Mund herum, vom Rachen bis zu den Zähnen. »Djibu. Dipu. Tibu … Theben? Und Qadimu – Kadimu … Kadmos? Kad – – –« Er brach ab; eine furchtbare Kälte kroch in sein Gemüt.

»Sieben zogen gegen Djibu«, sagte Ahiram. »Aber erst ihre Söhne zerstörten es. Theben, gegründet von einem Chanani namens Qadimu, den ihr Kadmos nennt. Sieben, und später Tausende. Wirudja … Hm. Sagt dir nichts? Die Hatti nannten es Wilusa; sie haben den Ort und das Land vorübergehend beherrscht.« Er wandte sich an Wen-Amun. »Waren nicht in der großen Schlacht, als Romet und Hatti bei Qadesh gegeneinander kämpften, Krieger aus Wirudja dabei? Bei den Scharen des Hatti-Herrschers?«

Der Priester grübelte. »Es sind so viele genannt, auf den großen Tafeln … Ah, du meinst die Dardaner?«

»Dardaner?« sagte Solon fast tonlos; er mußte sich mehrmals räuspern, um weitersprechen zu können. »Dardaner? Was haben sie mit, wie heißt das, Wirudja zu tun?«

Wen-Amun musterte ihn, fast mitleidig, wie es schien. »Wilusa, so nannten es die Hatti. In Muqannu hieß es Wiliusa, und später …«

»Ilios?« Solon öffnete den Mund, schloß ihn wieder, öffnete ihn abermals. »Ilios? Dardaner? O ihr Götter!«

Wie durch einen rauschenden Vorhang, einen Wasserfall hörte er Wen-Amun sprechen: von der Macht und dem Reichtum der Stadt, welche die Meerengen beherrschte und damit auch den Handel mit den erzreichen Ländern am nordöstlichen Meer; von der Fahrt eines achaischen Fürsten namens Ia-Sunu, den eines jener Länder anzog, in denen man mit Tierfellen Gold aus Flüssen siebte; von seinem Streit mit den Fürsten der Stadt und vom Zug des Helden Ira-Kiresu, der die Stadt an der Meerenge zerstörte und dort Säulen aufrichtete, die seinen Namen trugen; und von tückischen, gierigen Emporkömmlingen mit Namen wie Aga-Munu, Uddi-Sussu oder Aki-Resu, die ein Menschenalter später die Stadt abermals verwüsteten, als deren König Peri-Ammu und seine Söhne Krieg gegen die Hatti führten …

»Er ist erschlagen«, sagte Ahiram irgendwann. »Der arme Athener weiß nicht, wie er seine Kindergeschichten mit den gewaltigen Wahrheiten eurer Schriften versöhnen soll.«

Der Sockel von Hellas. Ein Bauwerk, behaust von zahllosen Ahnen und Nachfahren. Errichtet wider das Chaos, errichtet auf Versen, die dauerhafter waren als Erz. Zusammengehalten von … Träumen; gebaut aus Worten und zerstört durch Worte. Schlacke das ewige Erz, Geröll die behauenen Steine.

»Es sind doch nur alte Geschichten«, sagte Wen-Amun. »Schriften; vor sechshundert Jahren auf Papyros gekritzelte Zeichen. Was ist daran so furchtbar?«

»Schriften«, sagte Solon heiser, »und Ströme, die die Grundmauern des Gebäudes einreißen, in dem ich lebe. Gelebt habe. Schriften, die die Götter stürzen und unsere Gesetze zu Staub machen. Was sind diese Schriften, und kann ich sie sehen?«

»Es sind Aufzeichnungen auf Binsenblättern und Tempelwänden. Briefe eines Mannes namens Kuri-Nussu …«

»Korinnos, nehme ich mal an«, sagte Ahiram.

»… und eines Händlers, der die Dinge gesehen hat; ein Mann namens Djoser, Rome aus Men-nofer.«

»Ägypter aus Memphis«, sagte Ahiram gönnerhaft.

»Djoser hat eine Geschichte aus seinen Erlebnissen gemacht, mit Reden und Empfindungen, sehr ungewöhnlich. Gestützt wohl auf knappe Aufzeichnungen eines assyrischen Händlers, Ninurta, und einiger anderer. Ein Mann namens Zaqarbal aus« – der Priester suchte offenbar einen Namen; schließlich schnipste er – »ah, Sidon, wie ihr sagt. Und von anderen aufgeschriebene Erzählungen eines weitgereisten Kriegers, Uddi-Sussu.«

»Odysseus?« Solon schnappte nach Luft. »Kann ich sie sehen?«

»Morgen und viele Tage danach. Diener und Schreiber des Tempels …«

»Gib ihm doch eure schöne Schreiberin, zum Trost.« Ahiram keckerte.

»… werden dir helfen, sie zu übersetzen und mit deinen Zeichen auf Binsenblätter zu schreiben. Aber in dieser Nacht  … Soll ich fortfahren?«

Solon nickte schwach. »Sprich, Herr des Tempels.«

BRIEF DES KORINNOS (I)

[1178 v. C.] Korinnos der Ilier, Zögling des Palamedes, im Frühling des neunten Jahres nach Vernichtung der Stadt – neben der Garküche des Xanthippos im Hafen von Kydonia am nordwestlichen Ende von Kreta: Katunaya auf Kefti – an den Handelsherrn Djoser, jenen derer von Yalussu, im weiß-und-ockerfarbenen Haus zwei Straßen nördlich des Tempels des Amun in Memphis: Men-nofer, im Schwarzen Land, Tameri, Misru.

Heiles Alter, Freund, und Erfüllung aller Ruhebedürfnisse des Weitgereisten und vor der Zeit Vergreisten; Silber zur Befriedigung der unwesentlichen Gelüste, Wein und sanfte Stimmen für die wichtigen. – O Djoser:

In wenigen Tagen wird einer deiner unerträglichen Landsleute (er hat hier den Winter verbracht, die Weinvorräte vertilgt, zwei Frauen geschwängert und meine Ohren mit zähflüssiger Rede geschändet) sein Schiff, Äsung der Bohrwürmer, nach Ersetzung etlicher Planken ins Wasser schieben und mit unredlich erworbenem Reichtum aufbrechen. Zur Minderung seines Übermuts wird er meine Flüche und dies Bündel von Binsenmark-Rollen mitnehmen.

Ernsthaft, mein alter Freund: Willst du dich nicht dazu verstehen, deinen faltigen Arsch in Reisekleidung zu wickeln und aufzubrechen, in den Westen, wo zwar nicht die erneuerte Jugend deiner harrt, wo aber neue Dinge dein schändliches Leben in geschmeidigem Scheitern enden lassen möchten? Bis zur Mitte des Sommers wird dein Schreiben oder gar dein Leib mich hier noch antreffen; danach?

Der geschwätzige Sidonier: im Westen, an der Küste des Libu-Landes, und später, sagte er im vergangenen Herbst, wolle er zu den großen Inseln. Der Assyrer: im Westen. So auch ich – bald, im Sommer. Nur du, seßhafter Rome, des Reisens und Handelns müde, willst dich in der Nähe eurer Tempel zu Tode öden? Segen darauf, und Hohn.

Warte noch ein Weilchen, Djoser; die wichtigen Nachrichten, um die du gebeten hast, folgen später; ich habe im Winter zahlreiche Binsenrollen beschrieben, denen ich nun andere, minder zahlreiche, voranstelle, damit du hörst, was dir entgeht, und damit du die Aufzeichnungen über alte Dinge mit der Trauer lesen magst, die jenen befalle, der von neuen Dingen hört, ohne daran teilzuhaben.

Im Herbst brachte ein Boot aus Ithaka Nachrichten von Odysseus, der, wie es heißt, noch immer an die Grotte denkt. Seine Herrschaft ist gefestigt, sein Gaumen dagegen locker, und die Zähne, die ihn verlassen, haben sich auf jene Reise ohne Wiederkehr begeben, die wir alle antreten müssen.

Der Assyrer und seine Göttin werden den Winter im Haus des Langen Mannes Khanussu verbracht haben, wenn die widrigen Zufälle ihnen gewogen waren. Du erinnerst dich sicher – Khanussu der Shardanier, dessen Haus, wie er sagte, am Strand steht, in der Bucht der Hirsche, mit Blick nach Osten über das Meer zu jenem Festland Tyrsa [Italien], das angeblich die Form eines Beines samt Fuß hat? Khanussu der Bogenschütze, Seefahrer und Geschichtenerzähler von der großen Insel Sharda [Sardinien], die auch Iknusa heißt, nördlich der sehr großen dreieckigen Insel der Shekelier [Sizilien]? Shardana, Shekelet … du siehst, ich komme nicht weg von deinen Anliegen und deinem letzten Brief.

Nun also. Die Nachrichten aus Tameri, die du mir geschickt hast, sind betrüblich; ich hatte gehofft, daß in diesen wirren Zeiten, da die alten Reiche untergegangen sind und neue sich nicht bilden wollen, wenigstens dein Land der Binsen und der Totenhäuser noch eine Weile ein Hort der zufrieden Lebenden sei. Aber die Entwertung der teuren Metalle, von der du schreibst, die zunehmende Macht der Priester, die Unzuverlässigkeit der königlichen Verwalter, der Mangel an Nahrung – Djoser, gürte deine Lenden, sofern diese noch erwähnenswert sind, und komm mit uns in den Sonnenuntergang, der vielleicht heller ist als der Osten, in dem die Sonne nur noch scheinbar scheinend aufgeht.

Dank, jedenfalls, für die zwei oder drei Bestätigungen von Dingen, die wir angenommen hatten. Shardanier, Shekelier, Tyrser als Söldner deiner Könige, ebenfalls als Söldner des Libu-Herrschers Meryre, als Seeräuber und Teil jener Horden, die im achten Jahr deines Herrschers von euren Kriegern vernichtet wurden, nachdem sie alles von Ugarit bis zur Mündung des Jotru verwüstet hatten … Wir wußten es, nicht wahr, aber es ist gut zu hören, daß diese Dinge in euren Tempeln verzeichnet sind.

Anderes hat sich in den letzten Monden klären lassen. Wie du weißt, wurde Idomeneus nach seiner Heimkehr erschlagen, da man seiner nicht länger bedurfte; hierin teilte er das Los Agamemnons und vieler anderer. Odysseus … nun ja, ihm habe ich vergeben; denn was er meinem Herrn und Lehrer angetan hat, hätte dieser zweifellos meiner Stadt angetan. In gewisser Weise hat der Mann aus Ithaka es mir erspart, Palamedes, den ich geliebt habe, hassen zu müssen. Die anderen sind zu dem Dreck geworden, der sie immer schon waren, obgleich ihre menschenähnliche Gestalt uns zeitweilig getäuscht hat. Bedauerlich ist allenfalls, daß man hier auf Kreta, und nicht nur in Knossos, mit allzu gründlichem Eifer ans Totschlagen ging, so daß neben Idomeneus, Meriones und anderen Ungeheuern noch viele starben, die nun keine Auskunft mehr über Früheres geben können.

Es scheint sich jedoch weitgehend so zu verhalten, wie du angenommen hast. Alle Einzelheiten, die ich ermitteln konnte, und alle Dinge, an die ich mich erinnere, stehen im langen Bericht; hier nur vorab einige klärende Zusammenfassungen.

Wie Meryre, der Libu, der vor vier Jahrzehnten Tameri von Westen her angriff; wie deine Herrscher; wie die Hatti-Könige; wie eigentlich jeder, der den eigenen Schmutz nicht mehr beseitigen mag – so also haben auch die Herrscher von Mykene und Pylos Söldner geworben. Die edlen und ruhmreichen Dinge zur Blendung der Götter taten sie immer selbst, die stürmischen Fahrten im Streitwagen, all das, was glänzt; jene aber, die das Aufräumen zu besorgen hatten, die als Läufer und Fußkämpfer die Streitwagen abschirmten und ebenso die verwundeten Feinde töten wie die eigenen Verwundeten bergen durften – diese Fußkrieger kamen zunächst aus dem armen Volk des eigenen Herrschaftsbereichs. Als aber der Reichtum zunahm und die Herrscher sahen, daß die Hand des Tagelöhners mit dem Pflug mehr Herrenreichtum schaffen kann als mit dem Speer, da holten sie für derlei Schmutzwerk andere herbei, besitzlose und entsprechend kühne Männer, denn Kühnheit stellt sich vor allem dort ein, wo Vernunft nichts zu bewahren hat, da sie nichts besitzt. Kühne Männer aus armen Gegenden – Shardanier, Shekelier und andere für Tameri, und rauhe Achaier für Mykene. Männer aus den Bergen nördlich von Theben; Männer, die für Pferd und Wagen zu arm waren und anfangs, sagt man, Reiter für Ungeheuer hielten und Kentauren nannten; Männer, die sich nicht wuschen und die Haare lang und zottig trugen, aber wie rasend kämpfen konnten. Männer, die heute heiter und morgen traurig waren, da ihnen der Gleichmut fehlte, den nur Bildung und Erziehung verleihen  – Männer, kurz gesagt, die Namen trugen wie Herakles, Achilleus, Aias … Tobende tapfere Streiter, mit denen Königreiche zerstört, nicht aber aufgebaut werden können.

Diese Kämpfer taten Dienst, erhielten Nahrung und Metall als Lohn, und wenn sie nach einer gewissen Zeit nicht heimkehren wollten, sondern lieber dort blieben, wo das Leben reicher und angenehmer war, gaben die Herrscher ihnen ein Stück schlechten Landes und als Frau vielleicht eine Magd oder Sklavin. So blieben sie, mehrten durch Arbeit den fruchttragenden Boden und durch Nachtergüsse die Anzahl der Untertanen.