Das Lange Utopia - Terry Pratchett - E-Book

Das Lange Utopia E-Book

Terry Pratchett

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Beschreibung

Die Fortsetzung der SPIEGEL-Bestseller-Reihe
um die »Lange Erde«.


2045–2059: Während sich die Menschheit auf der Datumerde weiterentwickelt, ihrem von Katastrophen heimgesuchten und in die Jahre gekommenen Heimatplaneten, schreitet auch die Besiedelung der unendlich vielen Welten der Langen Erde voran. Lobsang, der als künstliche Intelligenz über Jahrzehnte die Lange Erde erforscht hat, lebt nach einem Zusammenbruch als Mensch getarnt auf einer exotischen, weit entfernten Erde. Dort glaubt er, ein »normales« Leben führen zu können. Doch irgendetwas stimmt mit dieser Kopie der Erde nicht. Gemeinsam mit dem zu Hilfe gerufenen Joshua entdeckt Lobsang, dass sich ein unbekannter Planet in einer der Welten der Langen Erde verfangen hat. Mit wenig erfreulichen Aussichten für deren Bewohner …

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Buch

2045–2059: Während sich die Menschheit auf der Datumerde, ihrem von Katastrophen heimgesuchten und in die Jahre gekommenen Heimatplaneten, weiterentwickelt, schreitet auch die Besiedelung der unendlich vielen Welten der Langen Erde voran.

Lobsang, der als künstliche Intelligenz jahrzehntelang die Lange Erde erforscht hat, lebt nach einem Zusammenbruch als Mensch getarnt auf einer exotischen, weit entfernten Erde. Hier, in New Springfield, glaubt er ein »normales« Leben führen zu können und adoptiert gemeinsam mit Agnes sogar ein Kind. Doch anscheinend ist er nicht ohne Grund hergelockt worden. Gerüchte über seltsame Phänomene machen die Runde, und es stellt sich heraus, dass mit dieser Kopie der Erde etwas nicht stimmt.

Millionen Schritte entfernt befindet sich Joshua gerade auf einer sehr persönlichen Entdeckungsreise auf den Spuren seines Vaters, als ihn Lobsangs Hilferuf erreicht. Es stellt sich heraus, dass sich ein unbekannter Planet in einer der Welten der Langen Erde verfangen hat. Dessen unersättliche Bewohner sind wild entschlossen, das versehentlich neu entdeckte Universum – die Lange Erde – zu erobern und zu kolonialisieren …

Weitere Informationen zu den Autoren sowie zu lieferbaren Titeln finden Sie am Ende des Buches.

Terry Pratchettund Stephen Baxter

Das Lange Utopia

Roman

Ins Deutsche übertragenvon Gerald Jung

MANHATTAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »The Long Utopia« bei Doubleday, an imprint of Transworld Publishers, London
Manhattan Bücher erscheinen im Wilhelm Goldmann Verlag München,einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Copyright © der Originalausgabe 2015by Terry and Lyn Pratchett and Stephen BaxterCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenDie Nutzung des Labels Manhattan erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Hans-im-Glück-Verlags, MünchenUmschlaggestaltung und Konzeption: Buxdesign | München, nach dem Originalentwurf von R. Shailer/TW Umschlagmotive: © Shutterstock/Quintanilla, Shutterstock/Zack C, Shutterstock/George KoultouridisDie Konstruktionszeichnung stammt von Richard Shailer.Redaktion: Uta RupprechtSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-18930-3V002
www.manhattan-verlag.de

Für Lyn und Rhianna, wie immer

T. P.

Für Sandra

S. B.

1

Im Februar 2052, irgendwo in den Tiefen der Langen Erde:

Auf einer anderen Welt, unter einem anderen Himmel – in einem anderen Universum, dessen Entfernung von der Datum, der Erde der Menschheit, dennoch profan in menschlichen Schritten gezählt wurde – lag Joshua Valienté neben seinem Lagerfeuer. Unter ihm auf dem Talboden war das Grunzen und Schnüffeln jagender Tiere zu hören. Die samtig violette Nacht war voll sirrender Insekten, unsichtbarer Sandflöhe und anderer Stechviecher, die sich kamikazeartig auf jeden bloßliegenden Quadratmillimeter von Joshuas Haut stürzten.

Joshua hielt sich schon zwei Wochen an diesem Ort auf und kannte kein einziges der Wesen, mit denen er sich diese Welt teilte. Eigentlich wusste er nicht einmal genau, wo er sich überhaupt befand, weder geographisch noch wechselwärtig gesehen; er hatte sich nicht die Mühe gemacht, die Erden zu zählen, die er durchquert hatte. In seinen selbstverordneten Auszeiten waren ihm präzise Ortsangaben egal. Obwohl er die Lange Erde schon seit drei Jahrzehnten bereiste, hatte er längst noch nicht alle ihre Wunder entdeckt.

Das gab ihm zu denken. Noch in diesem Jahr wurde er fünfzig Jahre alt. Solche Jahrestage konnten einen durchaus nachdenklich machen.

»Warum musste das alles bloß so fremdartig sein?«, sagte er laut. Er war allein auf dem Planeten, warum sollte er da leise sein? »Diese vielen parallelen Welten und das ganze Drumherum. Wozu das alles? Und warum musste das alles ausgerechnet mir passieren?«

Und warum bekam er schon wieder Kopfschmerzen?

Letztendlich waren die Antworten auf einige seiner Fragen dort draußen zu finden, sowohl in der eigenartigen Seitwärts-Geographie der Langen Erde als auch tief in Joshuas eigener Vergangenheit. Was die wahre Natur der Langen Erde betraf, so war sie zum Teil bereits im Juli 2036 enthüllt worden, weit draußen in den Hohen Megas:

Solange sie in dem Haus in New Springfield wohnten – es waren am Ende dann doch nur ein paar Jahre –, hatte sich Cassie Poulson alle Mühe gegeben zu vergessen, was sie damals im Sommer ’36 beim Ausschachten eines Kellers entdeckt hatte.

Seit ihrer Ankunft ein Jahr davor hatte Cassie angesichts ihrer neuen Welt Zweifel verspürt. Dabei fühlte sie sich durchaus fähig, hier draußen in der unerforschten Wildnis der Langen Erde ein neues Zuhause aufzubauen und eine Familie durchzubringen. Auch ihrer Beziehung zu Jeb, die so stark und wahrhaftig wie die Eisennägel war, die er schon bald in seiner Schmiede herstellte, war sie sich völlig sicher. Sie zweifelte auch nicht an den Leuten, die gemeinsam mit ihnen diesen langen Weg gegangen waren, in einem gewaltigen Treck über eine Million Schritte weg von der Datum, auf der Suche nach einer neuen Heimat in einer der unzähligen Welten, die Joshua Valienté bei seiner ersten Forschungsreise mit einem der allerersten Luftschiffe der Langen Erde entdeckt hatte.

Nein, diese Welt selbst bereitete ihr Sorgen, zumindest ganz am Anfang. Die Erde West 1.217.756 war ein Wald. Nichts als Wald. Völlig ungewohnt für ein Mädchen, das den Großteil seines Lebens in Miami West 4 verbracht hatte, damals kaum mehr als eine unbedeutende Vorstadt ihres Vorläufers und Namensgebers auf der Datum.

Im Laufe des ersten Jahres war es besser geworden. Zu ihrer großen Freude hatte Cassie festgestellt, dass es hier keine richtigen Jahreszeiten gab – keinen Sommer wie in Miami West 4, der die Stadt immer in einen Glutofen verwandelt hatte, und auch keinen nennenswerten Winter. Was das Wetter anging, musste man sich in New Springfield keine großen Gedanken machen. Außerdem gab es, abgesehen von den üblichen Stechmücken und anderen durstigen Insekten, nichts in den Wäldern, das einem gefährlich werden konnte – jedenfalls nicht gefährlicher als ein kleiner Biss in den Finger von einem aufgeschreckten Fellknäuel. Natürlich musste man sich von den Flüssen fernhalten, wo die Krokodile lauerten, und von den Nestern der Großen Vögel.

Es wurde sogar noch besser, nachdem sie und Jeb genug Gelände gerodet und die ersten Pflanzen gesetzt hatten, Weizen und Kartoffeln und Salat und Rüben, als die Hühner, Ziegen und Schweine ihren ersten Nachwuchs bekamen und sie und Jeb mit dem Bau ihres ersten Zuhauses begonnen hatten.

Ja, alles lief gut bis zu dem Tag, an dem Jeb auf die Idee kam, dass sie einen Keller brauchten.

Jeder wusste, dass ein Keller eine vernünftige Vorsichtsmaßnahme war, sowohl als Vorratsraum als auch als Zuflucht vor Heimsuchungen wie Wirbelstürmen und Banditen mit Wechsel-Boxen. Jeb und die Nachbarn rechneten zwar nicht mit solchen Schwierigkeiten, trotzdem war es besser, den Keller fertig zu haben, bevor sie sich an die Gründung einer Familie machten.

Also hob Cassie mit dem bronzenen Spaten, den sie den ganzen Weg von Miami West 4 bis hierher mitgeschleppt hatte, Erde aus, während Jeb wieder einmal mit einigen anderen unterwegs war, um einen Großen Vogel zu erlegen. Die Arbeit fiel ihr nicht schwer, denn sowohl die Bäume als auch deren Wurzeln waren bereits beseitigt. Außerdem war Cassie eine kräftige, vom Treck und dem Pionierleben abgehärtete Frau. Schon am frühen Nachmittag stand sie dreckverschmiert und schwitzend in einem Loch, dessen Rand ihr bereits über den Kopf reichte.

Dann stieß ihr Spaten plötzlich ins Nichts, und Cassie stolperte nach vorne.

Sie fing sich, trat zurück, holte tief Luft und sah genauer hin. Sie hatte die Wand des entstehenden Kellers durchstoßen. Dahinter war alles pechschwarz wie in einer Höhle. Sie kannte kein Tier, das einen so großen und tiefen Bau graben konnte, denn das Loch schien beträchtliche Ausmaße zu haben. Es gab zwar diese Fellknäuel, die unter der Erde lebten, aber bisher hatte noch niemand eines gesehen, das größer als eine Katze war. Nun musste die Tatsache, dass noch niemand ein größeres Tier gesehen hatte, noch lange nicht heißen, dass es so etwas nicht gab – und sicher wäre es nicht begeistert, so unvermittelt aufgeschreckt zu werden. Deshalb war es wohl ratsam, rasch das Weite zu suchen.

Aber es war ein so friedlicher Tag. Ganz in der Nähe plauderten ein paar Nachbarn bei einem Glas Limonade. Cassie fühlte sich sicher.

Außerdem brannte sie vor Neugier. Endlich mal etwas Neues in dem endlosen, immer gleichen Sommer von New Springfield. Sie bückte sich und spähte in das Loch in der Seitenwand.

Und musste feststellen, dass etwas von der anderen Seite her zurückschaute.

Das Gesicht war ungefähr so groß wie das eines Menschen, aber es war nicht menschlich. Eher insektenhaft, dachte sie, wie eine glänzende schwarze Skulptur, mit einem wie aus einzelnen Weintrauben zusammengesetzten Facettenauge. Und die Hälfte davon war mit einem silbrigen Metall überzogen, einer Art Maske. Das alles sah sie in dem Sekundenbruchteil, bevor der Schreck sie übermannte.

Dann schrie sie laut auf und kroch hastig rückwärts, weg von dem Loch. Als sie wieder hinsah, war das maskierte Gesicht verschwunden.

Josephine Barrow, eine ihrer Nachbarinnen, kam herbei und schaute zu ihr hinab. »Alles in Ordnung? Hast du dir den Spaten in den Fuß gerammt?«

»Hilf mir bitte raus, ja?« Cassie hob die Arme.

Als sie am Rand der Grube stand, sagte Josephine: »Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«

Zumindest hatte sie … etwas gesehen.

Cassie betrachtete ihr Haus, das schon bald sein endgültiges Dach bekommen würde, sie betrachtete die Felder, die sie gerodet hatten, und das bereits ausgehobene Loch für den Sandkasten, in dem ihre Kinder später einmal spielen sollten … Die viele Arbeit, die sie schon in ihr neues Zuhause gesteckt hatten. So viel liebevolle Sorgfalt. Nein, das alles wollte sie nicht aufgeben.

Aber sie wollte dem, was auch immer sich dort unten in diesem Loch befinden mochte, nie wieder begegnen.

»Wir müssen das Loch da wieder zuschütten«, sagte sie.

Josephine runzelte die Stirn. »Nachdem du schon so tief gegraben hast?«

Cassie überlegte blitzschnell. »Ich bin auf Grundwasser gestoßen. Hier ist keine gute Stelle für einen Keller. Später können wir hier vielleicht mal einen Brunnen graben.« An der Rückseite des Hauses lehnten mehrere grob zurechtgehauene Bretter. »Hilf mir.« Schon fing sie an, die Planken über das Loch zu legen.

Josephine musterte sie verdutzt. »Willst du nicht erst die Erde wieder reinschütten?«

Nein. Das dauerte zu lange. Sie wollte das Loch zugedeckt haben, ehe Jeb zurückkam. »Ich schaufele es später wieder zu. Wenn du mir jetzt rasch helfen würdest?«

Josephine sah sie immer noch irritiert an.

Trotzdem half sie ihr, und als Jeb zurückkam, hatte Cassie Erde und Waldboden über die Bretter verteilt, sodass nicht mehr zu sehen war, dass das Loch immer noch da war. Sie hatte sogar schon angefangen, auf der anderen Seite des Hauses einen neuen Keller auszuschachten.

Als die beiden sich an diesem Abend auf der Veranda ihres Hauses zum Essen hinsetzten, hatte Cassie Poulson schon so gut wie vergessen, dass sie dieses maskierte Gesicht überhaupt gesehen hatte.

Ein paar Jahre später, im März 2040, auf Erde West 4:

Es war bloßer Zufall, darauf einigten sich jedenfalls später die Historiker der Next, dass Stan Berg in Miami West 4 zur Welt kam, jener Stadt, in der auch Cassie Poulson aufgewachsen war. Cassie Poulson, auf deren Grundstück die Assembler-Anomalität lokalisiert wurde – eine Anomalität, die Stan Bergs kurzes Leben und noch sehr viel mehr prägen sollte. Seltsam, aber eben nur ein Zufall.

Natürlich war die Stadt in dem Jahr, in dem Stan geboren wurde, dabei, sich dramatisch zu verändern, denn die erste Welle der Flüchtlinge aus dem von der Yellowstone-Katastrophe unbewohnbar gemachten Datum-Amerika war gerade dort eingetroffen. Als Stan acht Jahre alt war, hatten die Regierung und irgendwelche Firmenzusammenschlüsse das überfüllte, immer chaotischer und gesetzloser werdende Lager übernommen und es in eine bemerkenswerte Baustelle verwandelt. An Stans elftem Geburtstag gab es einen neuen »Stern« am Himmel, der ständig und unbeweglich über dem südlichen Horizont stand. Es war kein richtiger Stern, sondern ein geostationärer Satellit, Endstation eines in Bau befindlichen Weltraumaufzugs, der bis zur hiesigen Kopie von Florida herabreichte und von einer Gruppe eilig rekrutierter Liftarbeiter erbaut wurde, zu denen damals auch Stans Vater und Mutter gehörten.

Aber welche Erschütterungen Stans junges Leben später auch durcheinanderwirbeln würden, an der Liebe, die Stans Mutter Martha von dem Augenblick an erfüllte, als sie ihr Kind zum ersten Mal im Arm hielt, war überhaupt nichts Seltsames. Sie zumindest fand nichts Seltsames an der offensichtlichen Neugier, mit der Stans schon früh altklug wirkende Augen die sich verändernde Welt von Anfang an betrachteten.

Joshua Valienté war Bill Chambers’ Joker-Geschichten stets mit Misstrauen begegnet. Erst im Nachhinein wurde ihm klar, dass er, hätte er nur genauer hingehört und sich ein paar Gedanken darüber gemacht, schon viel früher Hinweise auf die Bedeutung des Ganzen hätte entdecken können. Zum Beispiel, als ihm Bill im Jahr 2040 – dem Jahr, in dem Stan Berg geboren wurde – auf der Luftschiffreise mit Joshua in die Hohen Megas, noch weit über New Springfield hinaus, eine Geschichte über einen Joker erzählte, den er den Spielball nannte:

Joshua hatte diesen Joker einmal sogar selbst kurz gesehen. Genau genommen hatten er und Lobsang ihn entdeckt, inmitten einer lange Reihe relativ harmloser Welten des sogenannten Getreidegürtels. Es war auf ihrer ersten Reise in die Tiefen der Langen Erde gewesen, auf der Joshua erfuhr, was der Begriff »Joker« in diesem Zusammenhang zu bedeuten hatte. »Joker sind Welten, die nicht dem Muster entsprechen«, hatte Lobsang gesagt. »Denn es gibt durchaus so etwas wie ein grobes Muster, das aber von Ausnahmen unterbrochen wird – wie Joker in einem Stapel Spielkarten. Darum nennen die Gelehrten auf der Erde sie so …« Joshua kannte bereits einige solcher Welten, auch wenn er sich noch keinen Namen für diese Kategorie ausgedacht hatte. Besagter Joker war eine Welt wie eine Billardkugel, ein glatter farbloser Ball unter einem wolkenlosen tiefblauen Himmel.

Doch obwohl er diesen Planeten mit eigenen Augen gesehen hatte, hütete Joshua sich davor, Bills Geschichten für bare Münze zu nehmen. Bill Chambers war ungefähr so alt wie Joshua und mit ihm in dem Heim in Madison, Wisconsin, aufgewachsen. Er war immer sowohl Freund als auch Rivale gewesen und zudem ein echter Stinkstiefel – und von jeher ein ausgemachter Lügenbold.

»Ich kannte mal einen, der jemanden kannte …«, sagte Bill jetzt.

»Aha.«

»Der hat wegen einer Wette auf dem Spielball kampiert. Nur eine Nacht. Ganz allein. So wie du immer. Und zwar nackig, das gehörte mit zu der Wette.«

»Klar doch.«

»Am nächsten Morgen wachte er mit einem tierischen Kater auf. Es ist nie besonders schlau, sich allein zu besaufen. Bei unserem Freund handelte es sich um einen natürlichen Wechsler, deshalb hat er sehr benommen seinen Kram zusammengesammelt und ist gewechselt, aber er ist beim Wechseln irgendwie gestolpert.«

»Gestolpert?«

»Er hatte das Gefühl, als wäre er nicht richtig gewechselt.«

»Was? Wie soll das gehen? Was meinst du damit?«

»Na ja, wir wechseln entweder nach Osten oder nach Westen, stimmt doch, oder? Dann gibt es noch die weichen Stellen, falls man sie findet, die Abkürzungen, aber das war’s dann auch schon …«

Wechseln: Am Wechseltag hatte sich die Welt für die Menschheit auf den Kopf gestellt. Auf einmal konnte jeder, der sich die Mühe machte, ein simples elektronisches Kistchen – die sogenannte Wechsel-Box – zu bauen (und manche, wie Joshua, brauchten nicht einmal das), sozusagen einen Schritt seitwärts aus der gewohnten Realität hinaus machen und in eine andere Welt überwechseln. Diese andere Welt war genau wie die bekannte Welt, aber voller Wald und wilder Tiere, denn nur auf der Originalerde hatte sich der Mensch entwickelt und Gelegenheit gehabt, sie nach seinen Bedürfnissen zu gestalten. Von da an gab es gleich nebenan noch weitere vollständige Erden, nur ein paar Schritte entfernt. Man machte einen Schritt nach Westen oder Osten, und noch einen, und noch einen. Falls die Lange Erde, wie man die Weltenkette alsbald nannte, irgendwo ein Ende hatte, so hatte es noch niemand gefunden. Nach dem Wechseltag hatte sich alles verändert, für die Menschheit, für die Lange Erde selbst – und ganz besonders für Joshua Valienté.

Aber sogar die Lange Erde funktionierte nach bestimmten Gesetzen. Jedenfalls hatte Joshua das immer angenommen.

»… wie auch immer, dieser Kerl hatte das Gefühl, er wäre irgendwie anders gewechselt. Senkrecht. Als wäre er nach Norden gewechselt.«

»Und?«

»Er kam auf einer … anderen Welt heraus. Es war Nacht, nicht Tag. Keine Sterne am klaren Himmel. Jedenfalls nicht so, wie wir sie kennen. Stattdessen …«

»Deine Geschichten holpern manchmal ganz schön, Bill.«

»Aber ich hab dich am Haken, oder nicht?«

»Erzähl schon weiter. Was hat er gesehen?«

»Er hat alle Sterne gesehen. Einfach alle. Er hat die ganze bekackte Galaxis gesehen, die Milchstraße. Von außen.«

Außerhalb der Galaxis? Tausende von Lichtjahren von der Erde entfernt – von jeder möglichen Erde …

»Außerdem war er immer noch nackig«, sagte Bill.

Immer dasselbe mit diesen Streunern, hatte Joshua sich gedacht. Sie flunkerten das Blaue vom Himmel herab. Vielleicht waren sie zu oft allein.

Als er im Februar 2052 darüber nachdachte, fiel ihm allerdings ein, dass er anfangs auch Lobsang für einen dreisten Schwätzer gehalten hatte, wenn auch einen von wahrhaft kosmischem Zuschnitt. Hätte er doch nur auf Lobsang gehört, als er noch die Gelegenheit dazu hatte.

Jetzt war es zu spät dafür, denn Lobsang war tot.

Joshua war dabei gewesen, als es passierte, im Spätherbst 2045:

Zusammen mit Sally Linsay hatte er vor der Tür des Heims in Madison West 5 gewartet. Es war früh am Abend gewesen, aber die Straßenlaternen brannten schon.

Sally hatte ihre Reisemontur an, die Anglerjacke mit den vielen Taschen und darüber einen wasserdichten Overall. Auf dem Rücken trug sie einen leichten Lederrucksack. Wie üblich sah sie so aus, als wollte sie sich im nächsten Moment verdrücken. Und je länger die Schwestern brauchten, um die verflixte Tür aufzumachen, desto wahrscheinlicher wurde es auch.

»Hör zu«, sagte Joshua, um sie abzulenken, »du darfst es nicht so schwernehmen. Sag einfach Hallo. Alle wollen dich sehen und dir dafür danken, was du für die Next getan hast. Dass du diese superschlauen jungen Leute aus der Einrichtung auf Pearl Harbor rausgeholt hast …«

»Du kennst mich, Joshua. Auf den Nahen Erden herrscht heutzutage der Pöbel. Und dann noch so was wie das hier, dieses sogenannte Heim, in dem sie dich zu deinem eigenen Besten einsperren. Es ist mir egal, wie glücklich oder auch nicht du bei diesen Pinguinen gewesen bist, Joshua.

»Nenn sie nicht Pinguine.«

»Sobald wir hier fertig sind, besaufe ich mich besinnungslos, und zwar so schnell wie möglich.«

»Da brauchst du aber etwas Stärkeres als unseren süßen Sherry.« Schwester John hatte leise die Tür geöffnet und lächelte die beiden an. »Kommt rein.«

Sally schüttelte der Schwester mit dem gebotenen Anstand die Hand.

Joshua ging hinter den beiden Frauen her durch einen Flur in einen Nachbau des Heims, in dem er aufgewachsen war, einen Nachbau des Originals, das vor langer Zeit durch den Atomschlag in Datum-Madison zerstört worden war. Für ihn fühlte sich dieses neue Gebäude immer noch unheimlich an.

Schwester John neigte den unter einem gestärkten Nonnenschleier verborgenen Kopf näher zu Joshua. »Wie geht’s denn so?«

»Gut. Ist ein bisschen verwirrend, wieder hier zu sein.«

»Ich weiß. Der Geruch stimmt nicht ganz, oder? Na, wenn die Mäuse noch ein ein paar Jahrzehnte zugange sind, kriegen sie das auch noch hin.«

»Und du? Du bist jetzt die Chefin hier! Für mich bleibst du trotzdem immer die gute alte Sarah.«

»Die du am Wechseltag aus dem dunklen Wald retten musstest. Wenn du hierher zurückkommst, ist es immer so, als wären wir ganz plötzlich erwachsen geworden.«

»Stimmt. Für mich muss die Oberin eine große, hochaufragende Gestalt sein, und alt …«

»So alt wie ich?« Schwester Agnes erwartete sie auf der Schwelle zum Empfangszimmer des Heims, dem schicken Salon, in dem die Schwestern seit jeher ihre Besucher begrüßten.

Aber gespenstischerweise sah Agnes jetzt jünger aus als Schwester John. Als Joshua sich von ihr umarmen ließ, spürte er nur einen Hauch von Künstlichkeit, die übertriebene Glätte der Wange, die er küsste – und unter ihrer praktischen, etwas schäbigen Tracht bloß einen kaum wahrnehmbaren Anflug von Superkräften. Lobsang hatte Agnes nach ihrem Tod ins Leben zurückgeholt und ihre Erinnerungen in eine lebensechte Androiden-Hülle heruntergeladen – alles unter Absingen buddhistischer Gebete. Für Joshua war es, als hätte jemand die einflussreichste Muttergestalt seines Lebens in einen terminatorartigen Roboter verwandelt. Aber er kannte Lobsang lange genug, und er hatte gelernt, den Geist in der Maschine zu erkennen. Zuerst bei Lobsang, später auch bei Agnes.

»Hallo, Agnes«, sagte er einfach.

»Und Sally Linsay.« Sally bekam statt einer Umarmung nur einen vorsichtigen Händedruck. »Ich habe schon viel von Ihnen gehört, Miss Linsay.«

»Ebenso.«

Agnes musterte sie aufmerksam, beinahe herausfordernd, ehe sie sich wegdrehte. »Und wie geht es deiner Familie, Joshua? Wirklich schade, dass du von deinem kleinen Sohn getrennt bist.«

»So klein ist er nicht mehr«, erwiderte Joshua. »Aber du kennst mich, Agnes. In meiner Brust wohnen zwei Seelen. Einen Teil von mir zieht es immer davon, hinaus in die Lange Erde.«

»Trotzdem bist du jetzt zu Hause. Komm, setz dich zu uns.«

Auf den übermäßig gepolsterten Sesseln, von denen einige sogar aus dem alten Heim auf der Datum gerettete Originale waren, saßen Nelson Azikiwe und Lobsang nebeneinander.

Lobsang, oder zumindest sein mobiler Avatar mit dem rasierten Schädel und den nackten Füßen, trug das orangefarbene Gewand, das inzwischen zu seinem Markenzeichen geworden war. Sally wurde kurz mit Nelson bekannt gemacht. Der ehemalige Geistliche war geborener Südafrikaner und mittlerweile schon über fünfzig. Er war vergleichsweise unauffällig in Anzug und Krawatte gekleidet. Das ungleiche Paar balancierte Porzellantassen auf den Knien und Kuchenteller in den Händen. Eine jüngere Schwester, die Joshua nicht kannte, bemühte sich eifrig um sie.

Auch die Katze Shi-mi war anwesend. Sie kam gleich zu Joshua, begrüßte ihn, indem sie eng an seinen Beinen entlangstrich, und funkelte Sally mit LED-grünen Augen an.

Nachdem Joshua und Sally sich gesetzt hatten, gesellte sich auch Agnes zu dem Kreis, und Schwester John und ihre junge Kollegin servierten mehr Tee und Kuchen. »Dieses Treffen war meine Idee, Joshua«, sagte Agnes. »Es ist gerade etwas ruhiger, nachdem die letzte globale Panik, als wir alle dachten, wir würden von superschlauen Kindern ausgerottet, ein wenig verblasst ist. Da dachte ich mir, es wäre schön, Lobsang einmal wieder mit seinen Freunden zusammenzubringen.«

»Freunde?«, knurrte Sally. »Hältst du uns wirklich für deine Freunde, Lobsang? Wir sind für dich doch eher so etwas wie Spielsteine. Münzen, mit denen du den Glücksspielautomaten des Schicksals fütterst.«

»Freunde«, sagte Agnes entschlossen. »Was gibt es in diesem Leben denn sonst, außer Freunden und Familie?«

Mit ruhigem, eigentlich unbewegtem Gesicht bemerkte Lobsang: »Deine eigene Familie sorgt gerade für ziemliches Aufsehen, Sally. Zumindest dein Vater, und zwar mit seinen Vorstellungen von einer neuen Entwicklung in der Raumfahrt.«

»Ach ja, mein alter Herr. Er träumt davon, die Aufzüge vom Mars als neuen Zugang zum Weltraum einzusetzen. Ein direkter Weg zu einer massiven Industrialisierung.«

»Willis Linsay ist auf seine Weise ein sehr kluger Mann. Nachdem uns Yellowstone so weit zurückgeworfen hat, sollten wir uns wirklich daran machen, alles wieder aufzubauen. Und zwar so schnell und sauber wie möglich; diese Weltraumaufzüge werden es uns ermöglichen. Schließlich müssen wir eines Tages vielleicht mit den Next konkurrieren.«

»Was wissen Sie über die Next, Lobsang?«, erkundigte sich Nelson. »Ich weiß, dass sie gewissermaßen Kontakt mit Ihnen aufgenommen haben. Steckt da noch mehr dahinter als das, was Sie öffentlich berichtet haben?«

»Ich weiß nur, dass sie weggegangen sind. Diese vielen brillanten Kinder, die überall auf der Datum und in der langen Erde aufgetaucht sind, der nächste Schritt der menschlichen Evolution … und die unsere Regierung zusammengetrieben und auf Hawaii eingepfercht hat. Sie sind weitergezogen, an einen Ort, den sie die Farm nennen, irgendwo da draußen in der Langen Erde. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wo das sein könnte.«

Sally musste lachen. »Das haben sie dir nicht verraten? Die haben dich bloß die Riesensauerei in Happy Landings aufräumen lassen? Das wurmt dich doch bestimmt ganz schön, oder? Der allgegenwärtige, allwissende Gott der Langen Erde, von einem Haufen Kinder zum Botenjungen degradiert!«

Joshua gab ihr mit einer kurzen Handbewegung zu verstehen, dass sie genug gesagt hatte.

Aber Lobsang erwiderte nur: »Nein, lass sie reden. Sie hat ja recht. Es ist nicht ganz einfach für mich gewesen. Das weißt du so gut wie jeder andere, Joshua. Genau aus diesem Grund habe ich Agnes erlaubt, euch alle hier zusammenzurufen.«

Agnes hob den Kopf. »Ach, du hast es mir erlaubt? Und ich dachte die ganze Zeit, es wäre meine Idee gewesen.«

Lobsang musterte einen nach dem anderen: Sally, Nelson, Joshua, Agnes, Schwester John. »Für mich seid ihr meine Familie. Trotzdem habt ihr alle eure eigenen Familien, und die dürft ihr nicht vernachlässigen.« Er wandte sich an Nelson. »Auch Sie sind nicht so allein, wie Sie immer glaubten, mein Freund.«

Bei dieser ominösen Andeutung sah ihn Nelson eher neugierig als gekränkt an. »Ein typischer Lobsang. Immer möglichst geheimnisvoll.«

»Ich wollte nicht rätselhaft sein. Wenn Sie sich daran erinnern, wie wir damals nach Neuseeland gereist sind …«

Agnes, die offensichtlich nicht damit einverstanden war, wie ihre Zusammenkunft gekapert wurde, unterbrach ihn barsch: »Lobsang, wenn du was loswerden willst, dann spuck’s gefälligst aus.«

Lobsang beugte sich vor, und plötzlich kam er Joshua unendlich alt vor. Alt und müde. »Yellowstone und der darauf folgende Zusammenbruch der Datum haben mich schwer getroffen. Ich bin über die Lange Erde verstreut, im ganzen Sonnensystem existieren viele Versionen von mir, aber mein Schwerpunkt war immer die Datum-Erde. Jetzt ist die Datum selbst schwer verwundet, und entsprechend auch ich.« Er drückte die Daumen gegen die Schläfen. »Manchmal komme ich mir unvollständig vor. Als würde ich Erinnerungen verlieren, und dann auch die Erinnerung an den Verlust selbst … Yellowstone war für mich wie eine Lobotomie.«

Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Seit damals habe ich … Zweifel. Ich habe dir davon erzählt, Joshua. Ich habe den merkwürdigen Eindruck, als könnteich mich an meine früheren Inkarnationen erinnern. Dabei ist das nach der tibetischen Lehre gar nicht möglich, nach einer erfolgreichen Wiedergeburt müsste ich sämtliche Erinnerungen an frühere Leben abgestoßen haben. Vielleicht ist diese Wiedergeburt nicht ganz gelungen. Oder«, dabei warf er Agnes einen kurzen Blick zu, »es gibt eine viel profanere Erklärung dafür. Letztendlich bin ich nichts anderes als ein Wesen aus elektrischen Funken, verteilt auf zahlreiche Gelspeicher der Black Corporation. Vielleicht bin ich gehackt worden?«

Wieder machte er eine kleine Pause. »Und dann kamen die Next und ihr harsches Urteil über mich. Davor habe ich mir immer vorgestellt, ich würde – ja, ganz recht, Sally – allgegenwärtig und allwissend werden. Warum auch nicht? Alle Computersysteme der Menschen, die komplette Kommunikation, würde früher oder später in eine Einheit integriert werden – mich. Und ich hätte euch bis in alle Ewigkeit behütet.«

»Eine Unterwerfung bis in alle Ewigkeit? Vielen Dank auch«, schnaubte Sally verächtlich.

Er sah sie traurig an. »Und was wird dann aus mir? Ohne meinen Traum bin ich nichts.«

Vorsichtig stellte er seine Tasse ab.

Agnes beunruhigte diese kleinen Geste sichtlich. »Was meinst du damit, Lobsang? Was hast du vor?«

Er lächelte sie an. »Meine liebe Agnes. Nichts, was dich verletzen könnte. Es ist nur so, dass ich …«

Er erstarrte. Hörte einfach auf, mitten in der Bewegung und mitten im Satz.

»Lobsang?«, rief Agnes. »Lobsang!«

Joshua war so schnell bei ihm wie sie, er hielt ihn an den Schultern fest, und Agnes rieb ihm die Hände, das Gesicht. Synthetische Hände auf synthetischen Wangen, dachte Joshua, trotzdem hätte der Gefühlsausbruch nicht wahrhaftiger sein können.

Lobsangs Kopf drehte sich wie bei der Puppe eines Bauchredners zuerst zu Joshua. »Ich bin immer dein Freund gewesen, Joshua.«

»Ich weiß …«

Dann sah Lobsang Agnes an. »Hab keine Angst, Agnes«, flüsterte er. »Ich sterbe nicht. Ich sterbe nicht …«

Sein Gesicht erschlaffte.

Einen Augenblick lang herrschte vollkommene Stille.

Dann wurde Joshua sich einer Veränderung im Hintergrund bewusst, der leisen, alltäglichen Geräusche des Heims: Der Lärm ließ nach und auch das Summen der unsichtbaren Maschinen, Ventilatoren und Pumpen. Etwas schaltete ab. Als er aus dem Fenster schaute, sah er die Lichter im Gebäude gegenüber flackern und erlöschen. Weiter hinten wurden ganze Straßenzüge dunkel. Irgendwo schrillte eine Alarmglocke.

Agnes packte Lobsang an den Schultern und schüttelte ihn. »Lobsang! Lobsang! Was hast du getan? Wo bist du hin? Lobsang, du gemeiner Kerl!«

Sally lachte, stand auf und wechselte davon.

Natürlich hatte nicht einmal Lobsang alles gewusst. Wie sich herausstellte, lagen sogar einige Geheimnisse von Joshuas eigener Veranlagung sehr gut verborgen, und zwar nicht irgendwo in den Tiefen der Wechselwelten der Langen Erde, sondern tief in der Zeit. Geheimnisse, deren Ursprünge bis in den März des Jahres 1848 zurückreichten, ins London der Datum-Erde:

Der Große Elusivo hörte den donnernden Applaus, als er die Stufen zum Hinterausgang des Victoria-Theaters hinabging. Seine Ohren klingelten immer noch vom Lärm auf den billigen Rängen, doch jetzt drangen der Anblick und die Geräusche des New Cut auf ihn ein: die Schaufenster, die Verkaufsstände, der dichte Verkehr, die Straßenkünstler, die Bettlerjungen, die sich auf Münzen stürzten. Natürlich warteten an diesem dunklen Abend in Lambeth hier draußen auch einige Leute auf Luis. So war es immer. Sogar junge Damen. Vielleicht sogar hoffnungsvolle junge Damen.

Doch diesmal rief ihm eine leise Stimme, die Stimme eines Mannes, aus einer Gasse heraus zu: »Haben Sie es eilig, Mister? Man könnte meinen, Sie hätten es sehr eilig. Darf ich Sie Luis nennen? Ich glaube, das ist Ihr richtiger Name. Oder einer Ihrer Namen. Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen. Und zwar lade ich Sie in die Drunken Clam zum Abendessen ein. Das ist das beste Austernlokal in Lambeth, falls Sie es nicht ohnehin kennen. Denn ich weiß, dass Sie Austern sehr zu schätzen wissen.« Die Gestalt hielt sich immer noch im Dunkeln.

»Da haben Sie mich kalt erwischt, mein Herr.«

»Allerdings. Und der Grund, weshalb ich so hastig, um nicht zu sagen, energisch auf Sie einrede, ist der, dass ich weiß, Sie können, wenn Sie nur wollen, jederzeit einfach soverschwinden. Eine höchst nützliche Fertigkeit, die Ihnen offensichtlich gute Dienste leistet. Trotzdem scheinen Sie nicht zu wissen, wie Sie es anstellen. Ich weiß es auch nicht. Aber der langen Rede kurzer Sinn …«

Mit einem leisen Lufthauch war der Mann auf einmal – weg.

Dann tauchte er wieder auf. Er hielt sich keuchend den Magen, als hätte ihm jemand einen kräftigen Hieb verpasst. Langsam richtete er sich wieder auf und sagte: »Ich kann es auch. Ich heiße Oswald Hackett. Wollen wir uns ein wenig unterhalten, Luis Ramon Valienté?«

Und im Februar 2052, weit draußen in der Langen Erde:

Hoch über Joshua Valienté leuchteten seine persönlichen Sterne, ganz für ihn allein. Denn die Vermutung lag nahe, dass er die einzige Seele in dieser speziellen Schöpfung war.

Er hatte immer noch Kopfschmerzen.

Obendrein juckte der Stumpf seines linken Armes.

Als in der Dunkelheit etwas quiekte und starb, bewegte sich der Geist Valientés dem Anschein nach durch die Finsternis. Und er hatte grässliche Angst, bis hinab in die Fußsohlen. »Ich werde zu alt für sowas«, murmelte Joshua laut vor sich hin.

Dann packte er seine Sachen zusammen. Er wollte wieder nach Hause.

2

Die Beerdigung fand an einem trüben Tag im Dezember 2045 in Madison, Wisconsin, Erde West 5, statt.

Zuerst hatte sich Schwester Agnes gefragt, wie man einen Beerdigungsgottesdienst für einen Menschen abhalten sollte, der eigentlich kein Mensch gewesen war, jedenfalls nicht nach dem üblichen Verständnis, und dessen Leichnam nicht aus der üblichen Masse aus hinfälligem Fleisch bestand. Genau genommen wusste sie gar nicht genau, über wie viele Körper er eigentlich verfügte, geschweige denn, ob diese Frage überhaupt sinnvoll war. Trotzdem war er, Mensch oder nicht, offensichtlich gestorben, jedenfalls in der Bedeutung des Wortes in den Herzen seiner Freunde. Deshalb sollte er, so hatte sie es beschlossen, eine ordentliche Trauerfeier bekommen.

Sie versammelten sich um das Grab, das auf dem kleinen Grundstück gleich außerhalb des umgesiedelten Kinderheims ausgehoben worden war und in dem »er« zur letzten Ruhe gebettet werden sollte – wobei »er« zumindest die mobile Einheit bezeichnete, die er im Augenblick seines »Todes« bewohnt hatte. Ein Rest von Unwirklichkeit blieb trotzdem, dachte Agnes, zumal vier seiner mobilen Ersatzeinheiten als eine Art Ehrenwache neben dem Grab standen, mit ausdruckslosen Gesichtern, einer wie der andere in die übliche Uniform aus orangefarbenen Roben gekleidet und trotz der bitteren Kälte in Sandalen.

Verglichen damit waren die von Pfarrer Gavin von der örtlichen katholischen Gemeinde sowie von Padmasambhava, dem Abt eines Klosters in Ladakh und angeblich ein alter Freund Lobsangs aus einem früheren Leben, gemurmelten Gebete und verlesenen Texte beinahe Routine. Aber vielleicht war es auch nur ein Spiegelbild des allermerkwürdigsten Aspekts Lobsangs, dachte Agnes: nämlich dass er als ein Stück Software in einem komplexen Computersystem Bewusstsein erlangt hatte und zu einem vollständig empfindungsfähigen Wesen geworden war. Dabei hatte er stets hartnäckig behauptet, die Reinkarnation eines tibetischen Motorradmechanikers zu sein, und deshalb auf der Anerkennung seiner uneingeschränkten Menschenrechte bestanden. Der Fall hatte die Gerichte jahrelang beschäftigt.

Pfarrer Gavin las gerade mit seinem leicht irischen Akzent: »›Ich weiß nicht, was die Welt von mir denkt, aber ich selbst komme mir vor wie ein kleines Kind, das am Strande des Wissens spielt und sich freut, wenn es hie und da einen kleinen glatten Kieselstein findet, während sich der große Ozean der unentdeckten Wahrheit vor mir erstreckt …‹«

Agnes schob sich weiter nach hinten und stellte sich neben einen älteren Mann, der dort groß und weißhaarig in einem unauffälligen schwarzen Mantel und mit Hut stand. »Ein schöner Ausspruch«, sagte Agnes leise.

»Von Newton. Schon immer eines meiner Lieblingszitate. Hab ich selbst ausgewählt. Vielleicht ein bisschen unbescheiden, aber schließlich wird man ja nur einmal beerdigt.«

»Das dürfte sich in deinem Fall erst noch zeigen. Also, ›George‹.«

»Ja, meine ›Frau‹?«

»Es sind ja doch ganz schön viele gekommen, auch wenn du dich selbst nicht mitzählen darfst. Flottenkommandeurin Kauffman sieht prächtig aus in ihrer Galauniform. Nelson Azikiwe gibt wie immer den stillen Beobachter. Er ist stets ein guter Freund gewesen, stimmt’s, L – … George? Wer ist denn diese Frau dort drüben? Attraktiv, in den Vierzigern … sie weint schon den ganzen Morgen.«

»Sie heißt Selena Jones. Hat vor vielen Jahren mit mir zusammengearbeitet. Theoretisch ist sie mein gesetzlicher Vormund.«

»Hm. Auch du schleppst offenbar ein paar Altlasten mit dir herum. Wie ich sehe, ist sogar Cho-je erschienen. Keine Ahnung, warum er nicht schon längst ausgemustert wurde. Und natürlich Joshua Valienté und Sally Linsay.«

»Der König und die Königin der Langen Erde«, sagte »George«.

»Stimmt. Seite an Seite, und sie sehen wie immer so aus, als gehörten sie zusammen, obwohl sie am liebsten viele Welten voneinander entfernt sind. Aber das kann niemand so recht verstehen, oder?«

»Du kennst Joshua von Kindesbeinen an. Sag du’s mir. Aber wo wir gerade von Kindern reden …«

»Die Dokumente sind alle eingereicht. Es kann noch eine Weile dauern, bis das richtige Kind auftaucht. Vielleicht sogar noch ein paar Jahre. Womöglich ist er oder sie noch nicht einmal geboren. Aber sobald es grünes Licht für die Adoption gibt, sind wir bereit. Haben wir uns schon für die neue Welt entschieden, auf der wir unseren ›Sohn‹ oder unsere ›Tochter‹ großziehen wollen?«

»Wie schon gesagt, ich habe Sally Linsay um Hilfe gebeten, falls wir diesbezüglich Hilfe benötigen sollten. Wer kennt die Lange Erde besser als sie?«

Agnes blickte zu Sally hinüber. »Ist sie die Einzige, die über dich Bescheid weiß?«

»Bis auf dich ist sie die Einzige. Sie hat behauptet, sie habe nie so recht an meinen endgültigen Tod geglaubt. Irgendwie hatte sie es schon gewusst, ehe ich Kontakt mit ihr aufgenommen habe. Aber sie ist verschwiegen. Jede Wette, dass sie sogar vor sich selbst Geheimnisse hat.«

»Hm. Ich weiß nicht genau, ob ich ihr voll und ganz vertraue. Ich meine nicht ihre Verschwiegenheit, da bin ich mit dir einer Meinung.«

»Was dann?«

»Ich weiß es nicht. Sally hat … einen sehr speziellen Humor. Sie ist eine Gaunerin. Bist du dir sicher, dass du es durchziehen willst? Alles stehen und liegen lassen und ganz einfach …«

Er sah sie an. »Einfach Mensch sein? Du nicht?«

Genau diese Frage rührte an ihre eigenen Gefühle, tief drinnen in dem Klumpen Black-Corporation-Gel, den sie anstelle eines Herzens besaß.

Pfarrer Gavin las noch eine Zeile, und »George« runzelte die Stirn. »Hab ich da eben richtig gehört? Etwas über einen Sünder am Himmelstor, der zu mir zurückgekrochen kommt?«

Sie hängte sich bei ihm ein. »Du hast deinen Newton, ich meinen Steinman. Jetzt komm schon, wir müssen los, bevor noch jemand Verdacht schöpft.«

3

Hätte seine Hündin Rio nicht ein imaginäres Fellknäuel um das alte Poulson-Haus gejagt, wäre Nikos höchstwahrscheinlich nie auf den großen Keller gestoßen. Es war ein recht unwahrscheinlicher Zufall – oder vielleicht auch nicht, wenn man Rio und ihre von ihren Bernhardiner-Vorfahren geerbte Dickköpfigkeit und Neugier kannte. Jedenfalls wäre die Geschichte der Menschheit ohne Nikos und seinen eigensinnigen Hund womöglich ganz anders verlaufen.

Es geschah im April 2052. Nikos war zehn Jahre alt.

Nicht dass Nikos das alte Haus der Poulsons oder die verwaiste Siedlung, in der es stand, besonders gemocht hätte. Aber das Haus wurde nun mal als Tauschlager genutzt, und seine Mutter hatte ihn hingeschickt, um sich nach Babyschuhen umzusehen, denn ihre Freundin Angie Clayton war schwanger.

Also verließ er mit Rio den Schatten der Bäume, das dichte Grün, in dem irgendwo eine Gruppe Waldtrolle ein sentimentales Lied trällerte, und spazierte hinaus in den ungefilterten grellen Sonnenschein.

Er ließ den Blick über die großen Häuser schweifen, die stumm an diesem Ort wachten. Nikos war im Wald aufgewachsen und hatte eine instinktive Abneigung gegen Lichtungen. Lichtungen boten keinen Schutz. Aber diese verlassene Siedlung war auch aus anderen Gründen irgendwie unheimlich. Seine Eltern hatten ihm stets erzählt, dass die Lange Erde für die Menschheit immer noch viel zu neu war, um bereits eine Geschichte zu haben, aber wenn es auf Nikos’ Welt irgendwo einen Ort mit Geschichte gab, dann diesen. Einige der alten Häuser wurden vom Grün bereits wieder verschlungen, aber der Rest stand ungeschützt im Sonnenlicht, hart und kantig und fremdartig, mit abblätternder Farbe und kaputten Fensterscheiben. Nikos fand, dass es hier sogar komisch roch, und zwar nicht nur ganz allgemein nach jahrelangem Verfall, sondern nach gefälltem Holz und ausgetrockneter, staubiger, lebloser Erde.

Das alles war mehr oder weniger von den ersten Kolonisten, die auf diese Welt gekommen waren, erbaut worden, von den Gründern. Sie hatten den Wald gerodet, um an dieser Stelle ihre kleine Stadt zu errichten. Man konnte die sauber abgesägten und ausgebrannten Stümpfe der großen alten Bäume immer noch sehen, auch die Felder, auf denen die Siedler gesät und geerntet, die weiß gestrichenen Steine, mit denen sie ihre Straßen markiert hatten, und natürlich die Häuser, die sie innerhalb weniger Jahre zusammengezimmert und mit Lattenzäunen und Fliegengittertüren und Perlenvorhängen versehen hatten. Es gab sogar eine kleine, halbfertige Kapelle mit einem abgeschnittenen Turm, der den Elementen ausgesetzt war.

In einem der großen alten Häuser stand sogar, kaum zu glauben, ein Klavier, eine hölzerne Kiste, die jemand aus dem hier vorgefundenen Holz gebaut, mit Tasten, Pedalen und einem inneren Rahmen versehen und mit Draht bespannt hatte, alles von den Nahen Erden mitgebracht: ein bemerkenswertes Meisterstück einer beinahe sinnlosen Handwerkskunst.

Nikos’ Eltern hatten ihm erzählt, die Gründer seien fleißige und entschlossene Menschen voller Tatendrang gewesen, die ein unerschütterlicher Traum bis in diese weit entfernten Welten gebracht habe – über eine Million Schritte von der Datum, der ersten Welt der Menschheit, entfernt. Dieser Traum speiste sich aus der Vergangenheit ihrer Vorfahren, die sich einst über das ursprüngliche Amerika ausgebreitet und Siedlungen wie diese errichtet hatten, Ortschaften mit Bauernhöfen und Gärten und Schulen und Kirchen. Sie hatten ihre Stadt sogar New Springfield genannt.

Das Problem war jedoch, dass es sich hier nicht um das Amerika der Kolonialzeit handelte.

Diese Erde war nicht die Datum. Nikos’ Vater sagte, dass diese Welt, und mit ihr eine ganze Reihe ähnlicher Erden in der unmittelbaren Nachbarschaft, von einem Pol bis zum Äquator und von dort bis zum anderen Pol von dichtem Wald bedeckt war, und das meinte er wortwörtlich so: Hier gedieh der Wald sogar in der arktischen Nacht. In dieser Kopie von Maine wuchsen die Bäume dicht an dicht, Bäume, die wie Mammut- und Lorbeerbäume aussahen, aber wahrscheinlich keine waren, das Unterholz bestand aus Teepflanzen und Beeren tragenden Büschen und Farnen und Schachtelhalmen. Insekten summten im Halbdunkel durch die warme, feuchte Luft, und auf den Bäumen und dem lehmigen Boden wimmelte es von Fellknäueln, wie sie allgemein genannt wurden, schreckhafte kleine Säugetiere, die ihr gesamtes Leben damit verbrachten, hinter den besagten Insekten herzujagen.

In einer solchen Welt hatten die Kinder der Gründer schon bald und gegen den Willen ihrer Eltern damit begonnen, andere Lebensweisen auszuprobieren.

Warum sollten sie sich abmühen, den Boden zu beackern, wenn sie von unbewohnten Welten voll mit verschwenderisch großzügigen Obstbäumen umgeben waren? Von Flüssen voller Fische und Wäldern voller Fellknäuel, die so zahlreich waren, dass sie sich ganz einfach fangen ließen? Landwirtschaft mochte auf Welten mit offeneren Landschaften wie denen des Getreidegürtels sinnvoll sein, aber hier? Die Herumtreiber, die gelegentlich vorbeikamen und sich selbst Streuner oder Okies oder Hobos nannten, waren überzeugende Beispiele für andere Lebensentwürfe und halfen den Ausreißern auf die Sprünge. Nikos’ Eltern sprachen noch immer von einer besonders überzeugenden und allem Anschein nach sehr intelligenten jungen Frau, die ein paar Wochen bei ihnen geblieben war und die Vorzüge eines entspannteren Lebensstils gepredigt hatte.

Pioniere bekamen ihre Kinder üblicherweise schon in jungen Jahren, denn je früher man arbeitsfähigen Nachwuchs aufzog, desto besser. Aber die zahlreichen Kinder von New Springfield, die in einer völlig anderen Welt als ihre Eltern aufwuchsen, hatten recht bald ihre geistige Unabhängigkeit bewiesen und sich gegen die ältere Generation aufgelehnt. Viele junge Leute und auch nicht wenige ihrer Eltern hatten sich vom harten Bauernleben verabschiedet und waren in die Wälder gezogen. Der Wille, die Siedlung zu erhalten, hatte sich nach und nach verflüchtigt – letztendlich hatte er nur eine einzige Generation überdauert.

Inzwischen besaßen die Irwins und die anderen Familiengruppen überhaupt keine ständigen Behausungen mehr. Stattdessen stand ihnen eine Reihe von Wohnorten zur Verfügung, die man aufsuchte, je nachdem, wann in diesen milden Jahreszeiten die Früchte reif wurden, und mit ein bisschen Brandrodung von nachwachsendem Unterholz freihielt. Gelegentlich wurden die Hütten und Feuerstellen des vergangenen Jahres ausgebessert. So gingen sie beispielsweise in einer bestimmten Welt wenige Schritte ostwärts in den Frühlingsmonaten den Manning Hill hinauf, wenn die Maulwurfshörnchen massenhaft aus dem Boden kamen, um sich neue Königinnen und neue Bruthöhlen zu suchen, und einfach zu erlegen waren. Im Herbst wiederum zogen sie vier Welten weiter nach Westen zum Soulsby Creek, wo das alljährliche Laichrennen der dort vorkommenden Lachse besonders ergiebig war. Nikos war so aufgewachsen, er kannte es nicht anders.

Etliche Pioniere aus der alten Siedlung waren, nachdem sie alt und müde geworden waren, zur Datum zurückgekehrt. Andere hatten weitergemacht, so gut es ging, und ihre Verwandten hatten sich ein bisschen um die alternden Helden gekümmert. Nikos’ Mutter erzählte ab und zu die wehmütige Geschichte, wie sie damals jeden Abend eine alte Dame Klavier spielen hörte. Ihre Chopin-Walzer entschwebten in die Stille des großen Waldes – eine Musik, die in einem längst vergangenen Jahrhundert und einer weit entfernten Welt geschrieben worden war und die manchmal von den Chören irgendwelcher Waldtrolle beantwortet wurde. Aber das Klavier verstimmte sich immer mehr, und eines Tages erklang überhaupt keine Musik mehr. Inzwischen spielte niemand mehr auf dem Instrument.

Auch nachdem die Lichtung von New Springfield ganz verlassen war, sorgte Nikos’ Gruppe dafür, dass sie nicht wieder zuwucherte, denn sie hatte durchaus ihren Nutzen. Jeder brauchte eine Wechsel-Box, und dafür benötigte man Kartoffeln. Kartoffeln mussten angebaut werden, von daher waren die alten Höfe der Gründergeneration doch noch für etwas gut. Jemand hatte einst viel Mühe darauf verwandt, die Schmiede neben dem Haus der Poulsons einzurichten, und auch sie wurde in Schuss gehalten. Eisen ließ sich nicht zwischen den Welten transportieren, deshalb war es nicht dumm, die Kunst der Eisenverarbeitung zu beherrschen. Einige Tiere, die die Gründer mitgebracht hatten – Hühner, Ziegen, Schweine und sogar Schafe – hatten überlebt und sich fortgepflanzt. Ab und zu wurde man von einem Nachkommen dieser ersten Kolonistenschweine überrascht, wenn es direkt vor einem laut grunzend aus dem Unterholz hervorbrach.

Besonders das alte Poulson-Haus, das robuster als die anderen war, hatte mit der Zeit eine neue Rolle übernommen. Es wurde jetzt von allen das Tauschhaus genannt und war der Ort, an dem man alle möglichen Sachen abliefern und gegen andere tauschen konnte.

Aus diesem Grund war Nikos heute hier.

Vorsichtig ging er über die Lichtung auf das Poulsen-Haus zu.

Eine Hand auf dem Knauf des derben Bronzemessers an seiner linken Hüfte, die andere an der Wechsel-Box auf der rechten, behielt er die Umgebung aufmerksam im Blick. Vor wilden Tieren hatte er keine Angst, denn in dieser Hinsicht gab es in diesen Wäldern nur drei Gefahren: die Ameisenschwärme, die Großen Vögel und die Kroks. Für Letztere war er zu weit weg vom Wasser, und die Großen Vögel waren zwar angriffslustig, hatten es aber meist nur auf die kleinen Fellknäuel im Wald abgesehen und waren schwerfällig und langsam. Was die Ameisen anging, so würde er einen herannahenden Schwarm deutlich hören, bevor er wie eine scheußliche, ätzende Flüssigkeit über den Boden heranschwappte und dabei alles vernichtete, was sich ihm in den Weg stellte. Außerdem warnten einen die Waldtrolle durch ihren Gesang vor fast jeder Gefahr, und zwar so rechtzeitig, dass Nikos sich in Sicherheit bringen konnte. Vor fast jeder Gefahr. Nikos hatte selbst gesehen, wie ein unvorsichtiges Kind von einem Großen Vogel gepackt wurde. Es war kein schöner Anblick gewesen, deshalb blieb er immer auf der Hut, schon allein wegen dieses heimtückischen Wörtchens fast.

Hier an diesem Ort war Nikos allein deswegen so vorsichtig, weil zumindest die Kinder sich seit jeher seltsame Geschichten über das Haus erzählten. Legenden, wenn man so wollte. Legenden von Dingen, die früher mal darin gelebt hatten.

Und zwar nicht nur gefräßige Fellknäuel und dergleichen, auch keine von den üblichen Monstern aus dem Wald. Sondern etwas viel Schlimmeres. Vielleicht saß ein Elf darin gefangen, ein hässlicher, verwundeter, buckliger Elf aus der Langen Erde, alt, aber immer noch bösartig, der nur darauf wartete, unvorsichtige Kinder zu fressen. Vielleicht, so jedenfalls ging eine Variante, war es auch der Geist eines jener Kinder, der darauf wartete, sich an denjenigen zu rächen, die ihn oder sie damals dazu gezwungen hatten, diesen Ort aufzusuchen …

Natürlich war das alles Quatsch. Nikos war alt genug, um die mangelhafte Logik zu erkennen. Wenn es im Haus der Poulsons spukte, warum benutzten die Erwachsenen es dann als Tauschlager? Trotzdem war er noch jung genug, um sich zu gruseln. Geschichten hin oder her, er würde nicht ohne das, was er hier holen sollte, nach Hause gehen, so viel stand fest, denn andernfalls würde ihm der Spott seiner Freunde übler mitspielen als jedes Ungeheuer.

An der Veranda hob Rio die Nase witternd in die Luft, winselte kurz und verschwand gleich darauf um die Ecke des Hauses, vielleicht auf der Fährte eines unachtsamen Fellknäuels. Nikos kümmerte sich nicht weiter um den Hund.

Er öffnete eine knarrende, unverschlossene Tür, schob sich hinein und sah sich um. Nur wenig Tageslicht drang durch den grünen Belag, der inzwischen die Fenster bedeckte. Nikos hatte eine Aufziehtaschenlampe dabei, die er jetzt aus der Tasche zog, um im trüben Dämmerlicht besser sehen zu können. Seine Nackenhaare kribbelten vor Anspannung. Er war an Zelte und einfache Unterstände gewöhnt, deshalb war es für ihn, von den Gespenstergeschichten einmal abgesehen, sehr merkwürdig, in einer ringsum geschlossenen Holzkiste herumzuspazieren. Trotzdem ging er weiter, wobei er sehr vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte.

Das Haus wurde von einem großen Raum in der Mitte dominiert. Niko wusste, dass diese Häuser früher alle so gebaut worden waren: Man fing mit einem zentralen Raum an, in dem die gesamte, immer größer werdende Familie wohnte, aß und schlief, und nach und nach fügte man nach Möglichkeit andere Zimmer an – eine Küche, Schlafzimmer, Vorratskammern. Dieses Haus war allerdings, genau wie die meisten anderen ringsumher, nicht über dieses erste Stadium hinausgekommen. Er erkannte Sachen von seinem ersten Besuch, als er seinen Vater hierher begleitet hatte: den großen alten Tisch in der Ecke, den Herd unter einem halb fertiggestellten Abzug, die aus Schilf geflochtenen und mit Farbstoffen aus selbstgezogenem Gemüse gefärbten Teppiche auf dem Boden.

Ansonsten stand in dem Raum allerlei alter Krempel herum, staubiger Krimskrams, der sich auf dem Fußboden und dem Tisch türmte oder an den Wänden stapelte. Aber es war kein Müll, jedenfalls noch nicht ganz. Den Leuten des Waldes fehlte es immer an irgendwas, denn alles, was sie besaßen, musste entweder von der Datum oder von den Nahen Erden mitgebracht oder eigenhändig hergestellt werden. Beide Methoden waren sehr aufwändig. Deshalb brachte man alles, was kaputtging und man selbst nicht reparieren konnte, ob nun ein Bogen, eine bronzene Machete oder ein Grabstock, hierher ins Tauschhaus, weil jemand anders es womöglich noch brauchen konnte, und wenn auch nur einen Teil davon. Die Bronze konnte eingeschmolzen werden, ein kaputter Bogen taugte vielleicht als Übungsgerät für ein kleineres Kind. Es gab einen recht nützlichen Vorrat an Drähten, Schaltern und Wickelspulen, Teilen, die man für den Bau oder die Reparatur eines Wechslers oder eines Amateurfunkgerätes benötigte. Es gab sogar einen Haufen schicker elektronischer Geräte von der Datum: Telefone und Tablets, alle mit toten Bildschirmen und funktionslos, nachdem ihre Akkus oder Solarzellen den Geist aufgegeben hatten. Das Innenleben dieser Geräte war zu kompliziert und zu fummelig, um sie wieder in Gang zu bringen, aber sogar sie wurden manchmal mitgenommen und als Schmuck getragen, oder dienten als glitzernde Tauschware beim Handel mit den Waldtrollen.

Und immer gab es Kleidung, vor allem Kindersachen: Unterwäsche, Hosen und Hemden, Pullover, Socken und Schuhe, das meiste aus den Nahen Erden mitgebracht, aber auch einiges, was vor Ort hergestellt worden war. Die Sachen der Erwachsenen waren meistens viel zu zerschlissen, um noch brauchbar zu sein, aber Nikos zog ein paar bunte Stoffstreifen für die Flickendecke hervor, die seine Mutter gerade nähte. Selbst grobe Fetzen ließen sich zum Ausstopfen von Bettzeug und dergleichen verwenden. Die Kindersachen hingegen waren oft kaum benutzt, ehe das entsprechende Kind schon wieder herausgewachsen war. Das sehr mobile, nomadische Völkchen der Bewohner von New Springfield trug nur wenig mit sich herum, jedenfalls schleppte garantiert niemand zwanzig Jahre lang Babyschuhe durch die Gegend, nur weil vielleicht irgendwann mal Enkelkinder kamen, die sie dann ebenfalls nur ein paar Monate tragen würden. Nach Babyschuhen hielt Nikos diesmal ganz besonders Ausschau, für Angie Claytons noch ungeborenen Nachwuchs.

Nachdem er eine Weile herumgewühlt hatte, fand er ein paar hübsche kleine Mokassins, die aus der gegerbten Haut eines unglückseligen Fellknäuels genäht waren, Schuhe, die auf seiner Handfläche wie Spielzeug aussahen.

Plötzlich hörte er Rio aufjaulen, gefolgt von einem Geräusch, das sich wie zersplitterndes Holz anhörte, und dann ertönte ein dumpfer Schlag, als wäre ein schwerer Körper in ein Loch gefallen.

4

Nikos rannte nach draußen und um das Haus herum, dorthin, wo seine Hündin verschwunden war. »Rio! Rio!«

Auf der Rückseite des Hauses, dem ungerodeten Dschungel zugewandt, stand eine Reihe in den Boden getriebener Pfähle: ein nicht fertiggestellter Palisadenzaun, der die Schafe drinnen und die Großen Vögel draußen halten sollte. Nikos watete durch Teebüsche und junge Bäume, die den ehemals gerodeten Boden zwischen Haus und Palisade überwucherten – und wäre beinahe in ein Loch gefallen.

Ganz vorsichtig trat er einen Schritt zurück und spähte hinunter. Das Loch hatte einen Durchmesser von ungefähr zwei Metern, es war von grob gesägten Holzbrettern verdeckt gewesen, die allem Anschein nach mit der Zeit morsch geworden waren. An den Resten der Bretter konnte er ablesen, dass sie unter einer Schicht Erde und einer dünneren Schicht Waldmulch verborgen gewesen waren. Auf der Erdschicht wuchsen sogar ein paar robuste Farne. Eine der Planken war jedoch durchgebrochen und in das Loch gefallen, das tief und dunkel darunter klaffte.

Nikos kratzte sich am Kopf. Die ganze Angelegenheit war ziemlich rätselhaft. War das ein Keller? Gut möglich. Ein Keller war nicht nur ein Ort, wo man Lebensmittel und andere Sachen aufbewahren konnte, sondern auch eine vernünftige Maßnahme gegen Angriffe von Banditen und andere Eindringlinge mit schändlichen Absichten. Schließlich konnte man jemanden mit einem Wechsler nicht durch eine Mauer fernhalten; der Eindringling musste nur seitwärts in eine Welt wechseln, in der diese Mauer nicht existierte, an die entsprechende Stelle spazieren und wieder zurückwechseln … In einen Keller hingegen konnte niemand wechseln, nicht, wenn der entsprechende Ort in den Nachbarwelten von Erde, Felsgestein und Baumwurzeln blockiert war. Sogar unter einigen der öfter besuchten und besser ausgestatteten Lagerplätzen von Nikos’ Familie, die über die wechselwärtigen Welten verstreut waren, gab es flache Keller.

Bei einem Haus wie diesem war ein Keller oder zumindest eine Ausschachtung natürlich nichts Ungewöhnliches. Aber warum war er abgedeckt gewesen?

Der ganze Bewuchs darüber konnte natürlich im Laufe der Jahre dort entstanden sein, trotzdem sah es so aus, als wäre das Loch absichtlich zugedeckt worden. Warum hatte man es verbergen wollen? War es vielleicht doch kein Keller, sondern eher eine Falle? Aber für was? Nur ein Großer Vogel, ein Krok, ein großer Hund wie Rio oder ein Mensch waren schwer genug, um durch diese Bretter zu brechen – vielleicht nicht einmal das, denn früher waren die Bretter bestimmt noch nicht so morsch gewesen.

Das alles spielte jetzt keine Rolle. Rio war weg.

Unschlüssig stand Niko im schattenlosen Sonnenschein. Unter der Erdoberfläche von Wänden umgeben zu sein war noch schlimmer als der Aufenthalt im Haus der Poulsons, denn dort stand ihm seine wichtigste Verteidigungswaffe, die Möglichkeit, vor einer Gefahr davonzuwechseln, nicht mehr zur Verfügung. Am liebsten wäre er weggelaufen. Aber Rio … Als Welpe den ganzen Weg von der Datum-Erde von einem Händler hierhergebracht … eine Bernhardinerhündin, angeblich dafür gezüchtet, um mit Käse beladene Karren zu ziehen. Ein starkes Tier, mit kräftiger Lunge, aber langsam.

Sie war Nikos’ Hund. Wenn er für sie in dieses Loch kriechen musste, dann musste es eben sein.

Er ließ sich auf alle viere nieder und spähte vorsichtig durch die zerbrochene Planke in das Loch hinein. Außer Dunkelheit war nichts zu sehen, auch nicht, als er mit der Taschenlampe hinableuchtete.

»Rio!«

Zuerst hörte er überhaupt nichts, nicht einmal ein Echo. Dann drang ein Bellen, zweifellos Rios, aus dem Loch, aber es hörte sich erstaunlich weit weg an, nicht wie von einem Hund, der nur einen oder zwei Meter entfernt war. »Rio! Rio! …«

Dann hörte er ein anderes Geräusch. Es klang wie ein Kratzen oder Flüstern, wie von einem riesigen Insekt. Es schien sich zu entfernen, als würde es sich tiefer eingraben. Sämtliche Gruselgeschichten, die er gehört hatte, fielen ihm wieder ein. Am liebsten hätte er einfach das Weite gesucht. Aber sein Hund war dort unten.

Fieberhaft riss er die übrigen Bretter von der Öffnung, ohne darauf zu achten, dass dabei Erde in das Loch hinabrutschte. »Rio! Komm her, mein Mädchen! Rio!«

Die Grube, die sich unter ihm auftat, war knapp drei Meter tief und nur sehr grob in die nicht allzu feste Erde gegraben. Er legte sich auf den Bauch, ließ Beine und Unterkörper über den Rand baumeln, stellte fest, dass er zur Not wieder hinausklettern konnte, und ließ sich dann fallen.

Unten angekommen sah er sich um. Wenn das hier ein Keller gewesen sein sollte, dann kein besonders großartiger. Die Wände waren unverkleidet, auf dem Boden waren sogar noch die Schaufelspuren von damals zu erkennen. Nichts war geglättet. Es war einfach nur ein Loch in der Erde, hastig ausgehoben und hastig wieder zugedeckt. Von seinem Hund war nichts zu sehen.

Allerdings bestand kein Zweifel daran, wo Rio hingelaufen war. In einer Wand, nicht weit über dem Boden, klaffte ein Durchbruch.

Nikos nahm sein Taschenmesser in die Hand, ließ sich auf Hände und Knie hinab und spähte in eine Art Tunnel mit einem kreisförmigen Durchmesser. Er war nicht sehr breit, höchstens einen Meter, aber seine Wände waren deutlich glatter als in dem verlassenen Keller. Als er seine Taschenlampe hin und her schwenkte, sah er, dass der Gang in einem ziemlich steilen Winkel nach unten führte. Hinunter in die Dunkelheit, jenseits der Reichweite seiner Taschenlampe. Wer oder was grub solche Tunnel? Irgendein Wühltier vielleicht? Es gab Fellknäuel, die unterirdisch lebten, und vor seinem geistigen Auge erschien das Bild eines Maulwurfshörnchens von der Größe eines Menschen. Dann erinnerte er sich an das eigenartige Rascheln, das flüsternde, scharrende Geräusch, wie es kein Fellknäuel je zustande bringen würde, nicht einmal ein Kobold.

Und dann, ganz weit weg, hörte er wieder das Bellen oder eher ein ängstliches Jaulen.

Er überließ die Entscheidung seinem Instinkt. »Ich komme, Rio! Warte! Nikos kommt!«

Er nahm die Taschenlampe in den Mund, schob sich auf allen vieren in den Tunnel und kroch immer weiter nach unten. Unter seinen Händen und Knien war nur Erde, geglättete und festgedrückte Erde. Hinter ihm wurde die Scheibe aus Tageslicht immer kleiner, während der Taschenlampenstrahl vor ihm eine Öffnung am Ende des Tunnels zeigte, einen säuberlichen Kreis, der in eine noch dunklere Finsternis führte. In diesem Tunnel eingezwängt zu sein, machte ihm Angst, und die Wechsel-Box an seinem Gürtel störte ihn beim Vorankommen. Um wieder hinauszukommen, musste er wohl rückwärtskriechen, denn umdrehen war unmöglich. Trotzdem schob er sich weiter voran.

Er kroch ungefähr sieben oder acht Meter weiter und immer tiefer nach unten.

Dann fiel sein schräger Lichtstrahl auf eine Öffnung, die in eine viel größere Kammer führte. Immer noch auf allen vieren spähte er vorsichtig hindurch und schwenkte dabei die Lampe hin und her. Das Licht wanderte über eine Decke und einen Boden, beides glatt bearbeitet und gut drei Meter voneinander entfernt, dazu Säulen, die wie Überreste von ausgegrabener Erde oder Felsgestein aussahen und in regelmäßigen Abständen standen. Seitenwände konnte er nicht erkennen, auch keine gegenüberliegende Wand, so weit reichte seine Taschenlampe nicht.

Von wegen Maulwurfshörnchen. Was um alles in der Welt war das hier?

Es erinnerte ihn an etwas, was er einmal gelesen hatte, während des unregelmäßigen Unterrichts, den er bei seiner Mutter genossen hatte, und zwar über den Bergbau in den Nahen Erden. Er wusste, dass es hier irgendwo eine Schicht Eisenerz gab, die von den Gründern ausgebeutet worden war, damals, als die Poulsons ihre Schmiede eingerichtet hatten. Diese ergiebige Schicht, die es nur auf dieser Welt gab, war ein Grund dafür gewesen, ausgerechnet hier zu siedeln. Aber er hatte gesehen, wie klein diese selbstgebaute Schmiede war, er hatte die Handvoll Nägel gesehen, die dort entstanden waren, die wenigen Hufeisen für die für ihn so exotischen Tiere, die sie eines Tages hierherbringen wollten, wozu sie dann aber doch nicht mehr gekommen waren. (Nikos hatte noch nie ein Pferd gesehen.) Sie hätten in der kurzen Zeit auf keinen Fall so viel ausgraben können, außerdem hatte dafür keine Notwendigkeit bestanden. Aber wenn sie es nicht gewesen waren …

Das Gesicht tauchte direkt vor ihm auf.

Ein Gesicht: Man konnte es so nennen, es war aber eher eine Maske, die nur ungefähr die Form eines menschlichen Gesichts hatte und halbseitig von silbrigem Metall überzogen war. Die andere Seite war aus etwas geformt, was wie das glänzende schwarze Zeug aussah, aus dem Gott die Käfer machte, wie es sein Vater ausgedrückt hätte. Aber es war eindeutig ein Gesicht an einem winzigen Kopf, der sich auf einem schmalen Hals zur Seite neigte.

Es sah beinahe neugierig aus. Es betrachtete ihn und hielt dabei diesen seltsamen Kopf interessiert zur Seite geneigt. Es lebte!

Der Schrecken traf ihn mit einiger Verzögerung. Dann schrie er auf, und das Geräusch hallte laut in der großen, offenen Kammer wider. Er wollte zurückweichen, verlor aber den Halt auf dem steilen Tunnelboden, rutschte nach vorne … und dann fiel er kopfüber aus dem Schacht heraus und …

… mitten in die Arme dieser Silberkäferkreatur. Arme? Hatte das Ding denn Arme? Er spürte kaltes Metall unter seinem Rücken, an den Beinen. Er schrie gellend und zappelte heftig, wurde losgelassen.

Er fiel auf den Boden, der nicht weit unter ihm war, trotzdem rang er nach Luft, und die Taschenlampe ließ er auch fallen. Rasch kam er wieder auf die Beine, aber in der Dunkelheit, in der die Lampe nur einen schmalen Strich auf den Boden malte, kam er sich wie verdreht vor, orientierungslos.