Das Leben ist besser als sein Ruf - Uwe Böschemeyer - E-Book

Das Leben ist besser als sein Ruf E-Book

Uwe Böschemeyer

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Beschreibung

Den Zauber des Lebens zulassen Sind Sie manchmal vom Leben enttäuscht? Geben Sie sich schnell zufrieden? Haben Sie noch Träume? Oder ist es genau umgekehrt und Sie überfordern sich mit Ihrem Streben nach Glück? Der renommierte Psychotherapeut nach der Lehre Viktor Frankls rät aus seiner jahrzehntelangen Erfahrung dazu, das Glück nicht irgendwo zu suchen, sondern in genau jenem Leben, das man gerade führt. Was so einfach klingt, gelingt nicht immer – vor allem, wenn die eigene Unvollkommenheit im Weg steht. Aufbauend und einfühlsam wie ein Freund beschreibt Uwe Böschemeyer, was das Leben bekömmlich macht: ein Mehr an Dankbarkeit, eine Rückkehr zum ursprünglichen Staunen, Versöhnung mit dem Vergangene und den eigenen Fehlern, aber auch Verzicht, der befreiend wirkt, oder ein Wahrnehmen des Guten, das aus Krisen erwachsen kann. Es geht um die Weisheit, ein tiefes Ja zu dem Leben zu finden, in dem ich mich vorfinde, weil es, solange wir leben, kein anderes gibt. – Uwe Böschemeyer

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Seitenzahl: 126

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Uwe Böschemeyer

Das Leben ist besser als sein Ruf

INHALT

VORWORT

SEIN DÜRFEN

ICH HAB’ MICH SO AN MICH GEWÖHNT

BLEIB, WIE DU BIST?

HÄTTE ICH DAMALS DOCH …

DAS WOLLTE ICH SCHON IMMER EINMAL …

DAS KIND IN MIR WIEDER LEBEN LASSEN

ICH BIN ICH. ICH KANN NICHT VERLOREN GEHEN

FEST AN ETWAS GLAUBEN

WARUM TRÄUME SO WICHTIG SIND

LEBEN ANNEHMEN, WIE ES IST

LOHNENSWERTES KULTIVIEREN

SEHNSUCHT

HERZENSBILDUNG

FREUNDLICHKEIT

STAUNEN LERNEN

VERINNERLICHTES ERINNERN

RITUALE

DANKBAR SEIN

MANCHES LASSEN

VON DER GUNST, KEIN EGOIST ZU SEIN

GLÜCK DURCH VERZICHT

VERZICHT AUF STREBEN NACH VOLLKOMMENER ERKENNTNIS

VERZICHT AUS LIEBE

AUF VOLLENDUNG DES LEBENS VERZICHTEN

HERAUSFORDERUNGEN ANNEHMEN

DIE GUNST DER KRISEN

WAS IST MIR KLAR – UND WAS NICHT?

WAS IST ANGST UND WIE KANN ICH SIE ÜBERWINDEN?

WAS IST GRÖSSER ALS DAS, WAS MICH KLEIN ZU MACHEN DROHT?

WAS IST STRESS UND WIE KANN ICH IHN LASSEN?

WAS KANN ICH GEGEN MEIN STÄNDIGES ZERSTREUTSEIN TUN?

WIE KANN ICH UNABHÄNGIG WERDEN VOM URTEIL ANDERER?

VORURTEILE SOLLTE ICH VERMEIDEN

WIE KANN ICH LERNEN, SO WENIG WIE MÖGLICH MASKEN ZU TRAGEN?

WIE PARTNERSCHAFT GELINGEN KANN

ICH MUSS NICHT EINSAM BLEIBEN

UND NOCH

DIE KULTUR DER WORTSUCHE

IST GOTT EINE ILLUSION?

SELBSTERFAHRUNG EINMAL ANDERS

STATT EINES SCHLUSSWORTES

LITERATUR

QUELLENNACHWEISE

INFORMATIONEN

VORWORT

Liebe Leserin, lieber Leser,

seit geraumer Zeit kündige ich immer wieder an, dies sei mein letztes Buch, mein letzter Vortrag, mein letztes Seminar. Bitte, glauben Sie mir: Ich habe jede Ankündigung ernst gemeint. Und das gilt auch für dieses Buch. Denn ich bin inzwischen im 86. Lebensjahr, sodass es vermessen wäre, in diesem Alter weit vorauszuplanen.

Nun also: Warum schreibe ich gerade dieses Buch? Weil ich daran zu glauben aufgegeben habe, dass sich in dieser Welt, im Leben einzelner Menschen oder auch in meinem eigenen Dasein, irgendwann ein paradiesischer Zustand herstellen ließe. Aber – und jetzt kommt die Begründung für mein Buch – ich habe nicht aufgehört daran zu glauben, dass, trotz dieser äußerst beunruhigenden Zeiten, das Leben besser ist als sein Ruf. Ich weiß: Das klingt nicht gerade euphorisch, für mich selbst aber ist diese Aussage eine sehr erfreuliche.

Was ich geschrieben habe, ist nicht am Schreibtisch entstanden, sondern mitten im Leben. Konkret: Noch immer arbeite ich – und das nun seit über fünf Jahrzehnten – mit Menschen jeden Alters, jeden Charakters, jeder Kultur, mit reichen und mit armen, mit edlen und mit sogenannten amoralischen. Aus vielen tausend Gesprächen mit dieser „Klientel“, ich spreche lieber von Besuchern, haben sich Erfahrungen ergeben, für die ich selbst sehr dankbar bin und die mich veranlassen, auch noch dieses Buch zu schreiben, vielleicht mein wichtigstes.

Kein Thema habe ich voll ausgeschöpft, vielmehr ging es mir darum, die jeweils wichtigsten Aspekte zur Sprache zu bringen. Das verschaffte mir die Freiheit, so klar und eindeutig wie nötig und so emotional wie möglich zu schreiben, was mir auf dem Herzen liegt.

Auch die Fülle der möglichen Themen konnte ich nicht bewältigen, und sicher werde ich von meinen Leserinnen und Lesern mit Recht darauf aufmerksam gemacht werden, „was da noch fehlt“. Ich habe jedoch die Hoffnung, dass die künftigen Kapitel den „Geist“ wiedergeben, von dem und in dem ich lebe, arbeite und schreibe und der Sie hoffentlich noch mehr als bisher zu Ihrem Leben ermutigt.

Und schließlich: Wie in meinem gern gelesenen Buch „Das Leben meint mich“ habe ich auch in diesem Buch auf eine klar erkennbare Struktur verzichtet. Auf diese Weise ist es Ihnen, meine verehrten Leserinnen und Leser, leicht möglich, die Texte je nach Belieben zu lesen.

Für wen habe ich dieses Buch geschrieben?

Für alle, die sich nicht nur für ihr eigenes Leben, sondern für Leben überhaupt interessieren.

Für jene, die skeptisch oder gar verzweifelt auf ihr bisheriges Dasein schauen.

Für die Menschen, die sich körperlich, seelisch, geistig oder sozial in Schwierigkeiten befinden.

Ich habe das Buch also für all jene geschrieben, die Hoffnung brauchen: Hoffnung darauf, dass ihr Leben aufblüht oder noch einmal anders als bisher verlaufen könnte.

Ich bitte Sie, geschätzte Leserinnen und Leser, um Nachsicht: Bitte erlauben Sie mir, sprachlich nicht ständig Männer und Frauen gesondert zu kennzeichnen. Ich arbeite in dem von mir geleiteten Institut für Existenzanalyse und Logotherapie sowie in der Europäischen Akademie für Wertorientierte Persönlichkeitsbildung überwiegend mit Frauen, und zwar gern. Aber es würde meiner Erfahrung nach den Gedankenablauf stören. Und: Es würde mir mit 85 Jahren schwerfallen, meinen bisherigen Schreibstil zu ändern.

Ich wünsche Ihnen viel Freude an der Lektüre!

Ihr

Uwe Böschemeyer

Salzburg, im August 2024

ICH HAB’ MICH SO AN MICH GEWÖHNT

„Ich hab’ mich so an dich gewöhnt“, sang in der fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts Bully Buhlan mit warmer Stimme und „ganz Deutschland“ summte den Slowfox mit.

Und wenn man den Satz umdrehen würde: Ich hab’ mich so an mich (!) gewöhnt? Zum Beispiel daran, dass jemand bei jeder Gelegenheit sagt: „Ich bin Realist. Leben ist, wie es ist. Nämlich …“ und verkneift sich ein altes deutsches Wort. Oder jemand sagt: „Man muss ja zufrieden sein …“ und gibt sich keinerlei Mühe, seine herabhängenden Mundwinkel aufzurichten. Oder: „Ich bin nun mal ein Versager …“ und es sieht fast so aus, als spräche er die Worte nicht frei von einer heimlichen Lust aus. Oder: „Ich warte nur darauf, dass mein Leben bald vorbei ist …“ Solche oder ähnliche Sätze höre ich so manches Mal in meiner Ordination. Und so manches Mal meldet sich, wenngleich nur kurz, mein Magen zum Protest gegen solche lebensablehnenden Aussagen. Aber ich bin ja Psychotherapeut und Mentor für Persönlichkeitsbildung und weiß, dass jemand, der so etwas sagt, ein erhebliches Maß an Traurigkeit, Enttäuschung, Wut, Zorn oder Schlimmeres in sich trägt. Und dann?

Ja, ich habe oft über die Möglichkeiten geschrieben, wie Menschen, die Opfer des Lebens geworden sind oder dazu neigen, sich als Opfer zu fühlen, ihr Leben verändern könnten. Ich werde in diesem Buch diese „Lösungswege“ nicht ständig wiederholen. Sie haben zwar für mich nach wie vor Geltung, doch heute möchte ich aus einer auch mir erweiterten Perspektive auf Fragen des Lebens zu sprechen kommen, die weit über das Psychotherapeutische hinausgehen.

Was ist, wenn jemand sagen würde: „Ich hab’ mich so an mich gewöhnt“ und mehr oder weniger zufällig an das kleine Gedicht von Norbert Mussbacher geriete? (Nein, ich kenne den Herrn nicht.)

Manchen Menschen

bleibt alles Schwere

erspart.

Sie kennen keine Enttäuschung,

keine Angst,

kein Leid.

Sie sterben auch nicht.

Sie verdorren

wie Früchte,

die bei der Ernte

vergessen wurden.

Davon bin ich überzeugt, dass Menschen sich verändern können – bis zum Tod! Ich wage diesen Satz zu sagen, weil ich bereits 85 Jahre lebe und erfahren habe, dass „Menschsein heißt, sich verändern zu können“ (Viktor Frankl), dass kein Mensch sich an sich selbst gewöhnen muss – unter der Voraussetzung, dass er die jedem Menschen beheimatete Hoffnung zulässt, ob sie ihm bewusst ist oder nicht. Und wenn, sagt jemand vielleicht, einem die Hoffnung vergangen ist? Dann muss er sie suchen! Wo? In seiner eigenen Seele.

Und wie mach ich das, werden Sie fragen. Gehen Sie immer wieder in die Stille, würde ich ihm antworten. Im Lauf der Zeit würden Sie die Erfahrung machen, dass die störenden Gedanken allmählich zurücktreten und Sie sich allmählich selbst nahekämen. Etwa auch der Hoffnung? Ja! Denn Hoffnung ist eine Gefühlskraft, die unmittelbar zum Menschen gehört und darauf wartet, endlich gefunden zu werden.

Das klingt gut, halten Sie mir entgegen. Aber damit überzeugen Sie mich nicht! Sehen Sie, da ist es wieder, antworte ich Ihnen. Bevor Sie den letzten Abschnitt auf sich haben wirken lassen, wehren Sie ihn ab.

Mir kommt jedoch eine Frage und Sie werden es nicht leicht haben, sie beiseitezuschieben: Lassen Sie sich Zeit und fragen Sie sich, wann es einmal ein Ereignis, eine Begegnung, einen Traum, eine Zeit gegeben hat, von dem oder der Sie sagen können, da hätten Sie Hoffnung gehabt. Sollten Sie sich daran erinnern, dann tauchen Sie noch einmal tief in diese Hoffnungszeit ein: Wann und wo war das? War jemand bei Ihnen? Erinnern Sie sich an den Duft des Flieders oder des Raumes, in dem Sie sich aufhielten oder an die Gänsehaut, die Ihnen über den Rücken lief?

Ich höre Sie sagen: Ja, das hat es gegeben, aber das liegt doch so weit zurück … – Schauen Sie, antworte ich Ihnen, da ist es wieder: Bevor Sie sich auf meinen Vorschlag einlassen, winken Sie müde ab. – Nein!

Ich bin angesichts Ihrer stummen Proteste nicht unwillig, denn ich weiß ja, dass gerade darin Ihr Problem besteht: nicht hoffen zu können. Also?

Was passiert jetzt – zwischen Ihnen, meine Leser, meine Leserinnen und mir, Ihrem Autor? Ich jedenfalls fühle mich Ihnen und Ihren Einwänden nahe, sehr nahe. Warum? Weil Sie ein Mensch sind wie ich und weil mir keineswegs fremd ist, was Sie mir sagen. Und was habe ich Ihnen voraus? Nichts, gar nichts, nur das Eine vielleicht: In einem Buch, das seit über dreißig Jahren „läuft“ („Das Leben meint mich“), habe ich geschrieben:

Es ist besser,

zu hoffen und dann zu scheitern,

als gar nicht gehofft zu haben.

Wer nicht die Hoffnung wagt,

gleicht dem,

der seine Kräfte noch spürt,

sie aber nicht mehr gebraucht,

der den Ruf des Retters noch hört,

ihm aber nicht mehr antwortet.

Auf diese Lebensmöglichkeiten

willst du verzichten,

nur weil dein Leben

möglicherweise

auch anders verlaufen könnte?

BLEIB, WIE DU BIST?

„Bleib, wie du bist“, sagt der eine Mensch zum anderen. Ein Satz, der an Geburtstagen, bei Verabschiedungen und bei tausend andern Gelegenheiten gesagt wird. Genau diesen Satz: Bleib, wie du bist!

Würde ich den, der diesen Satz gesagt hat, fragen, ob er weiß, was er dem anderen da zumutet, würde er mich verblüfft oder unwillig oder verständnislos ansehen. Kann sein, dass er mich auch einfach stehen ließe und ginge. Gewiss, wer diesen Satz einem anderen sagt, will ihm offensichtlich Freundliches sagen. Er meint es gut mit ihm oder ihr.

Ich frage mich jedoch, ob es wirklich freundlich ist, einem Menschen diesen Satz zu sagen. Warum ich das frage? Weil es einen anderen Satz gibt, den ich eben schon erwähnt habe, den ich aber außerordentlich wichtig finde: „Menschsein heißt, sich verändern zu können“ (Viktor Frankl). Ich liebe diesen Satz, weil er so ermutigend ist! Denn wer sich nur ein wenig gut kennt, weiß – wie alt er auch sei –, dass er gut daran tut, sich weiterzuentwickeln. Wie lange? Bis zum Tod. Aber, aber, wird mancher Leser mir gegenüber einwenden. Oder: Muss das wirklich sein? Oder: Ist das nicht zu anstrengend? Oder: Bin ich etwa nicht gut genug? etc.

Der Satz heißt: „Menschsein heißt, sich verändern zu können.“ Nicht „müssen“ oder „sollen“. Und schon gar nicht „unbedingt müssen oder sollen“. Der Satz spricht vom „Können“! Also von Freiheit, von der Möglichkeit, sich zu verändern. Welch eine Würde liegt in dieser Möglichkeit! Bitte lesen Sie nicht gleich weiter, liebe Leserin, lieber Leser …

Und wenn ein Mensch den Satz „Bleib, wie du bist“ hört und alles daransetzt, ihn für sich gelten zu lassen? Es könnte sein, dass er sich sagen würde: Dann würde ich zufrieden sein. Dann würde ich mich mehr noch als bisher mögen. Vielleicht würde ich auch andere mehr als bisher mögen. Ich wäre zufriedener als je zuvor etc.

Es könnte sein, dass ein Mensch, der oft genug den Satz zu hören bekäme: „Bleib, wie du bist“ sich immer mehr daran „hochglauben“ würde. Und ich wäre der Letzte, der ihn daran hindern würde. Ganz sicher? Ganz sicher! Es sei denn, er käme wegen eines Problems zu mir. Worauf will ich hinaus? Darauf, dass der Satz „Bleib, wie du bist“ weder ein kluger noch ein liebevoller und schon gar nicht ein hilfreicher ist.

Und welche Alternative schlage ich vor?

„WERDE, DER DU BIST!“ Dieser Satz geht davon aus, dass Menschen innerlich reich sind, viel reicher als sie wissen, und dass es darum gehen sollte, diesen inneren Reichtum im Lauf der Zeit zu heben: durch Ernstnehmen der eigenen Träume, der Wertimaginationen, jenen bewussten Wegen in und durch die innere Welt, vor allem aber durch ein achtsames, besonnenes, lärmfreies Leben.

HÄTTE ICH DAMALS DOCH …

Vielleicht kennen Sie das: Hätte ich damals doch Abitur gemacht. Hätte ich damals doch meinem Chef meine Meinung gesagt. Hätte ich doch vor meiner Heirat auf meinen Vater gehört. Hätte ich damals doch, als ich mich mit meinem Mann verlobte, auf den Rat meiner Freundin gehört. Hätte ich mich damals doch scheiden lassen. Hätte ich mich doch nicht scheiden lassen. Hätte ich mich doch nur nicht auf dieses Geschäft eingelassen, diese Reise gebucht, meinen Jungen gleich zum Gymnasium geschickt …

Es gibt kaum überflüssigere Sätze als diese. Und warum? Ist es nicht aufrichtig, sogar klug und notwendig, mir im Blick auf die sogenannten „Fehler“ der Vergangenheit Rechenschaft abzulegen? Gewiss, das kann aufrichtig und klug sein, wenn ich „damals“ frei hätte entscheiden können, aber wider besseres Wissen „den Fehler“ begangen habe.

Aber: Leben ist Geschichte, ein Ablauf von Geschichten. Keine Zeit ist mit einer anderen vergleichbar. Jede Zeit ist jeweils neu. Das gilt für uns persönlich, das gilt auch für die „große“ Geschichte. Deshalb sind unsere Bewertungen früherer Entscheidungen und Ereignisse oft unangemessen, töricht und selbstquälerisch. Damals war diese oder die andere Entscheidung „dran“, heute aber wäre sie alles andere als „dran“ gewesen.

Noch einmal: Menschliches Leben fließt dahin. Wenn viele Entscheidungen uns Glück gebracht haben, können wir uns freuen. Wenn dagegen manche Entscheidungen aus heutiger Sicht falsch waren und uns unglücklich gemacht haben, dann ist die Frage angebracht, ob ich denn damals anders hätte entscheiden können und wollen (!).

Ein persönliches Beispiel: Ich habe lange Zeit damit gehadert, dass mein Vater als junger Mann zur SS gegangen und bis zu seinem Tod bei der SS geblieben ist. Was ich lange Zeit nicht bedacht habe: Sein älterer Bruder erbte die Tischlerei seines Vaters, mein Vater dagegen wollte nicht Angestellter seines Bruders bleiben. Er verfiel Mitte der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts den damaligen Verlockungen der SS-Werbung, also zu einer Zeit, in der ein einfacher Mensch, wie er einer war, die Entwicklung des nationalsozialistischen Regimes kaum voraussehen konnte. Und als er kurz vor Ende des Krieges die Möglichkeit gehabt hätte – er war für kurze Zeit in der Heimat –, in unserer dörflichen Gegend „unterzutauchen“, verweigerte er ein solches „Ansinnen“ gutmeinender Menschen unseres Dorfes. Warum? Weil er damals so tief von der NS-Ideologie besetzt war, dass der Gedanke an den „Führer“ ihm offensichtlich wichtiger war als seine kleine Familie, zu der bekanntlich ich gehörte.

Wenn ich heute das Hochzeitsbild meiner Eltern ansehe, wird mir warm ums Herz und wehmütig, weil ich denke, dass mein Vater heute – über 80 Jahre später – wahrscheinlich einer Ideologie, wie sie damals herrschte, nicht erlegen gewesen wäre. Aber seine Entscheidung, in die SS einzutreten, fiel Mitte der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts! Und wenn es ganz still in mir wird, schleicht sich eine Frage ein: Was wäre aus mir geworden, hätte ich selbst zur Zeit meines Vaters unter den gleichen Umständen wie er gelebt?

Meine Mutter erzählte mir, mein Vater sei einmal vom „Dienst“ nach Hause gekommen und sie habe ihn gefragt, wa