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Die hellen Farben der Seele – gemeint sind die spezifisch menschlichen Werte wie Freiheit, Verantwortlichkeit, Liebe, Mut, Hoffnung, Kreativität, Spiritualität, das, was Sinn und Freude am Leben macht. Sind aber nicht vor allem die dunklen Farben der Seele unsere innere Realität? Diese Nachtseite des Lebens gibt es selbstverständlich! Und keinesfalls darf sie verschwiegen werden. Doch der Seele helle Farben, die im »geistig Unbewussten« (Viktor Frankl) gründen, kommen viel zu kurz: in den Wissenschaften, im gesellschaftlichen Leben, im konkreten Dasein der Menschen überhaupt. Von den hellen Farben der Seele handelt Uwe Böschemeyers neues Buch. Sein Konzept nennt er die Wertorientierte Persönlichkeitsbildung (WOP®), die er als einen eigenständigen Entwurf, zugleich als ein logotherapeutisches Präventionskonzept versteht. »Prof. Böschemeyer setzt mit diesem Werk ein neues Land auf die Karte der helfenden Berufe – es ist ein Land der Zuversicht, der Hoffnung und zugleich ein Land, in dem es der Seele erlaubt ist, zu wachsen, wenn die Zeit des Wachstums gekommen ist. Nur den erfahrenen und behutsamen Händen eines großen Therapeuten will man ein solches Land anvertrauen; hier ist es in besten Händen.« Alexander Batthyány, Wien
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Seitenzahl: 300
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UWE BÖSCHEMEYER
Wie wir lernen, aus uns selbstheraus zu leben
Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen. Sollten Sie dahingehend Versäumnisse feststellen, so bitten wir Sie, dies zu entschuldigen und uns die korrekten Nachweise für etwaige Nachauflagen mitzuteilen.
Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.
1. Auflage
© 2018 Ecowin Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Gesetzt aus der Palatino, Adobe Garamond, TheSans B
Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:
Red Bull Media House GmbH
Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15
5071 Wals bei Salzburg, Österreich
Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT
Lektorat: Arnold Klaffenböck
Umschlaggestaltung: b3K design, Andrea Schneider, diceindustries
ISBN 978-3-7110-0172-6
eISBN 978-3-7110-5237-7
Dieses Buch widme ich dem Department für Existenzielle Psychotherapie und Logotherapie des Universitätsinstituts für Psychoanalyse Moskau als Dank für die mir 2016 verliehene Ehrenprofessur.
VORWORT
EINLEITUNG
Der »Hühnerhof« in dieser Zeit
Die Welt jenseits des »Hühnerhofs«
Krankhaftes Leiden – existenzielles Leiden
TEIL 1:Prägungen – Wie ich wurde, was ich beruflich bin
Das Gespräch mit den Sternen
Was die Theologie in mir bewirkte
Wie ich lernte, leidende Menschen zu achten
Der Beginn des Verstehens leidender Menschen
Viktor Frankl, ein Therapeut der Hoffnung
Den anderen ansehen und ihm Ansehen schenken
Was ist Sinn?
Menschsein heißt, sich verändern zu können
Was ist Freiheit, und wie finde ich sie?
Was ist Verantwortung?
Das unbewusst Geistige als Quell- und Wurzelschicht des bewussten Geistes
Der unbewusste Gott
Der zentrale Wert: die Liebe
TEIL 2:Der Vorläufer der Wertorientierten Persönlichkeitsbildung: Leben-lernen-Seminare
Die Anfänge der WOP®
Das Problem der existenziellen Aneignung von Erkenntnissen
Bildhafte Texte als Brücke zwischen kognitiver und existenzieller Erkenntnis
Eine Auswahl von Einschätzungen der Seminare
TEIL 3:Was sind Werte?
TEIL 4:Grundzüge der Wertimagination
Das »bekannte« und das »andere« Leben in uns
Imaginationen als Brücke zwischen Bewusstsein und Unbewusstem
Erste Erfahrungen mit Wertimaginationen
Das ständig in uns ablaufende Gespräch
Auf die sich ausbildenden Bilder kommt es an!
Die »großen« und die »kleinen« Wertgestalten
Zwei Beispiele zur Selbsttranszendenz von Wertimaginationen
Krieg und Frieden
Der unbewusste Gott
Transferimaginationen
Erschließung der Symbole
Was bewirken Wertimaginationen generell? Zusammenfassung
Die dunklen Farben der Seele
Der Gegenspieler
Wie Imaginanden die inneren Bilder sehen
Immer wiederkehrende Fragen zur Wertimagination
Exkurs: Wertimaginationen haben heilende Kraft – Wertimaginative Logotherapie
TEIL 5:Die Macht der Gedanken
TEIL 6:»Die neun Gesichter der Seele«
1. Der Reformer
2. Der Helfer
3. Der Macher
4. Der Romantiker
5. Der Beobachter
6. Der Loyale
7. Der Glückssucher
8. Der Starke, der Boss
9. Der Stille im Lande
Wie erkenne ich meinen Typus, und wie realisiere ich diese Erkenntnis?
Wer bin ich selbst?
Teil 7:Das wertorientierte Gespräch
Zwei Voraussetzungen für ein wertorientiertes Gespräch
Von berührender und treffender Sprache
Ein Beispiel für ein wertorientiertes Gespräch
TEIL 8:Ausschnitte aus der Praxis
Wie gewinne ich ein authentisches Selbstwertgefühl?
Wie erfahre ich Sinn?
TEIL 9:Was mir nach über 50-jähriger Arbeit mit Menschen zur Gewissheit geworden ist
TEIL 10:Wege zur Versöhnung
Wir leben im Spannungsfeld zwischen Liebe und Hass
Versöhnung mit sich selbst
Versöhnung mit anderen
Nachwort
Auswahl der Literatur von Uwe Böschemeyer
Informationen
Anmerkungen
Carl Gustav Jung wurde einmal gefragt, was man noch tun könne, wenn man alt sei. Darauf antwortete er, es gebe immer etwas Neues, das vor einem liege.
Im kommenden Jahr werde ich 80 Jahre alt. Seit gut 50 Jahren arbeite ich mit Menschen, deren Leben nicht leicht war oder ist. Im vorigen Jahr kam ich auf die Idee, meine Erfahrungen in einem Buch zusammenzufassen, nicht trocken, sondern farbig, nicht (nur) theoretisch, sondern lebensnah.
Ich möchte zunächst die Zeiten meines Lebens veranschaulichen, die Einfluss auf meinen beruflichen Lebensweg genommen haben, das, was mich geprägt hat. Dazu gehören vor allem meine Studienfahrten zu Viktor Frankl nach Wien, dessen persönlicher Schüler ich sein durfte. Dann werde ich beschreiben, was ich selbst über das Werk Frankls hinaus gefunden habe. Ich nenne es die Wertorientierte Persönlichkeitsbildung (WOP®). Ich verstehe sie als einen eigenständigen Entwurf, der zugleich ein logotherapeutisches Präventionskonzept darstellt. Ich hätte das, was ich Ihnen vorstellen werde, auch Schule des Lebens in Theorie und Praxis nennen können.
Für wen habe ich das Buch geschrieben?
•Für Menschen, die in ihrer Persönlichkeit weiterkommen wollen.
•Für Menschen, die sich neuen Sichtweisen des Menschen nicht verschließen.
•Für Kollegen anderer Richtungen, die ihren Horizont erweitern möchten.
•Für jene, die sich von meiner Hoffnung auf ein gutes Leben anstecken lassen möchten.
•Für die, die sich für die Erfahrungen eines alt gewordenen Psychotherapeuten interessieren.
Das Buch, das in großen Zügen meine konkrete Arbeit, die Wertorientierte Persönlichkeitsbildung®, widerspiegelt, hat drei Säulen:
•die Wertimagination (WIM®),
•das wertorientiert interpretierte Enneagramm und
•das wertorientierte Gespräch.
Ich habe viele Bücher geschrieben, doch keines ist mir so wichtig geworden wie dieses – und keines ist mir zu schreiben so schwergefallen wie jenes. Warum? Weil mir vor allem die erste Säule, die Wertimagination, darzustellen nicht leicht geworden ist, denn sie handelt von der inneren Welt, die die Wissenschaft das Unbewusste nennt. Seit bereits über hundert Jahren ist vom Unbewussten die Rede, angekommen sind die mit ihm verbundenen Einsichten jedoch noch immer nicht wirklich. Man kennt das von der Physik.
Deshalb würde ich Sie, verehrte Leserinnen und Leser, am liebsten in meinen schönen Akademieraum einladen und mit Ihnen eine konkrete »Wanderung« in diese kostbare innere Landschaft machen, in jenen Bereich, den mein Lehrer Frankl das »unbewusst Geistige« genannt hat.
Gelänge mir eine Kopf und Herz treffende und berührende Darstellung der Wertimagination, kämen immer mehr Menschen mit ihr in Berührung, könnte sie im Laufe der Zeit in die unterschiedlichsten Bereiche der Wissenschaft einziehen, zum Beispiel in die Naturwissenschaft, in die Psychologie, Theologie und Friedensforschung. Ich habe für die beiden letzten Themen zwei Beispiele beschrieben.
Warum ich Sie gleich mit meiner Begeisterung über diese erste Säule überfalle? Ich erforsche sie seit Beginn der 1990er-Jahre und habe inzwischen mindestens 60 000 bis 80 000 innere »Wanderungen« erfahren (durch eigene Begleitung von Klienten, durch Gruppen und Ausbildungen). Überflüssig zu sagen, dass es Imaginationen längst vor der Wertimagination gab. Ich denke zum Beispiel an C. G. Jung und seine Schüler.1
Ich weiß, dass die zweite Säule, das Enneagramm, vielen gebildeten Lesern ein Dorn im Auge ist, bevor sie es wirklich kennengelernt haben. Ihre Abwehr resultiert aus dem Vorurteil, sie verfrachte Menschen in Schubladen. Doch nichts von dieser Abwehr wird Bestand haben, wenn man mit dieser Lehre, die ich wertorientiert interpretiert habe, vertraut geworden ist. Ich habe dieses System reichlich »abgespeckt«, verzichte auf viele Nebenwege. Woher kommt mir die Kühnheit, so vom Enneagramm zu sprechen? Weil mir zufällig (!) im Laufe der Arbeit mit Wertimaginationen aufgegangen ist, dass diese nicht immer, aber oft die »neun Gesichter der Seele« widerspiegeln.
Die dritte Säule, das wertorientierte Gespräch, bildet mit den beiden erstgenannten eine Einheit. Sie wurde von mir vor allem durch den Umgang mit Wertimagination und dem Enneagramm entwickelt.
Meine Frau hat mich dazu ermutigt, ja herausgefordert, dass ich schreibe, was ich denke. Daran habe ich mich schließlich gehalten. Denn ein neues »System« im vielfältigen psychologischen Gelände zu veröffentlichen, wird gewiss nicht nur Applaus hervorrufen. Es waren auch meine Schüler und Klienten, die mich dazu veranlassten, meine Arbeit zu veröffentlichen.
Die hellen Farben der Seele – was ist damit gemeint? Das Gute, das Schöne, das Liebenswerte in uns, das, was Viktor Frankl die spezifisch menschlichen Werte wie Freiheit, Verantwortlichkeit, Liebe, Mut, Hoffnung, Kreativität, Spiritualität genannt hat, um nur einige zu nennen. Kurzum: das, was Sinn macht, was wertvoll ist, was die Freude am Leben begründet und die Freude an uns selbst, was uns Stärke verleiht, weswegen wir leben wollen.
Gibt es denn »das alles« in uns wirklich? Leben wir nicht in einer Zeit, in der wir weltweit äußerlich das Gegenteil von dem erleben, was die hellen Farben der Seele zu versprechen scheinen? Sind nicht Gewalt, Krieg, Hunger, Hoffnungslosigkeit, Schamlosigkeit, Gleichgültigkeit, Hass, Betrug unsere Realität? Realität sind also vor allem die dunklen Farben der Seele: Angst, Niedergeschlagenheit (schauen Sie bitte in das Wort hinein!), Sinnmangel, Freudlosigkeit, Gleichgültigkeit, Lebensverneinung. Ja, die Nachtseite des Lebens gibt es, selbstverständlich! Und es ist gut, dass über diese Seite der Seele geforscht, geschrieben, berichtet, informiert, gesendet und geklagt wird! Und das muss auch so bleiben.
Doch jene andere Seite des Lebens, der Seele helle Farben, die meiner Erfahrung nach im »geistig Unbewussten« gründen, kommt viel zu kurz! In den Wissenschaften, im gesellschaftlichen Leben, im konkreten Dasein der Menschen. Aber es gibt sie! Nicht immer sichtbar, ja sogar überwiegend unsichtbar – und doch da, vorhanden, darauf wartend, gelebt, ausgelebt zu werden. Und viele sehnen sich danach, auch wenn sie es selbst nicht bemerken.
Wovon ich so »heilsbringend« rede? Nicht vom Heil spreche ich, das gibt es andernorts, vermute ich. Sondern von dem, was wir Menschen in uns tragen, in unserer Seele, in der außer dem Dunklen ebenso viel Helles ist, wenn wir es suchen, uns darauf einlassen, es nicht borniert als nicht-existent beiseitedrängen.
Aber – habe ich als Therapeut etwa nicht die Abgründe, die wir Menschen in uns haben, gesehen? Ja, und ob! Habe ich nicht bemerkt, dass viele ihre Freiheit, sich zu entwickeln, zu verändern, zu wandeln, nicht nutzen oder nicht nutzen wollen? Sicher. Bin ich niemals verzweifelt gewesen angesichts der Tatsache, dass Menschen das Kostbarste, das wir haben, die Liebe, nicht leben? Gewiss. Und woher nehme ich trotzdem den Mut, ein Buch zu schreiben, das von den hellen Farben der Seele handelt? Noch einmal: Weil es diese »Farben« gibt! Weil sie zu wenig Thema sind, weil viele seelische und körperliche Störungen abgewendet werden könnten, wenn bekannter wäre, dass wir reicher sind, als wir ahnen.
Es sind 15 Leitgedanken, die für die WOP® grundlegend sind:
1.Leben in der Welt, so wie sie ist, macht Sinn.
2.Geist ist das Besondere, das spezifisch Menschliche. Geist ist die Möglichkeit des Menschen, sein inneres und äußeres Leben zu gestalten und authentisch zu werden. Geist ist der Inbegriff für alle spezifisch menschlichen Werte.
3.Eine zentrale Bedingung, Geist zur Lebendigkeit zu verhelfen und damit Authentizität zu erfahren, ist die Auseinandersetzung mit dem eigenen Grundproblem.
4.Eine weitere Bedingung für ein authentisches Leben ist die Auseinandersetzung mit der inneren Welt, in der die spezifisch menschlichen Werte verwurzelt sind: zum Beispiel die Lebensbejahung, das Gefühl für Sinn, die Freiheit, die Verantwortlichkeit, der Mut, die Liebe, die Kreativität, die Spiritualität. Den Zugang zu diesen Werten öffnen Wertimaginationen.
5.Jeder Mensch ist freier, als er denkt.
6.Jeder Mensch ist reicher, als er ahnt.
7.Jeder Mensch ist sich selbst gegenüber verantwortlich und der Welt, in der er lebt.
8.Jeder Mensch trägt in seiner Seele viel »wartendes Leben« (Viktor von Weizsäcker) mit sich.
9.Leben ist erfüllt, wenn die innere und die äußere Welt zusammenkommen.
10.Die Entdeckung der Liebe in sich selbst und zu anderen ist die heilsamste Gefühlskraft.
11.Nein! Die Kindheit bestimmt nicht unser ganzes Leben!
12.Nein! Nicht die Umstände bestimmen primär unser Dasein, sondern unsere Einstellung zu ihnen.
13.Insbesondere die existenzielle Auseinandersetzung mit Spiritualität schafft die Möglichkeit, im Leben Sinn und Halt zu finden.
14.Zur (Weiter-)Bildung der Persönlichkeit gehört vor allem Wahrhaftigkeit.
15.Leben trägt Hoffnung in sich Tag um Tag, weil Tag um Tag Sinn erfahren werden kann.
Zwei Bemerkungen zum Schluss:
Die erste: Dieses Buch stellt Anforderungen an die Rationalisten unter den Lesern, denn es fordert sie dazu heraus, sich einzugestehen, dass wir vom Menschen nicht so viel wissen, wie wir denken. Sagt zum Beispiel jemand, er kenne diesen oder jenen Menschen durch und durch, fällt es mir schwer, nicht zu lächeln. Ein solcher Mensch gleicht dem, der am Meer steht und sagt, er sehe das Meer. Dabei sieht er nicht mehr als sieben Kilometer. Dass wir nicht sagen können, wir kennten den Menschen nie ganz, sagt ganz viel über die Würde des Menschen aus. Das sollten auch wir Psychotherapeuten und Mentoren für Persönlichkeitsbildung uns eingestehen!
Die zweite: Seien Sie mir, verehrte Leserinnen, bitte wohlgesinnt, dass ich nicht ständig auf den Unterschied von Frau und Mann hinweise. Ich arbeite in dem von mir geleiteten Institut für Logotherapie und Existenzanalyse sowie der Akademie für Wertorientierte Persönlichkeitsbildung (WOP®) weitgehend mit Frauen und schätze sie sehr. Im Übrigen meine ich, wenn ich vom Mann oder der Frau spreche, den Menschen!
Ein afrikanisches Märchen geht in großen Zügen etwa so:
Ein Vogelkundler entdeckte in einem Hühnerhof einen Adler, den sein Besitzer ein Huhn nannte, weil er meinte, ihn zu einem Huhn erzogen zu haben. Der vogelkundige Mann widersprach ihm und nannte das sich von den Hühnern offensichtlich unterscheidende Tier einen Adler. Und so beschlossen beide, eine Probe zu versuchen. Der Vogelkundler nahm den Adler, hob ihn in die Höhe und beschwor ihn: »Adler, der du ein Adler bist, breite deine Schwingen aus und fliege!« Der jedoch blickte stumpf umher, sah die Hühner Körner picken und sprang in den Hof zurück.
Am nächsten Tag wiederholte der Vogelkundler seinen Versuch, stieg mit dem Tier auf das Dach des Hauses und erinnerte ihn eindringlich an seine Herkunft: »Adler, der du ein Adler bist, breite deine Schwingen aus und fliege!« Doch auch dieser Versuch war vergeblich.
Ein letztes Mal erlaubte der Hofbesitzer einen Versuch. Da ging der Vogelkundler mit dem Adler an den Fuß eines Berges, den die Sonne in gleißendes Licht getaucht hatte, und sprach: »Adler, der du ein Adler bist, du gehörst dem Himmel und nicht der Erde. Breite deine Schwingen aus und fliege!« Bewegung ging durch den großen Körper, aber – er flog nicht. Da streckte der Mann den Hals des Adlers der Sonne entgegen – und der Vogel breitete seine mächtigen Schwingen aus, erhob sich mit einem mächtigen Schrei und flog der Sonne entgegen.
Manchmal werde ich hin- und hergerissen zwischen Ohnmacht und Zorn, wenn mir wieder einmal aufgeht, dass viel Not nicht sein müsste, dass viele harte Lebensläufe anders verlaufen, dass viele Menschen mehr Glück erfahren könnten, wenn sie sich bewusst machten, wer sie in Wahrheit sind: Menschen mit Gold im Geröll ihrer Lebensmine. Deshalb gehört es zu den fast tragisch zu nennenden Tatsachen, dass viele nicht wissen, welche Kräfte in ihnen stecken. Dass sie übersehen, welche Fähigkeiten und Begabungen sie in sich tragen. Dass sie nicht einmal mehr an ihrer Selbstvernachlässigung leiden! Dass ihnen ihr eigenes Leben gleichgültig ist.2 Dass sie nicht merken, wie viel » wartendes Leben«(Viktor von Weizsäcker) in ihnen versauert.
Schicksalhaft ist das nicht immer.
Die Geschichte vom Adler begleitet mich seit vielen Jahren. Wie der Vogelkundler mit dem Adler leidet, der sich nicht daran erinnert, dass er ein Adler und kein Huhn ist, so leide ich oft mit Menschen, die sich nicht darauf besinnen, wer sie sind und wozu sie leben, die sich von sich selbst entfremdet haben. Und wie der Vogelkundler inständig darauf hofft, dass der neue Flugversuch gelingen möge, so hoffe ich darauf – und mit mir viele Kollegen –, dass ein Mensch, der Hilfe von mir erwartet, begreifen möge, dass ich für ihn nicht »fliegen« kann. Dass er nur dann zu »fliegen« beginnt, wenn er begreift, dass seine Lebenskräfte, Begabungen, Talente darauf warten, und sein Lebenswille die Notwendigkeit verspürt, wieder lebendig zu werden.
Der Adler in unserer Geschichte ist nicht krank! Er weiß nur nicht mehr, wer er ist und wohin er gehört. Er hat vergessen, dass er der »König der Lüfte« genannt wird. Er hat sich selbst, sein Wesen vergessen. Deshalb weiß er nicht mehr, wohin er will und wo sein Ziel liegt. Erst dann, als der Adler sein vergessenes Ziel sieht (»Hin zur Sonne, hin zum Licht!«), spürt er, fühlt er, begreift er, was ihm entspricht, und lässt alles Huhnhafte hinter sich.
Es gibt auch viele »Menschenkundler«, und viele haben unterschiedliche Ideen, wie aus scheinbaren Hühnern wieder Adler werden könnten. Ich bin einer von ihnen und weiß die Arbeit anderer zu schätzen. Ich selbst sehe meine Aufgabe in dem afrikanischen Märchen vorgezeichnet: Mir geht es darum, Folgendes bei meinen Klienten (statt Klient würde ich lieber Besucher sagen) auszulösen:
•dass sie erkennen, erfühlen und begreifen, was nicht zu ihnen gehört, was sie von sich selbst entfremdet hat;
•dass sie erkennen, erfühlen und begreifen, wer sie in Wirklichkeit sind, das heißt, dass sie das in ihnen »wartende Leben« aus sich heraus leben;
•dass sie erkennen, erfühlen und begreifen, wie sie selbst Sinn, das heißt die Sonne in ihrem Leben, finden können.
Ich sagte es schon: Der Adler auf dem Hühnerhof ist nicht krank. Auch viele Klienten, an die ich denke, sind nicht krank. Aber sie haben Sehnsucht, ob es ihnen bewusst ist oder nicht. Sehnsucht nach einem ureigenen, unverwechselbaren, persönlichen, sinnvollen Leben. Und weil sie nicht krank sind und/oder sich krank fühlen, bräuchten sie nicht unbedingt einen Psychiater oder einen Psychotherapeuten aufzusuchen, sondern einen ihrer Wert- und Sinnproblematik entsprechenden »Menschenkundler«, der präventiv, also vorbeugend, mit ihnen arbeitete. Ich nenne ihn Mentor für Persönlichkeitsbildung, der Erfahrung mit Menschen beziehungsweise Menschlichem hat und Wege zum Kern des Menschen weiß.
Während ich diese Sätze schreibe, kommt mir mein erster Klient wieder in den Sinn:
Er war ein junger, groß gewachsener Mann mit auffälligem lockigem Haar. Er hatte den 30er-Gipfel noch nicht erklommen. Er stand in meinem sehr bescheidenen Sprechzimmer und wagte offensichtlich nicht, sich hinzusetzen. Dabei fiel mir auf, dass er leicht gebückt stand. Da er stumm blieb, erkundigte ich mich nach seinem Anliegen. Was er sagte, konnte ich zunächst nicht einordnen. Er sei fußkrank, sagte er. Schließlich kam zum Vorschein, dass er weder schulisch noch beruflich einen Weg für sich gefunden hatte. Dass er in seinem Leben weder gehen noch stehen konnte. Das bedrückte ihn außerordentlich. Deswegen war er gekommen. Er erzählte mir von sich, seinen Geschwistern, seinen Eltern, seinem Umfeld. Ich unterbrach ihn nicht, weil ich spürte, dass sich seine Seele zu öffnen begann. Während er sprach, schaute ich ihn die ganze Zeit an. Es wurde ein Gespräch von Seele zu Seele. Dabei ging mir immer mehr auf, dass der Mensch, der mir gegenübersaß, ein Juwel war. Das gab ich ihm mit sparsamen Worten zu verstehen. Da richtete er sich auf, und sein angespanntes Lächeln löste sich ein wenig. Wir setzten unsere Arbeit fort. Er ging beruflich und persönlich einen guten Weg.
Für welche Themenbereiche weiß sich die Wertorientierte Persönlichkeitsbildung zuständig?
•Die allgemeine Zielgruppe sind gesunde Menschen, die wissen, dass nicht nur der Körper der Pflege bedarf, sondern auch die Seele, dass diese keineswegs vom Entspanntsein allein leben kann, sondern auch und vor allem von einem lebendig gewordenen Geist. Denn die ständig wechselnden Situationen im Leben verlangen immer wieder neue Ein- und Umstellungen.
•Die spezifische Zielgruppe sind gesunde, jedoch existenziell frustrierte Menschen, die nicht mehr oder nicht mehr genügend Sinn im Leben erfahren. Die bei dieser Zielgruppe auftretenden Probleme sind Lebens- und Sinnkrisen in ihren vielfachen Erscheinungsformen, zum Beispiel Selbstwertproblematik, Sinnzweifel, Krisen des Wachstums, der Lebensmitte, der Lebenswende und des Alters, Partnerschafts- und Beziehungskrisen, Erziehungskonflikte, Lebens- und Sterbensangst, Verlust, Trauer, Existenzschuld, irreversibles Schicksal.
Praktiziert wird die Wertorientierte Persönlichkeitsbildung bisher
•in Einzelgesprächen,
•in Selbst- und Sinnerfahrungsgruppen,
•in der Arbeit mit Kindern,
•in der Erwachsenenbildung,
•in der »Schule des Lebens«,
•in der Seelsorge,
•in der Personalberatung,
•in der Öffentlichkeitsarbeit.
Ein Hühnerhof hat in aller Regel einen Zaun. Alles, was sich jenseits des Zaunes befindet, gehört nicht zum Hühnerhof, hat daher mit den Hühnern nichts zu tun. Der »Hof« des Adlers dagegen – ich meine den Adler, der sich in die Lüfte schwingt – ist weit wie die Welt. Er hat keine Grenzen.
Was kennzeichnet den »Hühnerhof« dieser Zeit? Ich begnüge mich mit einigen sparsamen Hinweisen. Sie haben ja Ihre eigenen Erfahrungen:
Das Geld scheint für viele Menschen das Wichtigste zu sein. Deshalb tun jene, die im Hühnerhof dieser Zeit leben, alles, um ihr Geld »abzusichern«, gut »anzulegen«. Deshalb versichern sie sich gegen vieles, was ihnen irgendwann genommen werden könnte. Manche unruhige Nacht geht auf das Konto Sorge ums Geld.
Für die Bewohner dieses Hofes ist auch die Gesundheitsfürsorge von großer Bedeutung. Deshalb scheint die Jagd nach »hundertprozentig« wirksamen Methoden, Medikamenten, Kügelchen, Wässerchen, Pülverchen etc. zu den besonders wichtigen Selbstpflegediensten zu gehören. Das kann jedoch zu einer permanenten Erwartungsangst führen.
Ein anderes Merkmal des gegenwärtigen »Hühnerhofs« ist die Generosität im Umgang mit den vielfältigen Formen der Kultur. Ich nenne nur wenige Aspekte: Ich denke zum Beispiel an bestimmte aggressive »Bestseller«, die mehr und rasche Käufer finden als Literatur, die zum Beispiel zum »Schöngeistigen« gehört. – Ich denke an ohrenbetäubende »Musik«, deren Wirkung auf die Hörer hoffentlich bald neurobiologisch untersucht werden wird (wenn das nicht schon geschehen ist). – Ich denke an die großrahmigen Kaufhaustüren, die den einen oder anderen Rücken beschädigen, wenn jener, der die Tür bereits passiert hat, sie schwungvoll fliegen lässt. – Ich denke unwillig an Gedankenlosigkeit in Schrift und Sprache. Sprache sei die höchste Form von Kultur, hat der bedeutende Sozialpsychologe Erich Fromm gesagt. Mir fällt allerdings auf, dass sogar jene, die in den Medien zu Wort kommen dürfen, diesen bedeutenden Hinweis oft zu wenig beachten.
Diese oder andere vergleichsweise harmlose Beispiele zum Thema Kultur(losigkeit) scheinen zu bestätigen, was Erich Fromm an anderer Stelle sinngemäß gesagt hat: Die Mehrzahl der Menschen sei nicht daran interessiert, sich persönlich weiterzuentwickeln. Die Ursache dafür sei der Mangel an Bereitschaft, sich mit den eigenen inneren Widerständen auseinanderzusetzen. Auch dem Adler schien es zunächst zu genügen, sich in den Hühnerhof zu den Korn pickenden Hühnern fallen zu lassen. So konnte er weiterleben. Aber die Sonne kriegte er nicht zu sehen und seine machtvollen Flügel nicht zu spüren, bis der Vogelkundler ihn an sein Wesen erinnerte.
Während ich diesen Satz schreibe, erinnere ich mich an Herrn K. aus dem »Hof«. Er war damals etwa 40 Jahre alt. Inzwischen lebt er nicht mehr. Er hatte einen auffällig schweren Gang, der die Last seines ganzen Lebens zum Ausdruck brachte. Der Mann war intelligent, trotzdem verlor er immer wieder seine Anstellung im kaufmännischen Bereich. Einmal habe ich mich für ihn verbürgt, indem ich seinem möglichen neuen Chef glaubhaft machte, Herr K. werde durchhalten, bekäme er die vakante Stelle. Herr K. blieb sechs Jahre. Ich hatte an ihn »geglaubt«. Deshalb blieb er so lange.
Herr K. war Waisenkind. Irgendwann war er adoptiert worden. Seine Kindheit verlief traurig. Eine Frau fand er nicht. Irgendwann hatte er herausgefunden, wo seine leibliche Mutter wohnte. Die Begegnung mit ihr verlief wie sein bisheriges Leben. Auf ihrer Beerdigung brach er in einen Lachanfall aus. Wie gern hätte ich mit ihm gearbeitet! Er hat von seinem Adler in sich nichts gewusst.
Jährlich nehmen sich 58 000 EU-Bürger das Leben. Die Zahl der Selbstmordversuche übersteigt die der begangenen Suizide etwa um das Zehnfache.
Jährlich leiden innerhalb der EU 18,4 Millionen Menschen im Alter zwischen 18 und 65 Jahren an Depressionen.3 Diese Zahlen erschüttern mich. In welcher Welt leben wir nur!
Wir leben in einer Zeit, in der die Angst zum lebensbestimmenden Gefühl geworden ist. Ich meine die Angst vor den Tiefen oder Untiefen der eigenen Seele, die Angst vor anderen Menschen, die Angst vor der Welt, in der wir leben. Das gilt nicht nur für unsere Breiten, das gilt weltweit. Und keineswegs nur wegen der Finanzkrisen. Wir wissen davon nicht nur aus Büchern oder Medien. Jeder, der mit Menschen therapeutisch oder beratend arbeitet oder offen geblieben ist für die Nöte der Zeit, weiß davon.
Die Angst unter uns ist so groß, weil der Mangel an Sinn so groß ist. Der Mangel an Sinn ist so groß, weil der Halt im Leben so gering ist. Der Halt im Leben ist so gering, weil die Suche nach Sinn so schwierig geworden ist. Die Suche nach Sinn ist so schwierig geworden, weil das Leben selbst so unübersichtlich geworden ist und die Wege zum Sinn so verdeckt erscheinen. Und weil die Wege zum Sinn so verdeckt erscheinen, ist die Angst unter uns so groß und das Identitätsgefühl so gering. Gibt es Gründe für diese Entwicklung?
In keiner Zeit haben Menschen so vielfältige Veränderungen erfahren wie in dieser. Die Veränderungen beglücken und bedrücken uns. Wir sind Zeugen einer rasant verlaufenden technologischen Entwicklung, eines umfassenden Wandels unserer Gesellschaft in eine Informationsgesellschaft, einer Internationalisierung des Lebens, einer radikalen Veränderung in der Wirtschafts- und Arbeitswelt, eines riesigen Angebots unterschiedlicher Weltanschauungen.
Diese und andere Entwicklungen sind eine nie da gewesene Herausforderung, Leben neu zu begreifen und sich neu darauf einzustellen. Darüber hinaus hat der 11. September 2001, an dem die Türme des World Trade Center von New York fielen, das Daseinsgefühl der Menschen weltweit verändert. Die Veränderungen haben für viele Menschen dazu geführt, dass sie nicht mehr wissen, wer sie sind und welchen Sinn ihr Leben hat; dass sie nicht mehr wissen, was sie fühlen und wo ihr Platz im Leben ist. Sie kennen sich in ihrem eigenen Leben nicht mehr aus, geschweige denn im großen. Diese Entwicklungen lösen tief greifende Fragen aus wie etwa diese: Wo führt »das« hin? Worauf kann ich mich noch verlassen? Was gilt in dieser neuen Welt? Wer bin ich »eigentlich«? Wie vermeide ich, dass ich krank werde? Was wäre ein zufriedenes, sinnvolles Leben?
Das Problem dieser Zeit besteht nicht im Mangel an Werten und Sinn, sondern im Mangel an Zugängen zu Werten und Sinn. Sie scheinen für viele Zeitgenossen verengt oder verschüttet zu sein. Sie öffnen sich jedoch in dem Maße, in dem der Geist sie öffnet. Daher ist die Auseinandersetzung um die geistige Dimension und die in ihr gründenden Wertgefühlskräfte eine notwendige Aufgabe dieser Zeit. Das heißt konkret? Weiterbildung der Persönlichkeit, die zugleich Voraussetzung für Sinnfindung und die Möglichkeit der Prävention von Störungen ist. Diese Aufgabe stellt sich denen, die sich in Theorie und Praxis mit dem Wohl des Menschen befassen. Sie stellt sich nicht nur Ärzten und Psychologen, sondern allen, die Menschen begleiten und leiten. Ich möchte zu diesen Menschen gehören.
»Zu einem kompetenten Umgang mit dem Thema (psychische Krankheiten)«, sagt der Psychiater und Theologe Manfred Lütz im Vorwort zu Georg Psotas Buch Das weite Land der Seele, gehört, »dass man weiß, dass die schweren psychischen Krankheiten keineswegs zugenommen haben. Was zugenommen hat, ist die Tendenz unserer Gesellschaft, Lebensprobleme zu psychischen Krankheiten hochzujazzen.«
Lütz veranschaulicht seinen Satz mit einem eindrucksvollen Beispiel: »Wenn eine Frau plötzlich von ihrem Mann verlassen wird, kann sie das tief erschüttern, und das ist manchmal schlimmer als eine schwere Depression – aber es ist keine Krankheit, sondern eine gesunde Reaktion auf eine schreckliche Situation.«4 Es geht hier wie so oft um ein Lebens-Problem, nicht um ein Krankheits-Problem. Es sei nicht zulässig, so hatte schon Karl Jaspers, Philosoph und Psychiater, gesagt, alle menschlichen Nöte mit seelischen Erkrankungen gleichzusetzen. Man müsse unterscheiden zwischen krankhaftem und existenziellem Leiden. Und Viktor Frankl hatte den für mich persönlich folgenschweren Satz geäußert: »Man müsste etwas haben, das Menschen daran hindert, überhaupt in die Psychotherapie zu müssen.« (Ich bedauere es: Ich habe in keinem Frankl-Buch einen Beleg für diesen Satz gefunden. Aber er hat ihn mir gegenüber gesagt! Ich sehe Frankl in seiner Wohnung vor mir hergehen. Dann sagte er eher beiläufig diese Worte.)
Damals begriff ich dessen Bedeutung nicht wirklich, heute ermutigt er mich, meine eigenen Erfahrungen einer hoffentlich großen Leserschaft vorzustellen.
Etwa 15 Jahre nach meinem existenzanalytisch-logotherapeutischen Abschluss bei Viktor Frankl an der American Medical Society at the University of Vienna – Frankl war deren Direktor – begann ich, an der von ihm angestoßenen Idee eines Präventionskonzepts zu arbeiten. Ehe ich nun mit dieser Darstellung beginne, möchte ich Ihnen erzählen, was mich geprägt, was mich geleitet hat in meinem langen Leben, um Ihnen heute dieses Präventionskonzept vorstellen zu können.
WIE ICH WURDE,WAS ICH BERUFLICH BIN
Da sind zuerst die Sterne. In den letzten zwei bis drei Schuljahren verging kaum ein Abend, an dem ich nicht in den Feldern und Wiesen unseres Dorfes die Sterne angeschaut hätte. Ihre Namen interessierten mich nicht. Es war auch kein bestimmter Stern, der meinen Blick angezogen hätte. Es war der Sternenhimmel, den ich bewunderte. Oft blieb ich stehen und schaute und schaute. Dann wurde mein Atem ruhiger, tiefer, weiter. Fragen kamen auf: Wandern die Sterne oder bleiben sie stehen? Wer oder was hält sie? Woher kommen sie überhaupt? Wie alt mögen sie sein? Wie weit sind sie von mir entfernt? Wie klein bin ich doch, und wie weit ist der Himmel über mir! Wenn ich in den Sternenhintergrund sehen könnte – käme ich an ein Ende? Und was wäre dann?
Erst jetzt, nach einigen Jahrzehnten, geht mir auf, welche Bedeutung diese abendlichen Wanderungen tatsächlich für mich hatten. Denn die eben angedeuteten Fragen greifen auch heute noch nach mir. Wozu ist diese Welt da? Ist sie geworden, oder ist sie erschaffen? Wird hier Regie geführt? Und wenn ja, wer oder was ist das? Das Seltsame ist nur, dass die Fragen mich schon damals nicht ängstigten. Sie vermittelten mir vielmehr den Eindruck, von »guten Mächten« umgeben zu sein.
In jener Zeit bekam ich ein Büchlein von Willy Kramp in die Hand: Vom aufmerksamen Leben. Darin schrieb der Autor Sätze, die ich immer wieder las, und ich vermute, dass diese Sätze mich, mein Denken und meine Beziehung zu den Menschen, die sich mir später anvertrauten, mitgeprägt haben: »Wenn am abendlichen Himmel die jungen, blassen Sterne sichtbar werden, so erkennen wir sie nicht, indem wir unmittelbar auf sie starren, sondern indem wir sie, leise an ihnen vorbeistreifend, zum Welthintergrund hin mitnehmen. Es ist das Geheimnis hier im Spiel, dass wir die Dinge nicht gewinnen, indem wir … herrscherlich nach ihnen greifen. Es gilt vielmehr, ehrfürchtig vor fremden Wesen, fremdem Schicksal innezuhalten, immer dessen eingedenk, dass Dinge und Gestalten und menschliche Schicksale von einem anderen, einem Eigentlichen durchpulst sind, aus dem heraus sie ihr Leben haben.«5
Wenn ein Mensch einem anderen begegnet, neigt er dazu, sich von ihm »ein Bild zu machen«. Vielleicht erinnert er ihn an jemand anderen, vielleicht entstehen gleich sympathische oder unangenehme Gefühle, vielleicht aber auch ist er gleich »mit ihm fertig«.
Den Kern eines Menschen erfahren wir gar nicht rasch, weil er zunächst verborgen ist durch all das Fremde, das sich durch die Jahre hindurch um seine Seele gelegt hat. Deshalb gilt für mich das Gleiche wie beim Anblick der Sterne: Ich »starre« nicht auf meinen Besucher, ich »registriere« nicht, was er mir »mitteilt«. Während er zu sprechen beginnt, nehme ich ihn an, nehme ich ihn auf, warte ich auf Gesten seiner Seele, die mir sein Körper vermittelt, beginne ich, ihn zu erkennen.
Einmal im Jahr fand in einem Wald in der Nähe meines Dorfes ein Missionsfest statt. Missionare aus Afrika erzählten mit großer Begeisterung von ihrer Arbeit. Ein Posaunenchor umrahmte die Veranstaltung, vor der ich jedes Mal mächtige Angst hatte. Weshalb? Weil ich fürchtete, ich würde in ein paar Jahren auch Missionar werden und nach Afrika auswandern müssen.
Dabei hatte mich niemand jemals auf diese Möglichkeit angesprochen. War das ein erstes Zeichen für das, was ich einmal werden sollte? Die Männer waren so überzeugend, so hingebungsvoll, so herausfordernd … Stattdessen dachte ich darüber nach, Theologie zu studieren. Auch auf diese Möglichkeit war ich von niemandem angesprochen worden. Ich las, als ich die Schule noch nicht abgeschlossen hatte, mit großer Begeisterung theologische Bücher. Zunehmend spürte ich den Drang, das, was ich gelesen hatte, weiterzugeben. Zwei Jungs aus einem Schuhladen hörten mir aufmerksam zu, während wir abends durch Felder, Wiesen und Wälder gingen und hin und wieder zu dritt andächtig vor einem endlos glänzenden Sternenhimmel stehen blieben. Mein Entschluss, Theologie zu studieren, vertiefte sich.
Für dieses Studium hatte ich mich schließlich entschieden, weil mich wie Martin Luther die Frage gepackt hatte: »Wie kriege ich einen gnädigen Gott?« Ich studierte mit Fleiß, aber eine befriedigende Antwort auf diese Frage gab mir die wissenschaftliche Theologie nicht. Auch später nicht die angewandte Theologie – nicht in meiner zweijährigen Tätigkeit als Pfarrer einer Hamburger Kirchengemeinde, nicht wirklich an der Hamburger Universität. Was ich vor allem mitnahm, waren die Vorlesungen meines Chefs Helmut Thielicke. Er war ein großer Anthropologe und Sozialethiker. Über fünf Jahre genoss ich es, sein Mitarbeiter zu sein. Er war darüber hinaus ein Sprachkünstler. Seine Kunst bestand darin, sich in Menschen aller Gruppierungen einfühlen zu können. Er berührte und traf die Seelen der Menschen, die ihm zuhörten. Nach der »Thielicke-Zeit« war ich glücklicher Hochschulpfarrer, bis ich bemerkte, dass die Arbeit mit Studenten mir auf Dauer zu einseitig war.
War der Weg über die Theologie zu meinem jetzigen Beruf ein Umweg gewesen? Gern denke ich an eine Stunde, als ich mit Kollegen in einem ehrwürdigen Seminarraum in Marburg/Lahn einen Lachanfall bekam. Wir übersetzten einen hebräischen Text und stritten uns um eine sprachliche Banalität. Mit meinem Lachen steckte ich die anderen an. Wir lachten so laut, bis uns eine seriöse Studentin auf unser unangemessenes Verhalten aufmerksam machte. Wir fanden weitere Gelegenheiten zum Lachen, wenn uns zum Beispiel aufging, dass wir zu viel Lebenszeit in das Erlernen alter Sprachen investiert hatten. Denn viele alte wichtige Texte waren ja exzellent ins Deutsche übersetzt worden.
Andererseits: Ich kann nicht die vielen Vorlesungen aufzählen, in denen mir die berühmte Gänsehaut über den Rücken lief, zum Beispiel, als unser Professor für Altes Testament mit Tränen in den Augen auf den zerstörten Mauern Jerusalems stand und das Leid Israels beklagte. Nach und nach lernte ich auch aus unterschiedlichen Perspektiven die Grundlagen des inzwischen verblassten christlichen Abendlands kennen – und damit die Fähigkeit, in größeren Zusammenhängen mitzudenken.
Und doch gab es etwas, das an Bedeutung herausragte: die Einsicht, dass es nichts Wichtigeres gibt als die Frage Goethes, »was die Welt im Innersten zusammenhält«, und die Gewissheit, dass es nichts Wichtigeres gibt als dieses: im Menschen Gott zu begegnen. Ich habe mein Studium trotz allem nicht bereut.
Im Sommer 1962 hatte ich die Möglichkeit, als Theologiestudent in Haslachmühle am Bodensee in einer Klinik für alkoholkranke Männer ein sechswöchiges Praktikum zu machen. Diese sechs Wochen wurden zur Grundlage meiner gesamten späteren Arbeit mit Menschen.
In den ersten drei Tagen wurde ich von niemandem beachtet, im Gegenteil: Kam ich in die Nähe einer Gruppe von Männern, die miteinander sprachen, verstummte das Gespräch. Das verstand ich, obwohl ich mich alles andere als wohl fühlte. Ich war ein Student, der das Leben gescheiterter Existenzen beobachten wollte. So jedenfalls schien ich von den Männern gesehen zu werden. Dass ich mich fürchtete vor ihnen, die so viel erlebt hatten, schien niemand zu bemerken.
Am dritten Tag nahm mich ein ehemaliger Berliner Fußballstar beiseite und schlug mir vor, mit ihm einen Spaziergang zu machen. Offensichtlich war der Mann einer, der von den anderen geachtet wurde. Und so geschah es, dass ich bald auch mit anderen ins Gespräch kam – woher ich käme, was ich hier wolle, wie lange ich bliebe etc. Zu meiner Überraschung sprachen in den nächsten Tagen die Männer auch von sich: warum sie hier waren, sie erzählten von ihren Frauen und Kindern, von ihren Scheidungen, von ihrer Sehnsucht nach der Familie. Oft hatte ich den Eindruck, dass sich mancher für seinen Aufenthalt in dieser Klinik rechtfertigen wollte. Vor mir! Dem Studenten mit seiner geringen Lebenserfahrung!
Nach und nach lernte ich viele Lebensgeschichten kennen, wohl auch deshalb, weil im Speisesaal ein Flügel stand, auf dem ich irgendwann zu klimpern begann. Wenn ich zum Beispiel leise einen Tango spielte – wir befinden uns in den frühen 1960er-Jahren! –, sprach mich der eine an und raunte mir zu, bei genau diesem Tango habe er seine große Liebe kennengelernt.