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Liebe Leserinnen und Leser,
Lieber Uli,
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Liebe Leserinnen und Leser,
ich lernte Ulrich Gabriel - ich durfte ihn Uli nennen - am 6. Februar 2007 kennen. Er war mit seiner Mutter auf Empfehlung ihrer Freundin zu mir gekommen. Als ich ihn im Wartezimmer traf, bemerkte ich, dass wir nicht miteinander würden sprechen können. Seine Mutter beruhigte mich jedoch mit dem Hinweis, eine Verständigung sei über seinen Laptop möglich. Ulis Mutter, eine Internistin, nahm an fast allen Sitzungen teil, einmal wurde Uli von seinem Vater begleitet. Die Begleitung war aus verschiedenen Gründen notwendig: zum einen, weil Uli selbst die mit dem Laptop verbundenen Vorbereitungen nicht treffen konnte und ich zu den technisch nicht gerade Begabten gehöre. Vor allem aber war die Begleitung erforderlich, weil, wenn Uli saß, seine Arme oft nach oben schnellten und seine Mutter sie dann liebevoll »fixierte«. Und weil seine Zunge nicht immer tat, was er wollte, half ihm seine Mutter, sie wieder an Ort und Stelle zu rücken.
Wir waren von Beginn an »ein starkes Team«. Und so kam es, dass unsere Treffen keineswegs nur ernst verliefen, sondern auch - oft genug - leicht und heiter. Die Treppe zu unseren höher gelegenen Institutsräumen meisterte Uli übrigens spielend, denn seine Beine verfügten zwar nicht mehr über die frühere Elastizität, doch unterstützten sie ihn beim Gehen gut.
Warum wollte ich über Uli ein Buch schreiben? Weil wir miteinander die für mich ungewöhnlichste Therapie erlebten -, weil er mich wie niemand sonst zum Nachdenken herausforderte, was ein Mensch unbedingt zum Leben braucht, um es bejahen zu können -, und schließlich, weil ich diesen jungen Menschen so zauberhaft fand und ich ihm ein Andenken, ein kleines Denk-Mal schenken möchte.
Das war auch der Grund, weshalb ich in der Nacherzählung der Therapie den Du-Stil wählte. Und während ich so zu schreiben begann, ging mir auf, dass ich auf diese Weise Ihnen, verehrte Leser, das, was sich entwickelte, am ehesten nahebringen kann. Besonders wichtig war mir auch - und das ist ganz im Sinne meines jungen Freundes -, dass das Buch nicht nur eine »Laudatio« auf Uli werden sollte. Es sollte darüber hinaus Wege zeigen, wie durch einen Schicksalsschlag betroffene Menschen eine neue, vielleicht sogar tiefere Basis für ihr Leben finden können. Aus diesem Grunde habe ich über die Darstellung der konkreten Therapie hinaus jedem einzelnen Therapieblock einen Teil angefügt, der eine Vertiefung der Arbeit mit behinderten Menschen zeigen soll. Er beginnt jeweils mit den Worten: Was ich darüber hinaus sagen möchte.
Uli wurde am 25. Juni 1991 geboren. Bis zum 14. Januar 2006 war er ein gesunder, fröhlicher Junge, sportlich und musikalisch, frei von nennenswerten Problemen. Seine Mutter schrieb mir dazu: »Uli Gabriel war vor dem Unfall immer ein sehr lebendiger Junge. Mit 13, 14 Jahren war er sehr selbstbewusst, charmant, fröhlich. Viele Mädchen waren um ihn herum... Er war sehr sportlich. Er nutzte seine Intelligenz aus, um wenig für die Schule tun zu müssen. Allerdings ließ er sich auch schnell beeinflussen... Wir wohnten in einer Wohnung in einem kleinen Dorf. Ulis Gymnasium war gleich in der Nähe. Im Winter fuhr ich die Kinder zur Schule (Uli hat eine jüngere Schwester), im Sommer und Herbst fuhren sie mit dem Fahrrad. Im Winter fuhr er oft Ski oder Snowboard. Er war immer sehr schnell und hatte keine Angst. Er wollte auch der Beste sein. Zu mir, zu uns war er sehr lieb (abgesehen von den pubertären Phasen).«
Von einem Tag auf den anderen veränderte sich Ulis Leben, als er sich im Januar 2006 beim Springen aus etwa zwei Metern Höhe mit einem Snowboard eine Oberarmfraktur rechts zuzog. Zunächst bestand unmittelbar nach dem Sturz keine Amnesie oder Bewusstlosigkeit. Er klagte jedoch über Rückenschmerzen und Atemnot. Nach der Bergung durch die Bergwacht wurde er in die Klinik Oberstdorf gebracht, wo eine Osteosynthese in ITN1 durchgeführt wurde. Die Operation dauerte etwa eine Stunde. Was dann geschah, berichtete mir Ulis Mutter so: »Nach der Operation war er in einem stupurösen Zustand, der über drei Tage andauerte. Er reagierte lediglich auf Schmerzreize, sodass er sich zwar nicht im Koma befand, wohl aber in einem Vorstadium. Dazu kam es aufgrund eines Hirnödems und Zellnekrosen durch die Hypoxie der betroffenen Läsionen.«2 Vom 17. Januar bis zum 6. Februar 2006 folgte eine stationäre Behandlung im Klinikum Augsburg, vom 15. Februar bis 29. März hielt Uli sich zur Rehabilitation in der Fachklinik Enzensberg auf. Bei Beginn unserer Arbeit wirkte Uli zwar abwartend, aber nicht verschlossen, ein wenig gespannt, zugleich hoffend. So nahm er mir von Anfang an die Sorge, ob wir uns verstehen würden.
Einige Hinweise zu diesem Buch:
❖ Im Vordergrund der Therapie stand die Wert imagination, eine von mir entwickelte Form der Arbeit mit inneren Bildern (ich stelle sie Ihnen ab Seite 19 vor). Darüber hinaus bemühte ich mich, Uli Gedanken zur Erhellung seiner persönlichen Situation und des Lebens überhaupt zu sagen. Was er darauf entgegnete, schrieb er in seinen Laptop.
❖ Was Uli mir in den Laptop schrieb - sowohl die Wertimaginationen als auch das, was er mir auf meine »Erhellungen« hin sagte -, finden Sie jeweils kursiv gedruckt. Mit großen Anfangsbuchstaben sind die Wertgestalten benannt und die Ziele der inneren Wanderungen stehen in Anführungszeichen. »Wanderungen« nenne ich die »Reisen« in und durch die innere Welt.
❖ Ich habe weithin darauf verzichtet, Ihnen die Symbole der Wertimaginationen zu erklären. Viele werden durch den Zusammenhang deutlich, manche verdeutliche ich Uli - und damit auch Ihnen.
❖ Ich gebe nicht die ganze Therapie wieder, sondern stelle nur die mir besonders wichtig erscheinenden Teile heraus. Das Gleiche gilt für Ulis innere Wanderungen, die zudem wegen der Notwendigkeit der Niederschrift recht kurz ausfielen. Es mag sein, dass auf diese Weise der therapeutische Zusammenhang nicht immer deutlich wird. Wichtiger jedoch ist es mir, die zentralen Elemente unserer Arbeit zur Geltung zu bringen.
❖ Einige Gedanken werden wiederholt dargestellt. Solche Wiederholungen gehören zu jeder gründlichen therapeutischen Arbeit, weil sie vorläufig Erkanntes vertiefen.
❖ Das Buch selbst erhebt nicht den Anspruch, ein umfassendes Konzept zur Arbeit mit behinderten Menschen darstellen zu wollen. Es geht mir vielmehr darum, an meinen Begegnungen mit Uli und den folgenden vertiefenden Texten Gründe für Hoffnungen zu zeigen. Vor allem aber geht es mir um die Klarstellung, dass kein Mensch identisch ist mit dem, was ihn belastet, beschwert, krank gemacht oder in die Verzweiflung gebracht hat, darum also, dass jeder Mensch immer mehr ist als sein Problem.
❖ Sollten Ihnen einige Imaginationspassagen zu gefühlvoll erscheinen, so darf ich Ihnen sagen, dass alle spezifisch menschlichen Werte im geistigen Bereich des Unbewussten gründen und daher eine starke emotionale Ausstrahlung haben.
❖ Sie werden manchmal die Anrede du und Sie finden. Immer dann, wenn ich etwas eindringlich und persönlich sagen möchte, fällt mir das Du leichter. Diese Anrede ist also nicht despektierlich gemeint.
❖ Gern hätte ich mit Uli noch eine Weile weitergearbeitet. Doch aufgrund seines notwendig gewordenen Umzuges nach Caracas musste unsere Arbeit unvollendet bleiben. Jedenfalls hatte ich die begründete Hoffnung, dass die eine oder andere körperliche Erleichterung noch möglich gewesen wäre. »Entlassen« konnte ich ihn trotzdem, weil er seelisch-geistig wesentlich gestärkt erschien und sein Leben wieder bejahen konnte. Und das war nicht so, als ich ihn zum ersten Mal sah.
❖ Im Allgemeinen: Jedes unabänderliche Schicksal, das einen Menschen trifft, bedeutet für ihn zunächst einen elementaren Wertverlust, der ihn in eine tiefe Sinnkrise führt. Er ist auf die Ein-Schnitte und Widerfahrnisse, die sein Schicksal ausmachen, nicht nur nicht vorbereitet, er ist durch sie auch völlig überfordert. Er steht vor einer gänzlich neuen, von ihm nicht gewollten Lebenssituation und reagiert darauf hilflos, möglicherweise mit einem Schock oder mit Verzweiflung. Seine bisherige Einstellung zum Leben ist durch sein Schicksal überholt, sein Gefühl für den Wert seines Lebens erloschen. Seine Bereitschaft, zur neuen Situation eine angemessene Einstellung zu suchen, ist denkbar gering. Sein Leben scheint abgebrochen. Vieles, was gewohnt war, findet von einem auf den anderen Tag nicht mehr statt. Wie soll er sich zurechtfinden in seinem radikal veränderten Leben? Es scheint keinen Ausweg mehr zu geben. Sein Lebenszusammenhang stellt sich ihm nur noch bruchstückhaft dar. Erst im Lauf der Zeit wird er erkennen - in aller Regel durch fachliche Hilfe -, dass es sich weiterzuleben lohnt, weil sich ihm ein neues, oft vertieftes Verständnis für die Wirklichkeit zu zeigen beginnt.
Lieber Uli,
was ich am meisten vermisse, wenn ich an dich denke? Es sind deine leuchtenden Augen, wenn dein Gesicht strahlt. Seltsam: Ich habe, wie du weißt, viel mit Menschen zu tun, doch dieses Leuchten habe ich bisher bei keinem anderen gefunden. Überhaupt denke ich viel an dich, nicht nur, weil ein Foto von uns beiden in meinem Arbeitszimmer steht, nicht nur, weil ich dieses Buch schreibe, sondern auch weil, wenn wir uns sahen, mir das Herz besonders weit aufging. (Hoffentlich findest du diesen Satz nicht zu pathetisch.)
Du hast mich herausgefordert. Hast mir alles abverlangt. Und hast mich immer wieder glücklich gemacht. Nein, ich übertreibe nicht, ganz gewiss nicht. Das würde ich mir dir gegenüber nicht erlauben. Und auch darin übertreibe ich nicht: Keine Therapie in meinem inzwischen langen Berufsleben hat mich so bewegt wie diese, mein Freund.
Ich habe dich schon bald so genannt, weil ich mich dir sehr freundschaftlich verbunden fühlte, und ganz gewiss wird das so bleiben. Glücklicherweise empfandest du das Wort »Freund«, als ich es zum ersten Mal aussprach, nicht als mitleidige Geste. Denn Mitleid war und ist dir gegenüber keineswegs angebracht. Und als ich dir irgendwann einmal sagte, dass ich dieses Gefühl im Kontakt mit dir nicht empfinde, strahltest du mich an. (Du weißt, dass ich über Mitgefühl anders denke.)
Verlagsgruppe Random HouseDas für dieses Buch verwendete FSC-zertifi zierte Papier Munken Premium Creamliefert Arctic Paper Munkedals AB, Schweden.
Copyright © 2010 Kösel-Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
eISBN : 978-3-641-03889-2
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