Aussöhnung mit uns selbst und dem unvollkommenen Leben - Uwe Böschemeyer - E-Book

Aussöhnung mit uns selbst und dem unvollkommenen Leben E-Book

Uwe Böschemeyer

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Beschreibung

In verunsichernden Zeiten gibt die Weisheit des erfahrenen Therapeuten Uwe Böschemeyer uns Halt und Hilfe. Wie wir mit allem Unvollkommenen in unserem Leben gut leben können, ohne zu resignieren. Wie es uns gelingt, auf ein vergangenes, schwieriges Leben ohne Bitterkeit, Hass, Verzweiflung zurückzublicken und mit offenem Herzen das Leben anzunehmen, wie es ist. Für all das zeigt uns Uwe Böschemeyer mit seiner warmen, entlastenden Art einen Weg auf. Dieses Buch ist für alle, die bereit sind, sich das, was sie im Innersten wissen oder ahnen, anzusehen. Die auch in schwierigen Zeiten bereit sind zu ändern, was geändert werden kann, und sich auszusöhnen mit dem, was nun einmal so ist, wie es ist. Menschsein heißt, sich verändern zu können. Aussöhnung mit dem Leben heißt, zu leben.

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Uwe Böschemeyer

Aussöhnung mit uns selbst und dem unvollkommenen Leben

„Ich möchte dabeistehen können bei allen Aussöhnungen in der Welt, weil uns keine Liebe so tief bewegt wie die wiederkehrende.“

JEAN PAUL

Inhalt

Vorwort

Teil I

Worauf es mir in meiner Arbeit vor allem ankam und nach wie vor ankommt

Die Welt ist kein geschlossenes System

Geist ist Gestaltungskraft

Wertimagination als primäre Methode

Die Polyphonie der Seele

Das wertorientierte Gespräch

Das Enneagramm als wert-volle Persönlichkeitslehre

Sinn als stärkstes Motiv des Menschen

Veränderung ist bis zum Tod möglich

Spiritualität ist spezifisch menschlich

Selbstverwirklichung?

Gütig werden als Ziel der Arbeit an sich selbst

Teil II

Wie Aussöhnung mit mir und dem Leben möglich werden kann

Niemand und nichts ist vollkommen – von der Ambivalenz des Lebens

Eine besondere Variante des Sinnmangels: Negativismus

Ein vernachlässigtes Thema: Aussöhnung – was sie ist und was sie bewirken kann

Aussöhnung mit einer schmerzvollen Vergangenheit

Aussöhnung mit einer Gegenwart, die man sich ganz anders vorgestellt hatte

Es gibt keine Sicherheit, dass die Zukunft uns bringen wird, was die Vergangenheit und Gegenwart uns versagt haben

Aussöhnung mit dem eigenen Körper, der eigenen Seele und dem eigenen Geist

Aussöhnung mit „verlorenen“ Kindern

Aussöhnung mit chronischem Leiden

Aussöhnung mit der Zeit, in der wir leben

Aussöhnung mit der Tatsache, dass Gerechtigkeit in dieser Welt zu den sozialen Raritäten gehört

Aussöhnung mit der Tatsache, dass wir sterben müssen

Kann Selbstverwirklichung Aussöhnung mit sich selbst und dem Leben leisten?

Ist Spiritualität der Weg zur Aussöhnung mit sich selbst und dem Leben?

Ist Aussöhnung ein Grund, mit der Weiterbildung der eigenen Persönlichkeit aufzuhören?

Aussöhnung mit dem, der unser Leben und die Welt in seinen Händen hält

Schluss

Anmerkungen

Informationen zur Praxis von Uwe Böschemeyer

Ausgewählte Literatur von Uwe Böschemeyer

Endnoten

Ich habe die Hoffnung, dass ich mit dem, was in mir brennt, Menschen mit offenem Herzen anstecken kann.

Vorwort

In diesem Buch wird zu lesen sein, was für mich in meinem langen Leben, vor allem dem beruflichen, an Erkenntnissen – auch ein wenig an Weisheit? – gewachsen ist. Doch nie zuvor habe ich so lange gebraucht, um mich für ein Buchthema zu entscheiden. Mehrere Ideen habe ich rasch wieder verworfen, bis mir vor wenigen Tagen die „Erleuchtung“ kam. Jetzt brenne ich darauf, das Buch zu schreiben.

Um welche „Erleuchtung“ handelt es sich? Was Menschen mehr denn je brauchen, ist, scheint mir, Aussöhnung: mit sich selbst, mit anderen, mit dem Leben überhaupt. Es gibt in dieser Zeit so viele Vorbehalte, so viel Ablehnung, so viel Aggressivität, so viel Streit, aber auch so viel Gleichgültigkeit.1 Da ist so viel Unausgesprochenes, Unklares, Verschwiegenes, Verdrängtes und deshalb so viel Fried- und Freudlosigkeit in der Welt, in der wir uns befinden, ohne uns zu finden – ganz abgesehen von dem maßlosen, irrsinnigen Hass zwischen den Völkern.

Ich gehe jedoch davon aus, dass viel Leid – eigenes wie auch in der Beziehung zu anderen und zum Leben überhaupt – nicht sein müsste, wenn wir mehr als bisher zunächst lernten, persönlich zu ändern, was zu ändern ist, und uns danach daran machten, uns auszusöhnen mit dem, was nun einmal so ist, wie es ist. Deshalb möchte ich mir die Zeit nehmen, um in einem ersten Schritt den Stand meiner heutigen psychotherapeutischen und persönlichkeitsbildenden Arbeit vorzustellen. In einem zweiten Schritt soll es dann im Besonderen um das Thema Aussöhnung gehen.

Was mir bisher als Psychotherapeut mit der Fachrichtung Logotherapie und Existenzanalyse und Mentor für „Wertorientierte Persönlichkeitsbildung“ (WOP®)2 wichtig ist – Letztere habe ich vor 30 Jahren zu entwickeln begonnen und ständig weiterentwickelt –, werde ich zunächst in elf Punkten zusammenfassen. Danach werde ich den Rahmen beider Fachgebiete überschreiten, wann immer mich meine Erfahrung dazu drängt. Ich werde mich mit dem, wovon ich überzeugt bin, nicht zurückhalten. Ich habe die Hoffnung, dass ich mit dem, was in mir brennt, Menschen mit offenem Herzen anstecken kann. Denn, so meine ich: Leben ist schön, trotz allem, was zurzeit den Boden unter uns wanken lässt. Wichtiger noch wäre, wenn wir zu gegebener Zeit begriffen, dass erst ein ausgesöhntes Leben ein sinnvolles Leben ist. Diesen Satz sage ich, weil ich zu jenen Menschen gehöre, die in ihrem Leben hinreichend Leid erfahren haben.

Nein, ich meine nicht, dass dieses Buch der Maßstab für Sie, liebe Leserinnen und Leser, sein sollte. Aber mit meiner Leidenschaft fürs Leben – ich sagte es schon – möchte ich Sie anstecken. Die dunklen Nachrichten, die Tag für Tag in atemberaubender Geschwindigkeit um unseren wunderbaren Erdball schwirren, erodieren mehr und mehr die Seelen der Menschen. In dieser Intensität müsste Sinnlosigkeit nicht sein. Nein!

Für wen habe ich dieses Buch geschrieben?

> Gewiss, für meine Kolleginnen und Kollegen,

> für alle, die beruflich oder ehrenamtlich mit Menschen zu tun haben,

> für alle, die sich in diesen schwierigen Zeiten ein offenes Herz bewahrt haben,

> für alle, die bereit sind, sich das, was sie im Innersten wissen oder ahnen, anzusehen.

Ich wünsche Ihnen bei der Lektüre die Freude, die ich selbst beim Schreiben hatte.

Uwe Böschemeyer

Salzburg, im Jänner 2023

Worauf es mir in meiner Arbeit vor allem ankam und nach wie vor ankommt

Die Welt ist kein geschlossenes System

Die Welt, in der wir leben, ist kein geschlossenes System. Sie ist offen zur Transzendenz. Deshalb gilt nach wie vor der schlichte Satz: Es geschieht mehr zwischen Himmel und Erde, als sich die Schulweisheit träumen lässt, auch in der konkreten Arbeit mit Menschen.

Das bedeutet: Es ist wichtig, offen zu bleiben für die Gedanken, Empfindungen, Gefühle oder inneren Bilder des Klienten und Patienten, die dem Verstand nicht einsichtig sind. Das bedeutet darüber hinaus, dass die Frage nach dem, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, auch Thema unserer Gespräche sein kann.

Geist ist Gestaltungskraft

Der viel zitierte Zusammenhang von Leib-Seele-Geist ist grundlegend für die Frage, wer der Mensch sei. Vor allem: Geist ist alles andere als ein blässliches philosophisches Sujet, sondern, wenn wir uns ihm öffnen, eine mächtige Gestaltungskraft. Darauf insbesondere hingewiesen zu haben ist das bleibende Verdienst des großen Wiener Psychiaters, Neurologen und Begründers der Logotherapie und Existenzanalyse, Viktor E. Frankl, dessen persönlicher Schüler ich sein durfte. Von ihm stammt auch der bekannte Begriff von der „Trotzmacht des Geistes“. Was besagt er? In aller Kürze (ich sage es mit meinen Worten):

Es geschieht mehr zwischen Himmel und Erde, als sich die Schulweisheit träumen lässt.

Gemeint ist jene menschliche Fähigkeit, sich nicht nur gehen, sondern auch stehen lassen zu können. Nicht bei jeder Unpässlichkeit zu „passen“, nicht bei jeder Laus, die einem über die Leber läuft, selbsterfahrerisch tätig zu werden. Ich brauche mich nicht bei jeder kritischen Bemerkung eines anderen in Selbstzweifel zu stürzen. Nicht allen Störungen meiner Seele muss ich Vorrang gestatten.

Nicht allen Störungen meiner Seele muss ich Vorrang gestatten.

„Trotzmacht des Geistes“ heißt aber noch mehr: Es gibt Krankheiten, die uns aus unseren äußeren Bahnen werfen, Trennungen, die uns zunächst mitnehmen, Scheitern, das wir fürchten wie nichts anderes. Es gibt Tatsachen, vor denen wir plötzlich stehen und die uns zu entwurzeln drohen. Dann kann es wichtig sein, nicht nur nach dem Warum und dem Wozu der Ereignisse zu fragen, sondern uns trotz dem, was eingetroffen ist, zu empören – nicht nur gegen die Tatsachen selbst, sondern auch gegen deren fatale Auswirkungen auf die Seele. Es geht bei der „Trotzmacht des Geistes“ um das Bewahren der Freiheit im Inneren, um Sinnerfahrung, die bleiben kann, auch wenn die Vor-Stellungen vom Leben zunichte geworden sind. Denn der Mensch kann „größer“ sein als das, was ihn kleinzumachen droht. Von Frankl stammt übrigens der fast vergessene, meines Erachtens jedoch hochbedeutsame Satz: „Wer den Geist in sich verdrängt, macht ihn zum Dämon.“

„Wer den Geist in sich verdrängt, macht ihn zum Dämon.“

VIKTOR FRANKL

Wertimagination als primäre Methode

Zu den wichtigsten Methoden sowohl der Wertorientierten Persönlichkeitsbildung (WOP®) als auch der Wertimaginativen Psychotherapie gehört die Wertimagination (WIM®).3 Dieses von mir entwickelte empirische Konzept basiert auf der anthropologischen Einsicht Frankls, dass der „unbewusste Geist“ die Grundlage des bewussten Geistes ist.

› Unbewusster Geist, das ist – mit meinen Worten – die schöpferische, gestaltende, sinnstiftende Kraft, von deren Wirksamkeit primär abhängt, in welcher Weise der ganze Mensch existiert.

› In dem Maße, in dem der Mensch Zugang zu ihm findet, findet er die ihm entsprechenden Werte, findet er sich selbst, findet er Sinn und auch die Kraft, diesen Sinn zu leben.

› Unbewusster Geist ist die Basis des bewussten Geistes. Mehr als das: Er ist die Basis menschlichen Daseins überhaupt. Er ist, wie Frankl sagte, der „Dreh- und Angelpunkt“ unseres Menschenbildes.

› Unbewusster Geist ist die Mitte der Seele. Er ist zugleich der Grund, die Mitte und das Ziel der Wertimagination.

Der unbewusste Geist ist jener Bereich des Unbewussten, in dem alle spezifisch menschlichen Werte verwurzelt sind, zum Beispiel die Freiheit, die Verantwortung, die Liebe, der Mut, die Lebensbejahung, die Kreativität, die Spiritualität und andere. Deren Personifizierungen zeigen sich als Wertgestalten. Diese inneren Gestalten werden nicht vorgestellt oder eingebildet, vielmehr bilden sie sich aus, wenn sich der Imaginand auf sie ausrichtet. Sie, die inneren Gestalten, sind die primären legitimen Interpreten, Leiter und Begleiter des Imaginanden in der unbewussten Welt. Sind die Wertgestalten sorgsam und richtig eingestellt, hat der Imaginand sich mit ihnen vertraut gemacht, gehen von ihnen starke Energien aus.

Denn unsere Tiefe ist hell.

Die innere Welt des Menschen, deren Mitte nicht der Trieb ist, sondern der Geist, deren Grund nicht das Chaos ist, sondern der Sinn, deren Ziel nicht der Hass ist, sondern die Liebe, bietet alle Voraussetzungen dafür, dass wir Lösungen finden können, wie Menschen in dieser und der kommenden Zeit als Menschen wert- und sinnvoll leben könnten. Denn unsere Tiefe ist hell. Das bedeutet meines Erachtens, dass beide Formen des Geistes, der bewusste und der unbewusste Geist, gleichbedeutend sind.

Ziel der Wertimaginationen ist außer der Bearbeitung der Widerstände gegen gelingendes Leben, die im psychosozialen Bereich liegen, im Besonderen die kognitive und existenzielle Aneignung der spezifisch menschlichen Werte. Vielleicht hatte Viktor von Weizsäcker, der bedeutende Heidelberger Psychosomatiker, diese Ausrichtung im Sinn, als er vom „wartenden Leben“ sprach.

… wovon die Seele seit Langem träumt.

Meine Erfahrung ist, dass kaum ein Problem so viele Menschen miteinander verbindet wie der Mangel an Gefühl für den Wert der eigenen Persönlichkeit, also der Mangel an Fähigkeit, sich selbst anzunehmen, sich selbst zu akzeptieren. Und das hat eine betrübliche Folge: Weil aus unserem Selbstbild unser Weltbild entsteht, führt dieser Mangel, sich selbst annehmen zu können, dazu, dass auch das Leben und die Welt, in der wir leben, nicht wirklich bejaht werden kann. Deshalb ist eine Wertimagination zum „Ort des Angenommenseins“ unter Führung und Begleitung des „Inneren Lebensbejahers“ von hervorragender Bedeutung, vorausgesetzt, dass diese Imagination für längere Zeit regelmäßig wiederholt wird.

Wer oder was ist nun dieser Innere Lebensbejaher? In der Regel zeigt er sich als helle Gestalt mit weißem Gewand. Seine Augen sind warm und wohlwollend. Er wirkt freundlich, frei, kraftvoll, selbstbewusst, verständnisvoll, Vertrauen erweckend, großherzig, gütig, versöhnlich, liebevoll. Er weckt Hoffnungen, ermutigt, zeigt neue Wege, vermittelt tiefe Geborgenheit. Er klagt nicht an, sondern versteht und gibt dem Imaginanden das Gefühl, sein zu dürfen, wie er nun einmal ist; das löst ein tiefes Selbst- und Sinngefühl aus. Deshalb wirkt er in vielen Imaginationen wie jene ferne Gestalt aus Nazareth, von der sich, recht verstanden, Ähnliches sagen ließe. Allerdings zeigt sich der Innere Lebensbejaher selten von selbst, meistens müssen wir ihn suchen. Darf ich Ihnen zwei einfache wertimaginative Beispiele vorstellen?

In diesem ersten Beispiel wandert eine Frau mit starken Minderwertigkeitsgefühlen zum „Ort des Angenommenseins“. Sie hat entschieden, sich von ihren beiden Lebensbejahern (männlich und weiblich) führen zu lassen:

Die beiden Lebensbejaher führen sie eine steile Treppe hinab. Der Treppengang ist dunkel. Unten angekommen, gehen sie durch einen ebenso dunklen Gang. Wieder führt der Weg über eine steile Treppe nach unten und wieder gehen die drei einen langen dunklen Gang entlang.

Mehrere Male wiederholt sich diese Szene. Niemand sagt ein Wort. Doch die Imaginandin weiß sich in der Nähe ihrer Begleiter gut aufgehoben. (Lange Wege zu Zielen deuten darauf hin, dass die Ziele bewusstseinsfern liegen.)

Du darfst sein, wie du bist – du darfst sein,wie du bist.