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Ob und wie eine Wende in Krisenzeiten möglich ist, erzählt Uwe Böschemeyer mit vielen Beispielen und Gedankenanstößen. Seine Hilfsangebote zu Lebensthemen wie Unzufriedenheit, Sinnmangel, Ängste, depressive Verstimmungen, Lebensmüdigkeit, Trennungen, Konflikte zwischen Jung und Alt, Trauer und unveränderbares Schicksal sind konkret beschrieben. Die Frage nach der Ursache eines Problems ist wichtig, aber noch wichtiger ist die Orientierung auf lebenswerte Ziele, also auf das, was ein Mensch will. Das Buch möchte dazu ermutigen, immer wieder neu nach Gründen für Hoffnung zu suchen, denn dies ist die Voraussetzung, neuen Sinn finden zu wollen. Der Autor variiert den Satz des berühmten Wiener Psychiaters und Menschenkenners Viktor Frankl: "Menschsein heißt, sich verändern zu können."
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Seitenzahl: 157
Uwe Böschemeyer
Konkrete Wege zu einem anderen Leben
Ellert & Richter Verlag
Vorwort
Der Mensch auf der Suche nach Sein und SinnEine anthropologische Meditation
Was ich dir noch sagen wollteEin Brief an meine Tochter zum 18. Geburtstag
Kann sich ein Mensch wirklich verändern?Grundlegende Gedanken
Wie finde ich Sinn?10 mögliche Wege
Und das Leben lohnt sich doch!Gespräche mit einer selbstmordgefährdeten Frau
Unumkehrbares Schicksal: Trotz allem: Ja!Ein Konzept für Gespräche mit einem Gesichtsverletzten
Einsamkeit muss kein Schicksal bleibenAus-Wege
Abschied von der Trauer10 Schritte zur Überwindung
Von Brücken zwischen Älteren und JüngerenEine anthropologische Meditation
Mut zum Leben findenVon der Überwindung der Lebensangst
5 Schritte zu einem selbstbestimmten, sinnerfüllten und wahrhaftigen LebenEin wertorientiertes Credo
Vom inneren HaltGedanken zur Dimension der Tiefe
Sie kennen das: Sie finden einen alten Brief, den Sie einmal selbst geschrieben, einen Artikel, den Sie vor langer Zeit verfasst haben, vielleicht auch ein Gedicht für einen geliebten Menschen. Und staunen darüber, was Sie da zustande gebracht haben.
Nicht anders erging es mir, als ich vor kurzem in alten Büchern und Artikeln blätterte. Sie stammten tatsächlich von mir! Bei längerem Lesen ging mir auf, dass die Texte inhaltlich zwar unterschiedlich waren, jedoch alle um eine Frage kreisten: Kann ein Mensch in seinem Leben neu beginnen, auch wenn ein Problem, eine Krankheit, ein Schicksal ihn offensichtlich überfordert? Wenn eine Lebenswende in seinem Leben aussichtslos erscheint?
Meine Antwort war – und ist noch immer – ein entschiedenes Ja. Selbstverständlich können wir unser vergangenes oder gegenwärtiges Leben nicht einfach abschütteln. Aber: Es gibt neue Einstellungen zum Leben, zum gewesenen, zum anwesenden und künftigen Leben. Es gibt neue Auseinandersetzungen mit dem, was war, und neues Ringen um das, was ist und werden soll. Mir kommt dazu ein Bild:
Ein Mensch sieht eine wunderschöne Rose. Er will sie mit seiner neuen Kamera fotografieren. Als das Bild entwickelt ist, ist der Mann enttäuscht. Er sieht zwar eine Rose, aber nicht die, die er eben noch bestaunt hat. Er kannte sich mit seinem neuen Apparat nicht aus. – Da kommt ein anderer Mensch, sieht die Rose, drückt auf den Auslöser seiner uralten Kamera. Als er das Bild entwickelt hat, sieht er auf „seine“ Rose. Sie ist (fast) so schön wie in Wirklichkeit.
Nein! Es kommt nicht primär darauf an, was wir haben, sondern auf das, was wir sind. Wenn dieses Buch erscheint, werde ich 40 Jahre als Psychotherapeut und Mentor für Persönlichkeitsbildung gearbeitet haben. Je länger ich arbeite, desto mehr verdichtet sich in mir die Überzeugung, dass viele Menschen keineswegs so deprimiert bleiben müssten, wie sie es offenbar sind –, dass viel Leid keineswegs schicksalhaft notwendig ist. Denn: Es kommt nicht primär darauf an, was ich erlebe und erfahre, sondern wie ich die wechselnden Situationen des Lebens deute, wie ich sie ein-schätze (Schatz!) und zu welchen Veränderungen ich bereit bin.
Die meisten Abschnitte dieses Buches erschienen in zwei Büchern, die nicht mehr zu „haben“ sind. „Neu beginnen. Konkrete Hilfen in Krisen- und Wendezeiten“1 und „Herausforderung zum Leben. Lebenskrisen und ihre Überwindung“2. Teile dieser Bücher habe ich gründlich überarbeitet. Zur Abrundung ergänze ich unveröffentlichte Texte aus jüngerer Zeit.
Also schon wieder ein Krisenbuch? Ja und nein. Ja, weil in der Tat von Problemen die Rede ist, allerdings von solchen, die nichts von ihrer Aktualität verloren haben. Nein, weil in diesem Buch der „Geist der Hoffnung“ eindeutig stärker ist als der „Geist der Schwere“ (Nietzsche). Also doch kein neues Buch? Ja und nein. Es handelt sich zwar zum Teil um alte Texte. Ihre Inhalte aber habe ich „auf den neuesten Stand“ gebracht.
Bitte haben Sie Nachsicht, dass sich manche Begriffe und Inhalte in mehreren Abschnitten des Buches wiederfinden. Der Grund dafür liegt in der Auswahl der im Grunde verwandten Probleme.
An welche Leser habe ich gedacht, als ich das Buch schrieb? An alle, die es nicht lassen können, sich mit dem Wesen des Menschen und seinen verborgenen Hoffnungen zu befassen. An jene, denen daran gelegen ist, nach Lösungen zu suchen, vor allem für die, die einen Neubeginn wollen. Es wäre mir eine Freude, wenn auch Berufskollegen im weitesten Sinn zu meinen Lesern gehörten, denn mit einigen Abschnitten spreche ich im besonderen sie an.
Und noch etwas: Auf vielen Seiten ist von „er“ und „ihm“ die Rede. Selbstverständlich meine ich damit den Menschen, die Frau und den Mann.
Eine anthropologische Meditation
Das, was uns Menschen zu Menschen macht,
ist unsere Suche nach uns selbst und danach,
was uns weiter und tiefer,
freier und liebevoller,
was uns lebendiger machen könnte.
Was mich zum Menschen macht,
ist meine Suche nach Sinn,
meine Suche nach dem,
was mir in den wechselnden Situationen des Lebens
als gehaltvoll, wesentlich und wichtig erscheint –
nach dem, was mich an-geht –
was mich betrifft,
woran ich mein Herz hängen kann,
wofür ich leben will.
Was mich zum Menschen – und mir das Leben sinnvoll macht,
ist auch meine Suche nach dem Zusammenhang
zwischen mir und dir und der Welt und dem Leben,
ist meine Suche nach den Linien und Schichten,
die Lebendes zusammenführen, zusammenhalten,
ist meine Suche nach der Mitte, von der die Wärme
ausgeht – die Wärme für mich, für dich und alles,
was lebt.
Schon das Suchen regt mich an,
lockt mich in mich hinein,
lockt mich aus mir heraus,
zieht mich nach vorn.
Was will ich finden?
Das Ja zu mir,
das Ja zu dir,
das Ja zum Leben.
Das Ja zu diesem Leben?
Zu welchem sonst?
Das Ja zu diesem Leben, das mich ängstigt, bedrängt,
bedrückt, niederzieht, das mir so oft sinnlos erscheint?
Leben ist oft zu schwer, ist oft zu groß, ist oft zu
weit für mich.
Leben zeigt oft keinen Sinn her, macht oft Angst.
Leben wäre also nichts für mich?
Leben ist für mich.
Welches?
Das ganze. Welches sonst?
Das, was mich an-geht, was mich herausfordert, was
mir Sinn anbietet.
Suche ich es?
Ob es sich mir zeigt?
Und wenn es sich mir zeigt – ob ich es ergreife?
Suche ich es nicht, werde ich es nicht finden,
obwohl es da ist.
Und wer sagt mir, dass ich Leben mit Sinn finden
werde?
Niemand. Niemand?
Warum nicht?
Weil ich ein Mensch bin und es zum Menschsein
gehört,
dass ich mich selbst im Leben um-sehe,
dass ich es wage, selbst danach zu suchen,
wie Leben aussieht, wie Sinn aussieht, wie ich aussehe,
der ich nach Sinn im Leben suche.
Nur ich kann mir helfen?
Ja. Warum nur ich?
Weil ich nur mir gegeben bin
und also nur ich wissen kann, was zu mir gehört
und wo mein Platz im Leben ist.
Das Suchen und das Finden – ob das schwer ist oder
leicht?
Es kommt darauf an,
wie ich von mir denke – und vom Leben,
was ich von mir erwarte – und vom Leben,
was ich mir zu-mute – und dem Leben.
Was ist schwer daran?
Dass da keiner ist – letztlich keiner,
der Leiter meiner Suche nach Sinn sein kann,
dass Sinn – oft genug – verborgen liegt wie das Gold
im Geröll der Mine.
Was ist leicht daran?
Dass ich es bin, der für sein Leben suchen kann –
und kein Fremder,
dass ich es bin, der mich finden soll – und kein anderer,
dass ich es bin, der die Gaben für sein Leben hat und
auch die Sehnsucht, zu seinem Ziel zu gelangen.
Warum tue ich mich dann immer wieder schwer,
mich selbst zu erkennen und das Gold, das für mich
bestimmt ist?
Weil ich bislang nur ahnte,
dass ich es selbst bin,
der für sich suchen und finden kann,
weil ich bislang nur ahnte,
dass Suchen und Finden nicht nur eine Last,
sondern auch eine Daseins-Lust sein kann.
Will ich suchen?
Suche ich, was ich will?
Will ich leben?
Lebe ich, was ich will?
Ich suche das Sein?
Ich suche den Sinn?
Ich suche mich?
Wenn nicht – wozu lebe ich?
Im nächsten Kapitel lesen Sie einen Brief an meine Tochter, den ich ihr zum 18. Geburtstag, also zum (formalen) Beginn ihres Erwachsenenalters, geschrieben hatte. Als ich ihn kürzlich wieder las, ging mir auf, dass ich ihn heute ähnlich zu Papier bringen würde. So kam mir der Gedanke, der Brief könnte sich auch für den Einstieg in dieses Buch eignen. Denn auf diese Weise lernen Sie mich, den Autor, ein wenig kennen.
Ein Brief an meine Tochter zum 18. Geburtstag
Liebe Tochter,
in einer Stunde ist Dein Geburtstag zu Ende. Du feierst oben im Haus mit Deinen Freunden. Ich sitze in meinem Arbeitszimmer und denke an Dich.
In mir ist ein Gefühl tiefer Freude über Dich. Dieses Gefühl hatte ich allerdings schon in dem Augenblick, in dem ich Dich zum ersten Mal sah: damals in der Klinik am ersten Weihnachtstag. Wir haben miteinander vieles erlebt, nicht wenig Schweres, aber auch viel Schönes. Was immer wir erlebten – lieb gehabt habe ich Dich immer, und ich vermute, Du mich auch. Damit haben wir als Vater und Tochter bis zu diesem Tag das Wichtigste erlebt, was wir miteinander erleben konnten.
Ich vergesse die Stunde nicht, in der ich mir vornahm, alles zu tun, um Dich so lange wie möglich von allem Leid fernzuhalten. Da warst Du vielleicht fünf Jahre alt. Doch dauerte es nicht lange, da erkannte ich, dass ich selbst dazu beitrug, dass Dein Leben nicht so besonnt verlief, wie ich es Dir gewünscht hatte. Ich habe Fehler gemacht. Du kennst sie. Was Du vielleicht nicht so recht weißt: Ich habe unter meinen Fehlern gelitten und versucht, sie nicht zu wiederholen, manchmal mit, nicht selten ohne Erfolg. Es wird einmal der Tag kommen, an dem Du mit mir noch einmal über „alles“ wirst sprechen wollen. Ich wünsche mir sogar, dass dieser Tag kommt, weil mir nichts lieber ist als dieses: dass wir miteinander offen sind. Dann werde ich versuchen, Dir recht zu geben, wenn ich meine, dass Du recht hast, und Dir zu widersprechen, wenn ich die Dinge anders sehe.
Schon seit Monaten habe ich über Geschenke zu Deinem 18. Geburtstag nachgedacht. Irgendetwas fehlte. Nun weiß ich es. Da ist noch etwas, was ich Dir sagen wollte, und auch das soll ein Geschenk für Dich sein. Ich erfahre ja so manches in der Praxis von Menschen, von ihrem Glück ebenso wie von ihrem Leid, von ihren Fehlern und dem, was sie richtig gemacht haben. Ich sehe, was ihnen hilft, und sehe auch, was ihnen nicht hilft. Ich möchte die Dinge für dich aufschreiben, von denen ich annehme, das sie zu einem guten Leben führen können. Du wirst selbst sehen, was Du von alledem brauchen kannst und was nicht. Vieles von dem, was ich Dir aufschreiben werde, ist Dir aus unseren Gesprächen vertraut, manches wird Dir neu sein. Quäle Dich nicht, wenn Du das eine oder andere (noch) nicht verstehst, vielleicht liest Du es später einmal nach. Ich kann Dir meine Gedanken nur andeuten; Du weißt aber, wie gern ich mit Dir ausführlich darüber sprechen würde, wenn Du es willst. Also:
Kein Mensch gleicht einem anderen. Darum hat jeder sein eigenes Geheimnis. Und weil jeder sein eigenes Geheimnis hat, ist er im Wesentlichen von niemandem beurteilbar. Ahnst du, was dieser Satz für Dich bedeuten könnte?
Jeder Mensch erlebt die Wirklichkeit in seiner eigenen Weise. Darum hat jeder seine eigene Weise, sich selbst und das Leben zu deuten. Keine Deutung gleicht der anderen. Deshalb ist es wichtig, auf sich selbst und andere zu hören, wenn wir uns selbst und das Leben verstehen wollen.
***
Kein Mensch ist nur ein Engel und keiner nur ein Teufel. Keiner ist nur dumm und keiner nur klug. In jedem Menschen ist immer beides: das Helle und das Dunkle – wie auch in der Welt immer beides ist: das, was Leben fördert, und das, was es stört oder zerstört.
Suche das Helle, das, was Leben fördert, übersieh aber nicht das Dunkle, das in Dir ist und in anderen und in der Welt. Wenn Du das Dunkle übersiehst, siehst Du nur eine Seite der Wirklichkeit. Dann gleichst Du einer Frau, die am späten Abend entzückt vor einem Schaufenster steht und nicht bemerkt, dass jemand, der nichts Gutes im Sinn hat, sich ihr nähert. Frag Dich, was Du Dir ungern eingestehst. Sieh nicht weg, wenn Du in Dir oder anderen Gedanken oder Gefühle entdeckst, die nicht gerade aufbauend sind. Ich wüsste nichts, was wichtiger wäre als dies: so wahrhaftig wie möglich mit sich und anderen umzugehen.
Sieh aber auch nicht weg, wenn Du Dinge entdeckst, die gut sind und schön, in Dir und um Dich herum. Suche auch und vor allem diese Dinge! Warum? Weil wir letztlich nicht vom Aufdecken der Dunkelheiten leben, sondern vom Entdecken des Hellen. Lass Dich deshalb nicht irremachen von denen, die so tun, als ob die Beschäftigung mit dem Problematischen „realistischer“ wäre als die Hinwendung zu den Perlen des Lebens.
***
Die Gegenwart ist der „Ort“, an dem wir leben – nicht die Vergangenheit, auch nicht die Zukunft. Aufmerksam und sehfähig ist allerdings nur der Mensch, der auch einmal rastet und das, was er unterwegs gesehen hat, auf sich einwirken lässt. Es ist gut, die Stille zu suchen – Du weißt, ich mache das täglich –, wenn wir zu uns kommen, bei uns sein und fürs Leben aufnahmefähig sein wollen.
Wie das mit der Stille geht? Zum Beispiel so:
Wenn Du magst, nimmst Du Dir morgen früh einmal Zeit, vielleicht zehn Minuten: Lass zum Beispiel das Wort „Mut“ auf Dich wirken. Kümmere Dich nicht darum, wenn Dir zunächst Dinge einfallen, die mit diesem Wort nichts zu tun haben. Schau diese Störenfriede einen Augenblick an und schieb sie dann mit leichter Hand beiseite. Denk nicht über das Wort nach, sieh lieber in das Wort hinein. Spiel mit ihm. Pflück die Dir kommenden Wörter auseinander, füg sie wieder zusammen und lass sie wieder auf Dich wirken. Mach damit Deine Erfahrungen, dann reden wir weiter. Weil wir täglich so viele Ein-Drücke verarbeiten müssen, die unserer Seele gar nicht bekömmlich sind, brauchen wir die Stille, um die fremden belastenden Bilder loslassen und neue, sinn-volle aufnehmen zu können.
***
Zu den wichtigsten Begriffen meiner Arbeit gehört das Wort Selbstverantwortung. Es ist in aller Munde, doch in wenigen Herzen. Was bedeutet es? Die Menschen haben eine seltsam starke Neigung, das, was sie selbst falsch gemacht haben, anderen anzulasten. Von dieser Neigung ist keiner frei. Doch kommt es darauf an, ihr so wenig wie möglich nachzugeben. Der Gewinn bei diesem Schuldverschiebe-spiel liegt zweifellos darin, dass für einen Augenblick die eigene Seele von Selbstvorwürfen befreit ist. Der Verlust jedoch ist der, dass der „Spieler“ sich selbst um die Möglichkeit bringt, aus seinen Fehlern lernen und sich in neuen Situationen anders verhalten zu können. Vor allem aber: Nichts ist für die Seele schlechter zu ertragen als Unwahrhaftigkeit, weil sie es ist, die die Seele spaltet. Man könnte deshalb die meisten seelischen Störungen auf diese finstere Gestalt zurückführen. Selbstverantwortliches Leben, das heißt auch: Ich kann es zwar nicht ändern, dass meine Veranlagung, meine Erziehung, meine Umwelt und die Welt, in der ich lebe, mich erheblich beeinflussen, trotzdem versuche ich, mein eigenes Leben – so weit wie möglich – zu entfalten, zu entwickeln und zu gestalten. Und das ist möglich. Warum? Weil Freiheit mehr ist als ein Wort, weil Freiheit eine lebendige Kraft ist, die darauf wartet, gelebt zu werden. Ob sie auch in Dir ist? Sie ist in jedem von uns. Doch nur der erlebt sie, der sich in sie eindenkt, einfühlt und sich mit ganzem Herzen, ganzer Seele und all seiner Kraft vergegenwärtigt, wozu und wofür er frei sein will.
Wenn Du fragst, wofür Du verantwortlich sein willst oder sollst, dann fragst Du auch nach Deiner Kraft. Fragst Du nach Deiner Kraft, dann zeigt sich Dir auch Deine Schwäche. Auch sie gehört zu jedem Menschen. Und es ist wichtig, sie nicht zu unterschätzen und in gewissen Grenzen annehmen zu lernen. Doch worauf siehst Du mehr? Siehst Du mehr auf Deine Schwäche, dann gerätst Du im Lauf der Zeit in einen negativen Sog. Dann wirst Du zunehmend auf die „Umstände“ hinweisen, die Dich an Deiner Selbstverantwortung zu hindern scheinen. Siehst Du dagegen mehr auf Deine Möglichkeiten und auf das, wofür Du verantwortlich sein möchtest oder könntest, dann wirst Du Kräfte in Dir entdecken, die Du vorher nie geahnt hast. Du meinst, so attraktiv sei die Sache mit der Selbstverantwortung nun auch wieder nicht? Das sieht nur so aus. Wer begonnen hat, sie zu leben und sie nicht mehr von sich zu schieben, wird nämlich auch erfahren, dass sich durch gelebte Selbstverantwortung jenes Gefühl einstellt, wonach sich alle sehnen und das doch vielen unerreichbar erscheint: das Selbstvertrauen.
***
Von Freiheit war eben schon die Rede. Meistens ist von Freiheit nur die Rede. Sich frei zu entscheiden und frei zu sein – dazu gehört allerdings viel Einübung. Nur zu einer ihrer beglückendsten Formen will ich kurz etwas sagen: zu der Freiheit von der übermäßigen Angst vor der Meinung anderer. Diese Angst ist eines der Grundübel der Menschen. Sicher ist es wichtig, gut gemeinte Kritik ernst zu nehmen. Wichtig ist auch, sich nach menschlichen Spielregeln zu erkundigen, die eine gute Tradition haben. Nur – es gibt Entscheidungen, die wir nicht vom Urteil anderer abhängig machen dürfen. Es gibt Gefühle und Gedanken, die aus dem Herzen kommen und denen wir deshalb treu sein müssen. Die anderen brauchen unser Leben ja nicht zu leben. Du und ich – wir müssen unser – verstehst Du? – unser eigenes Leben leben. Uns gehört es, nicht den anderen. Wir gehen unseren Weg, nicht den der anderen, jedenfalls dann, wenn wir uns treu sind. Wir suchen unseren eigenen Sinn, nicht den der anderen. Unser Leben hat ein Geheimnis – und es gibt niemanden, der da hineinsehen und uns sagen könnte, was letztlich gut für uns ist und was nicht.
***