Das Leben ist kein Punschkonzert - Heike Wanner - E-Book

Das Leben ist kein Punschkonzert E-Book

Heike Wanner

0,0
8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Drei Schwestern, Kartoffelpuffer im Advent und jede Menge Sternschnuppenwünsche Die selbstsichere Carolin hat Karriere gemacht, aber Pech in der Liebe. Die durchorganisierte Dreifach-Mutter Melanie wünscht sich ihr eigenes Leben zurück. Und Julia, die jüngste der drei Schwestern, weiß mit Anfang zwanzig immer noch nicht so recht, wohin sie im Leben will. Fürs erste betreibt sie den alten Kartoffelpufferstand der Familie und tingelt damit von Markt zu Markt. Doch so richtig gut läuft das Geschäft nur im Winter. Und ausgerechnet kurz vor Beginn der Weihnachtssaison kommt es zur Katastrophe: Julia rutscht auf dem Glatteis aus und bricht sich das Handgelenk. Einen verzweifelten Hilferuf später finden sich ihre beiden älteren Schwestern im Imbisswagen auf dem Wiesbadener Weihnachtsmarkt wieder, um Julias Jahresumsatz zu retten. Familie verpflichtet eben. Doch zwischen Pufferteig und Punschtopf fliegen bald schon die Fetzen ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Die Leben der drei Schwestern könnten nicht unterschiedlicher sein: Die attraktive Karrierefrau Carolin genießt ihre Unabhängigkeit, doch vermisst sie dabei immer noch den richtigen Partner; Melanie hat den Alltag mit drei Kindern zwar gut im Griff, aber sie selbst kommt dabei viel zu kurz; und Nesthäkchen Julia hat es sich zur Aufgabe gemacht, den alten Kartoffelpufferstand der Familie zu betreiben. Endlich steht die Zeit der Weihnachtsmärkte vor der Tür und damit Julias Haupteinnahmequelle. Doch ausgerechnet kurz vor Beginn des Wiesbadener Sternschnuppenmarktes kommt es zur Katastrophe: Julia rutscht aus und bricht sich das Handgelenk. Carolin und Melanie eilen sofort zu Hilfe, und mit geballter Schwesternpower stürzen sich alle drei ins Weihnachtsgeschäft. Statt besinnlicher Stunden gibt es nun jede Menge Arbeit und dazu reichlich Reibereien.

Die Autorin

Heike Wanner arbeitet als Angestellte bei einer Fluggesellschaft und lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Wiesbaden. Sie freut sich jedes Jahr, wenn das Weihnachtsgebäck schon im August in den Supermarktregalen steht, weil sie Eiskaffee mit Zimtsternen liebt.

Weitere Informationen unter www.heike-wanner.de

Von Heike Wanner sind in unserem Hause außerdem erschienen:

Der Tod des TraumprinzenEine Handvoll SommerglückFrauenzimmer freiFür immer und eh nichtLiebe in SommergrünO du fröhliche WeibernachtRosen, Tulpen, NelkenWeibersommer

HEIKE WANNER

Das Leben ist kein Punschkonzert

Ein Weihnachtsroman

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Wir wählen unsere Bücher sorgfältig aus, lektorieren sie gründlich mit Autoren und Übersetzern und produzieren sie in bester Qualität.

Hinweis zu Urheberrechten

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem Buch befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

ISBN 978-3-8437-1607-9

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, München

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Sternschnuppen fallen vom Himmel,wenn Engel Hausputz machen.

(Volksglauben im 19. Jahrhundert)

Seit über tausend Jahren umkreist ein Strom aus Meteoriden die Sonne. Jedes Jahr im November rast dieser Sternenschweif, der Leonidenschwarm, mit Spitzengeschwindigkeiten von bis zu 71 Kilometern pro Sekunde an der Erde vorbei.

So auch an diesem Abend.

Es war ein außergewöhnlich kalter, klarer Tag, ein Samstag kurz vor Beginn der Adventszeit. Zielstrebig zogen die Meteoriden ihre vertraute Bahn durch das dunkle Weltall, vorbei an Kometen, Satelliten und jeder Menge Weltraum-Müll.

Plötzlich aber löste sich ein winziges Bruchstück aus der Gesteinswolke, änderte eigenwillig seinen Kurs und steuerte wie ein kleiner Schneeball auf die Erde zu – jenen faszinierenden blauen Planeten, der tagsüber bei Sonnenschein so schön glänzte und in der Nacht von geheimnisvollem grünen Polarlicht erhellt wurde.

Immer schneller wurde der kleine Stein.

Immer heller.

Doch dann geschah es.

In dem Moment, als er die schützende Erdhülle erreichte, wurde seine Reise gestoppt. Er fing Feuer, brannte lichterloh und verglühte schließlich zu Sternenstaub.

Sekundenschnell.

Das Einzige, was noch an seine Existenz erinnerte, waren ein leuchtender Punkt und eine helle Linie am Nachthimmel.

Eine Sternschnuppe war geboren.

Unten auf der Erde blieb dieses Schauspiel natürlich nicht unbemerkt. Spaziergänger, die sich nach dem Abendessen noch ein wenig die Beine vertraten, hielten inne, zeigten aufgeregt nach oben und freuten sich.

»Eine Sternschnuppe ist etwas ganz Besonderes. Wer eine sieht, schließt die Augen und darf sich etwas wünschen. Man sollte aber keinem den Wunsch verraten, sonst geht er nicht in Erfüllung«, erklärten die Eltern ihren Kindern.

Daraufhin schickten Alt und Jung ihre Wünsche auf Reisen, und auf ihrem Weg in den Himmel vereinigten sich diese zu einem stummen Wunschkonzert.

Ich wünsche mir, dass Oma schnell wieder gesund wird.

Shopping in New York wäre cool.

Ich will meinen Teddy wiederfinden.

Fünf Kilo weniger. Dann würde ich endlich wieder in Größe 42 passen.

Die schicken Designerschuhe mit den hohen Absätzen.

Dass der Befund negativ ist – mehr will ich gar nicht.

Ein eigenes Pferd.

Er soll zu mir zurückkehren. Ich kann doch nicht ohne ihn Weihnachten feiern!

Was ich mir wünsche? Ich hätte gern …

Ich hätte gern ein Stück von meinem alten Leben zurück.

Kaum war der Gedanke da, bekam Melanie Matthiesen ein schlechtes Gewissen. Hatte sie sich das gerade wirklich gewünscht? Was war denn das für eine seltsame Idee? Das klang ja so, als ob sie mit ihrem Leben unzufrieden wäre.

Das stimmte doch gar nicht.

Oder doch?

Nein. Natürlich nicht!

Es musste am Apfelweinpunsch liegen, den ihre Schwester nach dem Abendessen serviert hatte. Dieses süße Gesöff brachte ihre Gedanken völlig durcheinander.

Denn eigentlich war es doch gar keine Frage. Selbstverständlich war sie glücklich, sehr glücklich sogar. Wie sollte sie auch nicht? Sie hatte einen tollen Mann, drei gesunde Kinder, ein schönes Haus mit Garten und genug Geld, um sich alles kaufen zu können, was sie haben wollte.

Ein rundherum perfektes Leben.

Kein Vergleich zu früher, als sie sich mehr schlecht als recht durch ihr Französisch-Studium gemogelt hatte – chronisch pleite, aber sorglos und immer auf der Suche nach einem Abenteuer.

Dann hatte sie Ole Matthiesen getroffen. Groß, blond und gutaussehend war er in ihr Leben getreten und hatte sie mit einem einzigen Blick aus seinen meergrünen Augen verzaubert. Ein Abendessen mit selbstgekochten Spaghetti, einen Kinobesuch und einen atemberaubenden Abschiedskuss vor der Haustür – viel mehr brauchte es nicht, und schon waren sie beide ein Paar.

Mit Ole kehrten Verlässlichkeit und Ruhe in Mellys Alltag ein. Gemeinsam machten sie ihren Abschluss und heirateten noch im selben Jahr. Zogen in eine kleine Wohnung, fanden einen Job und freuten sich über das erste Gehalt. Waren voller Pläne, herrlich verliebt und immer noch ein bisschen verrückt und spontan.

Zumindest so lange, bis es mit Oles Karriere steil bergauf ging. Kurz darauf kamen ihre Kinder zur Welt, zuerst ein Mädchen und dann zwei Jungen. Wunderbare kleine Wesen, die ihr ganzes Glück bedeuteten – die aber auch ihre ganze Aufmerksamkeit forderten.

Plötzlich war Mellys Leben fremdbestimmt.

Mehr noch: völlig durchgeplant.

Termine für Kinderarzt, Babyschwimmen, Ballett, Frühenglisch, Elternabend und Flötenstunde diktierten ihren Tagesablauf. Von früh bis spät war sie damit beschäftigt, an alles zu denken. Und wenn sie die Kinder abends in der Obhut eines Au-pair-Mädchens ließ, warteten weitere Pflichten auf sie. An Oles Seite nahm sie an Geschäftsessen teil, ging zu Opernpremieren und besuchte diverse Firmenveranstaltungen, wo sie als Ehefrau des Geschäftsführers ein gerngesehener Gast war.

Melly seufzte.

Ja, dies alles war stressig, das ließ sich nicht leugnen. Aber trotzdem perfekt. Warum also gab es solche Momente wie diesen, wo sie sich die Zeit zurückwünschte, als ihr Leben noch wesentlich verrückter und spontaner gewesen war?

Das konnte – das musste! – am Alkohol liegen.

Verstohlen warf sie einen Blick zur Seite. Hatten die anderen beiden etwas von ihrer eigenartigen Stimmung bemerkt?

Nein, anscheinend nicht.

Ihre Schwestern waren vollauf mit sich selbst beschäftigt. Caro hatte den Kragen ihres roten Wollmantels hochgeklappt, putzte sich lautstark die Nase und starrte missmutig in den Schnee, der in diesem Jahr ungewöhnlich früh gefallen war. Und Julchens Gesicht war unter ihrer unförmigen Fellmütze kaum zu erkennen. Sie war sowieso meistens mit ihren Gedanken woanders. Wo genau, das wusste Melly nicht. Das wusste wahrscheinlich selbst Julchen nicht immer.

Kein gutes Thema!

Wenn sie jetzt auch noch anfing, sich um ihre jüngere Schwester zu sorgen, bräuchte ihr Tag mehr als 24 Stunden. Das wäre doch mal ein guter Wunsch für eine Sternschnuppe gewesen: genügend Zeit, um sich in Ruhe Gedanken über alles machen zu können.

Aber jetzt war es leider zu spät.

Ich wünsche mir zur Abwechslung endlich mal einen Mann, der mich versteht.

Wie bitte?

Beinahe hätte Carolin Sandmann laut über sich selbst gelacht. Gerade noch rechtzeitig schaffte sie es, ihre Belustigung mit einem geräuschvollen Naseputzen zu kaschieren.

Echt jetzt? Schon wieder einen Mann?

Ihre Beziehung zu Bastian war doch gerade erst zerbrochen. Sofern das überhaupt eine richtige Beziehung gewesen war, sie würde es eher als lockeres Verhältnis bezeichnen. Das Ende war schleichend gekommen und hatte nicht einmal besonders weh getan. In aller Freundschaft waren sie auseinandergegangen, und jetzt genoss Caro ihr Singledasein.

Warum sie bei der Sternschnuppe also ausgerechnet an einen Mann gedacht hatte, konnte sie nicht so genau sagen. Aber da sie sowieso nicht an diesen Quatsch mit Sternen und Horoskopen glaubte, war es eigentlich gleichgültig, was sie sich wünschte.

Allerdings hatte sie nicht die geringste Lust, ihren beiden Schwestern den Grund für ihre Belustigung zu erklären. Einer ihrer Schwestern, korrigierte sie sich sofort. Denn bei Julchen hätte ihr das Geständnis nichts ausgemacht. Die Kleine hätte nur amüsiert gelächelt und keine weiteren Fragen gestellt.

Julchen stellte nie Fragen.

Dafür aber hätte Melly sie mit spitzen Bemerkungen bombardiert. Das war schließlich ihre Spezialität. Sie spielte gern die große Schwester und tat zu allem ihre Meinung kund, ob gefragt oder ungefragt. Ständig wusste sie alles besser. Caro musste gar nicht lange überlegen, um sich an Mellys letzte Kommentare zu erinnern. Die waren nämlich gerade erst beim gemeinsamen Abendessen gefallen.

Caros neuer Job im Außendienst einer großen, international tätigen Immobiliengesellschaft …

»So viel Reiserei? Ich finde, du solltest langsam mal sesshaft werden.«

Ihr Umzug in ein schickes Apartment im Frankfurter Europaviertel …

»Die Wohnung ist zwar toll, aber überhaupt nicht kindgerecht. Das wirst du noch merken, wenn es mal bei dir so weit ist.«

Die Trennung von Bastian …

»Lieber Himmel, Caro! Überleg dir das noch mal! Du bist nicht mehr die Jüngste. In deinem Alter wird es immer schwieriger, den Richtigen zu finden.«

Am liebsten hätte Caro ihrer Schwester ins Gesicht gesagt, dass sie weder sesshaft werden wollte noch Kinder plante. Und auf den Richtigen wartete sie schon längst nicht mehr.

Aber dann wäre es zu endlosen Diskussionen gekommen, wahrscheinlich sogar zum Streit. Und das wäre Julchen gegenüber nicht fair gewesen. Sie hatte sich nämlich große Mühe mit der Zubereitung des Essens gemacht. Zum Nachtisch hatte es sogar selbstgemachten Punsch gegeben, der zwar etwas stark geraten war, aber trotzdem sehr lecker schmeckte.

Außerdem: Einmal pro Monat ließ sich das Zusammensein mit ihren Schwestern ertragen. Das nächste Mal würden sie sich erst wieder an Weihnachten sehen, und bis dahin hatte Caro ihren Ärger hoffentlich wieder vergessen.

Sie stopfte das Taschentuch zurück in die Manteltasche und bewegte ihre kalten Zehen auf und ab. Der gefrorene Schnee knirschte unter ihren Sohlen. Hoffentlich gab das keine hässlichen Ränder auf den neuen Lederstiefeln!

Neben ihr seufzte Melly leise auf.

Was ihre Schwester sich wohl gewünscht hatte? Das vierte Kind? Den Ehrenvorsitz in einer weiteren Elterngruppe? Ein neues Bio-Kochbuch? Oder einen Mann, der zumindest am Wochenende mal Zeit für die Familie aufbrachte?

Caro bewunderte ihren Schwager und holte sich gern den einen oder anderen Rat bei ihm. Aber sie verstand nicht, wieso jemand, der dermaßen auf seine Karriere fixiert war, unbedingt eine Familie gründen musste. Da waren Konflikte und schlechtes Gewissen doch vorprogrammiert.

Nein, zu solch einer Doppelbelastung würde es bei ihr, Caro, nicht kommen. Keine Hochzeit, keine Familienvilla, keine Kinder. Dafür lieber ein aufregendes Leben mit vielen Reisen, beruflichem Erfolg und einem luxuriösen Apartment über den Dächern von Frankfurt.

Zugegeben, manchmal wünschte sie sich jemanden, der auf sie wartete, wenn sie spätabends total erledigt nach Hause kam. Der zuhören konnte. Und der genau verstand, was in ihr vorging.

Jemanden, der für sie da war.

Aber mal ganz ehrlich: So einen Typen konnte nicht mal eine Sternschnuppe herbeizaubern!

Ich will, dass in meinem Leben endlich mal etwas Aufregendes passiert!

Julia Sandmann kuschelte sich noch etwas tiefer in ihre Daunenjacke und warf einen vorsichtigen Blick nach oben. Fast so, als ob sie erwartete, dass ihr Wunsch augenblicklich in Erfüllung ging und eine Sternschnuppe direkt vor ihren Füßen einschlug.

Aber alles blieb ruhig.

Ihre Schwestern hatten sie in die Mitte genommen. Schweigend standen Caro und Melly neben ihr im Schnee und bliesen kleine Atemwolken in die kalte Abendluft. Sie schienen ihren eigenen Gedanken nachzuhängen. Oder vielleicht wünschten sie sich ja auch etwas – wobei Julchen beim besten Willen nichts einfiel, was sich die beiden noch wünschen konnten.

Sie hatten doch alles.

Melly hatte eine wundervolle Familie, Caro einen tollen Job. Privates Glück auf der einen Seite, beruflicher Erfolg auf der anderen.

Perfekt aufgeteilt.

Für sie, Julia, war da nicht mehr viel übrig. Sie hätte auch gar nicht gewusst, welche Seite sie wählen sollte. Entscheidungsfreude war noch nie ihre Stärke gewesen. Stattdessen lebte sie lieber unbekümmert in den Tag hinein und machte sich nur wenige Gedanken um ihre Zukunft.

Immerhin ging es ihr nicht schlecht mit dieser Strategie. Sie hatte bislang genug Geld zum Leben verdient und konnte sich sogar eine eigene kleine Wohnung leisten. Und ab und zu, wenn sie abends im Bett lag und der Schlaf auf sich warten ließ, malte sie sich auch eine gemeinsame Zukunft mit ihrem Märchenprinzen aus – der leider weit und breit nicht in Sicht war. Aber zum Glück würde sie trotzdem niemals allein sein, denn sie hatte ja ihre Familie.

»Wir müssen uns um Julchen kümmern.«

Dieser Satz war so etwas wie das wichtigste Motto im Hause Sandmann geworden. Von der Oma angefangen bis zu ihren Schwestern – alle kümmerten sich um sie.

Sie war das Sorgenkind, das zwei Monate zu früh auf die Welt gekommen war. Die Nachzüglerin, die eigentlich gar nicht mehr geplant war. Caro war zehn, Melly sogar dreizehn Jahre älter als sie.

Von Anfang an hatte Julia deshalb mehr als eine Mutter gehabt. Schon als Baby wurde sie von allen verwöhnt und gehätschelt. Diese Zuwendung verstärkte sich noch, als bei ihr im Alter von vier Jahren eine Sprechstörung diagnostiziert wurde.

Julia stotterte.

Ihr täglicher Kampf mit dem Sprechen war anstrengend und frustrierend. Oft schwieg sie deshalb lieber und galt schnell als schüchtern und verklemmt, obwohl das nicht stimmte – Julia hätte sich selbst eher als zurückhaltend und ein bisschen verträumt bezeichnet.

Doch für ihr Umfeld machte das keinen Unterschied. Und für ihre Familie erst recht nicht.

Denn die behandelte ihr »Julchen« weiterhin wie ein kleines Kind, das umsorgt und gepflegt werden musste. Dass ihr dabei vor lauter Zuwendung manchmal die Luft zum Atmen fehlte, merkten die anderen nicht. Und Julia war viel zu rücksichtsvoll, um ernsthaft dagegen zu protestieren. Stattdessen akzeptierte sie stillschweigend, dass man ihr nicht viel zutraute und ihr von Kindesbeinen an sagte, was gut für sie war.

Klavierstunden zum Beispiel.

Ballett.

Oder diverse Therapien beim Logopäden.

»Wenn du eine Lehre als Köchin machst, kannst du uns im Geschäft helfen«, hatte ihr Vater nach Ende ihrer Schulzeit vorgeschlagen. Zwei Jahre später hieß es: »Papa und ich würden gern ein bisschen kürzertreten. Willst du nicht den Imbisswagen übernehmen?« Auch diesem Vorschlag war Julia gefolgt.

Erst als es darum ging, ob man ihr nicht eine kleine Wohnung im elterlichen Haus ausbauen sollte, hatte sie es gewagt zu widersprechen. Sie wollte endlich unabhängig sein, ohne die ständige Aufmerksamkeit ihrer Familie. Überraschenderweise waren ihre Schwestern sofort auf ihrer Seite gewesen.

»Du bist Anfang zwanzig«, hatte Melly gesagt. »Es wird Zeit, dass du dich von Mama und Papa löst und eine eigene Familie gründest. Als ich so alt war wie du, habe ich Ole kennengelernt.«

Caro hingegen hatte es für viel wichtiger gehalten, dass ihre jüngere Schwester lernte, finanziell auf eigenen Beinen zu stehen. »Dein Geschäft hat Potential, aber solange Mama und Papa dir ständig reinreden, wird das nichts.«

Julia waren beide Argumente herzlich egal gewesen – Hauptsache, sie konnte endlich einmal ihren eigenen Willen durchsetzen!

Und so wohnte sie nun schon seit vier Jahren in einem Apartment direkt in der Wiesbadener Innenstadt. Keine besonders schöne Lage und auch kein besonders hübsches Haus. Eher einer dieser anonymen Wohnkästen, wo niemand seinen Nachbarn kannte. Aber sie war trotzdem glücklich und genoss ihre Freiheit.

In diesem Moment riss die Stimme ihrer Schwester sie aus ihren Gedanken. »Mir ist schrecklich kalt. Wollen wir wieder reingehen?« Caro schauderte und streifte sich ein Paar Lederhandschuhe über.

»Jetzt schon?«, fragte Melly. »Wir sind doch erst seit zehn Minuten draußen.« Sorgfältig zupfte sie ihr gestricktes Stirnband zurecht.

Wie ihre Schwestern es schafften, auch bei diesen widrigen Wetterbedingungen perfekt auszusehen, war Julia ein Rätsel. Sie selbst trug eine rosafarbene Daunenjacke, hatte ihre langen blonden Haare unter einer grauen Fellmütze versteckt und stapfte mit dicken Winterstiefeln durch den Schnee. Nicht besonders elegant, dafür aber praktisch und warm.

Melly hingegen strahlte trotz Funktionskleidung den für sie typischen nordischen Charme aus: glatte blonde Haare, frecher Pony, eine Winterjacke im Norweger-Look, eine dunkle Thermohose und passende Accessoires aus blauer Merinowolle. Eigentlich fehlte nur noch ein Holzschlitten, dann hätte sie für jedes Outdoor-Magazin Modell stehen können.

Caro hielt thematisch und farblich dagegen. Ihr knallroter knielanger Mantel war mit übergroßen bunten Knöpfen verziert. Dazu trug sie Designerjeans und Lederstiefel, aber weder Schal noch Mütze. Ihre wilden dunkelblonden Locken gingen nur bis zum Nacken und boten ihrem Hals nicht den geringsten Schutz vor dem eisigen Wind. Wahrscheinlich fror sie deshalb so jämmerlich.

Sofort bekam Julia Mitleid. »W-w-willst du meinen Schal?«, fragte sie ihre Schwester.

»Nee, lass mal! Lieber deinen Arm.« Caro griff nach Julias Hand. »Hier ist es verdammt glatt.«

»Warum läufst du auch in Lederstiefeln herum«, schimpfte Melly. »Die waren bestimmt sündhaft teuer, haben aber überhaupt kein Profil.«

»Ich konnte ja nicht ahnen, dass du uns zum Nordpol schleifen würdest.«

»Nordpol? Schön wär’s! Wir haben es ja nicht mal bis zur Hauptstraße geschafft. Mit den Kindern laufe ich immer viel länger.«

»Und ich laufe normalerweise nie. Insofern bin ich dir schon ganz schön entgegengekommen«, entgegnete Caro gereizt.

»Hallo? Nicht streiten!« Julchen hob den Arm und wollte ihrer Schwester einen aufmunternden Klaps auf die Schulter versetzen.

Aber dazu kam es nicht, denn anscheinend hatte Caro nicht mit dieser plötzlichen Bewegung gerechnet. Hastig trat sie einen Schritt zurück, rutschte auf einer vereisten Pfütze aus und verlor das Gleichgewicht. Im Fallen klammerte sie sich an Julias Jacke und riss ihre Schwester mit zu Boden. Doch während Caro recht sanft auf einem Schneehaufen landete, hatte Julia weniger Glück.

Mit den Knien voran stürzte sie auf die harte Eisplatte. Instinktiv streckte sie die Hände vor und konnte ihren Oberkörper gerade noch abfangen. Dass dieser Impuls trotzdem keine besonders gute Idee war, wurde ihr in dem Moment bewusst, als sie ein grässliches Knacken im rechten Handgelenk spürte.

Gleich darauf kam der Schmerz. Stechend und heftig.

Stöhnend krümmte sie sich zusammen.

»Julchen?« Sofort beugten sich zwei besorgte Gesichter über sie.

»M-m-meine H-h-hand«, stammelte Julia unter Tränen.

»Kannst du sie bewegen?« Melly kniete sich neben sie und strich ihr die Haare aus dem Gesicht.

»N-n-nein.«

Julia hatte nicht vor, ihre Hand jemals wieder zu bewegen. Sie hielt den Arm an sich gepresst und wünschte sich weit, weit weg. Ins Warme. Ins Bett. Oder notfalls auch an die heiße Fritteuse ihres Imbisswagens.

»Kannst du aufstehen?«

»W-weiß nicht.«

»Komm!«

Mit Hilfe ihrer Schwestern richtete Julia sich auf. »M-m-mir ist schwindelig.«

»Ach, Mist!«, fluchte Caro. »Ich glaube, wir müssen mit ihr ins Krankenhaus.«

»Wohin soll es denn gehen, meine Damen?«

Der Taxifahrer, ein junger, südländisch aussehender Typ mit dunklen Haaren, Wollschal und Dreitagebart, warf einen fragenden Blick in die Runde.

Julia reagierte nicht. Sie saß auf dem Beifahrersitz und war viel zu sehr damit beschäftigt, ihre schmerzende Hand in eine halbwegs erträgliche Schonhaltung zu bringen. Ihre Schwestern würden sich schon darum kümmern, wie es weiterging. Das taten sie schließlich immer.

»Ins Krankenhaus«, kam es dann auch prompt vom Rücksitz.

»Und in welches?«

»Horst-Schmidt-Kliniken«, sagte Caro.

»Sankt-Josefs-Hospital!«, rief Melly im gleichen Moment.

Der Taxifahrer wandte sich an Julia. »Und wohin willst du, Kleine?«

Schweigend schüttelte sie den Kopf. Ihr war alles egal. Sogar, dass der Typ sie duzte und mit »Kleine« ansprach. Hauptsache, diese schrecklichen Schmerzen hörten bald auf!

»Ich hätte selbst fahren sollen«, brummte Caro.

»Das geht nicht, wir haben viel zu viel von diesem süßen Zeug gehabt«, flüsterte Melly gut hörbar.

»Was willst du damit sagen? Ich bin nicht betrunken.«

»Ich auch nicht.«

»Warum sitzen wir dann hier im Taxi?«

Julia stöhnte. Ob vor Schmerz oder weil sie die Unterhaltung ihrer Schwestern peinlich fand, wusste sie selbst nicht so genau.

Der Taxifahrer warf ihr einen prüfenden Blick zu und schaute dann in seinen Rückspiegel. »Diskutieren Sie ruhig weiter! Mir macht es nichts, wenn Sie noch nicht wissen, wohin Sie wollen. Ich habe viel Zeit und Geduld, und das Taxameter läuft.«

»Bringen Sie uns bitte in die Horst-Schmidt-Kliniken«, forderte Caro ihn auf. »Das ist das größte Krankenhaus hier in der Gegend.«

»Nein, dahin fahren wir nicht«, widersprach Melly. »Meine Schwester hat keine Ahnung. Das Sankt Josefs ist auf Orthopädie spezialisiert.«

»Und was, bitte schön, macht dich zur Expertin?«

»Drei Kinder und ein fußballspielender Mann.«

»Wir hätten doch einen Krankenwagen rufen sollen. Wetten, der wäre in die Horst-Schmidt-Kliniken gefahren?«

»Für eine gebrochene Hand ruft man keinen Krankenwagen.«

»Na toll! Du kennst dich aus. Vielleicht möchtest du auch gleich die Behandlung übernehmen? Dann sparen wir uns den Weg in die Notaufnahme. Ist ja anscheinend kein Problem bei deiner Erfahrung.«

»Ich bitte dich, Caro! Sei doch nicht albern.«

Der Taxifahrer seufzte. »Sind das deine Schwestern?«, erkundigte er sich leise bei Julia, während der Streit auf dem Rücksitz weiterging.

Sie nickte.

»Ich habe nur Brüder. Vier Stück. Jetzt gerade bin ich ziemlich froh darüber.«

Trotz ihrer Schmerzen brachte sie ein kleines Lächeln zustande.

»Dir geht es nicht gut, nicht wahr?«

»N-nein.« Inzwischen war das Handgelenk stark geschwollen, und die ersten Blutergüsse machten sich bemerkbar.

»Tut bestimmt total weh.« Er warf ihr einen weiteren, diesmal sehr mitleidigen Blick zu und wickelte seinen Schal ab. »Hier. Wenn du den Arm fixierst, hast du weniger Schmerzen.«

»D-danke!« Sofort fühlte sie sich ein bisschen besser. Der Schal war weich und flauschig, und im Auto war es inzwischen angenehm warm. Die Heizung blies heiße Luft auf ihre Beine, langsam tauten ihre Zehen auf. Vorsichtig streckte sie die Füße aus und stieß dabei ihre Handtasche um.

»Warte, ich mache das.« Er bückte sich und schob den Lederbeutel mit den großen Henkeln unter den Sitz.

»Du musst dich noch anschnallen«, meinte er dann.

Sie versuchte, den Gurt mit ihrer linken Hand zu erreichen, gab aber schnell wieder auf. Jede Bewegung tat höllisch weh.

»Soll ich dir helfen?«

»Gern.«

Als er sich über sie beugte, um den Sicherheitsgurt zu nehmen, verstummte das Streitgespräch zwischen Caro und Melly schlagartig.

»Was machen Sie da?«, fragte Caro alarmiert, und Melly klemmte sich hastig zwischen die Vordersitze.

»Ganz ruhig!«, murmelte der Taxifahrer. »Ich helfe Ihrer Schwester nur beim Anschnallen. Haben sich die Damen inzwischen auf ein Krankenhaus einigen können?«

»Ja«, bestätigte Melly und lächelte triumphierend. »Wir fahren ins Sankt-Josefs-Hospital.«

»Doktor Stein, bitte in Behandlungsraum zwei!«

»Ich brauche einen Ultraschall!«

»Wie lange muss ich eigentlich noch warten?«

»Das ist heute schon der sechste Knochenbruch.«

»Liegt am Wetter.«

Aufgeregte Stimmen schwirrten durch die Notaufnahme, die an diesem Samstagabend hoffnungslos überfüllt war. Vorsichtig bahnte sich Caro einen Weg zum Wartesaal, vorbei an Ärzten, Pflegern, Patienten und Angehörigen. Mit Glück ergatterte sie im hinteren Bereich einen freien Platz und ließ sich aufseufzend auf einen Stuhl fallen.

Aber auch hier war es nicht viel ruhiger. Einige Besucher diskutierten heftig miteinander. Die schrillen Sirenen der Krankenwagen heulten genauso laut wie vorn. Und irgendwo klingelte ständig ein Telefon.

Eine Weile lang beobachtete Caro das hektische Kommen und Gehen, dann zog sie ihr Handy aus der Manteltasche. Vermutlich würde es noch dauern, bis Melly und Julchen vom Röntgen zurückkamen. Bis dahin konnte sie auch etwas Sinnvolles tun und ihre Planung für die kommenden Tage durchgehen. Sie öffnete ihren elektronischen Kalender.

Eine kurze Geschäftsreise nach Manchester, eine Telefonkonferenz mit Mumbay und ein Meeting mit der Geschäftsleitung. Dazu natürlich die üblichen Routineaufgaben und die eine oder andere Ad-hoc-Anfrage. Alles in allem stressig, aber machbar.

Und nach dieser Woche begann dann ihr Urlaub.

Endlich!

Durch den Jobwechsel hatte Caro das letzte Jahr mehr oder weniger durchgearbeitet. Jetzt, kurz vor Beginn der Weihnachtszeit, wurde es langsam ruhiger im Büro, und sie konnte ihren Urlaub antreten.

Fünf lange Wochen – ohne jegliche Termine!

Bisher war sie nicht dazu gekommen, diese Zeit zu verplanen. Der Dezember war deshalb in ihrem Terminkalender noch völlig leer. Ein ungewohnter Anblick, aber auch einer, der ihr gefiel. Denn inzwischen betrachtete Caro diese freien Tage als kostbaren Luxus.

Sie würde sich treiben lassen.

Möglicherweise eine Woche wegfliegen. Oder in Ruhe die Weihnachtseinkäufe erledigen. Zuallererst jedoch würde sie einen ganzen Tag im Bett bleiben, kannenweise Tee trinken und ein gutes Buch lesen. Etwas, was sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr getan hatte. Vielleicht würde sie dabei sogar ganz bewusst Telefon und Internet ausschalten …

Die laute Stimme ihrer Schwester riss sie aus ihren Träumen. Melly durchquerte den Wartebereich, das Handy fest ans Ohr gepresst. Sie gestikulierte wild herum, offensichtlich steckte sie in einer Diskussion mit ihrem französischen Au-pair-Mädchen.

»Ich weiß, dass du heute Abend freihaben solltest, Penelope. Aber ich kann hier noch nicht weg, also musst du bitte bei den Kindern bleiben … Ole ist in Sankt Moritz, der fällt als Betreuung aus … ja, dafür kriegst du natürlich einen anderen Abend frei …«

Melly verdrehte theatralisch die Augen und lehnte sich neben Caro an die Wand.

»Lasse muss unbedingt vor dem Schlafengehen seine Allergie-Tablette nehmen … oben im Küchenschrank, bei den Tassen … und achte darauf, dass Smilla keine Mandarinen isst, davon bekommt sie entzündete Mundwinkel … nein, auch keinen Apfelsaft … und bade bitte Snorre, er war nach dem Schneemann-Bauen heute Mittag total verschwitzt … aber nicht mit Fichtennadelbad, das ist zu aggressiv für seine Haut, sondern bitte mit dem seifenfreien Badeöl …«

Sie unterbrach sich, um Luft zu holen.

Aus Erfahrung wusste Caro, dass dieses Gespräch noch eine Weile dauern würde. Melly nahm es mit ihren Mutterpflichten sehr genau. Viel zu genau für Caros Geschmack. Arme Penelope! Sie war noch nicht lange in Deutschland, musste sich jetzt aber in Rekordzeit eine lange Liste mit überflüssigen und unsinnigen Vorschriften merken. Und das auch noch in einer fremden Sprache!

»Snorrilein, mein Schatz«, gurrte Melly in diesem Moment und schraubte ihre Stimme ein paar Oktaven höher. Wie immer, wenn sie mit einem ihrer Kinder sprach. »Mami kommt heute später, weil Tante Julchen ein großes Aua an der Hand hat …«

Caro unterdrückte ein Stöhnen.

Aua! Snorrilein!

Diese Verniedlichung klang ja noch schlimmer, als der Name sowieso schon war. Bis heute verstand sie nicht, warum ihre Schwester die Kinder Snorre, Lasse und Smilla genannt hatte.

»Ich finde alles Nordische toll«, hatte Melly erklärt. »Und Ole auch.«

Wirklich?

Manchmal verdächtigte Caro ihren Schwager, der Namensgebung nur zugestimmt zu haben, damit er nicht mehr der Einzige in der Familie war, dessen Vorname an die Kinder von Bullerbü erinnerte. Aber musste es deshalb gleich eine ganze Sippe voller Bullerbüs sein?

»Ich habe dich auch ganz doll lieb, mein Schatz«, flötete Melly jetzt, immer noch mit ihrer hohen Fistelstimme. »Und bitte versprich mir, dass du brav bist und tust, was Penelope sagt, ja? … Fein! … Gib mir bitte mal Smilla! … Hallo, Süße, hier ist die Mama … wo ich bin? Mit Julchen in der Klinik, sie hatte einen Unfall und hat sich wohl die Hand gebrochen …«

Erneut begann Melly mit einer Schilderung der Ereignisse, dieses Mal jedoch etwas kürzer und präziser. Offensichtlich hatte sie für jedes Kind eine altersgerechte Version parat – und würde diese sicherlich jetzt auch zum Besten geben. Das war mehr, als Caro ertragen konnte. Kurz entschlossen kramte sie ihre Kopfhörer heraus und begann, Musik zu hören.

Eine Viertelstunde später war das Gespräch beendet. Erschöpft lehnte Melly ihren Kopf gegen die Wand und atmete einmal tief durch.

Julchens Unfall hatte ihre gesamte Abendplanung durcheinandergebracht. Und das ausgerechnet heute, wo Ole nicht nach Hause kommen würde! Er war mit ein paar Geschäftspartnern übers Wochenende zum Gletscher-Skifahren in die Schweiz gereist.

Sie musste jetzt darauf vertrauen, dass Penelope allein zurechtkam. Eigentlich war das Mädchen sehr zuverlässig, die Kinder liebten sie. Außerdem war es nicht das erste Mal, dass sie die drei abends mit Penelope allein ließ.

Allerdings hatte Melly bislang immer schriftlich notiert, was wann und wie zu erledigen war. Und sie hatte vorgesorgt: Das Abendessen musste nur noch aufgewärmt werden, die Kinder waren bereits gebadet und umgezogen, sie hatte das Fernsehprogramm ausgewählt und die Allergie-Medikamente bereitgestellt.

Heute war so gut wie gar nichts organisiert – außer einem Topf Nudelsuppe, den Penelope bereits am frühen Abend zubereitet hatte. Für den Rest der Zeit musste das Mädchen improvisieren.

Ob sie das schaffte?

Wahrscheinlich nicht.

Melly wusste aus eigener Erfahrung, wie leicht es war, bei drei kleinen, lebhaften Kindern im Alter von vier, sechs und acht Jahren den Überblick zu verlieren. Sollte sie ihre Schwiegermutter anrufen und um Hilfe bitten?

Nein, lieber nicht. Rita war alles andere als eine Hilfe.

Und was konnte schon passieren? Schlimmstenfalls würden alle vor dem Fernseher landen und irgendwann einschlafen. Spätestens um zehn Uhr wäre sie wieder zu Hause und konnte die arme Penelope erlösen.

Jetzt aber war ihre Schwester erst einmal wichtiger. Julchen wurde sicherlich gleich entlassen, sie bekam noch einen Gips und ein Schmerzmittel verpasst.

»Alles halb so schlimm, sie hat nur einen unkomplizierten Bruch des Handgelenks«, sagte Melly zu Caro.

Diese reagierte nicht.

»Hallo?« Verwundert beugte Melly sich vor und entdeckte Caros Ohrstöpsel. Ein wenig fester als nötig zog sie am Kabel.

»Au!« Empört schaute Caro auf. »Was ist?«

»Willst du gar nicht wissen, wie es Julchen geht?«

»Gut, nehme ich an. Sonst hättest du sie nicht allein gelassen und stattdessen stundelang mit deinen Kids telefoniert.«

Melly hatte schon eine spitze Erwiderung auf der Zunge, doch dann hielt sie sich zurück. Es nutzte nichts, mit Caro über ihr Familienleben zu diskutieren. Das Gespräch verlief sowieso immer gleich und ließ sich mit einem einzigen Satz zusammenfassen: Ihre Schwester verstand nichts von Kindererziehung.

»Wir können Julchen gleich wieder mit nach Hause nehmen«, entgegnete sie stattdessen. »Allerdings darf sie die Hand fünf bis sechs Wochen nicht belasten.«

»Wie bitte? Fünf bis sechs Wochen?« Caro machte ein betroffenes Gesicht.

»Na ja, so schlimm ist das nicht. Es ist zwar die rechte Hand, aber sie wird zurechtkommen, denke ich.«

»Allein? Am Reibekuchenbräter? Auf dem Weihnachtsmarkt?« Bei jeder ihrer Fragen wurde Caros Miene noch eine Spur besorgter.

Ach, du lieber Himmel – der Weihnachtsmarkt!

Daran hatte Melly noch gar nicht gedacht.

Es wurmte sie, dass Caro das Problem schneller erkannt hatte als sie. Normalerweise war sie, Melly, nämlich die Gewissenhaftere von beiden. Aber schließlich hatte auch sie nur einen Kopf und zwei Hände und konnte sich nicht um mehrere Dinge gleichzeitig kümmern.

So ungern sie es auch zugab: Caro hatte recht. Julchens Verletzung stellte tatsächlich eine riesige Herausforderung für sie dar. Ihre jüngste Schwester lebte davon, dass sie in einem kleinen Imbisswagen quer durch das Rhein-Main-Gebiet tingelte und auf Jahrmärkten, Weinfesten und sonstigen Veranstaltungen für das leibliche Wohl der Besucher sorgte.

Der Wiesbadener Weihnachtsmarkt, auch Sternschnuppenmarkt genannt, war ihre größte und wichtigste Einnahmequelle. Alle Jahre wieder stand sie in ihrer eigens dafür gebauten Holzhütte auf dem Schlossplatz vor der Marktkirche und verkaufte frische Kartoffelpuffer und heißen Apfelweinpunsch.

»Wann geht es dieses Jahr los?«, fragte Melly.

»Dienstag in einer Woche«, entgegnete Caro.

»So bald schon.«

»Wir müssen Mama und Papa Bescheid sagen. Schließlich war es mal ihr Geschäft, sie kennen sich am besten aus und helfen bestimmt gern.«

»Auf keinen Fall!« Melly schüttelte den Kopf. »Zum ersten Mal in ihrem Leben überwintern die beiden an der Algarve, und da bleiben sie auch. Niemand holt sie zurück. Hörst du? Niemand!«

»Jaja, schon gut. Aber wer soll dann einspringen?«

»Keine Ahnung. Aushilfen?«

»Klar doch! Sicher bekommst du so kurzfristig noch gutes und zuverlässiges Personal, das total wild auf einen Job am Reibekuchenbräter ist.« Caro winkte ab.

»Immerhin haben wir noch Frau Pfeiffer.«

»Wie, diese alte Giftspritze ist auch wieder dabei? Ich dachte, sie ist längst in Rente.«

»Zum Weihnachtsmarkt kommt sie trotzdem noch. Das solltest du eigentlich wissen. Und nur, weil du sie nicht magst, ist sie noch lange keine Giftspritze.«

»Sie hat Julchen immer schon schamlos ausgenutzt. Ich hätte sie längst gefeuert.«

»Jetzt können wir froh sein, dass wir sie haben!«

»Sie allein wird aber nicht reichen.«

»Dann müssen wir uns etwas anderes überlegen.«

»Ich höre immer ›wir‹«, murrte Caro. »Julchen hat doch nichts am Kopf. Sie soll das selbst entscheiden.«

»Du weißt genau, was dann passiert. Sie wird keine Aushilfe finden, sondern sich irgendwie durchwursteln.«

Fieberhaft überdachte Melly die Alternativen. Besonders viele waren es nicht. Unterstützung von außen war nicht zu erwarten, deshalb gab es eigentlich nur eine einzige sinnvolle Lösung: Caro und sie selbst mussten einspringen. Eine Einarbeitung brauchten sie nicht, schließlich hatten sie jahrelang bei ihren Eltern ausgeholfen und waren mit dem Geschäft auf dem Weihnachtsmarkt bestens vertraut.

Aber diese Idee warf sofort weitere Fragen auf: Woher sollte sie die Zeit dafür nehmen? War das überhaupt mit ihrem Familienleben vereinbar? Und was würden ihre Schwestern dazu sagen?

Nun, zumindest diesen letzten Punkt konnte sie mit einer von beiden direkt klären.

»Ab wann hast du eigentlich Urlaub?«, erkundigte sie sich vorsichtig. Würde Caro nicht sofort erkennen, was sie mit ihrer Frage beabsichtigte?

Nein, offensichtlich nicht. »Ab nächsten Freitag«, antwortete diese nämlich arglos. »Und zwar fünf Wochen lang.«

»Wirklich?« Melly unterdrückte ein zufriedenes Lächeln. Das passte ja perfekt! »Hast du schon was geplant?«

»Nein, ich überlege noch und lasse mich treiben. Das ist –« Caro unterbrach sich und riss die Augen auf. So, als hätte sie gerade einen sehr unangenehmen Geistesblitz. Gleich darauf verfinsterte sich ihre Miene, und sie sprang auf.

»Vergiss es!« Böse funkelte sie ihre Schwester an.

»Was?«

»Das weißt du genau: den Weihnachtsmarkt!«

»Wie? Du meinst, wir beide könnten helfen? Darauf wäre ich gar nicht gekommen. Was für eine tolle Idee!«

»Lass diese Spielchen, Melly! Damit kannst du vielleicht deine Kinder manipulieren, aber nicht mich. Ich werde garantiert nicht meinen ganzen Urlaub auf dem Weihnachtsmarkt verbringen.«

»Das sollst du doch auch gar nicht. Die Hälfte der Zeit übernehme ich.«

»Ach ja? Wie willst du das denn schaffen? Dazu brauchst du eine ganze Schulklasse voller Penelopes.«

Darauf wusste Melly so schnell keine Antwort. »Wir können Julchen doch nicht im Stich lassen«, entgegnete sie nur und vertraute darauf, dass dieses Argument seine Wirkung nicht verfehlte.

Das hatte es noch nie getan.

Auch jetzt nicht.

Caro seufzte resigniert. »Du hast keine Ahnung, was du da von mir verlangst!«

»Es war schon immer unsere Pflicht auszuhelfen. Weißt du nicht mehr? Wenn es nötig war, sind wir eingesprungen.«

»Ich habe seit zehn Jahren nicht mehr auf dem Weihnachtsmarkt gestanden.«

»Ich auch nicht. Aber es kann doch auch ganz lustig sein, wenn wir alte Zeiten wiederaufleben lassen.«

»Sehr lustig«, knurrte Caro. »Wir werden uns totlachen.«

»Also ist es abgemacht?«

»Habe ich denn überhaupt eine Wahl?«

»Nein.«

»Wusste ich es doch! Also gut, ich helfe. Aber nur, solange es dringend nötig ist.«

»Natürlich.«

»Und nur, wenn du garantiert auch mitarbeitest.«

»Das werde ich, verlass dich drauf!«

»Darf ich dabei sein, wenn du es Ole sagst? Ich würde gern sein Gesicht sehen, wenn er erfährt, dass Frau Direktor Matthiesen mit beiden Händen im Bratfett baden und Kartoffelpuffer verkaufen wird.«

Melly stöhnte. An Ole und seine Reaktion hatte sie noch gar nicht gedacht. Sie kannte ihren Mann, er würde mit Sicherheit nicht begeistert von diesen Plänen sein. Und das war noch optimistisch ausgedrückt.

Möchten Sie gerne weiterlesen? Dann laden Sie jetzt das E-Book.