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Eine zauberhafte deutsch-deutsche Liebesgeschichte Sommer 1990: Kathrin Bahrenbeck will die Fabrik ihres Vaters retten - einen alten Familienbetrieb, in dem die besten Essiggurken des Spreewalds hergestellt werden. Ihr Bankberater, der 25-jährige Julian Albrecht, ist ein schnöseliger Wessi, mit dem Kathrin erst gar nichts zu tun haben will. Bis es zum ersten Kuss kommt und bei beiden die Liebe einschlägt wie ein Blitz. Doch dann reißt ein Schicksalsschlag Kathrin und Julian auseinander. Es wird 25 Jahre dauern, bis sie sich wiedersehen - eine Begegnung, die nicht nur ihr eigenes Leben für immer verändern wird …
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Das Buch
Sommer 1990: Die 22-jährige Kathrin Bahrenbeck versucht, die Gurkenfabrik ihres Vaters nach der Wende wieder zu einem Familienbetrieb zu machen. Ihr zuständiger Bankberater ist der 25-jährige Julian Albrecht, der aus Köln für den »Aufbau Ost« nach Lübbenau im Spreewald gekommen ist. Kathrin kann den vermeintlich arroganten Schnösel nicht leiden und macht sich widerwillig daran, mit seiner Hilfe einen Businessplan zu erstellen. Bis sie herausfindet, dass sich hinter der attraktiven, aber selbstgefälligen Fassade ein wirklich netter Mensch verbirgt. Gerade als beiden klar wird, dass sie sich rettungslos ineinander verliebt haben, reißt sie ein Schicksalsschlag auseinander.
Sommer 2015: 25 Jahre später treffen sich Kathrin und Julian zufällig bei einer Abendveranstaltung in Berlin. Kathrin hat das Erbe ihres Vaters angetreten und die Leitung der Gurkenfabrik übernommen. Julian lebt in Köln. Beide haben Familien gegründet, ein eigenes Leben aufgebaut – und beide trifft das plötzliche Wiedersehen wie ein Blitz …
Die Autorin
Heike Wanner arbeitet als Angestellte bei einer Fluggesellschaft und lebt in der Nähe von Wiesbaden. Sie ist verheiratet und hat einen Sohn.
Weitere Informationen unter www.heike-wanner.de
In unserem Hause sind von Heike Wanner erschienen:
Der Tod des Traumprinzen · Frauenzimmer frei · Für immer und eh nicht · Rosen, Tulpen, Nelken · Weibersommer · Eine Handvoll Sommerglück
Heike Wanner
Liebe in Sommergrün
Roman
Ullstein
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ISBN 978-3-8437-1279-8
Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage April 2016
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016
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Titelabbildung: © GettyImages/C.Aranega
E-Book: LVD GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Liebe sagt man, schön und richtig,
ist ein Ding, was äußerst wichtig.
Nicht nur zieht man in Betracht,
was man selber damit macht.
Nein, man ist in solchen Sachen
auch gespannt, was andre machen.
(Wilhelm Busch)
Prolog
Mit ihren 22 Jahren glaubte Kathrin Bahrenbeck, alles über die Liebe zu wissen.
Zwar hatte sie bislang nur wenige eigene praktische Erfahrungen sammeln können, und diese auch nur mit einem einzigen Mann. Aber dafür kannte sie die Theorie. Schon seit einigen Jahren sammelte sie nämlich Zitate über das Leben im Allgemeinen und die Liebe im Speziellen. Besonders schöne Texte schrieb sie in ein rosarotes Ringbuch, das ihre Großmutter ihr zum zwölften Geburtstag geschenkt hatte.
Jeder Spruch bekam seine eigene Seite, fein säuberlich notiert und mit selbst gemalten Zeichnungen verziert. Kathrin hütete dieses Buch wie einen kleinen, sehr persönlichen Schatz. Ab und zu holte sie den Ordner hervor, blätterte durch die Seiten und grübelte über den tieferen Sinn der Sprüche nach.
Manchmal kam sie dabei zu einer neuen Erkenntnis, manchmal nicht. Doch das störte sie nicht – schließlich war sie jung und hatte noch viel Zeit für neue Gefühle und Gedanken.
Außerdem gab es ja Bücher. Kathrin war eine leidenschaftliche Leserin und verschlang jeden Liebesroman-Klassiker, den sie in die Finger bekommen konnte.
Im Gegensatz zu den Sprüchen hatten alle diese Bücher eine klare Botschaft für sie. Von »Anna Karenina« lernte Kathrin zum Beispiel, dass unglücklich Verliebte an einer verbotenen Liebe und ihren Konsequenzen unweigerlich zerbrechen mussten. »Romeo und Julia« bestätigten diese Theorie.
Doch gleichzeitig kam Scarlett O’Hara aus »Vom Winde verweht« daher und bewies ihr, dass starke, unabhängige Frauen jeden Schicksalsschlag meistern konnten. Auch in den »Dornenvögeln« wimmelte es nur so von weiblichen Romangestalten, die sich trotz unglücklicher Liebe und anderer Katastrophen nicht unterkriegen ließen.
Liebe, so schloss Kathrin daraus, war gut und schön. Aber sie war nicht alles. Man durfte sich selbst und seine eigenen Ziele deshalb nicht aufgeben. Auch ein Leben ohne die große Liebe konnte lebenswert sein.
»Dass uns eine Sache fehlt, sollte uns nicht davon abhalten, alles andere zu genießen«, hatte schon Jane Austen geschrieben, und Kathrin lebte eine Weile ganz gut nach diesem Motto.
Doch dann kam der Sommer 1990. Und Julian.
Und nichts, aber auch gar nichts – kein Buch, kein Zitat und keine persönliche Erfahrung – hatte sie auf das vorbereiten können, was sie mit ihm erleben sollte.
1. Teil: 1990
1
Die Liebe ist eine Reise in ein gänzlich neues Leben.
(Ernst Bloch)
»Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit der Tagesschau.«
Die vertraute Fanfare ertönte, während gleichzeitig zehn kleine gelbe Buchstaben, die zusammen das Wort »Tagesschau« bildeten, von oben ins Bild schwebten und direkt vor einer blauen Weltkarte zum Stehen kamen.
»Mit der D-Mark zur Einheit – seit heute haben alle DDR-Bürger nur noch die harte Währung im Portemonnaie«, kommentierte eine sonore Männerstimme aus dem Hintergrund die Szene, die gleich darauf zu sehen war: zahlreiche Menschen, die sich um eine weiße Tischplatte voller frischer Geldscheine drängten.
»Ende der Kontrollen«, fuhr die Stimme fort, nachdem das Bild gewechselt hatte. Nun war das große Schiebefenster einer Grenzstation zu erkennen, das gerade durch ein Rollo verschlossen wurde. »Die Schalter sind geschlossen, die letzten DDR-Grenzer machen das Licht aus.«
Ende des Kurzfilms, die Regie schaltete ins Studio. Der Nachrichtensprecher, der ein dunkelblaues Jackett und eine gleichfarbige Krawatte trug, lächelte freundlich in die Kamera und nahm einige Zettel vom Tisch auf.
»Guten Abend, meine Damen und Herren.« Es folgte eine kurze, wohl dosierte Pause. »Mit der Einführung einer gemeinsamen Währung und der Aufhebung der Grenzkontrollen zum heutigen 1. Juli 1990 ist die Einheit Deutschlands praktisch vollzogen. Der Staatsvertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik ist in Kraft getreten, und das …«
»Oh, die Nachrichten haben schon begonnen.« Renate Bahrenbeck kam mit einem Tablett voller Bowle-Gläser ins Wohnzimmer und stellte es auf dem Sofatisch ab. Dann wandte sie sich an ihre Tochter Kathrin. »Kannst du das bitte ein wenig lauter machen, Kathi?«
»Wie?« Zerstreut blickte die Angesprochene von ihrem Buch auf.
»Warum musst du denn so genau zuhören?«, wollte Opa Paul wissen. »Die bringen doch nur das, was du gestern Nacht alles selbst miterlebt hast.«
Er deutete Richtung Fernseher, wo inzwischen Bilder von Freudenfeiern, Hupkonzerten, spontanen Feuerwerken und knallenden Sektkorken zu sehen waren.
»Oder heute Morgen«, ergänzte Kathrins Vater Jürgen. »Bei der Auszahlungsstelle der Bank war schon vor acht Uhr die Hölle los. Sie haben sogar Gratiskaffee ausgeteilt.«
»Ich habe gehört, die sind mit einem umgebauten Bus gekommen. Stimmt das?«
»Ja. Wie hätten sie auch sonst so schnell einen Geldschalter für unser kleines Dorf organisieren können?«
»Unglaublich.« Oma Elisabeth legte ihre Stricksachen zur Seite. »Wir leben wieder in einem freien Land! Dass ich das noch erleben darf«, murmelte sie gerührt.
»Also wirklich, Elli!« Opa Paul schüttelte den Kopf. »Das weißt du doch schon seit ein paar Monaten. Es besteht also gar kein Grund, jetzt in Tränen auszubrechen.«
»Das tue ich doch gar nicht!«
»Aber ich gleich, wenn ihr nicht alle auf der Stelle still seid«, ging Renate verärgert dazwischen.
Sie war ein zurückhaltender und freundlicher Mensch, der nur selten laut wurde. Deshalb unterbrachen die übrigen Familienmitglieder ihren Wortwechsel auch sofort und warfen ihr erstaunte Blicke zu.
»Es gibt Leute in diesem Raum, die würden gern in Ruhe die Nachrichten anschauen«, fügte Renate etwas sanfter hinzu. »Danach können wir uns unterhalten, so lange wir wollen. Oder bis die Bowle ausgetrunken ist.«
Kathrin lächelte amüsiert. Sie hatte es sich auf ihrem Lieblingsplatz bequem gemacht, einem alten Ledersessel, der in einer Ecke des Zimmers zwischen Fernseher und Fenster stand. Von hier aus hatte sie die gesamte Familie gut im Blick.
Ihre Großeltern und ihre Eltern waren, wie jeden Abend um diese Zeit, im Wohnzimmer versammelt. Zur Feier des Tages stand heute eine Mandarinen-Bowle auf dem Tisch.
Ihre Mutter füllte gerade die ersten Gläser. Oma Elisabeth und Opa Paul teilten sich das Ledersofa. Elisabeth saß aufrecht und mit mehreren Kissen als Stütze im Rücken, Opa Paul hingegen lag schon schläfrig auf der anderen Seite der Polster und hatte seine Füße auf den Oberschenkeln seiner Frau abgelegt. Mit sanften, kreisenden Bewegungen massierte Elisabeth seine Fußsohlen – eine liebevolle Geste, die sich jeden Abend wiederholte.
Ebenso vertraut war Kathrin der Anblick ihres Vaters, der es sich im alten Schaukelstuhl gemütlich gemacht hatte. Auf seinen Knien lag die Fernsehzeitung, die er jeden Tag aufs Neue durchblätterte, nur um irgendwann enttäuscht festzustellen, dass schon wieder nichts Vernünftiges auf dem Programm stand.
Jürgen Bahrenbeck war vor wenigen Wochen 46 Jahre alt geworden und hatte seinen Geburtstag zum ersten Mal in seinem Leben groß gefeiert. Fast das ganze Dorf war eingeladen gewesen.
»In diesem Jahr wird Geschichte geschrieben«, hatte Jürgen gemeint. »Deshalb müssen wir das festlich begehen. Mir ist es völlig egal, dass es kein runder Geburtstag ist. Oder dass meine Haare weniger werden, die Augen schwächer und mein Bauch dicker.«
So schlimm fand Kathrin die Alterserscheinungen bei ihrem Vater gar nicht. Sicher, er hatte mittlerweile eine Halbglatze, eine Brille und ein paar Kilos zu viel auf der Waage – aber welcher Mann hatte das nicht in seinem Alter? Und wen, außer ihn selbst, störte das schon?
»Kathi?« Die Stimme ihrer Mutter riss Kathrin aus ihren Überlegungen. »Machst du bitte lauter?«
»Ja, klar.« Sie griff nach der Fernbedienung, die neben ihr auf der Lehne lag. Immer noch waren Bilder von jubelnden Menschen, nächtlichen Partys und Autokorsos zu sehen.
»… wirklich ein historischer Tag für Deutschland«, fasste der Nachrichtensprecher zusammen.
Historisch.
Dieses Wort hatte Kathrin in den letzten Monaten oft gehört.
Alles war historisch: das Ende des politischen Systems der DDR, der Fall der Mauer, die spontanen Fahrten über die Grenze, ausgiebige Einkaufstouren, glückliche Familientreffen und natürlich das alles überlagernde, unglaubliche Gefühl von Freiheit. Das Leben veränderte sich, auch wenn die Neuerungen hier auf dem Land, mitten im Spreewald, nur allmählich ankamen.
Aber sie kamen.
Die Straßen wurden saniert und das alte Rathaus instandgesetzt. Plötzlich gab es Produkte im Dorfladen, die man vorher nur aus dem Westfernsehen gekannt hatte. In Lübben, der nächstgrößeren Stadt, eröffnete sogar ein Supermarkt. Westdeutsche Zeitungen lagen im Kiosk aus, das Radio spielte den ganzen Tag über amerikanische Popmusik, und inmitten dieser euphorischen Stimmung hatten sich Kathrins Eltern vor drei Wochen sogar dazu hinreißen lassen, einen modernen Farbfernseher zu kaufen.
Ja, das war wohl wirklich alles historisch zu nennen. Aber auch abenteuerlich, berauschend und wundervoll – besonders dann, wenn man erst 22 Jahre alt war und diese Entwicklungen in vollen Zügen genießen konnte.
Kathrin seufzte zufrieden und steckte ihre Nase wieder ins Buch. Friedhof der Kuscheltiere von Stephen King.
Noch so eine bedeutsame Veränderung: Inzwischen waren die Bücher westlicher Autoren in jeder Buchhandlung vorrätig und sogar bezahlbar. Ein paradiesischer Zustand für Kathrin, die jede freie Minute zum Lesen nutzte. Auch jetzt nahm die gruselige Geschichte sie sofort wieder gefangen. Dieser Roman war wirklich unglaublich spannend!
So spannend, dass es ihr ohne weiteres gelang, die Stimme des Nachrichtensprechers und die Unterhaltung ihrer Familie auszublenden. Zumindest bis zu dem Moment, als der Wetterdienst für morgen einen schönen, warmen Tag voraussagte und ihr Vater daraufhin die Fernsehzeitung neben sich auf den Boden warf.
»Dann können wir morgen mit der Aussaat auf den letzten Gurkenfeldern beginnen«, verkündete er.
»Du kannst nicht aufs Feld, du musst morgen mit mir zur Bank«, sagte Renate. »Hast du das etwa vergessen? Wir haben um acht Uhr einen Termin wegen des Darlehens und des Unternehmenskonzepts für die Gurkenfabrik.«
»Unternehmenskonzept?«, wunderte sich Oma Elli. »Was bedeutet das noch mal?«
»Dass wir uns unsere Gurkenfabrik vom Staat zurückholen, sobald das rechtlich möglich ist«, erklärte Opa Paul seiner Frau. »Und dass wir sie modernisieren werden. Aber dafür brauchen wir einen guten Plan und einen Kredit.«
»Wenn du so gründlich informiert bist, kannst du ja mit Renate zur Bank gehen, Vati«, sagte Jürgen. »Ich hasse die Gespräche mit diesen eingebildeten Schlipsträgern aus Westdeutschland.«
»Nee, lass mal!« Opa Paul winkte ab. »Da übernehme ich lieber die Aussaat. Dieser ganze Papierkram ist nichts für mich.«
»Ich helfe dir, Opa.« Kathrin klappte ihr Buch zu. »Wir treffen uns um sieben vor der Scheune.«
»Gehst du noch aus?«, wollte Renate wissen, als ihre Tochter sich erhob und die Strickjacke zuknöpfte.
Kathrin nickte. »Ja, ich treffe mich mit Maik und den anderen am Badesee. Wir wollen noch ein wenig feiern.«
»Dann trinkst du gar keine Mandarinen-Bowle mit uns?« Oma Elli klang enttäuscht.
»Also, eigentlich …« Kathrin zögerte.
Am See warteten ihre Freunde auf sie. Einer von ihnen, Frank, hatte seit ein paar Tagen einen neuen tragbaren Kassettenrecorder mit Batteriebetrieb. Maik wollte Decken mitbringen. Sie selbst hatte dicke Wachskerzen und Fackeln besorgt, andere wollten sich um die Getränke kümmern. Am beliebtesten waren derzeit Cola mit Kirschgeschmack und dieser süße italienische Wein. Wie hieß der noch? Lambrusco?
»Lass sie nur!«, sagte Renate, die die Zurückhaltung ihrer Tochter richtig deutete. »Sie ist doch bei ihren Freunden viel besser aufgehoben als hier bei uns.«
»Na gut. Aber zieh dir noch eine warme Jacke über!«, ermahnte Oma Elli ihre Enkelin. »Am Wasser kann es frisch werden.«
»Und steck den Schlüssel ein«, fügte Renate hinzu. »Wir sind nicht ewig wach, schließlich haben wir morgen früh einen wichtigen Termin.«
Julian Albrecht warf einen flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr. Gleich halb neun, und noch immer hatte er etliche Kilometer zu fahren. Gott sei Dank wurde es um diese Jahreszeit erst gegen zehn Uhr abends dunkel! Oder kam die Dämmerung in Ostdeutschland etwa früher als in Köln? Gingen die Uhren hier wortwörtlich anders?
»Höchstwahrscheinlich schon«, murmelte er.
Schließlich hatte diese Region jahrzehntelang im Dämmerschlaf gelegen. DDR. Ostzone. Dunkeldeutschland.
Und er mittendrin!
Grinsend schüttelte er den Kopf. Worauf hatte er sich da bloß eingelassen? Er, Julian Albrecht, 25 Jahre alt, geboren und aufgewachsen im vornehmen Kölner Stadtteil Lindenthal, hatte nach seinem Studienabschluss in Betriebswirtschaft nichts Besseres zu tun, als für eine westdeutsche Bank nach Ostdeutschland zu ziehen und dort Entwicklungshelfer für ahnungslose Bankkunden zu spielen.
Aber wie hätte er auch ablehnen sollen, als sein Vorgesetzter vor ein paar Wochen auf ihn zugekommen war und ihn gefragt hatte, ob er nicht für ein Jahr in den Spreewald gehen wollte, um dort kleine und mittlere Unternehmer beim Aufbau ihrer Geschäfte zu beraten? Die Aussicht auf eine schnelle Beförderung und die nicht zu verachtenden finanziellen Anreize hatten eindeutig für diesen Job gesprochen. Außerdem war Julian ein abenteuerlustiger Mensch, und die neue Aufgabe reizte ihn.
Aufbauhilfe Ost – so hieß das in der nüchternen Bankensprache. Wie sich das alles tatsächlich entwickelte, würden wohl erst die nächsten Wochen zeigen.
Er gähnte herzhaft und schaltete das Autoradio ein. Ein übereifrig klingender Moderator kündigte den Hit Mich zu lieben von Rockhaus an. Julian hatte noch nie von dieser Band gehört.
Der Song startete mit Gitarren, Schlagzeug und Bässen. Danach kamen sogar Geigen hinzu. Gar nicht mal so übel! Aber dann begann der schreckliche Gesang. Das war ja kaum zum Aushalten!
Julians rechte Hand tastete zum Beifahrersitz und kramte wahllos eine CD aus einer kleinen Ledertasche hervor. Er öffnete die Plastikhülle und schob die CD in den dafür vorgesehenen Schlitz am Autoradio. Gleich darauf erklang Don’t worry, be happy von Bobby McFerrin.
Schon viel besser!
Die Audio-Sonderausstattung inklusive CD-Player hatte ihn fast 3000 DM extra gekostet, aber sie war ihr Geld wert gewesen. Fröhlich begann er mitzupfeifen und klopfte mit den Händen den Takt aufs Lenkrad. Die Musik vertrieb die Müdigkeit, die sich jetzt doch in ihm ausbreitete.
Das war nicht verwunderlich, schließlich hatte er die letzte Nacht durchgefeiert. Keine Einheits-Party, sondern eher ein feucht-fröhlicher Abschied von seinen Freunden in Köln. Jetzt würde es länger dauern, bis sie sich alle wieder treffen konnten.
Nur Helen, seine Verlobte, wollte ihn so schnell wie möglich in Ostdeutschland besuchen. Aber selbst bis zu diesem Wiedersehen würden zwei lange Wochen vergehen. Wie sollte er die Zeit bloß überstehen?
Um sich auf andere Gedanken zu bringen, ließ Julian seinen Blick nach rechts und links der Autobahn schweifen. Felder, Wiesen, Laternenmasten und ab und zu eine kleine Ortschaft. Inzwischen gingen immer mehr Lichter an. Eigentlich sah es hier nicht anders aus als zu Beginn seiner Reise in Köln über Dortmund, Bielefeld, Hannover nach Braunschweig.
Bis dahin hatte er sich ausgekannt. Bei Helmstedt hatte er die ehemalige Zonengrenze überquert. Es war ein merkwürdiges Gefühl gewesen, an den verlassenen Grenzgebäuden vorbeizufahren.
Danach waren Ortsschilder gekommen, die er nicht kannte. Wolmirstedt, Ludwigsfelde, Königswusterhausen. Auch die Automarken hatten sich geändert. Statt VW und Opel waren nun zahlreiche Trabis und Wartburgs unterwegs. Für Julians aufgemotzten Golf war das keine Herausforderung. Er konnte sie alle mühelos überholen.
Die Musik wechselte nun von Bobby McFerrin nacheinander zu Robin Beck, Phil Collins und Roxette. Und dann endlich, kurz bevor die CD zu Ende gelaufen war, kam das erste Hinweisschild auf Lübben im Spreewald.
Langsam fuhr Julian durch die leeren Straßen des kleinen Städtchens.
Er passierte ein altes Schloss und mehrere Kirchen, bevor es über die Spree ging. Zur besseren Orientierung hatte er sich den Zettel mit der Wegbeschreibung ans Lenkrad geklemmt und hielt nun Ausschau nach der Elisenstraße Nummer drei.
Da, dort musste es sein!
Er setzte den Blinker und bog links ab. Die Gegend wirkte wenig einladend. Graue Mehrfamilienhäuser reihten sich aneinander, Stromleitungen führten überirdisch von Haus zu Haus, und überall blätterte der Putz von den Wänden. Aber wenigstens gab es genügend Parkplätze!
Bei Mutschke klingeln stand auf seinem Zettel.
Julian fand den Namen rechts unten auf dem Klingelschild. Vorsichtig drückte er den Knopf. Gleich darauf öffnete sich ein Fenster im Erdgeschoss.
»Was ist?«, fragte eine ältere Frau mit Lockenwicklern in den Haaren.
»Mein Name ist Julian Albrecht.« Julian trat einen Schritt zurück, um die Frau besser sehen zu können.
»Ach, endlich! Ich dachte schon, Sie kommen gar nicht mehr.«
Sie sagte »ganüscht mea« und verschluckte die Hälfte der Buchstaben.
»Sind Sie Frau Mutschke?«
»Ja, die bin ich. Warten Sie, junger Mann, ich mache Ihnen auf.« Der Kopf verschwand, und wenige Minuten später öffnete sich die Eingangstür.
Frau Mutschke war in einen gelben Frotteebademantel gehüllt, ihre Füße steckten in dicken Fellpantoffeln. »Ich war gerade in der Wanne«, entschuldigte sie ihren Aufzug. »Ich sehe nicht immer so aus.«
Julian lächelte verständnisvoll, zog es aber vor, diese Bemerkung nicht zu kommentieren.
»Sie wollen bestimmt so schnell wie möglich in Ihre Wohnung.« Frau Mutschke holte einen Schlüssel aus der Seitentasche ihres Bademantels. »Die ist im dritten Stock. Kommen Sie!« Sie bedeutete Julian, ihr zu folgen.
Langsam stiegen die beiden eine abgetretene Holztreppe hinauf. Im Hausflur roch es nach verbranntem Fisch und Reinigungsmitteln. Frau Mutschke begann schon im ersten Stock, nach Luft zu schnappen. Hinter irgendeiner Tür weinte ein Baby, aus einer anderen Wohnung waren laute Stimmen zu hören.
»Das sind die Försters. Die streiten immer am Sonntagabend«, erklärte Frau Mutschke und fügte dann etwas leiser hinzu: »Er trinkt ganz gern mal ein bisschen zu viel. Aber keine Angst, die vertragen sich auch wieder.«
»Gut!« Julian bemühte sich um ein weiteres unverbindliches Lächeln.
»So, da wären wir.« Umständlich öffnete Frau Mutschke die rechte Eingangstür im dritten Stock. »Zwei Räume, Küche, Bad, möbliert und mit Balkon.«
»Gehört die Wohnung Ihnen?«
»Gott bewahre! Ich bin nur die Verwalterin. Hier im Haus sind noch zwei andere Wohnungen an die Bank vermietet. Da wohnen bestimmt Kollegen von Ihnen.«
»Kann sein.« Julian versuchte, sich an Frau Mutschke vorbei in die Wohnung zu drücken, doch seine neue Bekanntschaft machte keine Anstalten, zur Seite zu treten.
»Soll ich Ihnen noch schnell alles zeigen?«, wollte sie wissen.
»Das müssen Sie nicht, ich komme schon zurecht.«
»Brauchen Sie Hilfe mit dem Gepäck?«
»Nein. Ich habe nicht viel dabei, nur einen Koffer.«
»Das ist aber wenig für ein Jahr, finden Sie nicht?«
»Ich bekomme in zwei Wochen Besuch von meiner Verlobten, sie bringt mir den Rest. Ich muss mir hier doch erst einmal einen Überblick verschaffen, was ich noch alles benötige.«
»Na gut. Sie müssen es ja wissen.« Achselzuckend wandte Frau Mutschke sich ab. »Die Lehmann kommt übrigens jeden zweiten Morgen um zehn.«
»Die … wer?«
»Frau Lehmann, Ihre Putzfrau. Die Wäsche macht sie auch. Sie hat einen Schlüssel.«
»Kann ich mein Auto vor dem Haus stehen lassen?«
»Ja, klar. Ist ja genug Platz.« Frau Mutschke schob ihre Hände in die Taschen des Bademantels. »Die Briefkästen sind unten, gleich neben der Treppe. Die Mülltonnen stehen im Hof. Ein Keller gehört auch zur Wohnung, der ist komplett leer. Von zehn Uhr abends bis sechs Uhr morgens herrscht Nachtruhe. Mit dem Treppenputzen haben Sie nichts zu tun, das erledigt die Lehmann. Und Ihre Miete und die sonstigen Nebenkosten übernimmt ja die Bank«, leierte sie herunter. »Somit ist jetzt alles geklärt, oder?«
»Ja, ich denke schon.«
»Wenn noch was ist, wissen Sie ja, wo Sie mich finden. Gute Nacht, junger Mann!«
Erleichtert ließ Julian die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Sofort wurde es dunkel im Eingangsbereich. Er tastete nach dem Lichtschalter, und gleich darauf erstrahlte seine neue Wohnung im hellen Licht einer nackten Glühbirne.
Fassungslos schaute er sich um.
Sein erster Blick fiel auf das Tapetenmuster: verschnörkelte goldene Rauten auf gelbem Untergrund. Davor standen ein Spiegelschrank, ein Kleiderständer und eine niedrige Kommode, alles in Schwarz gehalten. Der graue Teppichboden schien neu zu sein, er verströmte einen durchdringenden Geruch nach Gummi.
Vier dunkelbraune Türen gingen vom Flur ab, zwei rechts und zwei links. Julian öffnete die erste Tür auf der linken Seite und landete in einem schmalen, spärlich eingerichteten Bad: grüne Bodenfliesen, gelbe Wandkacheln, ein Waschbecken, eine Toilette und eine überdimensional große Badewanne. Der Wasserhahn tropfte und ließ sich auch durch sanfte Gewalt nicht zudrehen.
»Ein Fall für Frau Mutschke«, murmelte Julian und machte sich auf den Weg in den nächsten Raum. Offensichtlich das Wohnzimmer.
Hier waren die Wände mit derselben Tapete verkleidet wie im Eingangsbereich. Der helle Teppich hatte schon bessere Tage gesehen. Ein brauner, kastenförmiger Schrank, ein viel zu weich aussehendes Plüschsofa mit grünem Samtbezug, eine Stehlampe mit braunen Troddeln und ein vertrockneter Gummibaum vermittelten ein trostloses Bild.
Auch die Küche wirkte wenig einladend. Sie war möbliert mit Einbauschränken aus grauem furnierten Holz, einem Gasherd, einem riesigen Warmwasser-Boiler und einem Küchentisch mit roten Plastikstühlen. Der Boden war gefliest, die Wände hell gestrichen.
Die letzte Tür führte ins Schlafzimmer: ein niedriges Doppelbett, das frisch bezogen worden war. Zwei Nachttische, ein Kleiderschrank, alles aus weißem Kunststoff. Über dem Bett hing ein gesticktes Bild, das einen bunten Blumenstrauß zeigte.
Es war der einzige Farbtupfer im Raum.
Julian öffnete ein Fenster und ließ sich dann aufs Bett sinken. Nachdenklich starrte er auf das Bild mit den Blumen und überlegte, ob er es abhängen sollte. Durch das geöffnete Fenster drangen Geräusche von der Straße herauf: das Knattern eines Mofas, wütendes Hundegebell und gleich darauf die zeternde Stimme eines Mannes. Für ihn klang das wie fremde, unfreundliche Laute in einer ihm völlig unbekannten Welt.
Vielleicht hätte er doch einen der Vorbereitungskurse besuchen sollen, die in der Bank angeboten worden waren! Dann wäre er vermutlich weniger irritiert gewesen. Doch er hatte geglaubt, dass das nicht nötig wäre, schließlich war er bislang überall zurechtgekommen.
Was ja auch stimmte.
Aber das hier – der Fischgeruch, das alte Treppenhaus und sein neues, wenig einladendes Zuhause – erschien ihm mit einem Mal wie eine Reise mit der Zeitmaschine zurück in eine entfernte Vergangenheit. Heftige Sehnsucht überkam ihn – nach Helen und nach seinem bequemen, luxuriösen Leben, das er in Köln zurückgelassen hatte.
Der tolle Job als Finanzierungsberater.
Seine elegant eingerichtete Wohnung.
Die lauen Sommerabende am Rheinufer.
Worauf hatte er sich hier bloß eingelassen?
2
Bekanntschaften, wenn sie sich auch gleichgültig ankündigen, haben oft die wichtigsten Folgen.
(Johann Wolfgang von Goethe)
»Der Bankberater, bei dem wir gleich einen Termin haben, heißt …« Renate Bahrenbeck klappte einen schmalen Aktenordner auf und ließ ihren Finger suchend über ein Schreiben gleiten. »Ah, hier steht es: Julian Albrecht.«
»Nie gehört.« Jürgen stopfte sich den Rest seines Marmeladenbrots in den Mund.
»Er ist ja auch neu, genau genommen ist heute sein erster Arbeitstag. Er soll sehr kompetent sein, das hat mir die Zweigstellenleiterin versichert.«
»Für mich sind diese Typen aus dem Westen alle gleich: humorlos, eingebildet und überheblich. Die wissen alles besser.«
»Also wirklich, Jürgen! Wenn du mit dieser Einstellung in das Gespräch gehst, können wir gleich einpacken.«
»Warum muss ich überhaupt mit? Ich verstehe doch gar nichts von diesen Dingen.« Trübsinnig ließ Jürgen seinen Blick durch die Küche schweifen. Seine Augen blieben an Kathrin hängen, die sich am Herd gerade heißes Wasser in ihre Tasse schenkte. »Warum kann Kathi nicht mitgehen? Sie hat immerhin eine kaufmännische Lehre gemacht und kann mitreden.«
»Aber du bist derjenige, der den Kredit aufnehmen wird. Deshalb musst du persönlich erscheinen«, erklärte Kathrin und trat zu ihren Eltern an den Frühstückstisch. Im Stehen bestrich sie sich eine Scheibe Brot mit Butter und garnierte sie mit mehreren Klecksen Marmelade.
»Wie war es gestern Abend?«, fragte Renate. »Ich habe dich gar nicht nach Hause kommen hören.«
»Ich schon«, bemerkte Jürgen. »Es war kurz vor zwei, falls das jemand wissen will.«
»Es war total schön«, erzählte Kathrin, ohne den Einwurf ihres Vaters zu beachten. »Nachts wurde es ein wenig frisch, aber wir hatten trotzdem viel Spaß.«
»Hat Maik dich nach Hause gebracht?«
»Klar.«
»Und?« Erwartungsvoll blickte Renate ihre Tochter an.
»Und was?«
»Wollte er nicht … äh … ich meine …«
Kathrin verdrehte die Augen. »Das mit Maik und mir ist vorbei, wie oft muss ich euch das noch sagen? Wir sind lediglich gute Freunde.«
»Er ist so ein netter Junge.«
»Trotzdem will ich nicht mit ihm zusammen sein. Außerdem ist das sowieso allein meine Angelegenheit.« Sie wischte sich die Hände an ihrer Hose ab. »Und jetzt entschuldigt mich, ich nehme das Frühstück mit in die Scheune. Der Traktor gibt seit Freitag komische Geräusche von sich, ich muss das überprüfen.«
Nachdenklich schaute Renate ihrer Tochter hinterher. »Sie interessiert sich viel zu sehr für unseren Hof und die Felder, und viel zu wenig für Dinge, die in ihrem Alter normal wären.«
Jürgen ließ seine Kaffeetasse sinken. »Zum Beispiel?«
»Ihr Aussehen. Kleidung. Jungs. Eine eigene Familie.«
»Hm«, machte Jürgen.
»Mit zweiundzwanzig waren wir beide schon verheiratet.«
»Die Zeiten ändern sich.«
»Ich weiß.« Renate seufzte und begann, das Frühstücksgeschirr abzuräumen. »Gerade deshalb würde ich ihr einen lieben Menschen wünschen, der diese Veränderungen mit ihr zusammen erlebt.«
»Nun, Maik ist anscheinend nicht dieser Mensch, das hast du ja gerade gehört.«
»Leider. Dass die zwei sich getrennt haben, tut mir immer noch sehr leid.« Ihr Blick fiel auf die Wanduhr. »Aber jetzt beeil dich mal und trink deinen Kaffee aus! Wir müssen pünktlich los.«
Ein Beratungsgespräch um acht Uhr morgens. An seinem ersten Tag in völlig neuer Umgebung. Ohne Computer und die gewohnten Arbeitsunterlagen. Wer hatte eigentlich einen dermaßen blöden Termin vereinbart?
Julian schenkte sich die dritte Tasse Kaffee ein, doch auch die half ihm nicht viel. Immer noch war er hundemüde. Er hatte die halbe Nacht wach gelegen, war bereits vor sieben Uhr aufgestanden und hatte sich nach einer schnellen, lauwarmen Dusche in seiner Badewanne gleich auf den Weg in die Bank gemacht.
Zum einen, weil er sich mit allem vertraut machen wollte. Doch viel gab es nicht, was er kennenlernen musste. Die Schalterhalle lag um diese Uhrzeit noch verlassen da. Die Büros und Besprechungsräume hinter den Schaltern waren nur spärlich eingerichtet. Seine Kollegen aus der Kölner EDV-Abteilung waren gerade dabei, drei neue Computer zu installieren.
»Wir warten noch auf die Möbel aus Westdeutschland. Die Lieferung wird heute im Laufe des Tages eintreffen. Eigentlich hätte das alles längst erledigt sein sollen. Es tut mir sehr leid, dass Ihr erster Arbeitstag bei uns mitten im Chaos beginnt«, hatte ihm Frau Körner, die Filialleiterin, bei einem ersten Rundgang erklärt. Sie war eine dezent geschminkte, pummelige Mittvierzigerin mit Dauerwelle und starkem Berliner Akzent, die anscheinend gern und viel redete.
»Aber vielleicht möchten Sie ja die Zeit nutzen und sich bei Ihren Lieben melden?«, hatte sie noch hinzugefügt und auf eines der Telefone im Besprechungszimmer gedeutet.
»Gute Idee.«
Das Telefonat mit seiner Verlobten war der zweite Grund gewesen, der Julian veranlasst hatte, schon vor acht im Büro zu sein. Da seine Wohnung in der Elisenstraße noch nicht über einen Telefonanschluss verfügte, hatten Helen und er ausgemacht, dass er sich an seinem ersten Arbeitstag von der Bank aus bei ihr melden würde.
Zuerst hatte es eine Weile gedauert, bis er eine freie Leitung bekam. Und dann hatte Helen kaum zugehört, als er ihr von seinen ersten Eindrücken und Erlebnissen erzählen wollte. Stattdessen hatte sie ihn schon nach wenigen Sätzen unterbrochen.
»Meine Schwester hat heute Morgen endlich ihr Baby bekommen! Ist das nicht toll? Es ist ein Junge, fünfundfünfzig Zentimeter, vier Kilo, und angeblich hat er ganz viele dunkle Haare auf dem Kopf. Er heißt Felix. Ist das nicht süß? Ich werde nächste Woche nach Hamburg fahren und sie besuchen.«
Schnell hatte Julian feststellen müssen, dass mit Helen heute nicht vernünftig zu reden war. Deshalb hatte er das Gespräch nach wenigen Minuten beendet und sich vorgenommen, sie erst am nächsten Tag wieder anzurufen. Bis dahin würde sich ihre Aufregung hoffentlich gelegt haben.
Warum konnten sich Frauen beim Thema Baby eigentlich immer so begeistern? Sogar Helen, die sonst eher sachlich und kühl blieb, schien von der Geburt des Kleinen regelrecht hingerissen zu sein. Das musste wohl mit den vielzitierten weiblichen Hormonen zusammenhängen.
Grinsend schüttelte er den Kopf. Es war dringend Zeit für ein anderes, sachlicheres Thema.
Da ihm nichts Besseres einfiel, setzte er sich mit der Kaffeetasse in der Hand an den Besprechungstisch und studierte die Unterlagen, die dort ausgebreitet lagen. Bald schon hatte er sich in den ersten Fall vertieft.
Jürgen und Renate Bahrenbeck, beide Jahrgang 1944, hatten ein größeres Darlehen beantragt, das sie in eine neue Firma investieren wollten. Sie konnten sich sehr gute Chancen ausrechnen, im Zuge der Rückübertragung von verstaatlichtem Eigentum ihren ehemaligen Familienbetrieb, eine Gurkeneinlegerei, zurückzufordern.
Julian stutzte.
Gurkeneinlegerei.
Was für ein komisches Wort!
Das Ehepaar Bahrenbeck hatte ehrgeizige Pläne. Gemeinsam mit Tochter Kathrin (22 Jahre alt, Kauffrau und derzeit im elterlichen Betrieb beschäftigt) und den Eltern von Jürgen Bahrenbeck (beide Rentner) wollte die Familie die Fabrik von Grund auf sanieren und dann groß ins Geschäft mit Sauerkonserven einsteigen.
Julian seufzte leise. Saure Gurken aus dem Spreewald – langweiliger und provinzieller ging es ja wohl kaum!
Er legte die Papiere zur Seite und ging zum Waschbecken in einer Ecke des Zimmers, um den Rest Kaffee wegzuschütten und seine Tasse auszuspülen.
»Wir haben auch noch keine Küche«, hatte Frau Körner bei ihrem Rundgang gesagt und entschuldigend gelächelt. »Die kommt hoffentlich heute zusammen mit den anderen Möbeln aus Westdeutschland.«
Während er die Tasse unter den laufenden Wasserhahn hielt, warf er einen kurzen Blick in den Spiegel über dem Waschbecken. Die schlaflose Nacht war ihm kaum anzusehen. Seine blonden Haare lagen perfekt, die blauen Augen strahlten hell und wach, und seine Haut hatte immer noch den leichten Bronzeton vom letzten Urlaub auf Gran Canaria.
»Die Bahrenbecks sind da«, informierte ihn Frau Körner in diesem Moment.
In ihrer Stimme lagen Respekt und sogar ein wenig Bewunderung. Die Bahrenbecks waren eine alteingesessene, bekannte Familie im Spreewald, hatte sie ihm vorhin verraten. »Schon seit vielen Generationen machen die was mit Gurken.«
Julian hatte nur schwer ein Grinsen unterdrücken können. Der Gurken-Clan also. Geachtet und beliebt …
»Sie können reinkommen.«
Er stellte die Tasse beiseite, setzte ein geschäftsmäßiges Lächeln auf und drehte sich um.
Das Ehepaar Bahrenbeck stand bereits in der Tür. Herr Bahrenbeck, ein untersetzter Typ mit Geheimratsecken und viel zu großem Brillengestell, trug eine dunkle Hose und ein blaues Hemd, dessen Ärmel er sich bis zu den Ellbogen hochgekrempelt hatte. Es war ihm anzusehen, dass er sich in seiner Kleidung und vermutlich auch in dieser Umgebung nicht besonders wohl fühlte.
Ganz anders seine Frau, die Julian mit einem zurückhaltenden, aber freundlichen Lächeln begrüßte. Renate Bahrenbeck gab in ihrem grünen Sommerkleid eine gute Figur ab. Ihre kinnlangen, dunkelblonden Haare waren nur vereinzelt von grauen Strähnen durchzogen. Ihre Gesichtszüge waren ebenmäßig und attraktiv, und ihre sanften blaugrauen Augen waren in diesem Moment erwartungsvoll auf Julian gerichtet.
Er räusperte sich.
»Guten Morgen! Nehmen Sie doch bitte Platz.«
Danach arbeitete er die üblichen Gesprächsfloskeln ab, prüfte ausführlich die finanzielle Situation der Familie und stellte ihnen verschiedene Tilgungspläne vor. Dann kam er auf die bevorstehende Rückübertragung der enteigneten Fabrik zu sprechen.
»Die entsprechende gesetzliche Regelung wird in den nächsten Wochen erwartet. Ich denke, danach ist Ihr Fall nur noch reine Formsache.«
Renate Bahrenbeck nickte aufmerksam. »Ich habe alle erforderlichen Unterlagen für den Antrag zusammengesucht.« Sie deutete auf den schmalen Aktenordner in ihrer Tasche.
Julian atmete auf. Diese Frau dachte offensichtlich mit. Das Projekt würde ihn deshalb wohl nicht länger als nötig beschäftigen. Es gab weiß Gott interessantere Themen …
»Aber bei der Erstellung des Unternehmenskonzepts könnten wir Hilfe brauchen«, fuhr Frau Bahrenbeck fort. »So etwas haben wir noch nie gemacht.«
»Dann fragen Sie doch …« Julian blätterte in seinen Unterlagen. »Fragen Sie doch Ihre Tochter, ob sie Ihnen helfen kann!«
»Unsere Kathi?« Zum ersten Mal sagte jetzt Jürgen Bahrenbeck etwas. »Nee, die kann das nicht.«
»Aber sie hat doch eine entsprechende Ausbildung absolviert.«
»Das reicht leider nicht. Sie wissen doch selbst am besten, welche hohen Anforderungen Ihre Bank stellt.« Renate Bahrenbeck machte ein bekümmertes Gesicht. »Wir hatten gehofft, dass Sie uns unterstützen.«
»Natürlich tut er das«, kam Frau Körners Stimme von der Tür. Sie kam mit zwei Kaffeetassen ins Zimmer und stellte diese auf dem Besprechungstisch ab. »Zeit für eine kleine Pause! Milch und Zucker?«
»Nein danke«, sagte Renate Bahrenbeck. »Wir trinken den Kaffee schwarz.«
»Dieser junge Mann hier hat eine hervorragende Ausbildung genossen.« Frau Körner klopfte Julian auf die Schulter. »Und er wird sich sehr gern um Ihr Unternehmenskonzept kümmern, habe ich recht?«
Ihr Ton war immer noch freundlich, aber auch sehr bestimmt. Kurzzeitig überlegte Julian, ob er es trotzdem auf einen Widerspruch ankommen lassen sollte, entschied sich aber dagegen. Er wollte nicht gleich am ersten Tag eine Diskussion beginnen – erst recht nicht, wenn er die hierarchischen Verhältnisse hier in der Bank noch nicht richtig durchschaut hatte.
»Gern«, stimmte er deshalb ohne große Begeisterung zu.
»Fein!« Renate Bahrenbeck strahlte. »Wollen Sie später mit rauskommen und sich alles anschauen?«
»Wie … später? Aber … aber ich muss doch arbeiten.« Julian warf Frau Körner einen hilfesuchenden Blick zu.
Doch anscheinend hielt die Filialleiterin den Vorschlag für eine gute Idee. »Natürlich müssen Sie arbeiten«, sagte sie, fügte jedoch hinzu: »Aber gegen einen Außentermin an der frischen Luft ist doch gar nichts einzuwenden.«
»Ich habe diesen Tag eigentlich ganz anders geplant.«
»Ich weiß. Aber Sie werden noch lange genug hier herumsitzen, wenn erst alles komplett eingerichtet ist und die Computer funktionieren. Außerdem: Wenn später die Möbel kommen, sind Sie hier sowieso nur im Weg. Nutzen Sie deshalb die Chance und schauen Sie sich ein wenig bei uns im schönen Spreewald um!«
»Wir zeigen Ihnen alles«, versicherte Renate Bahrenbeck ihm mit einem fröhlichen Lächeln. »Heute passt es sehr gut, nicht wahr, Jürgen?«
»Hm?« Der Angesprochene blickte von seiner Kaffeetasse auf. Anscheinend hatte er gar nicht zugehört.
»Wir zeigen Herrn Albrecht heute den Hof und die Gurkenfelder«, wiederholte seine Frau geduldig. »Dann kann er sich einen ersten Eindruck verschaffen, wofür wir den Kredit brauchen.«
»Heute ist es aber ungünstig. Ich muss raus auf die Felder. Wegen der Aussaat, das weißt du doch.«
»Wenn das so ist, dann sollten wir den Ausflug lieber verschieben«, warf Julian hastig ein.
»Nichts da!«, widersprach Frau Bahrenbeck. »Mit der Aussaat sind die anderen bestimmt schon fertig, wenn wir zurückkommen.«
»Na dann …« Wieder klopfte Frau Körner Julian auf die Schulter. »Dann machen Sie sich mal einen schönen Tag, junger Mann!«
3
Liebe auf den ersten Blick – das geht über alle Erfahrung hinaus.
(Oscar Wilde)
Um kurz nach zwölf Uhr kamen Kathrin und Opa Paul von den Feldern zurück. Kathrin parkte den Traktor in der Scheune und schaltete den Motor aus. Trotz der Reparaturversuche vom Morgen hatte das Getriebe während der gesamten Fahrt merkwürdige Geräusche von sich gegeben. Das war ärgerlich und bedenklich zugleich, denn wenn das Fahrzeug kaputtging und nicht mehr zu reparieren war, würden sie ein neues kaufen müssen. Und das würde ein empfindliches Loch in ihre Kasse reißen.
Sie öffnete die Verkleidung des Motors und schaute ratlos auf die vielen Drähte und Schläuche. Sie hatte doch bereits alles überprüft. Woran konnte es bloß liegen?
»Pass auf deine Finger auf! Der Motor ist noch heiß«, warnte Opa Paul, nachdem er um einiges langsamer als seine Enkelin vom Traktor geklettert war.
»Ich weiß.« Mit einer ungeduldigen Bewegung rieb sich Kathrin die Nase und strich eine Haarsträhne aus ihrer Stirn. »So ein blödes Ding!«
Opa Paul lachte. »Jetzt hast du Ölflecken auf der Nase.«
»Na und? Es sieht ja keiner.«
»Da seid ihr ja! Das trifft sich gut.« Oma Elisabeth stand mit einem Albino-Kaninchen auf dem Arm im Scheunentor.
»Wieso trägst du Fridolin mit dir herum?«, wollte Opa Paul wissen.
»Weil er sich schon wieder im Gemüsegarten an den Kräutern zu schaffen gemacht hat. Ich nehme ihn gleich mit rein, da kann er wenigstens keinen Unsinn anstellen.«
»Hast du zufällig frischen Kaffee gekocht?«
Elisabeth nickte.
»Du bist die wunderbarste Frau der Welt, weißt du das eigentlich?«, flötete Opa Paul.
»Du brauchst dir gar keine Mühe zu geben. Der Kaffee ist nicht für dich, sondern für unseren Gast.«
Kathrin runzelte die Stirn. »Besuch? Den hat Mutti heute Morgen gar nicht erwähnt.«
»Das hat sich auch ganz kurzfristig ergeben. Sie hat vorhin von der Bank aus angerufen. Anscheinend ist ihr Gespräch dort gut gelaufen, und jetzt will sie dem Bankberater die Fabrik und die Felder zeigen.«
»Muss das sein?«
Kathrin ahnte bereits, dass die Betreuung des Beraters an ihr hängen bleiben würde. Ihre Mutter wusste zwar viel über Landwirtschaft, konnte jedoch nicht gut erklären. Und ihr Vater war fremden Menschen gegenüber immer extrem reserviert. Er würde sich mit diesem »Schlipsträger« sicherlich nicht abgeben.
»Ich glaube, das ist –«
Doch Oma Elisabeth kam nicht mehr dazu, ihre Einschätzung mit den anderen zu teilen, denn in diesem Moment fuhren im Hof zwei Autos vor: der graue Trabi von Kathrins Eltern und ein weißer Golf mit westdeutschem Kennzeichen.
Mit unverhohlener Neugier betrachtete Kathrin den fremden Wagen. Die Reifen waren breiter als gewöhnlich, das Auspuffrohr größer, die Fenster schwarz getönt, und an der Antenne baumelte ein Fuchsschwanz. Ein typisches West-Auto.
Blöde und protzig. Sie unterdrückte ein verächtliches Schnauben und folgte ihren Großeltern nach draußen.
Der Typ, der gerade aus dem Wagen stieg, wirkte genauso angeberisch wie sein Auto. Er trug einen hellen Anzug und eine schmale, weinrote Lederkrawatte. Seine blonden Haare waren sorgfältig nach hinten geföhnt, die Augen hinter der verspiegelten Sonnenbrille verborgen, und seine Gesichtsfarbe hatte exakt den dunklen Braunton, den die Haut immer dann annahm, wenn man den ganzen Tag faul in der Sonne liegen konnte. Viel zu intensiv und zu gleichmäßig, um von normaler, alltäglicher Bewegung an der frischen Luft zu kommen.
Alles in allem: der perfekte eingebildete Schnösel.
Solche Typen konnte Kathrin überhaupt nicht leiden. Üblicherweise hätte sie ihn auch keines Blickes mehr gewürdigt. Aber leider lag der Fall diesmal anders – schließlich war ihre Familie auf die Hilfe der Bank angewiesen. Also musste sie sich wohl oder übel zusammennehmen.
Sie strich sich noch einmal die Haare aus der Stirn und zog ihre Bluse zurecht. Dann schob sie ihre Hände in die Hosentaschen, hob den Kopf ein wenig höher als nötig und setzte einen betont freundlichen Gesichtsausdruck auf.
»Willkommen auf unserem Hof!« Renate Bahrenbeck trat zu Julian ans Auto.
»Es ist nett hier«, stellte er anerkennend fest.
Seine Behauptung war nicht nur höflich gemeint. Die Landschaft mit ihren saftig grünen Auen, den kleinen Wäldern und den vielen Feldern gefiel ihm tatsächlich. Auch der Hof der Bahrenbecks schien idyllisch zu sein: ein zweistöckiges Wohnhaus mit einem großen Gemüsegarten, eine Blumenwiese mit Obstbäumen und eine riesige alte Scheune. Ein Hahn stolzierte mit seinen Hühnern Richtung Feld, und in der Luft hing der Duft nach Mist und frisch gemähtem Gras.
Erst auf den zweiten Blick bemerkte Julian zahlreiche Risse im Mauerwerk und einige ausgebesserte Stellen an Fenstern und Türen. Auch das Dach der Scheune war anscheinend schon mehrmals geflickt worden. Zwar war alles sauber und aufgeräumt, doch über den schlechten Zustand der Gebäude konnte das nicht hinwegtäuschen. Kein Wunder, dass die Familie Bahrenbeck dringend Geld benötigte!
Renate zeigte auf ein älteres Ehepaar, das sich ihnen langsam näherte. »Das sind meine Schwiegereltern, Paul und Elisabeth Bahrenbeck.« Sie winkte die beiden zu sich heran. »Das ist Herr Albrecht von der Bank. Er will sich unbedingt mal unseren Hof und die Felder anschauen.«
Hatte sie gerade unbedingt gesagt? Wohl eher gezwungenermaßen! Trotzdem nickte Julian und lächelte freundlich.
Paul und Elisabeth grüßten schüchtern zurück. Beide hatten graue Haare und rosige, wettergegerbte Gesichter. Die ältere Dame trug einen bunten Arbeitskittel und hatte ein Kaninchen auf dem Arm. Auch ihr Mann war zweckmäßig gekleidet: Jeans, grüner Pulli und Strohhut, alles leicht zerknittert.
»Und da kommt ja auch Kathrin«, bemerkte Renate.
Julian folgte ihrem Blick.
Die junge Frau schlenderte ohne große Eile auf die Autos zu, die Hände in den Hosentaschen vergraben.
Sie ähnelte ihrer Mutter, allerdings war sie größer als diese, und ihre Gesichtszüge waren nicht ganz so weich und ebenmäßig. Auch ihre Kleidung wirkte wesentlich lässiger. Ihre Beine steckten in Jeans und grünen Gummistiefeln, die blaue, kurzärmelige Bluse war an den Rändern ausgefranst, und ihr Gesicht war mit schwarzen Flecken übersät. Dazu braune, lange Haare, die zu einem unordentlichen Zopf geflochten waren, und klare, grüne Augen, die ihn kühl und distanziert musterten.
Jetzt verzog sie ihren Mund zu einem Lächeln – doch falls das ein freundlicher Gesichtsausdruck werden sollte, so misslang er ihr gründlich.
»Hi!«, brummte sie kurz angebunden und mit überraschend tiefer Stimme.
Er konnte sich die offensichtliche Abneigung zwar nicht erklären, beschloss aber, ihr Verhalten zu ignorieren. Stattdessen schob er die Sonnenbrille in seine Haare zurück und streckte die rechte Hand aus. »Hallo! Schön, Sie kennenzulernen.«
»Ja, ja.« Ihr Blick blieb kurz an seinen Augen hängen, dann betrachtete sie seine Krawatte und übersah dabei geflissentlich die höfliche Geste.
»Ist Ihnen heute schon ein Farbeimer explodiert?«, fragte er und deutete auf Kathrins verschmutztes Gesicht.
»Nö.« Ihre Miene verfinsterte sich. Aber zumindest schüttelte sie jetzt doch seine Hand. »Das ist Motoröl«, erklärte sie dabei. »Wenn man das mal abgekriegt hat, ist es schnell überall. Übrigens jetzt auch an Ihren Fingern.«
Hastig zog Julian seine Hand zurück und betrachtete stirnrunzelnd die Ölflecken auf seiner Haut. Er war sich mit einem Mal ziemlich sicher, dass sie das absichtlich gemacht hatte.
»Also wirklich, Kathrin!«, rief Renate Bahrenbeck. »Wie gedankenlos von dir!«
»Tut mir leid. Mit viel Spülmittel geht das wieder ab, keine Sorge.«
»Sie können sich im Haus die Hände waschen«, schlug Renate vor. Das Verhalten ihrer Tochter schien ihr peinlich zu sein. »Und dann machen wir einen Rundgang über den Hof. Nach dem Mittagessen kann Kathi Ihnen den Rest zeigen.«
»War ja klar«, murmelte Kathrin.
»Mittagessen?« So lange wollte Julian eigentlich gar nicht bleiben.
»Natürlich. Sie haben doch gehört, was Frau Körner gesagt hat. Sie sollen sich einen schönen Tag bei uns im Spreewald machen. Ein gutes Mittagessen gehört dazu.« Renate drehte sich zu ihrer Schwiegermutter um. »Wir haben doch genug, nicht wahr?«
»Aber sicher.«
»Oh, äh … danke!« Julian gab sich angesichts der ehrlichen Gastfreundschaft der Familie Bahrenbeck geschlagen.
»Na, dann kommen Sie mal herein!«
Renate hakte sich bei ihrem Mann unter und deutete den anderen an, ihr zu folgen. Paul und Elisabeth machten sich ebenfalls auf den Weg ins Haus. Das Schlusslicht bildeten Kathrin und Julian.
Ein sehr schweigsames Schlusslicht.
»Was gibt es denn zu essen?«, fragte er, um die Stille zu überbrücken.
Kathrin blieb stehen. Ein teuflisches Grinsen umspielte ihren Mund. »Was schon?«, brummte sie. »Haben Sie das Kaninchen auf dem Arm meiner Großmutter nicht gesehen?«
»Und Sie haben wirklich geglaubt, dass wir den armen Fridolin braten?« Elisabeth Bahrenbeck nahm ihre Brille ab und wischte sich die Lachtränen aus den Augen.
»Na ja«, meinte Julian und legte seinen Löffel beiseite. »Ich hatte keinen Grund, das nicht zu glauben, oder? Sie sind mit dem Tier geradewegs in die Küche spaziert, und danach habe ich ihn nicht mehr gesehen.«
»Fridolin ist unser einziges Haustier. Absolut zahm, aber leider auch sehr verfressen. Wir sperren ihn gern mal im Haus ein, damit er nicht unseren Gemüsegarten plündert.«
»Und ich habe mich schon gewundert, warum Sie den Eintopf auf Ihrem Teller so kritisch untersucht haben.« Renate schüttelte lächelnd den Kopf.
»Die Schmorgurken waren köstlich«, versicherte Julian ihr. »Gerade die richtige Mischung aus süß und sauer. Ich liebe diese einfachen Gerichte.«
Oma Elisabeth lief vor Freude rot an. »Danke!«
Kathrin knüllte ihre Papierserviette zusammen und unterdrückte eine spitze Bemerkung.
Ich liebe diese einfachen Gerichte.
So ein Schleimer!
Und überhaupt: Einfaches Gericht?
Hatte er eigentlich eine Ahnung davon, wie viel Zeit es kostete, die Gurken zu schälen, klein zu schneiden, den Speck und die Zwiebeln zu würfeln und alles auf kleiner Flamme langsam garzuschmoren? Ganz zu schweigen von den Kartoffeln, die man zeitgleich zubereiten musste.
Oder – was in ihren Augen noch schlimmer wäre – setzte er etwa einfach mit billig gleich?
Sicher, die Gurken und die Kartoffeln waren aus eigener Ernte und hatten deshalb kaum Geld gekostet. Dafür aber viel Arbeit! Doch was wusste dieser Stadtbewohner schon von den Mühen der Landwirtschaft? Sein Essen kam vermutlich fein säuberlich verpackt aus dem Tiefkühlregal eines Supermarkts und trug so Namen wie »Nasi Goreng« oder »Chili con Carne«.
»Jetzt gibt es Nachtisch.« Ihre Großmutter stellte eine Schüssel mit eingemachten Birnen auf den Tisch.
»Ich möchte nicht mehr, danke!« Kathrin schob den Teller beiseite. Vor lauter Ärger war ihr der Appetit vergangen.
»Hast du dir schon eine Tour zurechtgelegt für heute Nachmittag?«, wollte ihr Vater wissen.
»Nö.«
»Am besten fängst du an der Fabrik an und fährst dann durch die Gurkenfelder zum Gutshof.«
»Gutshof?«, wiederholte Julian Albrecht.
»Alter Familienbesitz«, antwortete Paul Bahrenbeck knapp, aber nicht ohne Stolz. »Steht leer. Leider zu groß und zu teuer im Unterhalt.«
»Warum muss ich ihm denn das Gut zeigen?«, maulte Kathrin. »Das steht doch momentan gar nicht zur Diskussion.«
»Doch. Wenn es zu Ihren Vermögenswerten gehört, kann es eventuell als Sicherheit für das Darlehen herangezogen werden«, erklärte Julian ihr.
»Niemals!« Kathrin sprang auf.
Jetzt gab sie sich keine Mühe mehr, ihre schlechte Laune zu verbergen. Sie fühlte sich persönlich getroffen. Der alte Gutshof war ihr Schatz. Ihr Rückzugsort. Ihr Märchenschloss. Das ließ sie sich von keinem nehmen!
Julian schenkte ihr ein gönnerhaftes Lächeln. »Was beliehen wird und was nicht, das müssen Sie schon mir und der Bank überlassen.«
»Ach wirklich? Also echt, ich finde das …«
Ein warnender Blick ihrer Mutter brachte Kathrin zum Schweigen. Missmutig verschränkte sie die Arme vor der Brust, ließ sich auf ihren Stuhl zurückfallen und beobachtete das muntere Treiben am Tisch mit mürrischem Gesichtsausdruck.
»Wollen wir mein Auto nehmen?«, fragte Julian, nachdem er den Nachtisch aufgegessen hatte. Auffallend langsam und viel zu genießerisch für ihren Geschmack. Das hatte er sicherlich extra gemacht.
»Haben Sie keine Angst, dass Ihr toller Wagen schmutzig wird? Wäre schade um die breiten Reifen. Die Wege über unsere Felder sind stark verschmutzt.«
»Das lassen Sie mal mein Problem sein. Schließlich gibt es auch hier so etwas wie Waschstraßen, oder?«, antwortete er und sah ihr dabei direkt in die Augen.
»Kann sein.«
Verlegen schaute sie zu Boden. Sie ärgerte sich furchtbar darüber, dass sie seinem Blick nicht standhalten konnte. Aber irgendetwas in seinem Gesicht machte sie nervös, und dummerweise erkannte sie ausgerechnet in diesem Moment den Grund dafür.
Es waren seine Augen.
Die waren wirklich außergewöhnlich – strahlend blau, fast türkisfarben, und mit einem Ausdruck, der längst nicht so arrogant wirkte, wie der Rest von ihm es vermuten ließ. Sondern warm und irgendwie faszinierend. Was übrigens auch für seine dunkle, wohlklingende Stimme galt …
Ärgerlich rief sie sich zu Vernunft. Warum machte sie sich eigentlich Gedanken über seine Augen und den Klang seiner Stimme? Auch die würden sie nicht dazu bringen können, nett zu ihm zu sein.
Sein plötzliches Auftauchen hatte ihre Tagesplanung durcheinandergebracht. Eigentlich hatte sie sich um den kaputten Traktor kümmern wollen. Maik hätte ihr sicherlich gern dabei geholfen, er war schließlich Mechaniker. Und außerdem immer noch in sie verliebt, wie er ihr schon mehrmals versichert hatte.
Zuletzt gestern Abend.
»Wollen wir?« Julian erhob sich.
»Von mir aus.«
Je eher sie loskamen, umso schneller waren sie wieder zurück. Vielleicht konnte sie sich danach ja noch mit Maik treffen.
Den ganzen Nachmittag über blieb Kathrin Bahrenbeck auf Distanz und redete nur das Nötigste.
Das war zwar nicht gerade wenig, denn bei ihrer Rundfahrt gab es einiges zu zeigen und zu erklären. Darüber hinaus jedoch konnte Julian ihr weder eine private Bemerkung noch ein Lächeln entlocken.
Am Ende ignorierte er ihr Verhalten, so gut er konnte. Von so einer mürrischen Ossine ließ er sich doch nicht seine gute Laune verderben! Stattdessen lauschte er ihren Ausführungen, die überraschenderweise interessant waren, und vergnügte sich ansonsten damit, sie ab und zu von Kopf bis Fuß zu mustern. Das lohnte sich durchaus.
Als Erstes hatte sie ihn durch die leeren Hallen der Gurkenfabrik geführt. »Seit einem halben Jahr stehen die Maschinen still«, hatte sie erzählt. »Wir hoffen, dass sich das bald wieder ändern wird.«
Dann waren sie zu den Gurken- und Kräuterfeldern gefahren – endlos erscheinende, sonnenbeschienene Flächen, auf denen es intensiv nach Dill, Lauch und nasser Erde roch. »Warum so viele Kräuter?«, hatte Julian wissen wollen.
»Jeder Landwirt im Spreewald hat sein eigenes Rezept für das Einlegen der Sauerprodukte, und Kräuter sind dabei die wichtigste Zutat.«
»Haben Sie auch so ein Familienrezept?«
»Natürlich.«
Nach dieser kurzen Antwort hatte sie sich wieder ins Auto gesetzt. »So, nun noch der alte Gutshof, und dann sind wir fertig.« Die Erleichterung über das bevorstehende Ende ihres Ausflugs war ihr deutlich anzusehen.
Julian folgte ihr und startete den Wagen.
Er hatte nur unklare Vorstellungen davon, was ihn auf dem Hof erwartete. Vermutlich ein verfallenes Gebäude, das seine besten Zeiten längst hinter sich hatte, auch wenn das die Familie Bahrenbeck nicht wahrhaben wollte.
Doch als sie jetzt über eine lange Allee fuhren, die auf beiden Seiten von hohen Birkenbäumen gesäumt war, konnte er seine Überraschung nicht verbergen.
»Das nenne ich ja mal eine imposante Anfahrt!«
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