Weibersommer - Heike Wanner - E-Book
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Weibersommer E-Book

Heike Wanner

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Beschreibung

Die drei Cousinen Lisa-Marie, Marie-Luise und Anne-Marie haben nicht viel gemeinsam − nur den Namen Marie, den sie von ihrer geliebten Großmutter bekommen haben. Doch als sie einen Bauernhof im Allgäu erben, machen sich die drei Frauen in einem alten VW-Käfer auf den Weg. Enthusiastisch tauschen sie ihre Stöckelschuhe gegen Gummistiefel und merken bald: Ein Bauernhof macht noch keine drei Freundinnen. Erst ein kleines Bündel Briefe, die von einer außergewöhnlichen Liebe erzählen, zeigt den drei Maries, wie schön so eine "Familienbande" sein kann, und offenbart ein streng gehütetes Familiengeheimnis.

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Das Buch

Nur auf den inständigen Wunsch ihrer Mütter nehmen Lou, Anne und Lisa-Marie einmal im Monat am Familien-Kaffeekränzchen teil. Denn eigentlich haben sich die drei erwachsenen Frauen nicht viel zu sagen, so unterschiedlich sind sie: Lou, erfolgreiche Innenarchitektin mit Eigentumswohnung in der Innenstadt, schüttelt immer wieder den Kopf über ihre dauergestresste Schwester Anne – warum musste die sich auch drei Kinder zulegen? Und die verträumte Buchhändlerin Lisa-Marie ist bei ihrer Suche nach dem passenden Mann einfach viel zu wählerisch, glauben ihre Cousinen. Doch als die drei Frauen erfahren, dass sie einen Bauernhof im Allgäu geerbt haben, packen sie die Sache gemeinsam an. Zwischen Misthaufen und Hühnerstall geraten sie sich natürlich mehrfach in die Haare, aber zum Glück sind da noch die weise Schwester Bonaventura vom nahegelegenen Ursulinen-Kloster und der junge Anhalter Jo, der sich als äußerst nützlich erweist, wenn es ums Holzstapeln geht.

Und als die Cousinen beim Aufräumen ein Bündel alter Briefe entdecken, kommen sie der Geschichte einer ungewöhnlichen Liebe und einem alten Familiengeheimnis auf die Spur – das ihr Leben verändern wird …

Die Autorin

Heike Wanner, geboren 1967, arbeitet als Angestellte bei einer Fluggesellschaft und lebt in der Nähe von Frankfurt. Sie ist verheiratet und hat einen Sohn.

Weitere Informationen finden Sie unter: www.heike-wanner.de

Von Heike Wanner sind in unserem Hause bereits erschienen:

Frauenzimmer frei

Für immer und eh nicht

Der Tod des Traumprinzen

Heike Wanner

Weibersommer

Roman

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:

www.ullstein-taschenbuch.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch 1. Auflage Februar 2013 © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2013 Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Titelabbildung: © Finepic® (Blüten), © plainpicture / Arcangel (Tasse), © plainpicture / Stockwerk / Stephan Goettlicher (Blüten und Fenster), © plainpicture / Etsa (Tischdecke) Satz und eBook: Pinkuin Satz und Datentechnik, BerlinISBN 978-3-8437-0358-1

Für alle Mütter, Tanten und Cousinen dieser Welt – und ganz besonders für meine eigenen.

PROLOG: PETERSTAL / MASUREN, VORVIELEN JAHREN

Liebe auf den ersten Blick?

Nein, Marie Thune glaubte nicht daran.

Erstens war sie viel zu vernünftig für solche Gefühle. Ihrer Meinung nach war diese Art von Liebe eine Erfindung von Romantikern, die ihre kitschigen Gedanken in stundenlangen nächtlichen Sitzungen mühevoll zu Papier brachten.

Zweitens war sie schon seit ihrer frühen Kindheit stark kurzsichtig. Für sie blieben fremde Gesichter so lange verschwommen, bis die dazugehörigen Menschen nahe genug vor ihr standen. Wie sollte sie sich also auf Anhieb in einen unbekannten Mann verlieben, wenn sie ihn noch nicht einmal richtig sehen konnte?

Natürlich hätte sie ihre Brille aufsetzen können, doch dazu war sie zu eitel. Dieses blöde Drahtgestell mit den dicken Gläsern verunstaltete nicht nur ihr Gesicht, sondern drückte auch schmerzhaft auf die Nasenflügel. Nein, sie lief außerhalb der Schule lieber ohne Brille durch die Welt. Die Menschen in Peterstal hatten sich längst daran gewöhnt, dass ihre Dorflehrerin sie auf der Straße nicht erkannte, und riefen ihr deshalb immer schon von weitem einen Gruß zu.

Fremde kamen so gut wie nie in den winzigen Ort. Er lag abgeschieden inmitten saftiger Wiesen zwischen den kristallklaren Seen und den dunkelgrünen Wäldern der Masurischen Seenplatte. Gut drei Dutzend Bauernhöfe schmiegten sich eng an die Dorfkirche, deren schwarzer Holzturm die umgebenden Dächer hoch überragte. Gleich nebenan strahlte das Pfarrhaus mit seinem weißen Putz, den verklinkerten Fenstern und dem üppig blühenden Vorgarten eine friedliche Gemütlichkeit aus, die sich auf das ganze Dorf und seine Bewohner zu übertragen schien. Die kriegerischen Ereignisse im Rest von Europa schienen weit entfernt und ohne Belang zu sein.

Nur abends, wenn Marie am großen Tisch in der Wohnstube die verhasste Brille auspackte und Schularbeiten korrigierte, hörte sie manchmal die lauten Stimmen aus dem Volksempfänger, die sich angesichts der neuesten Entwicklungen vor Aufregung fast überschlugen. Der Rest ihrer Familie lauschte diesen Reportagen mit sorgenvoller Miene, doch Marie hatte es sich angewöhnt, die Berichte so weit wie möglich auszublenden.

Ärgerlicherweise gelang ihr das nicht immer, auch wenn sie sich noch so intensiv auf die Korrekturen konzentrierte.

Aber das war auch schon der einzige Störfaktor in ihrem sonst so beschaulichen Leben.

Zum absoluten Glück fehlte Marie eigentlich nur noch der richtige Mann. Leider kam keiner der Männer aus Peterstal für sie in Frage. Entweder waren sie schon vergeben, hatten sich zur Wehrmacht gemeldet, oder sie waren so dumm oder hässlich, dass selbst Maries Kurzsichtigkeit sie nicht schönzeichnen konnte.

Doch dann kam der Nachmittag Ende Mai, an dem sich Maries kleine heile Welt für immer ändern sollte.

Sie war auf dem Weg von der Schule nach Hause und ließ sich wie üblich Zeit. Langsam schlenderte sie am Pfarrhaus vorbei und sog genüsslich den Duft von frisch gemähtem Gras ein. Am Himmel zogen Mauersegler ihre Kreise. Zwar konnte Marie sie nicht sehen, weil sie viel zu hoch flogen, aber ihr aufgeregtes Kreischen war nicht zu überhören. Träumerisch bog sie auf die Dorfstraße ab. Sie liebte diese Jahreszeit, wenn der Frühling langsam dem Sommer Platz machte und alles noch frisch, saftig und grün war.

In diesem Moment quietschten Bremsen, und ein Mofafahrer in Wehrmachtsuniform kam gerade noch knapp vor ihren Füßen zum Stehen. Marie hüpfte erschreckt zur Seite.

»Ach du liebe Güte!« Der Mann sprang vom Moped und nahm seinen Helm ab. »Ist Ihnen etwas passiert?«

Marie schüttelte den Kopf und kniff die Augen zusammen, um ihr Gegenüber besser betrachten zu können.

»Wie leichtsinnig, einfach auf die Straße zu rennen! Haben Sie mich denn nicht gehört oder gesehen?« Seine tiefe Stimme hatte trotz der Aufregung einen so angenehmen Klang, dass Marie mit einem Mal eine Gänsehaut bekam.

»Nein«, antwortete sie wahrheitsgemäß und trat noch einen Schritt näher an das Motorrad. Sie musste wissen, wem diese wunderschöne Stimme gehörte.

»Nein?« Der Mofafahrer schob sich die Schutzbrille auf die Haare. Der forschende Blick seiner moosgrünen Augen traf Marie mit voller Wucht. Ihr Herz begann, schneller zu klopfen.

»Ich … äh … also …«, stammelte sie und klappte ihren Mund überrascht wieder zu. Es kam nur selten vor, dass sie nichts Vernünftiges herausbrachte.

»Wohl in Gedanken woanders gewesen, was?« Das Gesicht mit den wunderschönen grünen Augen verzog sich zu einem jungenhaften Lächeln.

»Sozusagen. Ich habe den Mauerseglern beim Fliegen zugehört.« Obwohl das der Wahrheit entsprach, merkte Marie selbst, wie seltsam das klang.

Die Reaktion des Mannes fiel entsprechend belustigt aus. »Fliegen sie heute denn besonders laut?«, wollte er wissen und blickte prüfend Richtung Himmel.

»Kann schon sein«, murmelte Marie.

Er lachte. »Das müssen sie wohl, denn Sie haben ja nicht einmal meine Hupe gehört.«

»Tut mir leid.«

»Ist schon gut. Darf ich wissen, wer mir vors Mofa gelaufen ist?«

»Ich heiße Marie.«

»Marie?«, fragte er überrascht. »Was für ein schöner Zufall!«

»Warum? Heißen Sie auch Marie?« Sofort biss sich Marie auf die Lippen. So eine dumme Frage!

Er grinste. »Nein, natürlich nicht. Aber ich interessiere mich für Naturkunde, besonders für Insekten und ganz speziell für Marienkäfer.«

»Marienkäfer?«

»Ja. Hier in Masuren gibt es sehr viele Käfer. Sie lieben das Moor und die Wiesen. Das ist also ein idealer Standort für ein paar Untersuchungen.«

Verstohlen musterte Marie seine Uniform. »Eine ziemlich ungewöhnliche Beschäftigung für einen Soldaten.«

»Auch Soldaten haben mal Urlaub.«

»Bleiben Sie länger hier?«

»Leider nicht. Nur vierzehn Tage, dann muss ich zurück zu meiner Einheit nach Allenstein.«

»Das ist nicht weit von hier entfernt«, stellte Marie fest und wunderte sich, dass diese Tatsache sie froh machte.

Er nickte. »Mit dem Motorrad sind es gerade einmal zwei Stunden. Ich denke, ich werde im Sommer wohl öfter vorbeikommen. Pfarrer Simoneit ist ein alter Freund meines Vaters.«

»Aha«, murmelte Marie zerstreut. Was war bloß heute mit ihr los?

»Wir werden uns bestimmt häufiger treffen.«

»Äh … ja. Wahrscheinlich.« Sie tastete mit der Hand nach dem Motorradlenker, um sich festzuhalten, denn unter seinem Blick wurde ihr schwindelig.

»Ist Ihnen nicht gut?« Er legte seine Hand vorsichtig unter ihren Arm, um sie zu stützen.

»Doch, doch«, versicherte Marie. Als er daraufhin jedoch seine Hand von ihrem Arm nahm, fügte sie mit einem schüchternen Lächeln hinzu: »Obwohl – vielleicht ist mir doch ein wenig flau im Magen.«

Sofort ergriff er wieder ihren Ellenbogen. »Darf ich Sie nach Hause begleiten?«

Marie schlug die Augen nieder, unfähig, etwas zu sagen. Die Wärme seiner Finger brannte auf ihrer Haut. Diese Art von Feuer war völlig neu für sie – und es gefiel ihr. Erschreckt von ihren eigenen Gedanken räusperte sie sich. »Gern, Herr …? Ich weiß immer noch nicht, mit wem ich das Vergnügen habe.«

»Mein Name ist Johann Zabel.«

»Johann«, hauchte Marie und sah zu ihm auf. Als sich ihre Augen trafen, durchzuckten Marie zwei Erkenntnisse gleichzeitig.

Erstens: Es gab sie doch, die Liebe auf den ersten Blick. Dies hier war der beste Beweis dafür. Denn sie hatte sich soeben unsterblich in Johann Zabel verliebt.

Und zweitens: Johann schien es ähnlich zu ergehen.

Aber war das nicht schrecklich unvernünftig?

DORTMUND, IM APRIL 2010

1

An jedem zweiten Mittwoch im Monat trafen sich die weiblichen Nachkommen der Familie Zabel zum Kaffeeklatsch.

Seit fast vierzig Jahren schon hielten die Zwillingsschwestern Katharina und Helene, geborene Zabel, an dieser Tradition fest. Zu Anfang, in den siebziger Jahren, hatten die beiden Frauen allein am Küchentisch gesessen, Kaffee getrunken und trockenen Streuselkuchen gegessen, während ihre Töchter im benachbarten Kinderzimmer miteinander spielten.

Im Laufe der Jahre wandelte sich das Bild. Zuerst zogen die Schwestern aus der Küche an den wesentlich gemütlicheren Esstisch ins Wohnzimmer. Dann wechselten sie, der Gesundheit zuliebe, von koffeinhaltigem zu koffeinfreiem Kaffee und verfeinerten ihre Backkünste: Phantasievolle Kreationen wie Donauwelle oder Philadelphia-Torte ersetzten das langweilige Gebäck. Und schließlich brachten sie ihre inzwischen erwachsenen Töchter mit mehr oder weniger liebevollem Druck dazu, sich an den Treffen zu beteiligen. So wuchs die Runde nun auf fünf Personen: Neben Katharina und Helene würden auch Lisa-Marie, Lou und Anne in Zukunft regelmäßig am Kaffeetisch Platz nehmen.

Aber die Mädchen stellten Bedingungen für ihre Teilnahme. Sie legten die Dauer des Zusammenseins auf zwei Stunden fest. Offiziell, weil sie durch ein ausgefülltes Berufs- und Privatleben leider nicht mehr Zeit erübrigen konnten. Der eigentliche Grund war jedoch, dass ihnen nach spätestens zwei Stunden der Gesprächsstoff ausging. Was hatten sich drei so unterschiedliche Frauen schon großartig zu erzählen?

Als Nächstes überzeugten sie ihre Mütter, dass die Treffen ab jetzt regelmäßig im Wechsel von der jüngeren Generation ausgerichtet werden müssten. Die Gastgeberin selbst sollte nur den Kaffeetisch und die Getränke bereitstellen. Für den Kuchen müssten die Gäste sorgen – ebenfalls im Wechsel.

»›Rotation‹ ist das Zauberwort«, erklärte die tüchtige Lou ihren weiblichen Verwandten. »Dadurch hat nicht eine von uns die ganze Arbeit.«

»Apropos Arbeit: Wir können uns nur mittwochs treffen«, verlangte Lisa-Marie, die Buchhändlerin. »Das ist der einzige Wochentag, an dem mein Laden nachmittags geschlossen ist.«

»Und wenn wir bei mir sind, muss ich vorher meine Kinder wegsperren«, sagte Anne besorgt. »Sonst haben wir keine ruhige Minute.«

»Aber Anne, das ist nun wirklich übertrieben!«, wies Helene ihre Tochter zurecht.

»O nein, bestimmt nicht!«

»Meine Enkelkinder sind doch so lieb!«

»Zu dir vielleicht …«

»Können wir bitte auf das eigentliche Problem zurückkommen?«, fragte Lou, die immer sehr schnell ungeduldig wurde.

»Die Kinder sind mein eigentliches Problem.«

»Dann hättest du nicht so früh gleich drei in die Welt setzen sollen.«

Anne zuckte mit den Schultern und schwieg. Es hatte keinen Sinn, mit ihrer Schwester über Kinder zu diskutieren. Lou nahm ihr Schweigen als Zustimmung und lächelte zufrieden.

»Thema beendet. Zurück zum Rotationsprinzip. Seid ihr damit einverstanden?«

Alle nickten, doch Katharina und Helene sahen dabei nicht besonders begeistert aus. Aber sie fügten sich den Wünschen ihrer Töchter. Hauptsache, man traf sich regelmäßig!

An einem frühlingshaften Mittwoch im April 2010 war Lisa-Marie an der Reihe, das Treffen auszurichten. Eigentlich hätte sie sich damit begnügen können, den Tisch zu decken und Kaffee zu kochen. Ihre Cousinen Lou und Anne würden jeweils einen Kuchen mitbringen. Doch Lisa-Marie hielt sich nicht an die Rotationsregel. Dazu kochte und backte sie viel zu gern – und auch viel zu gut.

Außerdem hatte sie in einem gerade erschienenen Backbuch ein leckeres Rezept für eine locker-leichte Frühlingstorte gefunden, das sie unbedingt ausprobieren musste. Die Tischdekoration wollte sie farblich passend zur Jahreszeit in Grün und Gelb gestalten. Ein großer Strauß Narzissen stand bereits auf dem Esstisch. Um Geschirr, Servietten und Kerzen musste sie sich später noch kümmern.

Gerade werkelte sie fröhlich pfeifend in ihrer kleinen, sehr ordentlichen Küche herum und studierte das Ende des Kuchenrezeptes. »Zum Schluss die Torte dick mit Puderzucker bestäuben und mit den Marzipanblumen verzieren.«

Sorgfältig verteilte sie den Puderzucker auf dem Kuchen und setzte zwölf kleine Marzipantulpen dazu. Dabei achtete sie genau darauf, sie gleichmäßig am Rand zu verteilen, so dass jedes Kuchenstück später seine eigene Tulpe haben würde. Danach trat sie einen Schritt zurück und betrachtete ihr Werk.

»Perfekt«, flüsterte sie und nickte zufrieden. Im selben Moment klingelte das Telefon. Schnell wischte sie sich die Hände am Küchentuch sauber und trat vor die Holzkommode im Flur, auf der das Telefon stand. »Abraham.«

»Hier auch«, erklang die Stimme ihrer Mutter. »Was machst du gerade? Das hat ja ewig gedauert, bis du den Hörer abgenommen hast.«

»Ich habe eine Torte dekoriert.«

»Du bereitest eine Torte vor? Damit verstößt du aber gegen Lous Rotationsprinzip.« Sie sprach das letzte Wort betont langsam und spöttisch aus.

»Ich weiß. Na und? Bislang habt ihr alle meine Torten gern gegessen, egal, ob ich mit Backen dran war oder nicht.«

»Was gibt es denn Gutes?«

»Eine Marzipan-Mandarinen-Quark-Torte.«

»Das klingt lecker, bis auf das Marzipan. Eigentlich mag ich kein Marzipan, das weißt du doch!«

»Natürlich weiß ich das.« Lisa-Marie warf einen prüfenden Blick in den Spiegel über der Kommode und begann, sich Spuren von Puderzucker aus dem Gesicht zu wischen. »Aber nur die Dekoration auf der Torte ist aus Marzipan. Die kannst du vorher entfernen und Tante Helene geben.«

»Wegen der rufe ich an. Ich wollte dich nämlich daran erinnern, dass du für Tante Helene den bequemen Sessel bereitstellst. Nach ihrer Hüftoperation kann sie noch nicht so gut sitzen.«

»Bist du sicher? Als ich sie letzten Sonntag besucht habe, fühlte sie sich auf ihrem Küchenstuhl recht wohl.«

»Ach was! Helene hat ein Talent dazu, ihre Schmerzen zu verbergen. Das war schon immer so, ich kenne doch meine Schwester.«

»Anne sagt aber, dass sie sich erstaunlich schnell von der Operation erholt hat.«

»Anne kann das gar nicht beurteilen.«

»Immerhin ist sie Tante Helenes Tochter und zufällig auch noch ausgebildete Krankenschwester. Ich glaube schon, dass sie beurteilen kann, wie es ihrer Mutter geht, meinst du nicht?«

»Aber ich bin ihre ältere Schwester.«

»Ganze zehn Minuten älter.«

»Deshalb kenne ich sie ja auch so gut. Wir waren schon im Mutterleib miteinander verbunden.«

Bei diesem Argument musste Lisa-Marie wie immer passen. Sobald Tante Helene oder ihre Mutter sich auf ihre gemeinsame Zeit im Mutterleib beriefen, war jeder weitere Einwand zwecklos.

»Also gut, Tante Helene hat Schmerzen«, beendete sie die Diskussion. »Ich werde den Sessel für sie hinstellen. Sonst noch etwas?«

»Nein. Wir sehen uns ja gleich, da können wir alles andere besprechen. Dafür müssen wir jetzt nicht mein Geld verschwenden.«

»Du hast eine Flatrate.«

»Und du hast eine Torte, um die du dich kümmern musst.«

»Nicht nur das. Ich muss außerdem noch den Tisch decken und mich ein wenig frisch machen.«

»Also, dann hast du ja noch einiges zu tun. Wir sehen uns später!« Damit beendete Katharina das Gespräch.

Schmunzelnd kehrte Lisa-Marie in die Küche zurück und begann aufzuräumen. Sie freute sich auf den heutigen Nachmittag, auch wenn es beim Kaffeetrinken nicht immer ruhig und friedlich zuging. Katharina, Helene, Anne und Lou waren Lisa-Maries engste Verwandte. Sie hatte nie geheiratet, obwohl es immer mal wieder Männer in ihrem Leben gab. Doch diese Bekanntschaften kamen und gingen – während ihre Familie für immer blieb.

Lisa-Maries Blick fiel auf das unterste Foto an der Pinnwand. Es war im letzten Advent in ihrem Wohnzimmer aufgenommen worden und zeigte die Kaffeeklatsch-Runde in harmonischer Eintracht um einen weihnachtlich dekorierten Tisch. Lisa-Marie hatte das Bild eigentlich nur gemacht, um ihre selbstgebastelte Dekoration zu verewigen.

Doch nicht nur die kleinen Nikoläuse aus getrockneten Pflaumen und Walnüssen grinsten fröhlich um die Wette, auch die Gäste waren gut getroffen.

Ihre Mutter Katharina und Tante Helene saßen in der Mitte und hatten sich an den Händen gefasst. Tante Helenes kurze, rot gefärbte Haare bildeten einen auffälligen Kontrast zur grünen Seidenbluse, die sie trug. Katharina wirkte im Gegensatz dazu fast bieder. Die grauen kurzen Locken passten farblich genau zu ihrer silbernen Brillenfassung und der eleganten blasslilafarbenen Strickjacke.

Hinter Tante Helene standen deren beide Töchter Anne und Lou und lächelten freundlich in die Kamera. Das kam selten vor, denn meistens wirkte das Lächeln bei Lou zu kühl und bei Anne gehetzt. Doch an diesem Nachmittag waren beide gelöst und gut gelaunt, was sicherlich auch an dem Glühwein lag, den Lisa-Marie serviert hatte.

Anne hatte gleich drei Tassen getrunken. Ihre Wangen waren rot gefärbt, und ihre Augen glänzten im Blitzlicht. Das stand ihr gut, denn meistens wirkte ihr Gesicht ein wenig blass und erschöpft.

Lisa-Marie hatte schon mehrere Versuche unternommen, das äußere Erscheinungsbild ihrer Cousine zu verändern. Aber weder der Ratgeber »Typenberatung für die Frau ab vierzig« noch ein Termin bei einer Kosmetikerin hatten den gewünschten Erfolg erzielt. Anne weigerte sich, mehr Zeit als nötig in ihr Äußeres zu investieren. Sie trug die langen dunkelblonden Haare konsequent zu einem Knoten gebunden, verzichtete auf Make-up und lief fast ausschließlich in bequemen Jeans und Hemdblusen herum. Nur zu besonders festlichen Anlässen tauschte sie Hemd und Hose gegen ein elegantes Kleid.

Ganz anders Annes Schwester Lou. Als erfolgreiche Innenarchitektin wusste sie, wie wichtig der erste äußere Eindruck sein konnte. Also fielen die rotblonden Strähnchen ihres Pagenkopfes stets perfekt bis auf Kinnlänge. Ihr Make-up war diskret, ihr Schmuck dezent und ihre Kleidung praktisch, aber äußerst elegant. Kurz gesagt: Lou wusste, wie man sich in Szene setzte.

Auf dem Foto trug sie eine Kombination aus brauner Jacke, türkisfarbener Bluse und einem beigen Seidenschal, den sie sich locker um den Hals geschlungen hatte. Und obwohl auch sie vorher schon zwei Tassen Glühwein getrunken hatte, stand sie aufrecht und hatte die Arme vor der Brust verschränkt – ganz die Karrierefrau, die sehr zufrieden mit sich war.

Zu Recht, musste Lisa-Marie ein wenig neidisch zugeben. Lou beschäftigte mittlerweile vier Mitarbeiter und konnte sich vor Aufträgen kaum retten. Aber nicht nur geschäftlich lief es gut für sie, auch privat hatte Lou ihr Glück gefunden. Gemeinsam mit ihrem Freund, einem bekannten Journalisten, hatte sie zu Jahresanfang eine große Eigentumswohnung mitten in der Stadt bezogen und sich dort ganz nach ihren Vorstellungen eingerichtet. Jetzt lebte sie genau das Leben, das sie sich immer erträumt hatte.

Wenn sie nur nicht so schrecklich selbstzufrieden und überheblich sein würde! Neben ihr kam sich Lisa-Marie immer vor wie eine graue Maus.

Ihre Augen wanderten auf dem Foto weiter nach rechts zu sich selbst. Da sie kurz zuvor auf den Selbstauslöser gedrückt hatte und dann schnell um den Tisch gelaufen war, wirkte ihre Person als Einzige etwas verwackelt. Die blonden Locken, die sie sonst immer hinter die Ohren schob, klebten zerzaust an ihren Wangen. Wenigstens hatte sie an den Vorblitz gedacht, so dass die Gläser ihrer randlosen Brille nicht spiegelten. Im Vergleich zu ihren beiden Cousinen erschien sie klein und zierlich, was sich zu ihrem Ärger auch durch hohe Absätze nicht ganz korrigieren ließ.

Vielleicht sollte sie mal etwas Neues ausprobieren und sich die Haare hochtoupieren? Auch Kleidung konnte eine Person größer erscheinen lassen, das hatte sie erst neulich in einem Ratgeber gelesen. Dort wurden kurze Röcke oder Dreiviertelhosen vorgeschlagen. Sie sollte dringend am Wochenende …

Wieder klingelte das Telefon und beendete damit Lisa-Maries modische Überlegungen.

»Abraham.«

Am anderen Ende der Leitung war ein Schluchzen zu hören. Doch es reichte aus, dass Lisa-Marie die Stimme erkannte.

»Mama? Was ist passiert?«, fragte sie alarmiert.

Ihre Mutter putzte sich geräuschvoll die Nase, bevor sie antwortete. »Gerade kam ein Anruf aus Bayern. Onkel Horst ist tot!«

Ungefähr zur selben Zeit fiel Anne siedend heiß ein, dass sie noch einen Kuchen backen musste.

Sie war den ganzen Morgen unterwegs gewesen. Zuerst hatte sie die Kinder in die Schule gebracht und die Einkäufe erledigt. Dann war sie mit dem Auto ihres Mannes in die Werkstatt gefahren. Anschließend hatte zu Hause noch ein riesiger Berg Bügelwäsche auf sie gewartet, den sie am Mittag vor dem Fernseher abgearbeitet hatte.

Erst danach erinnerte sie sich an ihre Verabredung am Nachmittag.

»Verdammt!« Sie knallte das Bügeleisen aufs Brett, eilte in die Küche und öffnete den Vorratsschrank. Zu ihrer großen Erleichterung fand sie noch eine Backmischung für einen Kokoskuchen.

Eigentlich hatte sie geplant, ihre Verwandtschaft mit einer raffinierten Käsetorte zu beeindrucken. Eine mit doppeltem knusprigen Boden und einer Füllung aus geschlagener Sahne und Magerquark. Sie hatte sogar daran gedacht, alle Zutaten einzukaufen.

Und nun? Wieder einmal würde sie nur mit einem trockenen Kuchen ankommen, der neben Lisa-Maries ausgefallenen Kreationen keine Beachtung finden konnte. Außerdem würden ein Kilo Magerquark und zwei Becher Sahne im Kühlschrank vergeblich auf ihre Verarbeitung warten. Doch darüber konnte sie sich später noch Gedanken machen. Jetzt war es erst einmal wichtig, dass der Ersatzkuchen in den Ofen kam.

Schnell überflog sie den Text auf der Packung.

Dieser saftige Kokoskuchen ist garantiert ein Erfolg auf jeder Kaffeetafel. Die Mischung aus locker-leichtem Rührteig und knusprigen Kokosraspeln wird Ihre Familie begeistern.

»Wollen wir hoffen, dass das stimmt«, murmelte Anne und vermischte den Inhalt aus der Packung mit zwei Eiern, einem Esslöffel Wasser und einhundertfünfzig Gramm Margarine. Dann fettete sie eine Springform ein und gab den Teig hinein. Als sie die Backofentür öffnete, kam ihre Tochter Mia in die Küche.

»Warum riecht das hier so komisch?«, wollte das Mädchen wissen.

»Das ist der Backofen.« Anne schob die Kuchenform auf das Gitter und schloss den Ofen. »Wahrscheinlich haben deine Brüder die Krümel ihrer letzten Pizza nicht weggewischt.«

»Hm, wie lecker!« Mia nahm einen Apfel und ließ sich auf die Küchenbank fallen. »Kuchen mit verbranntem Pizza-Geschmack ist eins meiner Lieblingsessen.«

Anne ignorierte die Bemerkung. »Wieso bist du eigentlich schon wieder zu Hause?«

»Sport fällt aus.«

»Für alle oder nur für dich?«

Mia biss ein Stück vom Apfel ab und kaute sehr sorgfältig.

»Lass dir ruhig Zeit!« Anne wischte sich die Hände an ihrer Jeans ab und setzte sich dann zu ihrer Tochter an den Tisch. »Ich kann warten.«

»Also gut, ich beichte.« Mia verdrehte die Augen zum Himmel. »Ich hatte keine Lust auf Volleyball, da habe ich gesagt, dass ich starke Menstruationsbeschwerden habe.«

»Fällt deinem Sportlehrer nicht auf, dass du deine Regel inzwischen alle zwei Wochen bekommst?«

»Das ist ein Referendar, noch dazu ein ganz junger und verklemmter. Der traut sich gar nicht nachzufragen. Und meinst du etwa, der führt einen Kalender über jede von uns?«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Übrigens war das die letzte Sportstunde meiner Schulzeit.«

»Hättest du nicht noch dieses eine Mal mitmachen können?«

»Ach, Mama! Den Geruch einer verschwitzten Turnhalle vergisst man sowieso nie wieder, also kommt es auf eine Stunde mehr oder weniger nicht an.«

Anne lachte. »Da hast du auch wieder recht.«

»Du bist nicht sauer?«

»Nein. Ich habe den Schulsport ebenso gehasst wie du.« Anne betrachtete ihre Tochter liebevoll. Wie alle weiblichen Nachkommen der Familie Zabel war Mia blond und grünäugig, doch bei ihr waren beide Farben besonders intensiv geraten. Mit ihren weizenblonden langen Locken und den hellgrünen Augen hatte sie schon früh für Aufsehen unter den männlichen Mitschülern gesorgt. Bislang hatte sie sich jedoch für keinen ihrer Bewunderer ernsthaft interessiert. Mia war ein offenes, fröhliches Mädchen, das nie Probleme gemacht hatte. In diesem Frühling steckte sie mitten in den Abiturprüfungen und war damit das erste von Annes drei Kindern, das die Schule beendete. Kein sehr schöner Gedanke – denn damit war Mia praktisch erwachsen und würde in nicht allzu ferner Zukunft das Haus verlassen.

Anne seufzte und zwang sich, an etwas anderes zu denken. »Wenn du schon so früh hier bist, begleitest du mich dann zum Kaffeeklatsch bei Lisa-Marie?«

»Ach, ist es schon wieder so weit?« Mia grinste. »Deshalb wohl auch der Kuchen.«

»Wenn du mitkommst, kriegst du ein großes Stück.«

»Das kriege ich sowieso. Ist dir noch nie aufgefallen, dass deine Kuchen immer übrig bleiben?«

»Das bedeutet vermutlich, dass du nicht mitkommst, oder?«

»Nein, das bedeutet, dass dein Kuchen den anderen nicht schmeckt.«

»Daran habe ich mich gewöhnt.«

»Keine Angst, Mama, wir essen die Reste morgen! Aber du hast recht, ich komme nicht mit. Ich muss noch lernen. Die Prüfung in Englisch ist schon an diesem Freitag.«

»Kannst du heute Nachmittag dafür sorgen, dass deine Brüder zuerst ihre Hausaufgaben machen, bevor sie sich an den PC setzen?«

»Wird gemacht.« Mia nickte. »Wann kommt Papa nach Hause?«

»Keine Ahnung, vermutlich so wie immer.«

»Also spät.«

»Er hat vorhin angerufen und gesagt, dass er noch drei kleinere Operationen auf dem Plan hat.« Annes Mann war seit zwei Jahren Chefarzt an den städtischen Kliniken.

»Immer wenn er ›kleiner Eingriff‹ sagt, kommt garantiert eine Komplikation dazwischen und er ist nicht vor Mitternacht zu Hause«, sagte Mia. »Aber ich bin da und kümmere mich um Jan und Tom.«

»Danke! Ich werde früh zurück sein.«

»Vor Weihnachten habt ihr es mal ganz lange zusammen ausgehalten, weißt du noch?«

»Das lag am Glühwein.«

»Vielleicht mixt euch Lisa-Marie heute ein paar Frühlingscocktails …«

»Du hast zu viel Phantasie«, bemerkte Anne amüsiert.

»… oder sie hat noch etwas von ihrem selbstgemachten Eierlikör übrig, den sie uns Ostern serviert hat.« Mia schüttelte sich. »Ich mag Tante Lisa-Marie ja wirklich gern, aber dieses Gesöff war einfach nur grauenhaft.«

»Das war ihr selbst ganz schön peinlich. Ich wette, sie strengt sich heute doppelt an.«

»Sie wird …« Mia hielt inne und schnüffelte. »Riechst du das auch?«

Anne hob den Kopf. »Ich sagte doch schon, das sind nur die Krümel aus dem Backofen.«

»Ich weiß nicht, die würden doch mehr nach Käse stinken, oder nicht?« Ihre Tochter legte den Apfel beiseite und erhob sich. »Das hier ist anders, irgendwie, als ob Plastik brennt. Und es kommt aus dem Wohnzimmer.«

»Das Bügeleisen!« Anne sprang nun ebenfalls auf. Gemeinsam erreichten Mutter und Tochter das Wohnzimmer, in dem noch immer der Fernseher lief. Beißender Rauch stieg vom Bügelbrett auf und hatte bereits einen Teil der Zimmerdecke dunkel gefärbt.

»Nicht anfassen!«, kreischte Anne, als Mia das Bügeleisen vom Brett heben wollte. »Das ist viel zu heiß.« Sie zog den Stecker und streifte sich einen Kamin-Handschuh über. »So müsste es gehen.« Vorsichtig trug sie das qualmende Bügeleisen Richtung Küche. Mia warf geistesgegenwärtig ein frisch gefaltetes Bettlaken über das Bügelbrett und öffnete die Terrassentür.

In diesem Moment klingelte das Telefon.

»Kannst du drangehen?«, rief Anne aus der Küche.

»Nein«, hustete Mia. »Ich ersticke gerade das Brandloch im Bügelbrett. Lass es doch einfach klingeln!«

»Sei vorsichtig!«

»Ja, ja …«

»Geht es?«

»Klar doch. Ich fürchte nur, wir brauchen ein neues Bügelbrett.«

»Das Bügeleisen ist auch hinüber.« Anne kam ins Wohnzimmer zurück und hob den Telefonhörer ab. »Bei Wassermann … hallo? … Hallo?«

»Keiner mehr dran?«

»Ja.«

»Dann wird es schon nicht so wichtig gewesen sein.«

Lou hatte für das Kaffeetrinken etwas ganz Besonderes geplant: eine Mascarpone-Macchiato-Rolle.

Sie liebte moderne Rezepte mit außergewöhnlichen Zutaten und nahm sich für die Zubereitung immer viel Zeit. Seit sie ihre Küche in einen kleinen Palast aus Chrom, Glas und Marmor verwandelt hatte, verbrachte sie oft ganze Abende vor dem Herd und zauberte raffinierte Kleinigkeiten für sich und ihren Freund Christoph. Meistens kam er dazu und öffnete eine Flasche gutgekühlten Weißwein, den sie gemeinsam am Frühstückstresen tranken, während im Backofen oder in der Pfanne etwas Leckeres vor sich hin brutzelte.

Auch heute Mittag war Lou nicht allein. Christoph saß am Küchentisch, hatte den Laptop aufgeklappt und schrieb an einem Zeitungsbericht über einen Vulkanausbruch in Island. Es kam öfter vor, dass er zu Hause arbeitete, denn in den eigenen vier Wänden hatte er mehr Ruhe als in der Redaktion.

Lou liebte es, ihn neben sich zu wissen. Das Klacken der Tastatur und sein gelegentliches zerstreutes Murmeln hatten etwas sehr Beruhigendes an sich.

Während sie vor dem Küchenschrank die Blockschokolade auspackte, musterte sie ihren Freund verstohlen. Er schien völlig in seinen Bericht vertieft zu sein. Nachdenklich rückte er die Lesebrille zurecht, die so gar nicht zu seinem braungebrannten Gesicht, den blonden Locken und der sportlichen Figur passen wollte. Doch Lou gefiel es, dass nicht alles an Christoph perfekt war. Es hatte sie von Anfang an fasziniert, dass hinter dem gutaussehenden Mann mit dem durchtrainierten Körper mehr steckte, als man ihm ansah. Viel mehr.

Gut gelaunt summte sie vor sich hin und begann damit, die dunkle Blockschokolade zu feinem Schokoladenstaub zu raspeln.

»An der Gipfelcaldera ist eine lange Spalte aufgebrochen.«

»Hm?« Verwirrt blickte Lou von der Schokolade auf.

»Der Tremor ist stark angewachsen.«

»Ich verstehe kein Wort. Wovon redest du?«

»Der Vulkan in Island.«

»Ach, der Eiafjala … dingsda …«

»Genau der!« Christoph grinste. »Er heißt übrigens Eyjafjallajökull.«

»Dieser Vulkan scheint dich ja schwer zu beschäftigen.«

»Na ja.« Christoph nahm die Lesebrille ab und strich sich mit der Hand durch den widerspenstigen Pony. »Falls er weiter so viel Asche spuckt, dann wird er bald noch deutlich mehr Leute beschäftigen.«

»Du meinst das drohende Flugverbot?«

Christoph nickte.

»Bis Freitag muss das noch warten«, scherzte Lou. »Wenn wir im Urlaub sind, kann der Vulkan von mir aus explodieren.«

Christoph lachte, und Lou wandte sich wieder der Schokolade zu. Es dauerte etliche Minuten, bis der gesamte Block geraspelt war.

»Jetzt wird es laut«, warnte sie Christoph nach einem Blick aufs Kuchenrezept. »Ich muss Sahne schlagen.«

»Macht nichts«, entgegnete er, ohne die Augen vom Bildschirm zu nehmen.

Lou schüttete zwei Becher Sahne in eine Rührschüssel, gab Kakaopulver und Sahnesteif hinzu und startete den Küchenmixer. Während sie darauf wartete, dass das Sahnegemisch fest wurde, wanderten ihre Gedanken zum bevorstehenden Urlaub. Am kommenden Wochenende würden Christoph und sie ein luxuriöses Strandhotel in der Karibik beziehen. Der Reisekatalog versprach völlige Ruhe und Abgeschiedenheit, denn die weitläufige Ferienanlage akzeptierte nur Paare ohne Kinder. Lou seufzte voller Vorfreude.

Nach der anstrengenden Renovierung und dem Umzug in die neue Wohnung hatte sie sich diese freien Wochen wirklich verdient. Sie freute sich darauf, den Stress im Büro und das zuweilen recht anstrengende Privatleben für eine Weile hinter sich lassen zu können. Ganz zu schweigen von den lästigen Terminen mit der Verwandtschaft!

Der Gedanke an den Kaffeeklatsch am Nachmittag brachte sie in die Realität zurück. Gerade noch rechtzeitig bemerkte sie, dass die Sahne mittlerweile die richtige Konsistenz angenommen hatte. Schnell stellte sie den Mixer zur Seite.

»Wie geht es jetzt weiter? Mal sehen …« Mit dem Finger fuhr sie über die letzten Zeilen des Rezeptes.

Die geschlagene Sahne in einen Spritzbeutel mit großer Lochtülle füllen und unterschiedlich große Tuffs auf die Rolle spritzen.

»Tuffs?«, wiederholte Christoph belustigt und sah von seinem Laptop auf.

»Ich glaube, das ist so etwas Ähnliches wie ein Sahnehäubchen.«

»Wenn du dir nicht sicher bist, dann ruf doch deine Cousine an, die wird es wissen.«

»Lisa-Marie? Auf keinen Fall. Dann kriege ich zum nächsten Geburtstag ›Das kleine Lexikon des Backens‹ geschenkt.«

Christoph lachte. »Gibt es das denn überhaupt?«

»In Lisa-Maries Buchhandlung gibt es alles.«

»Viel bemerkenswerter finde ich, dass sie alle Bücher, die sie führt, auch selbst liest.«

»Sie hat schon immer viel gelesen. Eigentlich kenne ich sie nur mit einem Buch vor der Nase.«

»Es gibt blödere Hobbys.«

»Natürlich.« Lou bückte sich, um eine große Spritztüte aus der unteren Schublade zu nehmen. »Das Schlimme ist nur, dass sie ihre guten Tipps nicht für sich behalten kann, sondern immer alles besser weiß.« Sie füllte den Spritzbeutel und begann, die Sahne auf der Rolle zu verteilen.

»Bekomme ich auch etwas?« Plötzlich stand Christoph dicht hinter ihr. Er überragte sie um einen Kopf und hatte deshalb keine Schwierigkeiten, ihr über die Schulter zu greifen.

»Nein!« Lou schlug auf seine Finger, die gefährlich nahe über der Sahne-Dekoration schwebten. »Dieser Kuchen muss perfekt sein, alles andere akzeptiert meine Verwandtschaft nicht.«

»Darüber würde ich mir keine Gedanken machen. Anne bringt doch sicherlich auch etwas mit.«

»Das war gemein!« Lou lachte und schob die Platte mit dem Kuchen vorsichtshalber ein Stück zur Seite. »Anne hat so viel um die Ohren, dass ein Kuchen auf ihrer To-do-Liste ganz weit unten steht.«

»Und diese lahme Entschuldigung wird von den Zabel-Girls akzeptiert?« Christoph umfasste Lous Schultern und drehte sie zu sich herum.

»Meine Schwester hat andere Qualitäten«, sagte Lou und küsste Christoph leicht auf die linke Wange.

»Zum Beispiel?« Er hielt ihr auch seine rechte Wange hin.

»Sie ist seit zwanzig Jahren mit demselben Mann verheiratet.« Dieses Mal fiel der Kuss schon ein wenig intensiver aus.

»Wie langweilig! Weiter?«

»Sie hat drei Kinder zur Welt gebracht.«

»Die Kinder machen sie völlig fertig.« Er beugte sich zu ihr hinunter, so dass ihr Mund seine Stirn streifte.

»Ihr Mann ist ein erfolgreicher Arzt.« Bereitwillig presste Lou die Lippen auf Christophs Augen.

»Na und? Wann war er das letzte Mal mittags zu Hause, um Anne in der Küche zu überraschen?«

»Keine Ahnung. Ich glaube, bei Anne kommen die Worte ›Küche‹ und ›Überraschung‹ nur in einem Satz vor, wenn der Ofen explodiert.«

»Wer ist hier gemein?«, flüsterte Christoph und drängte sich noch näher an Lou.

»Das war nicht gemein, das hat sie selbst mal so ähnlich formuliert.« Lou seufzte wohlig. »Wie wäre es mit einem Themenwechsel?«

»Ich wüsste da was … Bist du fertig mit der Torte?«

»Ja.«

»Und wie viel Zeit bleibt uns noch, bis du gehen musst?«

»Wenn ich die Zeit für die Dusche abziehe, ungefähr eine Stunde.«

»Okay, das reicht für einen Themenwechsel.«

»Und welches neue Thema schlägst du vor?«, schnurrte Lou, obwohl sie bereits eine bestimmte Ahnung hatte.

Statt einer Antwort zog Christoph sie an sich. »Dein Handy klingelt«, flüsterte er zwischen zwei Küssen.

»Na und?«

»Willst du nicht rangehen? Vielleicht ist es das Büro.«

»Ausgeschlossen. Die haben klare Anweisungen, was zu tun ist«, murmelte Lou und öffnete Christophs Hemdknöpfe.

»Und wenn es jemand aus deiner Verwandtschaft ist?«

»Dann kann das bis zum Nachmittag warten.« Sie war mittlerweile an Christophs Bauchnabel angelangt. »Übrigens läuft die Zeit. Wir haben nur noch achtundfünfzig Minuten …«

2

Um kurz vor vier Uhr am Nachmittag trafen sich Anne und Lou vor dem alten Mehrfamilienhaus im Dortmunder Süden, in dem Lisa-Marie seit vielen Jahren wohnte.

»Du lieber Himmel!« Anne balancierte in der einen Hand den Kuchen, mit der anderen Hand stopfte sie den Autoschlüssel in ihre Handtasche. »Wir sind zwanzig Minuten zu spät!«

»Ich bin froh, dass ich nicht allein zu spät komme«, bemerkte Lou erleichtert und stellte einen Einkaufskorb vor sich auf den Boden. »Sollen wir uns eine gemeinsame Ausrede einfallen lassen?«

»Nein, das brauchen wir nicht. Ich habe einen sehr guten Grund fürs Zuspätkommen.«

»Und der wäre?«

»Mein Bügelbrett hat gebrannt.«

Lou warf ihrer Schwester einen schnellen Blick zu. »Im Ernst?«

Anne nickte grinsend. »Und wie lautet deine Entschuldigung?«

»Äh …« Lou errötete, aber zum Glück bemerkte Anne nichts von ihrer Verlegenheit.

»Ist das eine Creme-Rolle?«, fragte sie stattdessen und deutete auf den Plastikbehälter im Einkaufskorb.

»Das ist eine Mascarpone-Macchiato-Rolle.«

»Klingt lecker.«

»Schmeckt auch so.«

»Komm, lass uns reingehen!« Anne drückte auf den Klingelknopf, und kurz darauf öffnete sich die Haustür mit einem leisen Summen. Die beiden Schwestern stiegen die alte Holztreppe in den dritten Stock hinauf.

»Gut, dass ihr endlich kommt!«, begrüßte Lisa-Marie ihre Cousinen an der Wohnungstür. Sie hatte rotgeweinte Augen und sah erschöpft aus.

»Was ist passiert?« Anne ließ vor Schreck fast den Kuchen fallen.

»Onkel Horst ist tot.«

»O nein!« Onkel Horst, oder Horst Zabel, wie er mit vollem Namen hieß, war der ältere Bruder von Katharina und Helene.

»Seit zwei Stunden versuche ich, euch zu erreichen, aber keine von euch beiden ist ans Telefon gegangen.«

»Mein Bügelbrett hat gebrannt«, entschuldigte sich Anne. »Und dann hat Mia das Telefon leise gestellt, um ungestört lernen zu können.«

»Dein Bügelbrett hat gebrannt?«, wiederholte Lisa-Marie, kurz von ihrem Kummer abgelenkt.

»Lange Geschichte, erzähle ich dir später.«

»In Ordnung. Und du?« Lisa-Maries vorwurfsvoller Blick wanderte weiter zu Lou.

»Ich … äh … mein Handy ist kaputt.«

»Und dein Festnetz? Ich habe es auch bei dir zu Hause probiert.«

»Keine Ahnung. Und jetzt lass mich mal durch!« Lou drückte sich an Lisa-Marie vorbei in die Wohnung.

»Ihr könnt eure Kuchen auf dem Buffet abstellen.« Lisa-Marie folgte ihren Cousinen in die Küche.

Anne blickte sich suchend um. »Wo sind Mama und Tante Katharina?«

»Im Wohnzimmer.«

Wie zwei Häufchen Elend saßen die Zwillingsschwestern auf Lisa-Maries geblümtem Sofa. Katharinas Brille hing schief auf ihrer Nase, und Helenes Make-up war vom Weinen zerlaufen. Mehrere zusammengeknüllte Papiertaschentücher lagen auf dem Boden verstreut, und auf dem Wohnzimmertisch standen zwei Gläser und eine Flasche Mandellikör.

»Du hast ihnen Schnaps gegeben?«, empörte sich Lou.

»Was sollte ich machen? Sie sitzen seit halb drei hier«, verteidigte sich Lisa-Marie. »Immerhin hat der Alkohol sie beruhigt.«

»Schnaps ist keine Lösung.«

»Es war ja keine von euch mit einer besseren Idee zur Stelle!«

»Hört sofort auf zu streiten.« Anne kniete sich vor Helene auf den Boden. »Mami?«, flüsterte sie sanft.

»Anne!« Mit einem Schluchzen warf sich Helene an den Hals ihrer Tochter. »Unser Horst ist tot!«

»Ich weiß, ich weiß …« Beruhigend strich Anne ihrer Mutter über den Rücken.

Auch bei Katharina flossen erneut die Tränen. »Es ist so schrecklich!«

»Ich weiß«, wiederholte Anne hilflos, und weil niemand sonst etwas sagte, setzte sie hinzu: »Wie ist es passiert? Er war doch nicht krank.«

»Was glaubst du? Der Mann war schließlich dreiundachtzig«, warf Lou ein.

»Er hatte einen Schlaganfall.« Katharina trocknete ihr Gesicht und rückte die Brille gerade. »Der Briefträger hat ihn heute Morgen im Garten gefunden und gleich einen Krankenwagen geholt. Aber man konnte nichts mehr für ihn tun.«

»Und wie geht es jetzt weiter?«, wollte Lou wissen. »Wir sind seine einzigen Verwandten, und er wohnt in Bayern. Wir müssen die Beerdigung organisieren und –«

»Lou!«, unterbrach Anne ihre Schwester. »Lass uns doch noch ein wenig Zeit!«

»Ist schon gut, mein Kind.« Helene löste sich aus Annes Umarmung. »Das Wichtigste haben wir schon geregelt. Wir haben vorhin mit einem örtlichen Bestattungsunternehmer gesprochen. Horst hat sich gewünscht, verbrannt zu werden. Die Beerdigung findet deshalb erst in ein paar Wochen statt.«

»Daran darf ich gar nicht denken.« Katharina schluchzte erneut los. »Ich kann es einfach nicht glauben.«

»Wenn ein geliebter Mensch stirbt, ist es immer schwer, sich damit abzufinden«, bestätigte Anne mitfühlend.

»Gestern Abend noch haben wir lange telefoniert, und da klang er putzmunter. Wir haben sogar Pläne für den Sommer gemacht.«

Seit vielen Jahren verbrachten Helene und Katharina jeden Sommer bei ihrem Bruder in Pfronten im Allgäu. Obwohl Horst achtzehn Jahre älter war als seine Schwestern, hatten die Geschwister sehr aneinander gehangen. »Er war der geplante und erhoffte Sohn und wir die ungeplant und unverhofft dazugekommenen Nachzügler«, hatten Katharina und Helene ihren Töchtern den großen Altersunterschied oft erklärt.

»Horst war der wichtigste Mann in meinem Leben«, jammerte Helene jetzt.

»Mama! Was sagst du denn da? Und was war mit Papa?«, entrüstete sich Lou.

»Ach, Kind! Dein Vater war ein guter Mann, und ich vermisse ihn. Er ist leider viel zu früh von uns gegangen. Aber Horst hat mich über den Verlust hinweggetröstet.«

»Nach meiner Scheidung war er es, der mich wieder aufgebaut hat«, ergänzte Katharina. »Was sollen wir bloß ohne ihn machen?« Wimmernd fiel sie ihrer Schwester in die Arme.

»Ich glaube, ich brauche auch einen Likör«, flüsterte Anne Lisa-Marie zu.

»Mir kannst du gleich ein großes Glas und ein paar Eiswürfel bringen.« Lou streifte ihre Schuhe ab und ließ sich auf einen Sessel fallen. »Das kann länger dauern.«

»Das befürchte ich auch. Aber bevor wir noch mehr Alkohol trinken, sollten wir etwas essen.« Lisa-Marie holte Tassen, Teller und Besteck aus dem Buffetschrank und stellte das Geschirr auf dem Sofatisch ab. »Auf die Frühlingsdekoration müsst ihr heute allerdings verzichten, dazu hatte ich keine Zeit.«

»Macht nichts, ich kriege sowieso nichts hinunter«, schluchzte Helene. »Ob nun schön dekoriert oder nicht.«

»O doch, du wirst etwas essen«, wies ihre Schwester sie zurecht. »Sonst hast du morgen schreckliche Kopfschmerzen vom Likör.«

»Ob ich Kopfweh vom Weinen oder vom Alkohol bekomme, ist mir egal.«

»Mir aber nicht. Ich bin jetzt die Älteste in der Familie und muss auf dich aufpassen …« Katharinas Stimme brach.

»Der Kuchen fehlt noch«, warf Lou hastig ein. »Tante Katharina, willst du Lisa-Marie nicht schnell helfen?«

»Findest du es richtig, jetzt zu essen?«, fragte Anne leise, als Katharina und Lisa-Marie in der Küche verschwunden waren.

»Was sollen wir denn sonst machen?«, entgegnete Lou gereizt. »Nur herumsitzen und weinen ist schließlich auch keine Lösung.«

»Aber es erleichtert.«

»Und Essen betäubt den Kummer.«

»Eigentlich ist es völlig einerlei, was wir jetzt tun«, mischte sich ihre Mutter mit zittriger Stimme ein. »Wichtig ist nur, dass wir zusammen sind und gemeinsam trauern.«

»Na, das kann ja heiter werden.« Lou verdrehte die Augen. »Der kollektive Klageruf der Kaffeetanten.«

»Pass auf, was du sagst!«, zischte Anne. »Man könnte meinen, Onkel Horst hat dir gar nichts bedeutet.«

»O doch, das hat er, sehr viel sogar.« Lou wurde ernst. »Aber eine von uns muss einen kühlen Kopf bewahren. Außerdem kann ich meine Gefühle nicht so öffentlich zeigen, wie ihr das tut.«

»Das brauchst du auch nicht. Es reicht, dass du da bist.«

»So, hier sind die Kuchen!« Schwungvoll stellte Lisa-Marie die Marzipantorte und die Macchiato-Rolle auf dem Sofatisch ab. Ihre Mutter folgte mit dem Kokoskuchen.

»Ist der mit Schokolade?« Misstrauisch beäugte Helene das Gebäck.

»Nein. Warum?«, fragte Anne.

»Er sieht oben ganz braun aus.«

»Er ist ein bisschen verbrannt.«

»Ich dachte, nur das Bügelbrett hätte gebrannt?«, mischte sich Lisa-Marie ein.

»Dein Bügelbrett hat gebrannt?«, fragte Helene überrascht.

Dankbar für die Möglichkeit, die Stimmung etwas aufzuheitern, begann Anne mit der Schilderung ihres Missgeschicks. »Bei dem ganzen Durcheinander habe ich völlig vergessen, den Küchenwecker zu stellen. Deshalb ist der Kuchen verbrannt«, beendete sie ihren Bericht. »Tut mir leid.«

»Macht nichts, wir essen ihn trotzdem«, tröstete ihre Mutter sie.

»Wir probieren alle drei Kuchen«, ergänzte Katharina. »Schließlich haben wir den ganzen Nachmittag Zeit.«

Zwei Stunden später goss Lisa-Marie den letzten Kaffee aus der Thermoskanne in die Tasse ihrer Cousine Lou. »Soll ich noch mal frischen kochen?«

»Nein danke, für mich nicht.« Aufseufzend ließ sich Lou in den Sessel zurücksinken.

»Ich glaube, meine Hose platzt gleich«, stöhnte Anne. Sie saß auf dem Boden und hatte sich mit dem Rücken ans Sofa gelehnt.

»Kann ich noch einen Likör haben?« Katharina schob ihr leeres Glas auffordernd in Richtung ihrer Tochter.

Lisa-Marie nickte erschöpft. Die letzten Stunden waren ein ständiges Wechselbad aus Lachen und Weinen gewesen. Katharina und Helene hatten zahlreiche Geschichten über Horst erzählt, schöne Erinnerungen ausgetauscht und zwischendurch der Trauer freien Lauf gelassen. Ihre Töchter hatten geduldig zugehört, leise mitgelacht und, wenn nötig, die Tränen ihrer Mütter getrocknet. Jetzt machte sich bei allen bleierne Müdigkeit bemerkbar.

»Möchte noch jemand?« Lisa-Marie hielt die Likörflasche in die Höhe und sah in die Runde.

»Eigentlich müssten wir einen richtigen Schnaps trinken«, sagte Helene. »Der würde den Magen aufräumen.«

»Horst hatte immer einen Kräuterschnaps im Haus.« Katharina lächelte wehmütig. »Weißt du noch?«

»Und ob ich das weiß! Er hatte ihn im Wohnzimmerschrank verschlossen. Erst an unserem zwanzigsten Geburtstag durften wir zum ersten Mal davon probieren.«

»Er war ganz schön streng mit euch, nicht wahr?«, fragte Anne.

»Stimmt«, bestätigte ihre Mutter. »Ich glaube aber, das musste so sein. Schließlich hat er uns großgezogen.«

»Ich stelle es mir schrecklich vor, die eigenen Eltern nicht zu kennen«, murmelte Lou.

Marie und Johann Zabel hatten den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen nicht überlebt. Während Johann in Russland gefallen war, konnte Marie zwar noch zusammen mit ihrem Sohn Horst aus Masuren flüchten, starb dann aber nur wenige Stunden nach der Geburt der Zwillinge im Sommer 1945.

»Es hätte noch schlimmer kommen können«, stellte Katharina fest. »Immerhin hatten wir uns und unseren großen Bruder.«

»Horst hat um die Vormundschaft gekämpft wie ein Löwe. Er war ja gerade erst achtzehn, als unsere Mutter starb«, ergänzte Helene. »Aber irgendwie hat er es geschafft.«

»Ich habe gelesen, dass es so kurz nach dem Krieg bei den Behörden ziemlich chaotisch zuging«, warf Lisa-Marie ein. »Da war man sicherlich froh um jedes Kind, das nicht ins Waisenhaus musste.«

»Auf jeden Fall war es keine leichte Aufgabe für einen so jungen Mann. Zwei kleine Babys …« Anne schüttelte den Kopf.

»Er hat schwer geschuftet, um uns ein Zuhause bieten zu können«, erinnerte sich Katharina. »Und Gott sei Dank hatte er tatkräftige Unterstützung. Wenn er zum Arbeiten ins Stahlwerk ging, haben die Ursulinen-Schwestern auf uns aufgepasst.«

»Onkel Horsts Verbindung zu den Nonnen habe ich nie verstanden«, bemerkte Anne nachdenklich. »Wieso haben sie ihm so bereitwillig geholfen?«

»Vielleicht war eine von ihnen seine heimliche Geliebte.« Lou nippte an ihrem Likör.

»Aber Marie-Luise!« Helene benutzte den vollen Namen ihrer Tochter nur, wenn sie verärgert war.

»Ist doch nur so ein Gedanke«, verteidigte sich Lou. »Er hat ja schließlich nie geheiratet.«

»Onkel Horst in den ›Dornenvögeln‹«, schmunzelte Lisa-Marie.

»Es war eine schwere Zeit nach dem Krieg, da hat jeder jedem geholfen«, erklärte Katharina. »Es gab gewiss keine Liebelei zwischen Horst und einer Nonne.«

»Und warum hat er dann später dem Orden geholfen, in Pfronten ein Erholungsheim zu errichten?« Lou trank ihr Glas in einem Zug aus und beantwortete sich ihre Frage danach selbst. »Auf diese Weise hatte er seine geliebten Nonnen wieder um sich.«

Helene warf ihrer Tochter einen strafenden Blick zu. »Auf diese Weise«, wiederholte sie frostig, »hat er lediglich seine Dankbarkeit ausgedrückt.«

»Wir hätten ihn das alles selbst fragen können«, bemerkte Anne leise.

»Er hat oft von früher erzählt.« Lisa-Marie lächelte traurig. »Aber ich habe ihm nie richtig zugehört. Meistens habe ich gedanklich schon abgeschaltet, wenn die Sprache auf die Liebesgeschichte zwischen Marie und Johann kam. Falls er danach über sich selbst gesprochen hat, so habe ich das nie bemerkt.«

»Und jetzt ist es zu spät.« Dicke Tränen kullerten über Annes Wangen.

Selbst Lou verspürte plötzlich einen Kloß im Hals, aber sie riss sich zusammen. Womöglich ging sonst die ganze Heulerei von vorn los! Fieberhaft suchte sie nach einem unverfänglichen Thema, und zum Glück kam ihr schnell der rettende Gedanke. »Wer kümmert sich eigentlich jetzt um die Kühe von Onkel Horst?«

Vier verweinte Augenpaare blickten sie erstaunt an.

»Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.«

»Die Kühe müssen jeden Abend gemolken werden, oder?«

»Wir müssen gleich mal beim Nachbarn anrufen!«

»Es sind ja nicht nur die Kühe, er hatte auch Hühner, Bienen und eine Katze.«

Lou nickte zustimmend und war wieder einmal sehr zufrieden mit sich. Die traurige Stimmung war verflogen, plötzlich drehte sich alles um die Versorgung der Tiere auf dem Bauernhof.

»Ich rufe den Nachbarn an.« Helene wollte sich erheben, aber ihre Schwester hielt sie zurück. »Du bleibst sitzen! Denk an deine Hüfte. Ich mache das schon.«

Lisa-Marie beobachtete besorgt, wie ihre Mutter mit leicht schwankendem Gang zum Telefon lief. »Wir sollten den Likör wegstellen.«

»Ja, gute Idee«, stimmte Anne zu. »Der ist mir sowieso zu süß. Ich brauche jetzt etwas Herzhaftes.«

»Ich auch«, musste Lou zugeben.

»Sollen wir uns Pizza kommen lassen? Ich habe Zeit.« Anne hatte schon vor einer Stunde mit Mia telefoniert und angekündigt, dass sie heute später nach Hause kommen würde.

Lou zögerte. »Hm, ich weiß nicht. Christoph wollte noch mit mir essen, bevor er zu seiner Redaktionskonferenz muss.«

»Du willst doch hoffentlich jetzt nicht mehr fahren?«, fragte Helene besorgt.

»Nein, ich rufe mir ein Taxi.«

»Wir können uns das Taxi teilen«, schlug Anne vor. »Aber zuerst muss ich noch etwas essen.«

»Also gut. Ein kleiner italienischer Salat wäre nicht schlecht.« Lou holte ihr Handy aus der Jackentasche. »Ich rufe Christoph an und gebe ihm Bescheid.«

»Ich dachte, dein Handy ist kaputt.« Lisa-Marie runzelte misstrauisch die Stirn.

»Ist es vermutlich auch, das hat sie bestimmt nur vergessen.« Anne kramte ihr eigenes Telefon hervor. »Hier, du kannst meines nehmen!«

Dankbar zwinkerte Lou ihrer Schwester zu. Anne mochte zwar chaotisch und spießig sein, aber wenn es darauf ankam, konnte man sich auf ihre Geistesgegenwart verlassen.

Noch bevor sie Christophs Nummer wählen konnte, kehrte Katharina ins Zimmer zurück. »Herr Hösle kümmert sich vorerst um die Tiere«, verkündete sie.

»Das ist doch der Nachbar, der zusammen mit seiner Frau bei Onkel Horst auf dem Hof und im Haushalt hilft, oder?«, erkundigte sich Anne.

Katharina nickte.

»Gut, dass wir die beiden haben!« Helene nickte erleichtert.